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Full text of "Neue Jahrbuecher fuer das klassische Altertum Geschichte u Dt Litteratur 4-1899"

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I&arbarö College litirarg 

FROM THK 

CONSTANTIUS FUND. 

Established by Professor £. A. Sophoclks of Harvard 

Univcrsity for " the pnrchase of Greek and Latin 

books, (the andent classic«) or of arabic 

books, or of books illnstrating or ex. 

plaining such Greek, Latin, or 

Arabic books.» Will, 

dated 18S0.) 



Received ....VÄair — ..iSHü^^VSCÖ 



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NEUE JAHRBÜCHER 



FÜR 



DAS KLASSISCHE ALTEETÜM 
GESCHICHTE UND DEUTSCHE LITTERATUE 



UND PUR 



PÄDAGOGIK 



HERAUSGEGEBEN VON 



JOHANNES ILBERO und RICHARD RICHTER 



VIERTER BAND 



LEIPZIG 

DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER 
1899 



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NEUE JAHRBÜCHER 



PUB, 



PÄDAGOGIK 



HERAUSGEGEBEN 



VON 



RICHARD RICHTER 



ZWEITER JAHRGANG 1899 



LEIPZIG 

DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER 
1899 



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£ 






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VERZEICHNIS DER MITARBEITER DER JAHRGÄNGE 1898 (I) 

UND 1899 (H) 



Alfred Baldamus in Leipzig (I 283 307) 
Alfred Biese in Koblenz (I 56 H 36 361 397) 
Aloys Bömer in Münster i.West. (TL 129 204) 
Karl Bobthke in Thorn (I 370) 
Anton Chlebowski in Braunsberg (I 338) 
Otto Clbmen in Zwickau (H 117 236 610) 
Harrt Denicke in Berlin (I 36) 
Gustav Diestel in Dresden (TL 398) 
Armin Dittmar in Grimma (II 142) 
Paul Dörwald in Ohlau (I 48 106 560) 
Otto Dost in Döbeln (TL 429) 
£rnst Fabian in Zwickau (II 24 65) 
Gustav Fasterding in Westerburg (II 396) 
Franz Fauth in Höxter i. Westf. (I 151 484 

H 151) 
Ernst Gast in Dessau (I 353) 
Bernhard Geissler in Köln a. Rh. (II 456) 
Paul Glässer in Leipzig (I 25) 
Heinrich Grossmann in Saargemünd (TL 398) 
Rudolf Hanncke in Köslin i. P. (TL 382) 
Woldemar Havnel in Emden i. Ostfriesland 

(E 221 241) 
Karl Heinemann in Leipzig (II 298) 
Friedrich van Hoffs in Koblenz (I 495) 
Ferdinand Hornemann in Hannover (I 545) 
Karl Hünlich in Leipzig (TL 46) 
Johannes Imelmann in Berlin (TL 63 116) 
Otto Immisch in Leipzig (I 241) 
Oskar Jäger in Köln a. Rh. (I 262) 
Otto Kämmel in Leipzig (I 15 125) 
Wilhelm Koppelmann in Leer (TL 441) 
Karl Lamprecht in Leipzig (I 118) 
Karl Landmann in Darmstadt (I 204 II 162) 
Julius Ley in Kreuznach (TL 287) 
Eduard Loch jr. in Königsberg i. Pr. (H 452) 
Albert Löschhorn in Wollstein (I 448) 
Theodor Matthias in Zittau (I 496) 
Ernst Mäschel in Schneeberg i. S. (TL 560) 
Richard Meister in Leipzig (H 263 312) 
Georg Mertz in Bahlingen in Baden (II 400 480) 
August Messer in Giefsen (II 489) 
Wilhelm Münch in Berlin (I 177 H 513) 
Wilhelm Nestle in Ulm (TL 177) 
Emil Oehley in Köln a. Rh. (H 121) 
Friedrich Paulsen in Berlin (I 129) 



Hermann Peter in Meifsen (I 296) 

Robert Petersen in Wilhelmshaven (I 818) 

Heinrich Pigge in Aschendorf in Hannover 

(I 443) 
Theodor Preuss in Friedenau (TL 298 394) 
Alfred Rausch in Halle a. S. (I 457) 
Karl Reichardt in Wildungen (I 449 H 76) 
Johannr8 Reinhard in Sachsendorf b. Würzen 

(H 345) 
Albrecht Reum in Dresden (II 326) 
Otto Richter in Leipzig (I 238) 
Richard Richter in Leipzig (I 95 164 383 510 

H 63 119 256 398) 
Hermann Rose in Lüneburg (II 105) 
Emil Rosenberg in Hirschberg i. Schi. (TL 94) 
F. W. E. Roth in Wiesbaden (TL 168) 
Wilhelm Rüdiger in Frankfurt a. M. (I 385 

464 497) 

Walther Rüge in Leipzig (I 227 428) 
Gotthold Sachse in Bartenstein (TL 559) 
Otto Eduard Schmidt in Meifsen (TL 318) 
Max Schneidewin in Hameln (L 537) 
Hermann Schuller in Plauen i. V. (I 379) 
Gerhard Schultz in Steglitz b. Berlin (TL 549) 
Otto Schulze in Gera (I 360) 
Ernst Schwabe in Meifsen (I 1 401 TL 305 

465 524) 

Konbad Seeliger in Zittau (I 79) 
Max Siebouro in Bonn (I 415 H 501). 
Theodor Sorgenfrey in Neuhaldensleben 

(I 217) 
Alfred Spitzner in Leipzig (TL 536) 
Alwin Sterz in Cöthen (I 381) 
Johannes Teufer in Leipzig (TL 416) 
Paul Vogel in Schneeberg (I 271 TL 271) 
Johannes Volkelt in Leipzig (I 65) 
Wilhelm Vollbrecht in Altona (I 143 194) 
Richard Wagner in Dresden (I 518) 
Alexander Wernicke in Braunschweig (II 1) 
Alexander Weinberg in Trautenau i. B. (II 55) 
Martin Wohlrab in Dresden (II 86) 
Ulrich Zernial in Berlin (I 447) 
Theobald Ziegler in Strafsburg i. E. (L 289) 
Julius Ziehen in Frankfurt a. M. (I 138 328 

H 448) 



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INHALT 

Saite 
Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544). Von Ernst 

Fabian 25 66 

Lernen und Leben auf den Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schüler- 
dialoge. Von Aloys Bömer 129 204 

Aub dem mittelrheinischen Humanistenkreise. Von F. W. E. Roth 168 

Nachtragliches zu Veit Werler. Von Otto Clemen 117 

Ä8ticampian8 Leipziger Abschiedsrede. Von OttoClemen 236 

Stegreif distichen aus der Humanistenzeit. Von OttoClemen 510 

Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten. Von Georg Mertz 400 480 

Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen. Von Ernst Schwabe. .465 524 

Gelierte pädagogische Wirksamkeit. Von Woldemar Haynel 221 241 

Briefe von Wolf und Papencordt an Lina Klindworth. Von Theodor Preufs . .299 394 

Ludwig von Strümpell. Von Alfred Spitzner 536 

Wege und Ziele für die Abfassung einer Geschichte des sächsischen Gelehrtenschul- 

wesens. Von Ernst Schwabe 305 

Zur pädagogischen Psychologie und Physiologie. Von Franz Fauth 151 

Zur Physiologie und Psychologie in der Pädagogik. Von Wilhelm Eoppelmann 441 

Individualgeist und Gesamtgeist. Von August Messer 489 

Ästhetische und ethische Bildung in der Gegenwart. Von Wilhelm Münch. . . . 613 

Die Phantasie. Eine psychologisch-ästhetische Studie. Von Alfred Biese . . . . 361 

Soll die Schule erziehen? Von Carl Reichardt 76 

Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen. Von Alexander Wernicke 1 

Die Gesundheitspflege beim Mittelschulunterrichte. Von Alexander Weinberg . 65 
Ziegler, Der Kampf gegen die Unmäfsigkeit auf Schule und Universität. Von Richard 

Richter 63 

Über die Erteilung der wissenschaftlichen Hauptzensur bei der Reifeprüfung. Von 

Richard Meister 812 

Zu Richard Meister, Über die wissenschaftliche Hauptzensur für das Reifezeugnis. 

Von Richard Richter 398 

Zu der neuen preufsischen Prüfungsordnung für Kandidaten des höheren Lehramts. 

Von N. N 266 

Über klassische Studienreisen. Von Johannes Teufer 416 

Zukunftsgymnasium und Oberlehrerstand. Von einem Schulmann. Von Richard 

Richter 119 

Knöpfel, Die Überbürdung der Lehrer. Von Richard Richter 510 

Bericht über die fünfunddreifsigste Versammlung des Vereins rheinischer Schul- 
männer (1898). Von Emil Oehley 121 

Bericht über die sechsunddreifsigste Versammlung des Vereins rheinischer Schul- 
männer (1899). Von Bernhard Geifsler 456 

Die Aufgaben der Literaturgeschichte. Von Alfred Biese 36 

Hilfsbücher für den deutschen Unterricht. Von Paul Vogel 271 



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Inhalt Vü 

Seite 

Bartels, Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen. 2. Aufl. 

Von Alfred Biese 397 

Ein Herderbuch als Schulausgabe. Von Carl Landmann 162 

Die Entsühnung in Goethes Iphigenie auf Tauris. Von Martin Wohlrab 86 

Zu Goethes Iphigenie. Von Johannes Imelmann 63 116 

Zu Goethes Iphigenie. Von Karl Heinemann 306 

Karl Breuel, Iphigenie auf Tauris von Goethe für Engländer. Von Ernst Mäschel 560 

Moderne Schulausgaben. Von Max Siebourg 601 

Grammatici militantes. Von Armin Dittmar 142 

Die Gestaltung des lateinischen Unterrichts im Oberbau des Realgymnasiums nach 

Frankfurter Lehrplan. Von Julius Ziehen 448 

Zur Aussprache des Lateinischen. Von Gustav Fasterding 396 

Ein Jahr lateinischen Unterrichts nach Ostermann-Bahnsch. Von Eduard Loch. . 462 
H. J. Müller, Ostermanns lateinisches Übungsbuch. 5. Teil: Obersekunda und Prima. 

Von Gotthold Sachse 569 

Der griechische Unterricht (Dettweiler). Von Richard Meister 268 

Xenophons Memorabilien Cap. I und U in ihren Beziehungen zur Gegenwart. Von 

Emil Rosenberg 94 

Die Entwicklung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates. Von Wilhelm Nestle. 177 
Ist es die Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? Von 

Albrecht Reum 326 

Der neusprachliche Unterricht im Königreich Sachsen. Von OttoDost 429 

Makedonien und Preufsen. Ein schulmäfsiger geschichtlicher Vergleich als Kon- 

zentrationsprobe. Von Hermann Rose 105 

Schleiermacher als deutscher Patriot. Für die höhere Schule dargestellt. Von 

Johannes Reinhard 345 

Kaemmel, Grundzüge der sächsischen Geschichte für Lehrer und Schüler höherer 

Schulen. Von Gustav Diestel 398 

Koch, Römische Geschichte. 2. Aufl. Von Heinrich Grofsmann 398 

Aus der Praxis des geschichtlichen und kunstgeschichtlichen Anschauungsunterrichts. 

Von Otto Eduard Schmidt 318 

Bemerkungen zum Anschauungs- und Kunstunterricht auf dem Gymnasium. Von 

Gerhard Schultz 649 

Materialien zu einer Repetition über Afrika. Von Rudolf Hanncke 382 

Die Einführung der Kraftlinien in den Physikunterricht der Gymnasien. Von Karl 

Hünlich 46 

Die Kunstgestaltung des Buches Hiob. Von Julius Ley 287 



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KEGISTER 
DER IM JAHRGANG 1899 BESPROCHENEN SCHRIFTEN 

_ s ^ 

0. Altenburg, Die Kunst des psychologischen Beobachtens (Berlin 1898) 169 

Fr. Bahnsch, Lese- und Übungsbuch für den lat. Anfangsunterricht in Eeformschulen 

(Leipzig 1898) 462 

J. M. Baldwin, Die Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse (über- 
setzt von A. E. Ostermann. Berlin 1898) 444 

A. Bartels, Die deutsche Dichtung der Gegenwart (2. Aufl. Leipzig 1899) 397 

Fr. Bindseil, Der deutsche Aufsatz in Prima (2. Aufl. von Br. Zielonka. Berlin 1899) 278 
K. Breuel, Iphigenie auf Tauris von Goethe. Edited with introduction , notes and 

appendices (Cambridge 1899) 660 

P. Cauer, Grammatica militans (Berlin 1898) 142 

G. Cordes, Psychologische Analyse der Thatsache der Selbsterziehung (Berlin 1898) . 151 

O. Bahnhardt, Naturgeschichtliche Volksmärchen (Leipzig 1898) 286 

P. Dettweiler, Der griechische Unterricht (Baumeisters Handbuch. München 1899) . . 263 

L. Gurlitt, Lat. Fibel für Sexta. Lat. Lesebuch für Quinta (Berlin 1897. 1899) ... 551 
H. Heidelberg, Elementargrammatik der deutschen Sprache für höhere Unterrichts- 

anstalten (Berlin 1898) 282 

0. Kümmel, Grundzüge der sächsischen Geschichte für höhere Schulen (Dresden 1898) 398 

F. Kemsies, Arbeitshygiene der Schule auf Grund von Ermüdungsmessungen (Berlin 1898) 151 
F. Kern, Leitfaden für den Anfangsunterricht in der deutschen Grammatik (2. Aufl. 

Berlin 1898) 283 

J. Koch, Römische Geschichte (2. Aufl. Leipzig 1898) 398 

L. Knöpf el, Zur Überbürdungsfrage der akademisch gebildeten Lehrer Deutschlands 

(Schalke 1899) 510 

E. Laos, Der deutsche Aufsatz in den oberen Gymnasialklassen I (3. Aufl. von 

J. Imelmann. Berlin 1898) 271 

0. Lehmann und K. Dorenwell, Deutsches Sprach- und Übungsbuch (Hannover und 

Berlin 1898) 283 

R. Lehmann, Übersicht über die Entwickelung der deutschen Sprache und Litteratur 

(2. Aufl. Berlin 1898) - 279 

B. Liebich, Die Wortfamilien der lebenden hochdeutschen Sprache als Grundlage für 

ein System der Bedeutungslehre (Breslau 1898) 282 

J. Löber, Herderbuch (Leipzig und Dresden 1898) 162 

H. J. Müller, Lat. Stilistik von E. Berger (8. Aufl. Berlin 1898) 149 

H. J. Müller, Ostermanns Lat. Übungsbuch. Teil 5 : Obersekunda und Prima (Leipzig 1899) 659 

R. Schäfer, Die Vererbung (Berlin 1898) 441 

J. H. Schmalz und C. Wagner, Lat. Schulgrammatik (4. Aufl. Bielefeld und Leipzig) 147 
H. Schröhe, Über die Verbindung des lat. und deutschen Unterrichts auf der Unter- 

und Mittelstufe des Gymnasiums. Teil II (Bensheim 1898) 284 

F. Schultz, Meditationen (Dessau 1884 1886 1898) 274 

E. Schwabe, Aufgaben zur Einübung der lat. Syntax (Leipzig 1896) 148 

E. Wagner und G. v. Kobilinski, Leitfaden der griech. und röm. Altertümer (Berlin 1897) 562 
P. Wessel, Geschichte der deutschen Dichtung bis zur Reformation. Für Obersekunda 

(Gotha 1898) 280 

P. Wessel, Mittelhochdeutsches Lesebuch (Gotha 1898) 281 

Th. Ziegler, Der Kampf gegen die Unmäfsigkeit auf Schule und Universität (Heidel- 
berg 1898) 63 

Zukunftsgymnasium und Oberlehrerstand. Von einem Schulmanne (Wolfenbüttel 1899) 119 



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JAHRGANG 1899. ZWEITE ABTEILUNG. ERSTES HEFT. 



h 



DIE ORGANISATION DES HÖHEREN SCHULWESENS 

IN PREUSSEN 

Von Alexander Wernicke 

Mit der Veröffentlichung der neuen Prüfungsordnung für das Lehramt 
(12. IX. 1898) ist die Neuordnung des höheren Schulwesens in Preufsen, welche 
der Berliner Dezemberkonferenz (1890) folgte, zum Abschlüsse gebracht, ab- 
gesehen von den Versuchen mit den Reformschulen. 

Dafs diese Neuordnung, namentlich auch das zuletzt veröffentlichte Prüfungs- 
Reglement, die höhere Lehrerschaft Preufsens, was die verschiedenen Fragen 
der Standesinteressen (Rang, Gehalt u. s. w.) anlangt, ein grofses Stück auf 
der Bahn ihrer berechtigten Wünsche und Hoffnungen vorwärts gebracht hat, 
wird allseitig mit Befriedigung anerkannt. 

Dagegen klagt man, und zwar von Jahr zu Jahr mit immer gröfserer 
Stimmenzahl und immer dringlicher, dafs die Mafsregeln gegen eine Über- 
bürdung der Schüler und manche andere Dinge, welche die neue Ordnung 
gebracht oder erhalten hat, zu einer Überbürdung der Direktoren und Lehrer 1 ) 
zu führen geeignet sind, ohne doch die Überbürdung der Schüler völlig zu be- 
seitigen. 

Soweit sich, die Berechtigung dieser Klagen vorausgesetzt, hier inner- 
halb der einmal gegebenen Organisation des höheren Schulwesens Ab- 
hilfe schaffen läfst, wird ohne Zweifel mit der Zeit eine Wendung zum Besseren 
eintreten. 

So liefse sich z. B. die Einführung von Schulsekretären, welche den Direktor, 
die Klassenlehrer und die Vorstände der Sammlungen von einem grofsen Teile 
der Verwaltungsarbeit befreien, ohne weiteres bewerkstelligen, sie ist ledig- 
lich eine Finanzfrage. 

So liefse sich auch die Maximalzahl der Stunden wieder herabsetzen, ohne 
dafs damit tiefgreifende Änderungen verbunden werden müfsten. 

Anders steht es mit Forderungen der gedachten Art, für deren Erfüllung 
ein Eingriff in die einmal gegebene Organisation notwendig ist. 

Behauptet man z. B. mit Recht, dafs die gleichmäfsige Ausbildung nach 
der fremdsprachlichen und nach der mathematisch-naturwissenschaftlichen Seite, 



l ) Vgl. die Verhandlungen auf der letzten Versammlung (1898) deutscher Naturforscher 
und Ärzte in Düsseldorf. 



Neue Jahrbücher. 1899. II. 



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2 A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 

welche die preufsischen Lehrpläne von allen Anstalten fordern, für das Mittel- 
gut unserer Schüler eine allzu schwere Belastung ist, so liefse sich zwar 
durch erweiterte Kompensationen der Prüfungsordnung einige Abhilfe schaffen, 
eine gründliche Heilung würde aber den Aufbau des ganzen Schulwesens 
verändern. 

Gerade weil die Frage der Überbürdung von Lehrern und Schülern mit 
der Frage der Organisation des gesamten Schulwesens in einem gewissen Zu- 
sammenhange steht, wird man dieser Organisation eine noch breitere und tiefere 
Teilnahme entgegenbringen müssen, als es bisher geschehen ist. 

Man hat sich mit ihr schon viel beschäftigt, auch aufserhalb des Gebietes 
der preufsischen Lehrpläne, deren Geltung sich bekanntlich nicht blofs auf das 
Königreich Preufsen erstreckt. 

Die Erörterungen über die Organisation des höheren Schulwesens in 
Preufsen bilden eine gewaltige Masse von Kritik, das Wort in gutem und in 
bösem Sinne genommen, aber man kann dieser Kritik nicht den Vorwurf ersparen, 
dafs sie nur selten versucht hat, sich zu einer Kritik grofsen Stiles zu erheben. 

Dem gegenüber steht die Aufgabe, vor aller Anerkennung oder Ver- 
urteilung das Prinzip des gesamten Aufbaus jenes höheren Schulwesens 
zur Anschauung zu bringen und alles Einzelne in Bezug auf seine Überein- 
stimmung mit diesem Prinzip zu prüfen. 

Dafs die Lehrpläne vom 6. Januar 1892 und die entsprechende Prüfungs- 
ordnung der Kritik hie und da gewisse Blöfsen geben, ist nicht zu leugnen; 
man hat wohl allgemein den Eindruck, dafs es zweckmäfsiger gewesen wäre, 
sie vor ihrer Drucklegung noch einmal einer genaueren Durchsicht zu unter- 
ziehen. Von solchen Einzelheiten, welche eine sorgsame Hand leicht bessern 
könnte, soll im folgenden nicht die Rede sein, es soll vielmehr versucht werden, 
lediglich das Prinzip des Aufbaus darzulegen, welches in dem höheren 
Schulwesen Preufsens zur Geltung kommt, und damit echte Kritik zu fördern. 

Dazu ist es freilich nötig, den Blick von der Gegenwart aus rückwärts zu 
lenken und auch hier das Verständnis des augenblicklich Gegebenen in der 
Vergangenheit zu suchen. 

Auf diese Notwendigkeit weist die preufsische Unterrichtsverwaltung selbst 
hin, wenn sie ihre Vorschläge für die Neuordnung (vgl. Denkschrift 1892, Ein- 
leitung) als c das Ergebnis einer Jahre lang fortgesetzten Sammlung und Prüfung 
des in der betreffenden Litteratur angehäuften Materials' bezeichnet. 

Echte Kritik am geschichtlich Gegebenen d. h. eine Kritik, welche 
hier für die Arbeit der Zukunft wirken will, kann nur genetisch sein. 

Es handelt sich darum, auf Grund eines vorurteilslosen Studiums des 
breiten Gebietes des Thatsächlichen in dessen geschichtlicher Folge Ent- 
wickelungen d. h. zielstrebige Reihen von Veränderungen zu sehen 
und zu bestimmen. 

Aus dem Gesetze einer solchen Reihe (Zug der Entwicklung oder Ent- 
wicklungstendenz), das man aus deren geschichtlich vorliegendem Teile abliest, 
schliefst man auf die Fortsetzung der Reihe, welche in der Gegenwart lebendig 



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A. Wemicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 3 

ist, und auf deren weitere Fortsetzungen, welche noch im Schofse der Zukunft 
schlummern. 1 ) 

So gewinnt man das Verständnis der Gegenwart aus der Vergangenheit 
und gelangt dazu, die Zukunft, wie Schleiermacher gelegentlich sagt, zu *kal- 

1^116^^. 

So vermag man zwischen den ausgedehnten Gelanden der Reaktion und 
der Revolution den schmalen Pfad reformatorischen Schaffens zu finden. Nur 
wer auf diesem Pfade wandelt, ist im stände, dem Zuge der Entwickelung 
zu dienen. 

Könnten wir das vielverschlungene Gewebe des geschichtlichen Bestandes 
mit Sicherheit in Reihen von zielstrebigen Veränderungen auflösen und ver- 
möchten wir die Gesetze dieser Reihen zu bestimmen, ohne dem Irrtume zu 
verfallen, so lägen auch die. Pfade reformatorischen Schaffens klar vor uns da. 

Die Grenzen, welche allen menschlichen Bestrebungen gesetzt sind, hindern 
uns daran, und darum wird auch bei dem reinsten Wollen der Kampf um 
die Gestaltung der Zukunft niemals ein Ende finden. 

Trotzdem bleibt die genetisch-kritische Betrachtung 8 ) das einzige 
Mittel, den grofsen Bereich aller überflüssigen Erörterungen über das Kommende 
möglichst einzuschränken und die oft so erhöhte Temperatur der Debatten auf 
ihr normales Mafs zurückzuführen. 

c Unda fert, nee regitur' — so schrieb Fürst Bismarck einmal unter 
sein Bildnis. In demselben Sinne hat er sich sehr oft geäufsert, gelegentlich 
auch ausführlicher, und damit eine scharf bestimmte Geschichtsauffassung 
bekannt, von der er sich thatsächlich bei seinem Wirken durchaus leiten liefs. 
Gerade weil er die Gebundenheit des Einzelnen gegenüber dem Ent- 
wickelungszuge des geschichtlich Gegebenen 8 ) klar erkannt hatte, ver- 
mochte er auch diesem Zuge zu folgen, und dadurch wurde er der grofse Real- 
politiker. Die Lehre, welche uns sein Leben und Wirken giebt, sollte man 
nicht ungenutzt lassen, sie gilt für alle Gebiete des geschichtlich Gegebenen. 

Im folgenden soll nun versucht werden, die gegenwärtige Organisation 
des höheren Schulwesens in Preufsen einer solchen genetisch-kriti- 
schen Betrachtung zu unterwerfen, natürlich soweit es in dem Rahmen 
einer kurzen Abhandlung möglich ist. 

Die preufsische Neuordnung vom 1. April 1892 ist nicht zu verstehen ohne 
genauere Berücksichtigung der entsprechenden Neuordnung vom 1. April 1882. 
Mit letzterer kam für Preufsen eine prinzipielle Frage von weittragender Be- 



*) Vgl. dazu meine Abhandlungen in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philo- 
sophie 1886/87 'Die asymptotische Funktion des Bewufstseins'. 

*) Ihr gegenüber steht Hegels genetisch-konstruktive Betrachtung. Hier wird 
der Begriff 'Entwickelung' nach Umfang und Inhalt dogmatisch bestimmt und dann dem 
Thatsächlichen aufgezwungen. 

*) Diese Gebundenheit zeigen uns auch die Lebensgeschichten der Pädagogen, be- 
sonders der Pädagogen, welche in der Schulverwaltung thätig waren. Hier mag etwa an 
Wiese und Bonitz erinnert werden. 

1* 



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4 A. Wemicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 

deutung zum Entscheide, deren Beantwortung noch heute die Grundbedingung 
für die Stellung der Einzelnen im Schulkampfe bildet, es handelte sich um 
die Bestimmung des Begriffes der Allgemeinbildung und um die damit 
gegebenen Folgerungen für die Organisation des höheren Schulwesens. 

Die preufsische Ordnung vom 1. April 1882 fafst zum erstenmale Gymnasium, 
Realgymnasium und Oberrealschule als neunstufige Anstalten für All- 
gemeinbildung äufserlich zusammen, die preufsische Ordnung vom 1. April 1892 
fugt dieser äufseren Verbindung die innere Verkettung hinzu. 

Der äufseren Verbindung von Gymnasium und Realgymnasium dienten 
bereits die Verfügungen des Kultusministeriums vom 12. Januar 1856 für die 
Gymnasien und vom 6. Oktober 1859 für die (Latein führenden) Realschulen 1 ) 
als geschichtlich gegebene Stützpunkte, während das Auftreten der Oberreal- 
schule neben jenen beiden Anstalten in weiten Kreisen als etwas ganz Neues 
empfunden wurde. Thatsächlich war dieses Neue in langsamer und zielbewufster 
Arbeit vorbereitet worden, aber diese Arbeit entzog sich und entzieht sich 
noch heute vielfach den Blicken, Weil sie nicht unter dem preufsischen Kultus- 
ministerium, sondern unter dem preufsischen Handelsministerium geleistet 
worden war. 

Es wird deshalb nötig sein, zunächst diesem Punkte einige Worte zu widmen. 

Als der Wiener Kongrefs den armen deutschen Ländern endlich den er- 
sehnten Frieden gebracht hatte, da wandte man sich überall mit Fleifs und 
Geschick den wirtschaftlichen Aufgaben zu, welche ihrer Lösung harrten. 
Diese Arbeit, welche auch für die Entwickelung des gesamten Schulwesens von 
hoher Bedeutung war, wurde bald ein gemeinsames Band für die einzelnen 
deutschen Staaten. Schon 1828 konnte Goethe 2 ) vorausschauenden Blickes 
sagen: *Mir ist nicht bange, dafs Deutschland nicht eins werde; unsere guten 
Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das Ihrige thun . . . 
Gymnasien und Schulen für Technik und Industrie sind im Überflufs 
da u. s. w.' Bald begann der deutsche Zollverein das Prophetenwort Goethes 
wahr zu machen. Der geistigen Einigung des Deutschtums, welche sich in 
der Kant-Goethe-Schillerschen Zeit vollzogen hatte, folgte der wirtschaftliche 
Zusammenschlufs, und damit rückte auch das Ziel der politischen Sehnsucht 
in greifbare Nähe. 

Für die Epoche des wirtschaftlichen Aufschwunges ist das Entstehen von 
Fachschulen mancherlei Art bezeichnend. Sie entwickelten sich mit dem 
steigenden Bedürfnisse zu höheren und höheren Formen; neben die alten Uni- 
versitäten traten die technischen Hochschulen und andere akademische Anstalten, 
deren Kette erst in allerjüngster Zeit durch die kaufmännische Hochschule 
(Leipzig, Ostern 1898; Aachen und Wien, Herbst 1898) geschlossen worden ist. 

Innerhalb dieser Fachschulentwickelung wurde in Preufsen und in ge- 
wissem Sinne auch in Württemberg und in Österreich sozusagen als Neben- 

x ) Zur Geschichte der Realgymnasien vgl. Steinbarts Artikel in Heins encyklopädischem 
Handbuche und den betreffenden Abschnitt in Paulsens Geschichte des gel. Unterr. 
*) Bei Eckermann, 23. Oktober 1828. 



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A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 5 

produkt eine Anstalt für Allgemeinbildung gewonnen, welche zu dem modernen 
Gymnasium Frankreichs in Parallele steht. 1 ) 

Die preufsische Oberrealschule, welche eigentlich als neusprachliches Gym- 
nasium bezeichnet werden müfste, hat sich aus einer kleinen gewerblichen 
Fachschule stetig, unter Abscheidung von Fachschulen niederer und mittlerer 
Art, zu einer Anstalt für Allgemeinbildung entwickelt, deren Lehrplan mit dem 
des Gymnasiums nahezu übereinstimmt, wenn man in diesem Lateinisch durch 
Franzosisch und Griechisch durch Englisch ersetzt denkt. 2 ) 

Für Preufsen, welches dem Kreise W. v. Humboldt? die erste feste Organi- 
sation seiner Gymnasien (1816) verdankt, war es Kunth, der Erzieher der 
Gebrüder v. Humboldt, gewesen, welcher in der geringen allgemeinen und 
fachlichen Bildung der Gewerbetreibenden die Hauptursache für das Darnieder- 
liegen der Gewerbethätigkeit in Preufsen gesehen und demgemäfs auf eine Be- 
seitigung dieser Übelstände hingewirkt hatte. In seinem Gutachten an den 
Minister v. Altenstein vom 22. August 1818 heifst es: 'Die Leiter eines gewerb- 
lichen Geschäftes in engeren und weiteren Sphären müfsten einsehen lernen, 
dafs und auf welchen wissenschaftlichen Gründen ihr Geschäft oder 
Gewerbe beruht, und welche Veränderungen Verarbeitung und Handel in ver- 
schiedenen Ländern von jeher erfahren haben, und zwar beides wenigstens so 
weit, dafs sie, wenn sie künftig ein Buch über ihr besonderes Geschäft oder 
Gewerbe, dessen innere und äufsere Gestaltung im Fortschritt der Zeit, zu 
lesen wünschen, es verstehen, auch sonstige Gelegenheiten, sich für ihr be- 
sonderes Fach weiter auszubilden, gern und verständig benutzen, überhaupt das 
Bedürfnis eines erhöhten geistigen Lebens und Wirkens fühlen mögen.' 

Schon war auch für Preufsen der Mann erstanden, welcher diesem Be- 
dürfnisse der Zeit in praktischer Weise zu genügen wufste, der geniale und 
thatkräftige Beuth. Der Verein zur Beförderung des Gewerbefleifses in Preufsen 
und das technische Institut (1827) in Berlin verdanken ihm ihre Entstehung, 
ebenso in den Provinzen die Handwerker- (1817) und Gewerbevereine (1821), 
sowie die Provinzialgewerbeschulen. 

Während sich das Technische Institut zu Berlin (1827 Gewerbeinstitut, 
1866 Gewerbeakademie genannt) langsam zu einer akademischen Anstalt ent- 
wickelte, um schliefslich im Verein mit der Bauakademie die technische Hoch- 
schule Berlin-Charlottenburg (1. April 1879) zu bilden, entwickelten sich zu- 
gleich die Provinzialgewerbeschulen, welche zunächst tediglich niedere Fachschulen 
gewesen waren, Schritt für Schritt weiter als Vorschulen des Technischen 
Institutes (höhere Technik) und als selbständige Fachschulen für die mittlere 
Technik. 

Dieser Doppelbestimmung entsprechend suchten sie einerseits Schulen für 

*) In Sachsen ist man bei der Staatsgewerbeschule (Chemnitz), in Bayern bei den 
Industrieschulen stehen geblieben, während die Reichslande ebenso wie Baden, Oldenburg 
und Braunschweig die preufsische Oberrealschule nachgebildet haben. 

*) Eine ausführlichere Darstellung findet man in meiner Programmabhandlung, Braun- 
schweig, 1896: f Die Oberrealschule vom Jahre 1892.' 



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6 A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 

Allgemeinbildung zu werden und anderseits Schulen für Fachbildung zu bleiben, 
ein innerer Zwiespalt, dessen Lösung allmählich immer dringlicher wurde. 

Als nun der schulmäfsige Betrieb auf dem Gewerbeinstitute schrittweise durch 
die Verfügungen vom 23. August 1860, 23. November 1860 und 1. Oktober 1864 
beseitigt und dieser Anstalt infolgedessen auch der Name ^Gewerbeakademie' 
beigelegt worden war, liefs sich die Erörterung der geeigneten Vorbildung für 
die höhere Technik nicht langer hinausschieben. So kam es im preufsischen 
Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten im Januar 1869 zu 
der denkwürdigen Schulkonferenz, durch welche die Provinzialgewerbeschulen 
mit Entschiedenheit auf die Bahn der Allgemeinbildung gedrängt wurden. 

Nach den Vorschlägen Nottebohms, welcher das Gewerbeinstitut oder die 
Gewerbeakademie bis zum Jahre 1868 geleitet hatte, sollte jener innere Zwie- 
spalt im Leben der Provinzialgewerbeschule dadurch ausgeglichen werden, dafs 
die Fachbildung für die Technik auf die oberste Klasse beschränkt und dafs 
daneben eine oberste Klasse für Allgemeinbildung geschaffen würde, welche 
im Verein mit den darunterstehenden Klassen eine geeignete Vorschule für die 
Studierenden der höheren Technik bilden müfste. 

Dazu sollten neben dem längst eingeführten und stark betonten Unterricht 
im Deutschen noch Geschichte und neuere Fremdsprachen in den Lehr- 
plan aufgenommen werden. 

Der Gedanke an eine Allgemeinbildung für akademische Studien, 
bei welcher Französisch und Englisch die Rolle von Lateinisch und 
Griechisch übernehmen sollen, ringt hier zum erstenmale in Preufsen nach 
praktischer Gestaltung, allerdings unterstützt durch die Erwägung, dafs dem 
Techniker die Kenntnis moderner Fremdsprachen von besonderem Werte, ja 
fast unentbehrlich ist. 

Die Vorschläge Nottebohms wurden im Prinzip von der Konferenz (1869) 
angenommen und erhielten durch die Verfügung vom 21. März 1870 ihre amt- 
liche Bestätigung. 

So entstanden in Preufsen lateinlose Schulen von 8 Jahresstufen, deren 
drei oberste Klassen (Untersekunda, Obersekunda und einjährige Prima) die 
staatliche 'Reorganisierte Provinzialgewerbeschu]e , bildeten, während 
der Unterbau von Fall zu Fall als städtische Anstalt eingerichtet wurde. 

Neben der Prima mit allgemeinbildenden Fächern (A) bestanden besondere 
Primen für Bauhandwerker (B), Maschinenbauer (C) und technische Chemiker (D), 
so dafs also vor der obersten Klasse eine vierfache Gabelung eintrat. 

Während die Abiturienten der Fachprimen unmittelbar in die Praxis über- 
gingen, stand den Abiturienten der Abteilung A, von denen in der Reife- 
prüfung u. a. ein französischer und ein englischer Aufsatz (oder auch ein Diktat) 
aus dem Gebiete der Technik gefordert wurde, vor allem das rechtmäfsige 
Studium auf der technischen Hochschule offen und ferner der Zugang 
zu dem Lehramte an den Schulen, aus denen sie hervorgegangen waren (ab- 
gesehen von der Lehrbefähigung für Geschichte und neuere Sprachen). 

Unter dem 10. August 1871 erschien ein besonderes Prüfungsreglement für 



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A. W ernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 7 

dieses Lehramt, dessen Kandidaten ihre Studien nicht auf der Universität, 
sondern auf der technischen Hochschule machen sollten. Am 1. Januar 1874 
erfolgte die Gleichstellung der Lehrer an den Reorganisierten Gewerbeschulen* 
im Gehalte mit den Lehrern an den Gymnasien und Realgymnasien, und zwar 
durch eine Allerhöchste Kabinetsordre, die folgenden Jahre brachten auch die 
Gleichstellung in Bezug auf den Wohnungsgeldzuschufs. 

Diese neuen Schöpfungen des preufsischen Handelsministeriums hatten so- 
fort im preufsischen Kultusministerium die gebührende Beachtung gefunden. 
Als nun von diesem im Jahre 1873 zur Vorbereitung eines allgemeinen Unter- 
richtsgesetzes nach Berlin eine Konferenz (Oktoberkonferenz) berufen wurde, 
bildete naturgemäfs die veränderte Lage der lateinlosen Realschulen den Mittel- 
punkt der Erörterungen. Eine unmittelbare Folge dieser Konferenz war, dafs 
jetzt das Kultusministerium von seiner Seite (13. April 1874) eine lateinlose, 
neunstufige Realanstalt (mit Französisch und Englisch) neben der Latein führenden 
Realanstalt 1 ) im Prinzip anerkannte und sich überdies (allerdings erfolglos) 
bemühte, die beiden Realanstalten sofort in jeder Beziehung gleichzustellen. 

Im Hinblick auf diese Wendung waren bereits am 1. April 1874 in Berlin 
zwei lateinlose Realschulen zum neunstufigen Aufbau übergegangen; sie erhielten 
am 24. April 1876 das Recht, ihren Schülern bei der Versetzung nach Ober- 
sekunda den Berechtigungsschein für den einjährig freiwilligen Militärdienst zu er- 
teilen und erlangten am 30. Juni 1876 die Gleichstellung ihrer Reifezeugnisse mit den 
Reifezeugnissen der Realgymnasien auf Grund einer Nachprüfung im Lateinischen. 

Es war klar, dafs die Schulen des Handelsministeriums entweder dem 
Vorgange der beiden Berliner Anstalten folgen oder eine Rückbildung nach 
der fachlichen Seite vornehmen mufsten. 

Vor denselben Aufgaben standen auch zu gleicher Zeit die entsprechenden 
Anstalten im Königreich Württemberg, aber in Zukunft gingen die Wege im 
Norden und im Süden auseinander. 

Im August 1878 trat im preufsischen Handelsministerium eine Schul- 
konferenz zusammen, an welcher u. a. auch Vertreter des Kultusministeriums 
teilnahmen. Die Frucht war der Erlafs des Handelsministeriums vom 1. November 
1878, dessen wesentlicher Inhalt folgender ist: 

1. Die allgemeinbildende Anstalt wird neunklassig mit einem Schnitte (Ein- 
jährigfreiwilligenschein) zwischen Unter- und Obersekunda. 

2. Die technische Fachschule, deren Lehrgang auf zwei Jahre ausgedehnt 
wird, schliefst an die Untersekunda an (mittlere Fachschule). 

3. Es ist gestattet, die neunklassige Anstalt ohne Fachschule einzurichten 
(höhere Gewerbeschule); es ist gestattet, den sechsklassigen Unterbau 
selbständig zu machen und ihn mit einer Fachschule zu verbinden (niedere 
Gewerbeschule); es ist gestattet, beide Schulen mit Gabelung hinter Unter- 
sekunda zu vereinigen. 

l ) Die Abiturienten der Realgymnasien hatten unter dem 7. Dezember 1870 auch das 
Recht erhalten, Mathematik, Naturwissenschaften und neuere Sprachen zu studieren und 
die entsprechende Staatsprüfung abzulegen. 



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8 A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 

Am 1. April 1879 übernahm das Kultusministerium die technische Hoch- 
schule, welche aus der Vereinigung von Bauakademie und Gewerbeakademie 
hervorgegangen war, und auch die Gewerbeschulen. 

Die ministerielle Denkschrift, welche über die neunstufigen lateinlosen 
Anstalten für Allgemeinbildung Auskunft giebt, sagt u. a.: Es ist 'nicht an- 
zuerkennen, dafs zum Kennzeichen höherer allgemeiner Bildung die Beherrschung 
der toten klassischen Sprachen unbedingt gehöre, und dafs daher eine Schule 
eine höhere allgemeine Bildungsanstalt nur dann sein könne, wenn wenigstens 
eine der beiden toten Sprachen auf ihrem Lektionsplane steht. Eine solche 
Ansicht verwechselt den Begriff der Bildung mit dem der gelehrten, sprach- 
lichen und historischen Forschung und beruht thatsächlich auf einer durch die 
Einseitigkeit der älteren Einrichtungen des deutschen Unterrichtswesens zu 
entschuldigenden Überhebung über einen grofsen Teil der gebildeten Klassen 
der Nation. Zum Wesen höherer allgemeiner Bildung wird überall gerechnet 
werden müssen, dafs beide Gebiete menschlichen Erkennens, die Geistes- und 
die Naturwissenschaft, das sprachlich-historische und das mathematisch- 
physikalische Element gepflegt werden; aber es gehört nicht zum 
charakteristischen Merkmal einer allgemeinen Bildungsanstalt, dafs 
auf ihr die toten statt der lebenden, modernen Sprachen gelehrt 
werden/ 

In diesem Sinne verteidigte ein Bonitz als Vertreter des preufsischen 
Unterrichtswesens im Abgeordnetenhause (1879) den neuen Begriff der 
Allgemeinbildung. Nachdem er die historisch-philologische und die mathe- 
matisch-naturwissenschaftliche Bildung als die beiden Seiten der Allgemein- 
bildung charakterisiert hatte, erklärte er u. a.: c Das aber kann man nimmermehr 
sagen, dafs, um der historisch -philologischen Seite der Vorbildung ebensowohl 
nach ihrer logisch-formalen Bedeutung als nach der ethisch-ästhetischen Ein- 
wirkung der Beschäftigung mit der Litteratur gerecht zu werden, die Kennt- 
nis der alten Sprachen nicht blofs ein höchst wertvolles Mittel, 
sondern das unbedingt unerläfsliche Erfordernis sei. Eine solche 
Ansicht würde schon durch die Erfahrung widerlegt. Wir müfsten einen 
grofsen Teil aus dem Bereiche der Gebildeten unserer Nation ausstreichen, 
wenn wir durchaus von der Kenntnis der beiden alten Sprachen das Wesen 
der Bildung abhängig machten/ 

Demgemäfs wurden auch die c höheren Gewerbeschulen', für welche übrigens 
bei den Verhandlungen mit den Städten der Name ^Technisches Gymnasium* 
üblich geworden war 1 ), den Gymnasien und Realschulen in jeder Hinsicht 
gleichgestellt, abgesehen von der Berechtigung ihrer Zeugnisse. 

Auf Grund dieser Sachlage erwuchs die preufsische Neuordnung vom 
1. April 1882. 

Mit ihr erhielten die ^Höheren Gewerbeschulen', welche gemäfs der 
ministeriellen Denkschrift vom Jahre 1878 etwa als c Neusprachliche Gymnasien' 



») Vgl. z. B. B. Nieteche, Geschichte der Stadt Gleiwitz, 1886, S. 431. 



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A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 9 

zu bezeichnen gewesen wären, den durchaus irreleitenden und auch an und für 
sich falsch 1 ) gebildeten Namen c Oberrealschulen', ein Verlegenheitstitel, dessen 
Ursprung 2 ) völlig unklar ist. 

Sieht man von der Einführung dieser Bezeichnung ab, welche in der Folge 
die Veranlassung zu einer grofsen Menge von unnützen Mifsverständnissen ge- 
worden ist, so entsprechen die Lehrplane vom 1. April 1882 durchaus den 
Ausführungen der ministeriellen Denkschrift vom Jahre 1878, soweit es im 
Hinblick auf die notwendige Schonung des geschichtlich Gegebenen zu er- 
warten war. 

Die entsprechende Cirkularverfügung weist zunächst darauf hin, dafs die 
Konferenz vom Oktober 1873 c wesentlich dazu beigetragen habe, die allgemein 
gültigen Erfahrungen von den zufälligen Beobachtungen beschränkter Bedeutung 
zu unterscheiden'. Auf dieser Konferenz hatten auch die Klagen der Universitäts- 
lehrer über die Vorbildung der Studierenden eine offizielle Bestätigung erhalten, 
hier wurde anerkannt, c dafs der wissenschaftliche Sinn bei der studierenden 
Jugend abnehme, dafs sie im allgemeinen weder ausdauerndes Interesse noch 
genug positives Wissen zum Studium mitbringe*. 

Bedenkt man, dafs die Gymnasien mit dem Lehrplane vom Jahre 1856 
die Universität noch vollkommen beherrschten, als jene Klagen erschollen, so 
wird man es begreiflich finden, dafs auch der Lehrplan des Gymnasiums einigen 
Änderungen unterzogen wurde: das fremdsprachliche Gebiet verlor 7 Stunden, 
während das mathematisch -naturwissenschaftliche Gebiet 6 Stunden gewann. 
Dafs innerhalb des fremdsprachlichen Gebietes das Französische auf Kosten des 
Lateinischen und des Griechischen verstärkt wurde, sollte der Satz (S. 5) 
rechtfertigen: *Das Gymnasium ist allen seinen Schülern, nicht blofs denen, 
welche etwa schon aus den mittleren Klassen abgehen, die zeitigere Einführung 
in diese für unsere gesamten bürgerlichen und wissenschaftlichen Verhältnisse 
wichtige Sprache unbedingt schuldig.' 

Im Gegensatze zu dieser Änderung wurde am Realgymnasium, dessen Abi- 
turienten ja unter dem 7. Dezember 1870 ein Teil der philosophischen Fakultät 
eröffnet worden war, das Lateinische um 10 Stunden verstärkt, während das 
mathematisch-naturwissenschaftliche Gebiet hier 7 Stunden verlor. 

Die Oberrealschule unterschied sich von der höheren Gewerbeschule fast 
nur durch einen etwas stärkeren Ansatz (4 Stunden) des Französischen und 
durch die Aufhebung der Verbindlichkeit des Unterrichtes im Linearzeichnen. 

Bezeichnend für den Geist der Lehrpläne ist die Erläuterung (S. 33): 
Französisch und Englisch sind für die Realanstalten 'in ein ähnliches Ver- 
hältnis zu einander gebracht wie das Lateinische und Griechische im Lehrplane 



*) Die geschichtlich bekannten Worte 'Obergymnasium' und 'Untergymnasium' be- 
zeichnen Teile des Gesamtgymnasiums, nach dieser Analogie hätte der Oberbau der neueren 
Anstalten (Obersekunda, Unterprima, Oberprima) allenfalls als Oberrealschule, die ganze 
Anstalt als Realschule bezeichnet werden können. 

*) Die entsprechenden Anstalten Württembergs heifsen heute noch f Realanstalten. ' Die 
österreichische Bezeichnung f Oberrealschule' bietet auch keine Analogie. 



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10 A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 

der Gymnasien, d. h. im Französischen wird ein gröfserer Umfang grammatischer 
Kenntnisse sowie die Befähigung zum freien schriftlichen Gebrauche der Sprache 
gefordert, während im Englischen davon Abstand genommen ist*. *Die Auf- 
gabe, durch den grammatischen Unterricht in einer fremden Sprache die Grund- 
lage sprachlich-formaler Bildung bei den Schülern herzustellen, ist an den Real- 
gymnasien im wesentlichen durch den lateinischen Unterricht zu erfüllen, an 
den Oberrealschulen fällt diese Aufgabe dem Unterrichte im Französischen zu. 
Die Stellung der Oberrealschulen als Lehranstalten allgemeiner Bildung ist 
wesentlich dadurch bedingt, dafs für die Methodik des französischen Unter- 
richtes, insbesondere in den drei untersten Klassen, dieser Gesichtspunkt volle 
Berücksichtigung finde.' 

Im übrigen wird den Oberrealschulen, welche sich c eine steigende Anerkennung 
als Schulen allgemeiner Bildung' erworben haben (S. 4), geraten, die Hinneigung 
zur mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachschule zu überwinden (S. 6), weil 
sie ja den Beweis liefern sollen, dafs auch unter Beschränkung auf moderne 
Sprachen der Aufgabe der sprachlich-formalen und der ethischen Bildung voll- 
ständig Genüge geschieht. 

Ebenso wird den Gymnasien (S. 8) eindringlich eingeschärft, die Bahn der 
philologischen Fachschule zu meiden. 

Die Ergänzung eines Reifezeugnisses des Realgymnasiums oder der Ober- 
realschule zu einem Reifezeugnisse des Gymnasiums erfordert bei ausreichenden 
Gensuren im Deutschen, im Französischen und in der Mathematik lediglich das 
Bestehen einer Prüfung im • Lateinischen, im Griechischen und in der alten 
Geschichte. 

Damit ist das sogenannte Gymnasialmonopol 1 ) in theoretischer Hinsicht 
völlig überwunden. Dafs in dieser Nachprüfung nicht eine neunjährige sprachlich- 
gymnasiale Arbeit nachgewiesen werden kann, ist ja selbstverständlich, also 
handelt es sich blofs um eine äufsere Ergänzung bei gleicher Schätzung des 
inneren Wertes der Allgemeinbildung des Gymnasiums und der anderen 
Anstalten. 

Die Ergänzung eines Reifezeugnisses der Oberrealschule zu einem Reife- 
zeugnisse des Realgymnasiums erfordert bei ausreichenden Censuren im Deutschen 
und Französischen das Bestehen einer Prüfung im Lateinischen. 

Ferner mufs noch hervorgehoben werden, dafs die Neuordnung vom 1 . April 1882 
die sechsstufige lateinlose Anstalt (höhere Bürgerschule) als ein durchaus 
selbständiges Gebilde anerkennt und der Bildung, welche hier erworben 
wird, das Gepräge einer in sich geschlossenen, wenn auch natürlich nach 
Umfang und Tiefe der Allgemeinbildung der neunstufigen Anstalten nicht 
gleichstehenden, Allgemeinbildung zugesteht. 

Endlich ist noch zu bemerken, dafs in jener Neuordnung die Bestrebungen 

') Dafs erst in den dreifsiger Jahren unseres Jahrhunderte das Reifezeugnis des 
Gymnasiums für Preufsen zur Bedingung eines rechtmäfsigen Studiums gemacht wurde, ist 
vielfach unbekannt. Im Herzogtum Braunschweig konnten bis zum Jahre 1861 Theologen 
und Juristen ohne Reifezeugnis ihrem Studium obliegen. 



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A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Prenfsen H 

auf eine völlige Verschmelzung von Gymnasium und Realschule, wie sie auch 
auf der Oktoberkonferenz (1873) hervorgetreten 1 ) waren, zurückgewiesen wurden, 
nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern weil sie bei der gegebenen Kulturlage 
aussichtslos seien. Dagegen wird auf den neu geschaffenen, dreistufigen, gemein- 
samen Unterbau für Gymnasium und Realgymnasium mit einer gewissen Be- 
friedigung hingewiesen. 

Das Jahrzehnt von 1882 — 1892 brachte eine Reihe von mehr oder minder 
lebhaften Bewegungen für eine weiter gehende Reform des höheren Schulwesens. 

Von amtlichen Vorgängen ist daraus zunächst die Regelung des Berechtigungs- 
wesens der Oberrealschule hervorzuheben. Als ^Reorganisierte Provinzialgewerbe- 
schulen' hatten diese Anstalten noch den Zugang zum Staatsdienst im Maschinen- 
baufach (27. Juni 1876) erhalten, als ^Höhere Gewerbeschulen* sogar den Zugang 
zum Staatsdienste im gesamten Baufache (Hochbau, Bauingenieurwesen, Maschinen- 
baufach); als c 0berreal8chulen , sollte ihnen aufserdem noch das Berg-, Forst-, 
Post- und Steuerfach eröffnet werden. 

Da die geplante Erweiterung aber an dem Widerstände der betreffenden 
Ressortminister oder an den hinter diesen stehenden Beamtenkreisen scheiterte, 
so wurden auch die früher gewahrten Rechte zurückgezogen. 2 ) Unter warmer 
und uneingeschränkter Anerkennung der Leistungen der Anstalten gab der Kultus- 
minister sein Bedauern über diesen Vorgang kund, dem er bei den bestehenden 
Rechten der Einzelministerien machtlos gegenüberstand. 

Dieser in der Geschichte des deutschen Schulwesens wohl einzig da- 
stehende Vorgang war das Zeichen für eine äufserst lebhafte Verstärkung der 
Schulreformbewegung. 

Zunächst erreichten die Direktoren der schwer getroffenen Anstalten, deren 
Abiturienten auch der Zugang zum Lehramte nach Aufhebung des betreffenden 
Reglements vom 10. August 1871 verschlossen worden war, mit Unterstützung 
der gleichfalls stark in Mitleidenschaft gezogenen Kommunen nur das Eine, dafs 
in Zukunft das gesamte Berechtigungswesen dem Gesamtministerium unter- 
stellt wurde. 

Dafür aber nahmen sich die deutschen Ingenieure der gefährdeten 
Anstalten zielbewufst und energisch an und stellten mit anderen Kreisen zu- 
sammen die Gegenforderung eines gemeinsamen sechsstufigen latein- 
losen Unterbaus für alle höheren Schulen. 

Der Gegensatz der Meinungen kam in den bekannten beiden Petitionen, 
welche weit über die Grenzen Preufsens hinausgriffen, zur Darstellung. 

Von besonderem Werte war es, dafs einer der Unterzeichner der Heidel- 
berger Erklärung, und zwar kein Geringerer als der Altmeister der römischen 
Geschichtsforschung, Th. Mommsen, bei dieser Gelegenheit 8 ) in längerer Be- 

l ) Hier entwickelte auch Ostendorf seinen Plan, den fremdsprachlichen Unterricht mit 
dem Französischen beginnen zu lassen. 

*) Vorschriften über die Ausbildung und Prüfung für den Staatsdienst im Baufache 
vom 6. Juli 1886. 

*) Brief an Jonas, Weidmanns Schulkalender für 1889/90. 



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12 A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 

gründung für ein neusprachliches Gymnasium neben dem altsprach- 
lichen Gymnasium eintrat. 

Die ganze Bewegung führte zu der Berliner Dezemberkonferenz (1890), deren 
Ergebnisse die unmittelbare Grundlage für die Neuordnung vom 1. April 1892 
bildeten. 

Auf jener Konferenz siegte das Prinzip der Arbeitsteilung zwischen 
Gymnasium und Oberrealschule und demgemäfs erklärte man das Real- 
gymnasium für überflüssig. 

Die Annahme dieses Prinzips von Seiten der preufsischen Schulverwaltung 
hätte einen Bruch mit ihrer Vergangenheit bedeutet; denn die ministerielle 
Denkschrift vom Jahre 1878 und die Neuordnung vom Jahre 1882 erkannten 
einen bestimmten Begriff der Allgemeinbildung an, der durch die drei An- 
stalten Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule, unbeschadet der Ver- 
schiedenheit ihrer Lehrpläne, verwirklicht werden sollte. 

Die preufsische Schulverwaltung blieb ihrer Vergangenheit getreu: die 
Ordnung vom Jahre 1892 stellt sich durchaus als eine weitere Entwickelung 
der Ordnung vom Jahre 1882 dar, obwohl sie im einzelnen durch die Ver- 
handlungen der Dezemberkonferenz bestimmt wurde. 

Für ein geübtes Auge zeigt schon die Verschiedenheit der äufseren An- 
ordnung in den Lehrplänen vom Jahre 1882 und in den Lehrplanen vom 
Jahre 1892 die weitere Entwickelung deutlich an. 

Die Lehrpläne vom Jahre 1882 haben die Einteilung: 
I. A. Gymnasium, B. Progymnasium. 

II. A. Realgymnasium, B. Oberrealschule, C. Realprogymnasium, D. Real- 
schule. 

lH. Höhere Bürgerschulen. 

Dagegen gilt für die Lehrpläne vom Jahre 1892: 

A. Gymnasium und Progymnasium. 

B. Realgymnasium und Realprogymnasium. 

C. Oberrealschule und Realschule. 

D. Varianten für den Lehrplan der Realschule. 

Während ferner im Jahre 1882 die Einteilung der Lehraufgaben an eine 
Einteilung nach den Anstalten angeknüpft wurde, wurde im Jahre 1892 
eine Einteilung nach den Lehrfächern zu Grunde gelegt, innerhalb welcher 
die Varianten für die einzelnen Anstalten zur Sprache kommen. 

In der neuen Ordnung tritt also die Gleichstellung der einzelnen 
Anstalten und die Gemeinsamkeit ihrer Lehraufgaben in den 
Vordergrund. 

Derselbe Gesichtspunkt kam auch in der Prüfungsordnung voll zur Geltung, 
obwohl in ihr die äufsere Anordnung selbstverständlich der Einteilung nach 
den Anstalten folgen mufs. 1 ) 

') Es wird sogar in der Praxis allgemein als Übelstand empfunden, dafs hier Ver- 
weisungen von einer Anstalt auf die andere vorkommen. Die Ordnung sollte in sechs von- 
einander völlig unabhängige Abschnitte (Gymnasium, Progymnasium; Realgymnasium, 



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A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 13 

Was nun die Einzelheiten anlangt, so liegt zunächst ein Fortschritt der 
neuen Ordnung darin, dafs den gemeinsamen Gebieten in den Lehrplänen 
der drei Anstalten auch wirklich die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt 
wird. Sind die Anstalten nach einem Prinzip der Allgemeinbildung auf- 
gebaut, so mufs das gemeinsame Gebiet der Lehrpläne für diese auch eine 
ganz besondere Bedeutung haben. 

Demgemäfs werden auch 'Religion, Deutsch und Geschichte* in den Lehr- 
plänen als die ethisch bedeutsamsten Lehrgegenstände in dem Organismus 
der höheren Schulen bezeichnet (S. 18) und auch die entsprechende Denkschrift 
weist unter Nr. 8 nachdrücklich auf die Sicherung der 'gemeinsamen ethischen 
Grundlage' für alle Anstalten hin. 

Dafs die 'ethisch bedeutsamsten' Gegenstände das 'humanistische Kern- 
stück' des ganzen Unterrichtsbetriebes für alle Anstalten bilden, ist selbst- 
verständlich. 1 ) 

Der nationale Humanismus, welcher ursprünglich von der deutschen 
Volksschule gepflegt wurde, hat zunächst die Realanstalten erobert und dann 
auch das Gymnasium wieder in Besitz genommen. 2 ) Nun ist die Grundlage 
der Menschenbildung dieselbe für die Volksschule, für die sechsstufigen An- 
stalten aller Arten und für die neunstufigen Anstalten aller Arten, wenn auch 
jede dieser drei Gruppen dabei nach Umfang und nach Tiefe ihr besonderes 
Ziel hat. Die Bildung der Persönlichkeit auf Grund dieses nationalen Humanis- 
mus beruht auf dem einheitlichen Zusammenschlüsse von religiösem Empfinden, 
nationaler Gesinnung und kulturgeschichtlicher Einsicht. 

Der hohen Bedeutung des Deutschen, welche überdies durch die Prüfungs- 
ordnung gesichert wird, giebt die Mahnung (S. 18) Ausdruck: 'Die empfäng- 
lichen Herzen unserer Jugend für deutsche Sprache, deutsches Volkstum und 
deutsche Geistesgröfse zu erwärmen.' 

Ferner ist die Frage der sprachlich- logischen Schulung durch die Fremd- 
sprachen in der neuen Ordnung weiter herausgearbeitet. 

Es wird bestimmt, dafs nur eine Fremdsprache in den Dienst der sprach- 
lich-logischen Schulung gestellt werden soll 3 ) und dafs die anderen Fremd- 
sprachen lediglich der Erschliefsung der betreffenden Litteratur oder Kultur 
zu dienen haben. 

Diese eine Fremdsprache ist entweder Lateinisch oder Französisch. 'An 
den lateinlosen Schulen hat das Französische bezüglich der sprachlich-logischen 
Schulung dieselbe Aufgabe zu lösen wie an Latein lehrenden das Latei- 
nische' (S. 34). 



Prorealgymnasium; Oberrealschule, Realschule) zerfallen. Ebenso wird es übrigens in der 
Praxis als Übelstand empfunden, dafs in den Lehrplänen nicht Französisch und Englisch 
zunächst für die Oberrealschulen in geschlossener Form bearbeitet worden sind. 

*) Bei der Ordnung vom Jahre 1882 war vor allem den Fremdsprachen die ethische 
Bildung zugewiesen. 

*) Vgl. den Lehrplan des Humboldtschen Kreises. 

•) Vgl. Mommsens Brief an Jonas a. a. 0. 



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14 A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 

Damit wird eine Äquivalenz der Fremdsprachen behufs sprachlich- 
logischer Schulung anerkannt, während anderseits dem deutschen Unterricht 
der stoffliche Ausgleich zugewiesen wird, welcher in Bezug auf die fremd- 
sprachliche Variante der einzelnen Anstalten notwendig erscheint. Im deutschen 
Unterrichte soll das Gymnasium Shakespeare kennen lernen, die Realanstalten 
Homer und Sophokles. 

Endlich ist noch darauf hinzuweisen, dafs die Lehraufgaben der einzelnen 
Anstalten auf dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gebiete und 
auch im Zeichnen einander so weit angenähert sind, als es bei der geschicht- 
lich gegebenen Zersplitterung unseres höheren Schulwesens zur Zeit möglich 
erscheint. 

Die Herabsetzung der Gesamtstundenzahl und die Vermehrung der Stunden 
für körperliche Übungen, welche in der neuen Ordnung durchgeführt ist, ver- 
anlafste einen Ausfall an anderer Stelle. Dieser Ausfall traf auf allen An- 
stalten in erster Linie das fremdsprachliche Gebiet. Das Gymnasium verlor 1 ) 
hier 18 (zuerst sogar 21), das Realgymnasium 13 (zuerst sogar 16), die Ober- 
realschule 10 Stunden. Das mathematisch-naturwissenschaftliche Gebiet behielt 
auf dem Gymnasium genau den alten Bestand und erlitt auf den Realanstalten 
eine geringe Einschränkung, das Zeichnen wurde auf dem Gymnasium um 
2 Stunden vermehrt, auf dem Realgymnasium um 2 Stunden vermindert und 
auf den Oberrealschulen wesentlich eingeschränkt. 

Auch diese Änderungen entsprechen, ebenso wie geringe Verstärkungen 
des Deutschen, genau dem Bestreben, zwischen den Wegen der historisch- 
philologischen und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fachschule überall 
einen Mittelpfad einzuschlagen. 

An das humanistische Kernstück, welches die Fächer 'Religion, 
Deutsch und Geschichte' bezeichnet, schliefsen sich tiberall als Flügelstücke 
die fremdsprachliche Gruppe und das mathematisch-naturwissenschaftliche Gebiet 2 ), 
während der Erdkunde und dem Zeichnen eine gewisse vermittelnde Rolle zufällt. 

Der Begriff der Allgemeinbildung, welcher hier zur Geltung kommt, fordert 
in objektiver Hinsicht, 'fremdsprachliche und mathematisch-naturwissen- 
schaftliche Bildungselemente auf kulturgeschichtlicher Grundlage 
in einer ethisch-religiösen Weltanschauung zu vereinen', und in sub- 
jektiver Hinsicht, 'selbstlose Persönlichkeiten von nationaler Prägung 
zu erziehen, die ihre Zeit verstehen, weil sie die Vergangenheit 
kennen, und darum für die Zukunft zu wirken wissen'. 

Dafs durch die Neuordnungen vom Jahre 1882 und vom Jahre 1892 im 



*) Zum Teil aber, um Platz für wahlfreien Unterricht im Englischen zu schaffen. 

*) Schon in den Lehrplänen von 1882 heifst es (S. 6): Die Beeinträchtigung der natur- 
wissenschaftlichen Elementarbildung trifft diejenigen, welche dem naturwissenschaftlichen 
oder einem damit zusammenhängenden Studium sich später widmen, noch nicht einmal 
so nachteilig als alle die anderen, deren Berufsstudium keinen Anlafs giebt zur Ausfüllung 
dieser Lücken.' In ähnlichem Sinne äufsern sich auch andere Verfügungen der Schul - 
Verwaltung. 



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A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in PrenTsen 15 

Gegensatz zu früheren Tagen ein Gymnasium neuen Stiles geschaffen worden 
ist, unterliegt keinem Zweifel. Ferner Stehende sehen hier deutlicher als die 
zunächst Beteiligten. 1 ) 

Freilich ist das Gymnasium neuen Stiles fast ganz und gar das 
alte preufsische Gymnasium, welches durch Wilhelm v. Humboldt 
und seinen Kreis geschaffen wurde (1816). 

Dieses war im Laufe der Zeit auf die Bahn der altsprachlich-historischen 
Fachschule gedrängt worden, weil die altsprachlichen Philologen die alte 
Gemeinsamkeit zwischen Universitätsphilologie und Schulphilologie festhalten 
wollten; es hat seine natürliche Rückbildung (1882 und 1892) erfahren, als 
sich mit der Entwickelung der Universitätsphilologie der Bruch zwischen dieser 
und der Schulphilologie als unheilbar erwies. 

In einem Punkte ist allerdings der Humboldtsche Plan nicht wieder er- 
reicht worden: dort wird das fremdsprachliche Gebiet des Gymnasiums lediglich 
durch Lateinisch und Griechisch ausgefüllt, heute ist in ihm (abgesehen von 
dem Hebräischen) auch Französisch eingedrungen und wahlfreies Englisch. 

Könnte man das altsprachliche Gymnasium wieder, seinem Prinzipe ent- 
sprechend, von dem verbindlichen Unterrichte in modernen Fremdsprachen be- 
freien, so würde es auch die alte Kraft wiedergewinnen, die es bis in die 
dreifsiger Jahre unseres Jahrhunderts hinein und auch darüber hinaus gehabt hat. 

In dem preufsischen Gymnasialplan vom 12. Januar 1816 sind dem 
Deutschen, das den Mittelpunkt des Unterrichts bilden soll, von Sexta bis 
Oberprima 6 bis 4 Stunden, dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gebiete 
in allen Klassen je 8 Stunden, dem Zeichnen von Sexta bis Obertertia 3 bis 
2 Stunden wöchentlich zugewiesen, und die alten Sprachen sind reichlich angesetzt. 

In dem neuen preufsischen Gymnasialplane (1892) sind dem mathematisch- 
naturwissenschaftlichen Gebiete ebenso wie im Jahre 1882 in allen Klassen 
5 bis 6 Stunden zugewiesen, d. h. für dieses Gebiet, dessen Stundenansatz selbst 
Bonitz an einzelnen Stellen (Unter- und Obertertia) als einen Notbehelf be- 
zeichnet hat, ist die alte Ausdehnung noch nicht wieder erreicht worden. 2 ) 

Indem man dem Gymnasium ungefähr sein altes Gepräge zurückgab, fand 
man auch die Möglichkeit, ihm die neuen Schöpfungen als gleichberechtigte 
Glieder des höheren Schulwesens zur Seite zu stellen. 

Demgemäfs beruht die innere Verkettung der einzelnen Anstalten in der 
Ordnung vom 1. April 1892 auf folgender Grundlage: 

1. Religion, Deutschend Geschichte bilden auf allen Anstalten das huma- 
nistische Kernstück des ganzen Unterrichtsbetriebes. 

2. Die Ausbildung auf dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gebiete und 
im Zeichnen ist, soweit es die geschichtlich gegebene Zersplitterung des 
höheren Schulwesens zuläfst, auf allen Anstalten dieselbe. 

l ) Vgl. Wendts Artikel 'Gymnasium' in Reine encyklopädischem Handbuche oder 
v. DillmannB Schrift f Das Realgymnasium u. s. w.', 1896. 

*) Die Mitte von durchschnittlich 7 Stunden dürfte heute für alle Anstalten das richtige 
Mafs bezeichnen. Vgl. meine Pläne in 'Kultur und Schule', S. 197 f 



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16 A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 

3. Der Unterschied von Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule, 
welcher durch die fremdsprachliche Variante bestimmt wird, ist wegen der 
Äquivalenz des Lateinischen und Franzosischen behufs sprachlich-logischer 
Bildung und wegen des stofflichen Ausgleichs im deutschen Unterricht 
nicht von wesentlicher Bedeutung. 

Demgemäfs sind auch die Anforderungen der Prüfungsordnung für die 
einzelnen Anstalten im Prinzip durchaus analog gebildet: Lateinisch und 
Griechisch stehen hier stets zu Französisch und Englisch in Parallele, während 
Deutsch überall die Führung hat; das Französisch des Gymnasiums entspricht 
aufserdem etwa der Naturwissenschaft der Realanstalten. 

Nur bei den Oberrealschulen ist ein rudimentäres Element 1 ) stehen ge- 
blieben: ungenügende Leistungen in der Mathematik können hier nur durch 
mindestens gute Leistungen in Physik und Chemie ausgeglichen werden, d. h. 
sie können in praxi überhaupt nicht ausgeglichen werden, denn ein *Gut' in 
Physik und ein 'Ungenügend* in Mathematik sind bei demselben Schüler un- 
möglich. 2 ) 

Kleine Härten sind natürlich zu verzeichnen. So ist die Abschlufsprüfung 
für das Gymnasium entschieden schwerer als für die Oberrealschule, die Reife- 
prüfung an den Gymnasien etwas leichter als die an den Oberrealschulen und 
diese wiederum etwas leichter als die an den Realgymnasien. Dafs die Real- 
anstalten in der Reifeprüfung mit einem fremdsprachlichen Aufsatz und mit 
einer Übersetzung in die Fremdsprache abschliefsen, während das Gymnasium 
nur eine Übersetzung in die Fremdsprache verlangt, verdient vielleicht besonders 
hervorgehoben zu werden, und zwar im Hinblick auf die lange verteidigte (und 
unserer Ansicht nach sehr berechtigte) Ansicht, dafs erst ein freier Aufsatz 
(natürlich nicht ein Phrasenkonglomerat) den richtigen Mafsstab für die Aus- 
bildung in einer Fremdsprache giebt. 

Die stärkere Belastung des Realgymnasiums in der Reifeprüfung hängt 
damit zusammen, dafs die Anordnung der Fremdsprachen für diese Anstalt 
überhaupt nicht sachgemäfs durchgeführt ist. Da es zu den Latein lehrenden 
Anstalten gehört, so soll das Lateinische nach den allgemeinen Vorschriften 
der Lehrpläne die sprachlich -logische Schulung übernehmen, während doch 
anderseits im Französischen ein freier Aufsatz als Abschlufs gefordert wird. 
Soll hier Lateinisch die führende Fremdsprache sein wie auf dem Gymnasium, 
so mufs auch die Stundenzahl im Lateinischen beider Anstalten dieselbe sein, 
und der französische Aufsatz mufs fallen; macht man Französisch zur führenden 
Fremdsprache, so genügt es, von Obersekunda an Latein zu treiben, da es sich 
dann nur um den kulturellen Anschlufs der Vergangenheit an die Gegenwart handelt. 



*) Ein anderes rudimentäres Element ist die Weisung, auf den Realanstalten in den 
Fremdsprachen den Wortschatz auch nach der technischen und kommerziellen Seite aus- 
zubilden. Wo sollen unsere Neusprachler die dazu nötige sachliche Einsicht gewinnen? 

*) Wegen der Abänderung dieser Bestimmung ist der Verein zur Förderung des latein- 
losen höheren Schulwesens bereits beim preufsischen Ministerium vorstellig geworden, 
bisher allerdings vergeblich. 



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A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 17 

Die Ergänzung der Reifezeugnisse der Realanstalten zu einem Reife- 
zeugnisse des Gymnasiums ist ohne jede weitere Bedingung auf die Fächer 
Lateinisch und Griechisch beschränkt, und zwar unter verhältnismäfsig leichten 
Anforderungen. 

Überhaupt sind alle drei Anstalten, abgesehen von den Berechtigungen 
ihrer Zeugnisse, einander genau gleich gestellt. 

An den unmittelbaren Berechtigungen des Gymnasiums und des Real- 
gymnasiums wurde nichts geändert, den Abiturienten der Oberrealschule wurden 
alle Rechte, die sie vor 1886 besafsen und die, welche sie damals erhalten 
sollten, zuerkannt, aufserdem wurde ihnen das Lehramt für die mathematisch- 
naturwissenschaftlichen Fächer eröffnet. 

Einer eigenen Betrachtung bedürfen noch die Beziehungen, welche die Ordnung 
vom Jahre 1892 zwischen den neun stufigen und den sechsstufigen Anstalten fest- 
gestellt hat, zumal da ihnen die Schulverwaltung eine besondere Bedeutung beilegt. 

Nachdem die Ordnung vom Jahre 1882 die Allgemeinbildung der sechs- 
stufigen lateinlosen Schule als eine in sich geschlossene Allgemeinbildung 
zweiter Stufe anerkannt hatte, lag es nahe, auch für die Progymnasien eine 
ähnliche Anordnung zu ermöglichen. Da aber die Progymnasien lediglich un- 
vollständig entwickelte Gymnasien waren, so konnte diese Anerkennung nur 
erfolgen, wenn auch für die sechs unteren Klassen der Gymnasien ein in sich 
abgeschlossener Lehrplan eingeführt wurde. 

Im preufsischen Abgeordnetenhause hatte der Minister v. Gofsler bereits 
am 6. März 1889 und am 18. März 1890 den Plan eines sechsstufigen Unter- 
gymnasiums entwickelt, und diesen Anregungen entsprechend wurde dann 
1892 der Schnitt zwischen Untersekunda und Obersekunda ausgeführt, während 
zugleich die früheren siebenstufigen Progymnasien in sechsstufige Anstalten 
verwandelt wurden. 

Man hat gegen diesen Schnitt im Lehrplane vielfach Bedenken geäufsert 
und vor allem die Sache so darzustellen beliebt, als wenn hier ein unberechtigter 
Eingriff der Militärverwaltung vorläge. 

Thatsächlich handelt es sich aber bei jenem Schnitte um eine allgemeine 
wirtschaftliche Forderung, welche von Landwirtschaft, Handel und Industrie 
ebenso zielbewufst vertreten worden ist, wie von Heer und Marine, bei deren 
Durchführung aber der an Einflufs reichste Faktor allerdings auch am deut- 
lichsten sichtbar wurde. 

Unsere Zeit, die nun einmal unter dem Zeichen des Kampfes um den 
Weltmarkt steht, bedarf im Gegensatz zu früheren Tagen einer Masse von 
Leuten, die ihre fachliche Ausbildung auf Grund eines sechsstufigen allgemein- 
bildenden Lehrgangs erhalten. 

Solange man dem Sextaner nicht ansehen kann, wohin ihn später Neigung 
und Fähigkeit weisen, solange wird man auch darauf dringen müssen, dafs 
ihm auf jeder Anstalt, die er besucht, in den ersten sechs Schuljahren eine 
abgeschlossene Bildung gegeben wird. Der Oberstufe kommt es zu, die nötige 
wissenschaftliche Erweiterung und Vertiefung vorzunehmen. 

Keno Jahrbücher. 1899. II. 2 



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18 A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 

Die Anerkennung des Schnittes zwischen Unter- und Obersekunda ist eine 
Notwendigkeit, weil wir als Nation mit unserem lebenden Kapitale so sparsam 
als möglich wirtschaften müssen, in einer Zeit, wo das Wohl und Wehe eines 
Volkes in äufserer Beziehung fast ganz von seiner Stellung auf dem Welt- 
markte abhängt. Diese Stellung bestimmt aber auch das innere Leben in 
mehr als einer Hinsicht; denn die Nation, welche im Kampfe um den Welt- 
markt unterliegt, vermag auch nicht auf die Dauer einer Minderheit ihrer 
Glieder die freie Mufse zu gewähren, welche Wissenschaft und Kunst und das 
Patenkind beider, die Philosophie, für sich fordern. 

Unter den Rechten, die jetzt an die Versetzung von Untersekunda nach 
Obersekunda oder an die Abgangsprüfung unserer sechsstufigen Anstalten ge- 
knüpft sind, spielt die Feststellung der wissenschaftlichen Befähigung zum ein- 
jährig-freiwilligen Dienste, namentlich nach Einführung der zweijährigen Dienst- 
zeit, erfahrungsmäfsig eine verhältnismäfsig geringe Rolle. 

Auch die höheren Mädchenschulen Preufsens sind, abgesehen von der drei- 
stufigen Vorschule, sechsstufige Anstalten für Allgemeinbildung. 1 ) 

Für die Folge ist nicht jener Schnitt auf Grund des Lehrplans zu be- 
kämpfen, sondern der Lehrplan, falls es nötig ist, dem Schnitte anzupassen. 

Ob es zweckmäfsig war, diesen Schnitt nach aufsen hin durch die Ab- 
schlufsprüfung weithin sichtbar zu machen, ist eine Frage für sich. 

Jedenfalls ist die Polemik gegen die Abschlufsprüfung 2 ) von der Erörterung 
über die Einführung des Schnittes im Lehrplane völlig zu trennen. 

Persönlich halte ich die Abschlufsprüfung in unserem Zeitalter der Reglements 
und der Examina für ein notwendiges Übel, das erst beseitigt werden kann, 
wenn die Einführung des Schnittes von keiner Seite mehr beanstandet wird. 

Dafs die Abschlufsprüfung aus Gesundheitsrücksichten (Pubertät u. s. w.) 
beseitigt werden müfste, wird man nur dann behaupten dürfen, wenn man 
zugleich für den Fortfall der Abgangsprüfung der sechsstufigen Anstalten ein- 
zutreten bereit ist. 

Mit jenem Schnitte ist die preufsische Schulverwaltung zu der Über- 
lieferung jener Zeiten zurückgekehrt, in denen Deutschland in der Welt etwas 
bedeutete und im besonderen auch eine Stellung auf dem Markte der Völker 
hatte. In den Tagen von Albrecht Dürer und Hans Sachs war die Latein- 
schule sowohl höhere Bürgerschule als auch Vorbereitungsanstalt für die 
Artistenfakultät. 

Die geschichtliche Entwickelung unseres Schulwesens, welche von diesem 
Zustand ausgeht, ist bestimmt durch die unseligen Kriege und Wirren, in denen 
das deutsche Bürgertum seiner alten Macht entkleidet wurde. 

Mit dem neuen Aufschwünge unseres wirtschaftlichen Lebens, in den der 
grofse Krieg mitten hinein gefallen ist, haben sich auch ähnliche Verhältnisse 
gebildet, wie sie sich einst, etwa seit der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, 
allmählich herausgebildet hatten. 

*) Vormals waren sie siebenstufig wie die älteren Progymnasien u. s. w. 

*) Vgl. dazu die Verhandlungen der letzten Direktorenkonferenz der Provinz Hannover. 



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A. Wemicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 19 

Die alte Lateinschule ist heute in dreifacher Form vorhanden, als Pro- 
gymnasium, als Prorealgymnasium und als Realschule, während die alte Artisten- 
fakultät durch die Oberbauten des Gymnasiums, des Realgymnasiums und der 
Oberrealschule ersetzt wird. 

Kein Wunder, dafs man den Gedanken an eine Verschmelzung aller sechs- 
stufigen Anstalten gefafst und verteidigt hat. 

Von den verschiedenen Plänen für eine solche Verschmelzung hat zur 
Zeit nur der Plan des 'Vereins für Schulreform* in praktischer Hinsicht eine 
gewisse Bedeutung. 

Schon die Lehrpläne vom Jahre 1892 erkennen das Altonaer System 
(S. 8) mit seinem dreistufigen, gemeinsamen, lateinlosen Unterbau für Real- 
gymnasium und Realschule an, und die entsprechende Denkschrift (vgl. Nr. 2) 
stellt weitere Versuche mit einem solchen gemeinsamen Unterbau für alle 
Anstalten in Aussicht, und zwar 'in Erwägung der unverkennbaren praktischen 
Vorteile, die mit dem Gelingen dieses Planes verbunden wären'. 

Dementsprechend ist in Preufsen eine verhältnismäfsig grofse Anzahl von 
Reformschulen entstanden, auf denen praktisch erprobt werden soll, ob sich 
der Unterricht im Lateinischen auf den Gymnasien und Realgymnasien ohne 
Gefährdung der Lehrziele von Sexta aus oder der Unterricht im Griechi- 
schen auf dem Gymnasium von Untertertia aus um einige Stufen herauf- 
schieben läfst. 

Dafs man auch mit diesen Versuchen, denen noch die grofsen Humanisten 
an der Wende des vorigen und dieses Jahrhunderts fraglos zugestimmt hätten, 
lediglich auf ältere Schuleinrichtungen zurückgreift, ist bekannt. 

Dafs diese Versuche im Falle ihres Gelingens eine gewisse Bedeutung 
hätten, kann nicht bestritten werden. 

Abgesehen von der Lösung der Schulfrage für kleine und mittlere Städte 
würde Eins erreicht: bei einem gemeinsamen Lehrplane von Sexta bis Unter- 
tertia kann gleichmäfsig entschieden werden, nicht etwa, ob ein Schüler auf 
das Gymnasium, das Realgymnasium oder auf die Oberrealschule gehört, wohl 
aber, ob er sich überhaupt für eine höhere Schule eignet oder nicht. In diesem 
Sinne ist der gemeinsame dreistufige Unterbau eine Bedingung einer zweck- 
mässigen Sichtung des Schülermaterials. 

Abgesehen von diesen Punkten stellen jene Versuche nur eine interessante 
Phase dar in dem *struggle for life* unter den Fremdsprachen. 

Es wurde schon hervorgehoben, dafs der Lehrplan des preufsischen Gym- 
nasiums seit den Tagen W. v. Humboldts nicht etwa durch eine Verstärkung 
von Mathematik und Naturwissenschaften ruiniert worden ist, wie man zu 
sagen pflegt, sondern durch das Eindringen der modernen Fremdsprachen, 
welches sich schrittweise verfolgen läfst. 

Vermag das Gymnasium die modernen Fremdsprachen nicht wieder aus- 
zuscheiden 1 ), so bieten sich ihm zwei Wege zur Rettung. Entweder mufs es 



l ) Wenigstens aus dem Unterbau d. h. bis einschliefslich Untersekunda. 

2* 



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20 A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 

zu einem vierstufigen Oberbau übergehen, wie ihn übrigens auch der Plan 
des Humboldtschen Kreises vorsah, oder es mufs in die Bahn der philologisch- 
historischen Fachschule einlenken, d. h. in seinem Lehrplane ein Mischsystem 
von Allgemeinbildung und philologischer Berufsbildung zur Geltung bringen. 

Im letzteren Falle würde die Oberrealschule gezwungen sein, für sich ein 
Mischsystem von Allgemeinbildung und mathematisch -naturwissenschaftlicher 
Berufsbildung anzunehmen. 

Bei diesem Zustande, der z. B. in Württemberg besteht 1 ), würde eine 
Arbeitsteilung zwischen Gymnasium und Oberrealschule, wie sie der Mehrheit 
der Berliner Dezemberkonferenz vorschwebte, eintreten können. 

Dafs diese Arbeitsteilung nach einer gewissen Zeit bei der mehr und 
mehr fortschreitenden Auflösung der festen Standesunterschiede zu einem 
gemeinsamen Unterbau für Gymnasium und Oberrealschule führen mufs, und 
dafs dieser Unterbau kein gymnasiales Gepräge erhalten kann, unterliegt keinem 
Zweifel. 

Die preufsische Schulverwaltung hat den Standpunkt der Arbeitsteilung 
nicht eingenommen, getreu ihrem Begriffe von Allgemeinbildung. 

Eine folgerichtige Entwickelung gemäfs den Ansätzen vom Jahre 1882 
und vom Jahre 1892 mufs hier in Zukunft von den drei Vollanstalten zu 
einem Gymnasium mit bestimmten fremdsprachlichen Varianten führen. 2 ) 

Das humanistische Kernstück des Lehrplans ^Religion, Deutsch und Ge- 
schichte 9 und das mathematisch-naturwissenschaftliche Gebiet lassen neben Erd- 
kunde und Zeichnen einen gewissen Baum frei, welcher im Unterbau für den 
energischen Betrieb einer Fremdsprache und aufserdem für eine zweite völlig 
Platz bietet, im Oberbau allenfalls auch noch für eine dritte. 8 ) 

Würde man in Bezug auf die Wahl dieser Fremdsprachen eine gewisse 
Freiheit lassen, ohne dabei die Berechtigungen der Anstalten von der Wahl 



2 ) Abgesehen von dem Realgymnasium v. Dillmanns und den wenigen Anstalten, welche 
diesem folgen. 

*) Dabei mag auf die Wandlung in der Zweckbestimmung des fremdsprachlichen 
Unterrichtes von 1866 bis 1892 hingewiesen werden. Die Lehrpläne von 1882, welche in 
der Mitte stehen, sprechen noch von 'formaler Bildung', beschränken sie aber nicht mehr 
auf das Lateinische und Griechische. Die Lehrpläne von 1892 kennen nur noch eine 
f sprachlich-logische Schulung', welche durch Lateinisch und Französisch in gleichem Mafse 
zu erreichen ist. In Zukunft wird man nur noch von 'sprachlicher Schulung' durch den 
Unterricht in der Muttersprache und in den Fremdsprachen hören, da der hohe Wert der 
Beschäftigung mit den Sprachen gerade durch deren alogischen Charakter mitbedingt ist. 
Vgl. dazu auch Cauers Aufsatz über formale Bildung in den preufsischen Jahrbüchern, 
Bd. 64. Dafs der Ausdruck 'Klassische Bildung', welcher in den Lehrplänen von 1882 noch 
gelegentlich (S. 19) vorkommt, in den Lehrplänen von 1892 verschwunden ist, mag auch 
noch angedeutet werden. Hier giebt es nur noch 'klassische Schriftsteller' der verschiedenen 
Nationen. 

*) Von Obersekunda an könnte auch das neusprachliche Gymnasium (Oberrealschule) 
Lateinisch treiben, um den kulturellen Anschlufs der Gegenwart an die Vergangenheit zu 
erreichen. Das altsprachliche Gymnasium lehrt auch jetzt Französisch! Vgl. dazu meine 
Pläne in 'Kultur und Schule', S. 197 ff. 



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A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 21 

dieser Fremdsprachen abhängig zu machen, so könnten ein altsprachliches, ein 
neusprachliches und ein gemischtsprachliches Gymnasium friedlich nebenein- 
ander wirken. 

Dieser Frieden könnte auch bei den augenblicklich geltenden Lehrplanen her- 
gestellt werden und dann eine gesunde Grundlage für eine sachgemäfse, durch keine 
äufseren Rücksichten gehemmte Entwickelung der einzelnen Schularten werden. 

Man brauchte dazu nur eine Reihe von Beschlüssen der Dezemberkonferenz, 
welche ja doch durch die Vertreter des altsprachlichen Gymnasiums beherrscht 
wurde, etwa auf folgende Form zu bringen: 

1. Die Reifezeugnisse von Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule 
werden einander genau gleich gestellt. 

2. Kenntnisse und Fertigkeiten, deren Nachweis im Hinblick auf die Unter- 
schiede der Schulbildung für diesen oder jenen Beruf als nötig erachtet 
wird, sind in der Berufsprüfung (Staatsexamen) darzulegen. 

3. An den Universitäten und an den anderen Hochschulen oder wenigstens 
an einzelnen von ihnen sind Anfangs- und Übergangsvorlesungen für den 
Ausgleich der Unterschiede in der Schulbildung einzurichten. 1 ) 

Diese Festsetzungen würden durchaus dem Begriffe der Allgemeinbildung 
entsprechen, gemäfs welchem die preufsischen Anstalten eingerichtet sind. 

Dafs sie nicht einseitig von der preufsischen Regierung getroffen werden 
können, sondern nur auf Grund von Verhandlungen mit den anderen Regierungen 
und zum Teil mit den Reichsbehörden, und dafs analoge Verhältnisse natürlich 
für die anderen Regierungen gelten, erschwert hier jede Lösung. 

Wären diese Festsetzungen getroffen worden, so würde die preufsische 
Regierung auch keine Enttäuschung in Bezug auf die Verminderung des so- 
genannten Gelehrtenproletariats erlitten haben, auf welche ja die neue Ordnung 
des Schulwesens ganz besonders hinwirken sollte. 

Diese Enttäuschung wird bereits amtlich offen zugegeben. Wo der Fehler 
im Ansätze liegt, ist aber durchaus klar: eine strenge und gleichmäfsige 
Sichtung des Schülermateriales auf den höheren Schulen ist für Preufsen 
nur möglich, wenn kein Monopol mehr die Wahl der Anstalt beeinflufst, und 
wenn die Lehrpläne der einzelnen Anstalten den Schülern, welche an der 
Grenze von Quarta und Untertertia, vor allem aber an der Grenze von Unter- 
sekunda und Obersekunda abgehen wollen, den Weg ins Leben erleichtern. 

Dafs in Bayern, Sachsen und Württemberg schon längst ein kräftiges, 
lateinloses Schulwesen emporgeblüht ist, auf das man in Preufsen bei der 
Neuordnung (vgl. z. B. in der Denkschrift Nr. 1) mit gewissen Hoffnungen 
blickte, ist eine Sache für sich. , 

Norddeutschland, einschliefslich Badens, und Süddeutschland, einschliefslich 
Sachsens, zeigen nun einmal in vielfacher Hinsicht verschiedene Gepräge, die 
für das Gebiet des Schulwesens schon durch Namen wie Joh. Schulze und 
Fr. Thiersch hinlänglich bezeichnet werden. 



') Vgl. die Einrichtungen der technischen Hochschule in Stuttgart. 



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22 A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 

Die glänzende Entwicklung des Fortbildungsschulwesens und des niederen 
und mittleren Fachschulwesens auf der einen Seite jener Grenze und der Still- 
stand 1 ) auf diesen Gebieten in Preufsen (abgesehen von den Schulen für die 
Landwirtschaft) geben eine weitere Charakteristik. 

Dort hat man ein offenes Auge für die Bedürfnisse aller Berufe und ist 
deshalb auch geneigt, dem Gymnasium eine Hinneigung zur philologisch- 
historischen Fachschule zu gestatten und daneben vielleicht ihm entsprechende 
Anstalten mit einer Hinneigung zur mathematisch-naturwissenschaftlichen Fach- 
schule zuzulassen, hier stellt man einen bestimmten Begriff der Allgemein- 
bildung in den Mittelpunkt aller Erörterungen. 

Ein Beispiel mag den Unterschied verdeutlichen: die Realanstalten Württem- 
bergs, welche den preufsischen Oberrealschulen annähernd entsprechen, geben 
ihren Abiturienten soviel mathematisch-zeichnerische Fachbildung mit, dafs sie 
das Studium der Maschinentechnik mit 7 Semestern beenden, während die 
Abiturienten der Gymnasien Württembergs dazu 9 Semester brauchen, in 
Preufsen dagegen ist die Studienzeit auf den technischen Hochschulen für die 
Abiturienten der Gymnasien und der Oberrealschulen genau dieselbe, weil hier 
der Unterschied der Anstalten fast nur in der fremdsprachlichen Variante liegt. 

Die Stellung, welche die Majorität der Dezemberkonferenz in der Be- 
rechtigungsfrage einnahm, entsprach den Verhältnissen Württembergs, welche 
sich dort durchaus bewährt haben, stand aber im Widerspruch zu der Über- 
lieferung des preufsischen Schulwesens. 

Gegenüber dem Drängen nach einer Arbeitsteilung zwischen Gymnasium 
und Oberrealschule griff die preufsische Schulverwaltung zurück auf den 
Begriff der Allgemeinbildung, welchen sie bei der Übernahme der lateinlosen 
Anstalten des Handelsministeriums geprägt und verteidigt hatte, und gestaltete 
ihn weiter aus. 

Nachdem nun der Unterschied zwischen Gymnasium, Realgymnasium und 
Oberrealschule in Preufsen im wesentlichen auf die fremdsprachliche Variante 
beschränkt worden ist, welche bei der anerkannten Äquivalenz der Fremd- 
sprachen behufs sprachlich -logischer Schulung und bei dem vorgeschriebenen 
stofflichen Ausgleiche im deutschen Unterrichte als durchaus unerheblich an- 
gesehen werden mufs, ergiebt sich für die preufsische Schul Verwaltung als 
zwingende Folgerung die völlige Gleichstellung der Reifezeugnisse der drei Voll- 
anstalten 2 ), d. h. die Ausdehnung des alten Gymnasialmonopoles auf alle gleich- 
stufigen Anstalten. 

Dem gegenüber steht die Forderung einer Arbeitsteilung, wie sie sich für 
Württemberg bewährt hat, gemäfs den Bedürfnissen bestimmter Berufs- 



*) In den allerletzten Jahren scheint allerdings auch hier die Entwickelung, die in den 
siebziger Jahren zu stocken begann, wieder in Flufs zu kommen. 

*) Vgl. den Vortrag von Matthias in Düsseldorf (jetzt Provinzial-Schulrat in Coblenz) auf 
der letzten Hauptversammlung (1897) des Vereins zur Förderung des lateinlosen höheren 
Schulwesens: Die Gleichwertigkeit der Oberreälschul- und Gymnasialbildung. Vgl. ferner 
Lentz zu 'Kultur und Schule' in der Zeitschrift für Reform der höheren Schulen, 1897, Nr. 2. 



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A. Wernicke: Die Organisation des höheren Schulwesens in Preufsen 23 

gruppen 1 ), sie führt zu einer Zerlegung des alten Gymnasialmonopoles in Unter- 
monopole für die einzelnen Anstalten. 

Je schärfer die Teilung nach Berufsgruppen in den Lehrplänen der einzelnen 
Anstalten hervortritt, um so gröfser wird auch die Aussicht eines gemeinsamen 
Unterbaues, in dem die modernen Fremdsprachen gegen die alten Fremdsprachen 
siegreich vorrücken. 

Innerhalb der preufsischen Organisation ist ein kräftiges altsprachliches 
Gymnasium möglich, gerade auf der Grundlage der Äquivalenz der 
Fremdsprachen behufs sprachlicher Schulung, freilich nur unter Auf- 
gabe des sogenannten Monopoles. 

Welcher Weg ist für unser Volk bei dem schweren Ringen um seine 
Stellung auf dem Weltmarkte der richtige? 

Unda fert, nee regitur. 

Zu vorstehender Abhandlung vgl. Wernicke 'Kultur und Schule', Oster- 
wieck a./Harz, 1896, und den gleichnamigen Artikel in Reins encyklopädischem 
Handbuche, ferner den Vortrag 'Allgemeinbildung und Berufsbildung' 
auf der Naturforscherversammlung von 1897, 'Meister Jakob Böhme, ein 
Beitrag zur Frage des nationalen Humanismus', Braunschweig, Pro- 
gramm 1898, 'Aus dem Gebiete des mathematisch-naturwissenschaft- 
lichen Gymnasialunterrichts' in den Hallischen Lehrproben, Heft 42 u. f. 
und 'Die mathematisch-naturwissenschaftliche Forschung in ihrer 
Stellung zum modernen Humanismus', Berlin 1898. 

Vgl. ferner Wernicke 'Deutsche Handelshochschulen' in Reins Zeit- 
schrift für Philosophie und Pädagogik, 1898, und 'Die Bewegung für das 
kaufmännische Unterrichtswesen Deutschlands' im Braunschweiger 
Magazin, 1897, Nr. 10. 

*) Im Norden wird sie neuerdings durch die Hamburger Schul Verwaltung vertreten. 



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DIE ERRICHTUNG 
EINES ALUMNATS AN DER ZWICKAUER SCHULE (1544) 

Von Ernst Fabian 

Mag auch einerseits die von verschiedenen Seiten aufgestellte Behauptung, 
dafs die Reformation eine zerstörende Wirkung auf die Universitäten und 
Schulen ausgeübt habe, einer gewissen Berechtigung nicht entbehren, so kann 
anderseits doch auch nicht energisch genug immer und immer wieder darauf 
hingewiesen werden, dafs der Schaden, den das deutsche höhere Schulwesen 
durch den Eintritt der Kirchenspaltung erlitt, denn doch nur vorübergehend 
war, und dafs die Ratsherrn der der Reformation zugewandten deutschen 
Städte, dem thatkräftigen Eintreten Luthers und Melanchthons für die Schulen 
nachfolgend, mit anerkennenswertem Eifer teils für die Reorganisation der be- 
stehenden Stadtschulen, teils für die Gründung neuer eintraten, so dafs in ver- 
hältnismäfsig kurzer Zeit der entstandene Schaden nicht nur beseitigt, sondern 
auch das ganze höhere Schulwesen auf neuer, humanistisch -protestantischer 
Grundlage fest begründet war. 

Auch die Stadt Zwickau, die es sich zum Ruhme anrechnen kann, dafs 
sie von jeher, und zwar schon in sehr früher Zeit, dem Schulwesen eine Auf- 
merksamkeit zugewendet habe, wie nur wenige Städte neben ihr im deutschen 
Vaterlande, und deren weithin berühmte Schule, eine der ältesten 1 ) in den 
sächsischen Landen, am Ausgange des 15. Jahrhunderts unter dem Rektorate 
des M. Valentin Strödel (1476 — 90) nach der Angabe des Zwickauer Chronisten 
Peter Schumann 2 ) 900 einheimische und auswärtige Schüler zählte, hat es sich 
unter dem Einflüsse der Reformation und des innerlich mit ihr verbundenen 
Humanismus angelegen sein lassen, für ihr Schulwesen in ausgiebigster Weise 
zu sorgen. Errichtete man doch sogar 1519 unter dem Eindrucke der ersten 
frischen Begeisterung für die griechischen Studien neben der unter der Leitung 
M. Stephan Roths stehenden lateinischen Stadtschule eine griechische Schule, 
die, geleitet von dem berühmten M. Georgius Agricola von Glauchau, einem 
Schüler Mpsellans, in ihrer Art dazumal geradezu einzig dastand und allent- 

*) Die ersten Anfänge der Zwickauer Schule lassen sich bis an das Ende des 13. Jahr- 
hunderts zurückverfolgen: schon 1291 erscheint in einer Kirchenurkunde nach einigen als 
Zeugen namhaft gemachten Zwickauer Priestern auch ein Schulmeister Heinrich (Heinricus, 
rector scholae). S. Herzog, Gesch. des Zwickauer Gymnasiums, S. 1 f. Joh. Müller, Die 
Anfange des sächs. Schulwesens im Neuen Archiv für Sachs. Gesch. VHI S. 32. 

') P. Schumanns hdschr. Annal. I ao. 1490 (Zwick. Batsschulbibliothek). 



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£. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 25 

halben eine derartige Aufmerksamkeit erregte, dafs selbst 'Doktores und 
Magistri' herbeiströmten. Als dann der treffliche Stephan Roth 1521 die 
Vaterstadt verliefs, um die Schule zu Joachimsthal im Erzgebirge zu reorgani- 
sieren, wurden beide Gelehrtenschulen unter Agricolas Leitung vereinigt. Leider 
verliefs dieser bereits 1522 seine Stellung, um in Leipzig seine Studien fort- 
zusetzen. Es darf wohl ferner auch als ein Ausflufs des lebhaften Interesses, 
das die leitenden Männer der Stadt für die Schule hegten, betrachtet werden, 
wenn man den Nachfolger Agricolas, den neuen Rektor M. Leonhard Nather 
oder Natter von Lauingen a. d. Donau, wenige Wochen nach Antritt seines 
neuen Amts beauftragte, eine neue Schulordnung aufzurichten 1 ), die denn auch 
im folgenden Jahre unter dem Titel ^Ordnung defs Nawen Studij vnd yetzt 
aufgerichten Collegij yn fürstlicher Stadt Zwickaw. Auf drey Hauptsprachen 
Hebraysch Grichisch Lateinisch gestelt' in der eben erst errichteten Druckerei 
von J. Schonsperger in Druck erschien. Freilich wird man wohl annehmen 
müssen, dafs diese Schulordnung, wiewohl sie später durch den damals an der 
Zwickauer Schule wirkenden Joh. Rivius auch die Schulen von Annaberg, 
Freiberg und Meifsen beeinflufste 8 ), mehr ein Prunkstück 8 ) war, weil sie mehr 
versprach, als sie halten konnte. Denn wir sehen, wie die Schule trotz aller 
Fürsorge des Rats, trotz der trefflichen Lehrer, infolge der Ungunst innerer 
und äufserer Verhältnisse unter Nather und seinem Nachfolger M. Georg 
Neumann (Neander) von Zwickau mehr und mehr in Verfall geriet. 4 ) Eine 
Änderung in diesen unerquicklichen Verhältnissen trat erst ein, als der Rat 
nach dem Weggange Neumanns auf die warme Fürsprache Georg Agricolas 
den Belgier M. Petrus Plateanus einen ausgezeichneten Gelehrten und einen 
Pädagogen von Gottes Gnaden, zum Rektor wählte, der den Unterricht der 
berühmten Hieronymianerschule zu Lüttich genossen und in Wittenberg zu den 
Füfsen Melanchthons gesessen hatte. In diesem trefflichen Gelehrten und 
Pädagogen war endlich der Mann gefunden, der die Schule wiedet aus ihrem 
Verfalle emporhob und ihr eine Blüte und einen Glanz verlieh, dafs sie weit 

l ) Vgl. über diese Verhältnisse die ausfuhrlichere Darstellung in meiner Abhandlung 
über f M. Petrus Plateanus, Rektor der Zwickauer Schule von 1535 — 1546', im Zwickauer 
Gymnasialprogramm 1878, S. 1 ff. 

*) S. Hartfelder, Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae (Monum. Germ. Paedag. 
Bd. VII): S. 429 Anm. 2. Vgl. J. Müller, Die Zwickauer Schulordnung von 1523, Neue 
Jahrb. für Philologie u. Pädagogik 120. Bd. (1879) S. 476 ff. 

*) S. Paulsen, Gesch. des gel, Unterrichts, Leipzig 1885, S. 121. Sollten doch sogar 
die Schüler der zweiten Klasse unterrichtet werden über den Ackerbau, die Baukunst, die 
Rechte und Arzneikunst. S. Weller, Altes aus allen Teilen der Gesch. u. s. w. II S. 686. 

*) Bemerkenswert ist es, wie sich gerade in dieser Zeit des Verfalls der Gelehrten- 
schule in den bürgerlichen Kreisen, insbesondere unter den Handwerkern, eine Bewegung 
geltend machte, die darauf abzielte, den Knaben einen einfacheren, den Bedürfnissen des 
praktischen Lebens mehr entsprechenden Unterricht zu gewähren, eine Bewegung, der sich 
der Rat auf die Dauer nicht widersetzen konnte. Vgl. darüber sowie über die damals er- 
richtete 'Maydleinschule' meinen Aufsatz 'Die Anfänge des Zwickauer Volksschulwesens ' 
in der Festschrift zur X. Generalvers, des Allgem. Sachs. Lehrervereins, Zwickau 1894, 
S. 86—108. 



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26 E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 

und breit alle anderen Schulen in den Schatten stellte. 1 ) Sein ganzes Leben 
war der Schule geweiht, in treuem Schuldienste erkannte er eine Haupt- 
verpflichtung gegen Kirche und Staat. Seine zahlreichen Schüler erkannten 
mit Dank, wie er sie auf klar bestimmten Wegen sicher und methodisch Tor- 
warts brachte, mit begeisterten Worten rühmen sie sein wunderbares päda- 
gogisches Geschick, die gewaltige Energie in der Aufrechterhaltung der Disziplin.*) 
Ein besonderes Verdienst nicht nur um die Schule, sondern um die ganze Stadt 
erwarb er sich dadurch, dafs er, um dem wissenschaftlichen Streben seiner 
Schüler Gelegenheit zu weiterer Befriedigung zu geben, Anregung zur Errich- 
tung der Schulbibliothek gab. 8 ) Erfolg und Anerkennung wurden seinem 
Wirken in reichstem Mafse zu teil, Rat und Bürgerschaft sowie die Gelehrten 
in Wittenberg hielten ihn in hohen Ehren und unterstützten ihn auf jede 
Weise in seiner Thätigkeit. Sein Name wurde bald in den weitesten Kreisen 
bekannt, und die Zwickauer Schule erlangte unter seiner Leitung nicht nur in 
Sachsen und Deutschland, sondern auch bei den auswärtigen Nationen einen 
solchen Ruf, dafs ganze Scharen von wissensdurstigen Jünglingen, zum Teil 
den vornehmsten adligen Familien angehörend, nach Zwickau strömten. Gerade 
diese aufserordentliche, mit jedem Jahre sich steigernde Frequenz, deren sich 
die Schule unter dem Regimente des Plateanus erfreute, bewirkte aber, dafs 
sich die vorhandenen Schulräumlichkeiten, die sich in der Hauptsache in dem 
1479 von dem berühmten Zwickauer Patrizier Martin Römer 4 ) erbauten, später 
unter dem Namen der alten Kantorei bekannten und 1878 abgebrochenen 
Schulgebäude 6 ) befanden, gar bald als völlig unzureichend erwiesen. Da galt 
es denn, neue, geeignete Räumlichkeiten zu beschaffen. Schon seit langer Zeit 
hatte der Rat mit Rücksicht auf das stete Anwachsen der Schülerzahl sein 
Augenmerk auf den geräumigen Wirtschaftshof des Grünhainer Klosters in der 
^langen Gasse* (jetzt Schulstrafse) gerichtet, wo der klösterliche Hofmeister oder 
Amtmann für die in der Nähe von Zwickau gelegenen ansehnlichen 6 ) Be- 
sitzungen des Klosters seine Wohnung und seine Geschäftsräume hatte. Die 
bereits 1528 ^ vom Rate mit dem Kurfürsten betreffs der Überlassung des 



l ) S. meine Abhandlung über Plateanus S. 6 f. 

*) Dieser straffen Disziplin verdankte damals die Zwickauer Schule den weitverbreiteten 
Spitznamen f Zwickauer Schleifmühle'. S. meinen Plateanus, S. 16. 20 f. 

■) Wiewohl diese erst durch die ihr später testamentarisch vermachte reichhaltige 
Bibliothek Stephan Roths ihre eigentliche Bedeutung erhielt, so wird doch Plateanus aus- 
drücklich in verschiedenen Aktenstücken als f primus fundator' der Bibliothek bezeichnet. 

4 ) Vgl. Herzogs Biographie von diesem um Zwickau hochverdienten Mann, der von 
1475—83 die Stellung eines kurfürstlichen Amtshauptmanns bekleidete; im Zw. Wochenbl. 
1866, Nr. 78 79. 81 und im 14. Heft der Mitteil, des Kgl. Sachs. Altertumsvereins (1866) 
S. 49—63. 

6 ) Aufser diesem Schulgebäude ist noch von einem 'Schulheuselein' die Rede, über 
das nichts weiter bekannt ist. S. Zwickauer Ratsprotokoll (R. P.) Mich. 1642 — eben- 
dahin 1544, Bl. 19 b . 

•) Das Kloster verfügte über einen Besitz von 6 Städten und etwa 40 Dörfern. 

7 ) Zw. Copeybuch 1627/28, Bl. 207 b . 247. 



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E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 27 

geräumigen Gebäudes zu Schulzwecken angeknüpften Unterhandlungen zer- 
schlugen sich zwar, als dann aber 1536 das Kloster selbst säkularisiert wurde, 
erneuerte der Rat seine Bemühungen, den Kurfürsten Johann Friedrich den 
Grofsmütigen zur Überlassung des dem Fiskus anheimgefallenen Klosterhofes 
zu bewegen. Der Landesherr war zwar für seine Person nicht abgeneigt, dem 
Bittgesuche des Rates zu willfahren, und genehmigte in einem Schreiben 1 ) vom 
4. Juli die Überlassung des Hofes unter der Bedingung, dafs ihm der Rat eine 
1498 für die Befreiung des Grünhainer Klosters von allen bürgerlichen Ab- 
gaben vom Abte erhaltene Abfindungssumme im Betrage von 400 mfl. 2 ) wieder- 
erstatte und aufserdem 300 mfl. zum Baue eines neuen aufserhalb der Stadt 
gelegenen Vorwerks für die Bewirtschaftung der Klostergrundstücke entrichte. 
Auch sollte sich der Rat mit dem damaligen Klostervogt oder Amtmann 
Anselm v. Thumshirn, dem auf eine Reihe von Jahren der Hof übertragen 
worden war, ins Einvernehmen setzen und ihm für die Zeit seiner Amtsführung 
eine andere ^bequeme' Wohnung in der Stadt anweisen, da sonst kaum an- 
zunehmen sei, dafs er gutwillig den Hof räumen werde. Sei es nun aber, dafs 
der Amtmann nicht weichen wollte, sei es, dafs man gewisse Rücksichten auf 
ihn nehmen zu müssen glaubte, kurz, die Räumung unterblieb zunächst, und 
die Schule mufste sich mit den bisherigen Räumlichkeiten begnügen. Erst der 
am 24. November 1541 erfolgte Tod des Klostervogts brachte die Stadt der 
Möglichkeit, den Grünhainer Hof zu gewinnen, näher, und der Rat liefs sich 
keine Mühe verdriefsen, das längst ersehnte Ziel zu erreichen und damit den 
geradezu unhaltbar gewordenen Zuständen in der Schule ein für allemal ein 
Ende zu machen. Jedes neue Jahr brachte neue Schüler, die Lehrzimmer ver- 
mochten die Menge der Schüler nicht mehr zu fassen. Mit Rücksicht darauf, 
dafs eine grofse Anzahl fremder Schüler nur schwer unterzubringen war, 
kam man, wie sich auf Grund wichtiger, bisher unbekannt gebliebener Akten- 
stücke des 'Ernestinischen Gesamtarchivs zu Weimar' 8 ) ergiebt, auf den Ge- 
danken, mit der Schule ein Alumnat oder Pädagogium, wie man der- 
artige Anstalten damals zu nennen pflegte 4 ), zu verbinden. Selbstverständ- 
lich erforderte ein so bedeutendes Unternehmen, wie es die Umwandlung des 
Grünhainer Hofes zu Schulräumen sowie die Errichtung eines Alumnats war, 
einen ganz ungewöhnlichen Kostenaufwand. Infolgedessen beschlofs man, den 



x ) S. Zwickauer Ratsprotokoll (Z. R. P.), Montags nach Chiliani [10. Juli]. Datiert ist 
die Urkunde: Torgaw, Dinstags nach Visitationis Mariae [4. Juli] Anno XXXVj°. 

*) Vgl. Herzog, Chronik der Kreisstadt Zwickau I S. 160 und II S. 160. 

*) Das betreffende Aktenkonvoi ut (Reg. 0, 1642, Nr. 662) umfafst 1. einen Bericht des 
Bürgermeisters Osw. Lasan, 2. einen meines Wissens noch nicht veröffentlichten Brief 
Melanchthons , 3. ein Schreiben des Schulrektors M. Petrus Plateanus, alle an den Kur- 
fürsten gerichtet, und 4. die eigenhändig in lateinischer Sprache geschriebene Hausordnung 
für das zu errichtende Alumnat nebst zwei deutschen Exemplaren derselben. 

4 ) Vgl. R. Menge, Art. 'Alumnat' in Reins f Encyklop. Hdbch. d. Pädagogik' I 60 ff. 
Schimmelpfeng: f Über Internatserziehung', im Hdbch. der Erziehungs- und Unterrichtslehre 
für höhere Schulen, herausgeg. v. Baumeister II 2 S. 226 ff Koldewey, Braunschweigische 
Schulordnungen, Mon. Germ. Paed. Bd. VÜI S. 602 (Anm. z. S. 26* 1 ). 



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28 E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnate an der Zwickauer Schule (1544) 

Kurfürsten um Unterstützung bei dem grofsen Werke zu bitten und zugleich 
auch Luther und Melanchthon um ihre Vermittelung in dieser Angelegenheit 
anzugehen, wozu sich denn auch beide gern bereit finden liefsen. Der für die 
Sache begeisterte Bürgermeister M. Oswald Lasan, der beim Kurfürsten Johann 
Friedrich in grofsem Ansehen stand, unternahm es, den Landesherrn selbst für 
das Unternehmen zu interessieren, und begab sich zu Anfang des Jahres 1542 
in eigner Person an den Hof, wo er dem Kurfürsten die Gesichtspunkte, nach 
denen die neue Anstalt errichtet werden sollte, in einem schriftlichen Gut- 
achten 1 ) vorlegte und zugleich auch mit eindringlichen Worten die nachdrück- 
liche Unterstützung des Landesherrn erbat, damit durch dessen Vorgehen dann 
auch die wohlhabenden Adligen und Bürger in der Unterstützung der neuen 
Anstalt durch Errichtung von Stipendien und Legaten zur Nacheiferung an- 
gespornt würden. Vier Punkte waren es hauptsächlich, auf die der Bürger- 
meister das Interesse des Kurfürsten hinzulenken suchte. Erstens bat er, dafs 
die Unterstützung, die der dermalige Rektor Plateanus für seine Person vom 
Altenburger St. Georgenstifte bezöge, für alle Zeiten dem Inhaber des Rektorats 
zugesprochen würde. Zweitens suchte er zur Unterstützung der armen Knaben, 
*die da gemeyniglich treffliche feine Ingenia haben*, um Überlassung von 
jährlich 60 Scheffeln Korn und Weizen aus den Einkünften der von dem 
reichen Zwickauer Patrizier Hans Federangel 2 ), dem Freunde Martin Römers, 
seinerzeit gestifteten Kartause bei Crimmitschau nach. Drittens begehrte er 
mit Rücksicht auf die hohe Schülerzahl — 600 — und die sich dadurch stetig 
steigernde Arbeitslast der Schuldiener, d. h. der neben dem Rektor amtierenden 
Lehrer, zu ihrer bisherigen Besoldung eine Gesamtzulage von 100 Gulden aus 
dem e Gemeinen Kasten'. Viertens bat Lasan den Kurfürsten darum, dem Rate 
die Summe von 300 Gulden 8 ) aus dem Kaufpreise für den Grünhainer Hof als 
Grundstock für die Errichtung der neuen Schulanstalt gegen 5% Zinsen 
gnädigst zu überlassen. 

Auch die beiden Reformatoren Luther und Melanchthon nahmen Gelegen- 
heit, in eigenhändigen Schreiben vom 1. und 2. Januar 1542, worin sie ihrer 
Freude und Teilnahme an dem Vorgehen der Zwickauer Behörden Ausdruck 
gaben, bei dem Kurfürsten ein gutes Wort einzulegen. Erst durch die in 
Weimar vorgefundenen Aktenstücke erhält der vielberufene Brief 4 ) Luthers an 
den Kurfürsten, worin er die beiden Schulen Zwickau und Torgau 'für andern 
zwey treffliche kostliche und edle Kleinoder' nennt, seine eigentliche Erklärung. 
Wenn Luther in dem erwähnten Briefe ferner schreibt: *Vnd mir sehr herzlich 
gefallen hat, dafs die zu Zwickau von sich selbs solcher Sachen sich so ernst- 
lich und tapferlich annehmen und treiben, da sonst in andern Städten und 
Oberkeiten solch Lundtrosse und Schlungel oder gottlose Geizhälse regieren, 



») S. Beil. A. 

*) Vgl. über ihn Herzog, Hanns Federangel, ein mittelalterliches Lebensbild. Webers 
Archiv f. sächs. Gesch. N. F. Bd. I (1876) S. 260 ff. 

*) D. h. die zum Bau des neuen Vorwerks ursprünglich bestimmte Summe. 
4 ) S. de Wette, Dr. Martin Luthers Briefe u. s. w. Bd. V S. 421 f. 



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E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1644) 29 

die wohl so viel weltlicher Andacht haben, dafs sie wollten, Christus mit 
Kirchen und Schulen wären, da der Leviathan regiert', so konnte Zwickau mit 
diesem übrigens wohlverdienten Kompliment um so zufriedener sein, als sich 
daraus erkennen läfst, dafs sich der langjährige Groll, den der grofse Refor- 
mator wegen früherer Kompetenzstreitigkeiten mit dem Rate betreffs der Wahl 
und Entlassung von Geistlichen gegen die Stadt gefafst hatte, völlig gelegt zu 
haben scheint. Von Wichtigkeit ist übrigens der Brief auch insofern, weil er 
allein die Bemerkung enthält, dafs der Rat die kurfürstliche Unterstützung 
nicht für immer, sondern nur für einen Zeitraum von sechs Jahren begehre. 
Melanchthon 1 ) begründet in seinem vom 2. Januar datierten Briefe sein Unter- 
stützungsgesuch zunächst mit der Unzulänglichkeit der Schulräume, die so eng 
seien, dafs ein grofser Haufe der Schüler vor den Stuben stehen müsse, sowie 
mit der betrübenden Thatsache, dafs bei der grofsen Schülerzahl die fremden 
armen Schüler keine Wohnung finden könnten. Von der Hoffnung ausgehend, 
dafs die bewährte Opferfreudigkeit der Zwickauer Bürger sich auch jetzt der 
Schule gegenüber nicht verleugnen werde, richtet er zugleich auch an den 
Kurfürsten die Bitte, die Stadt bei dem bevorstehenden Werke gnädig zu 
unterstützen, zumal da sich ein grofser Mangel an Gelehrten bemerkbar zu 
machen beginne. Was den in dem Aktenkonvolut ebenfalls befindlichen Brief 2 ) 
des Schulrektors M. Petrus Plateanus anlangt, so beschäftigt er sich haupt- 
sächlich mit den persönlichen Angelegenheiten und speziell mit der Zukunft 
des trefflichen Gelehrten. Indem Plateanus mit aller Bescheidenheit, aber zu- 
gleich auch nicht ohne ein gewisses Selbstgefühl auf seine bisherige Thätig- 
keit als Schulmann hinweist, bittet er, um auch für die Zeit, wo er nicht mehr 
dienstfähig sein werde, für sich und seine Familie eine Versorgung zu haben, 
um eine Präbende am Stifte Altenburg. Welchen Erfolg die Verwendung der 
Wittenberger Herren, namentlich aber die Sendung des Bürgermeisters Lasan 
an den Hof gehabt habe, läfst sich im einzelnen nicht nachweisen. Nur 
soviel wissen wir, dafs trotz der vielfachen und eindringlichen Fürsprache erst 
unter dem 2. Oktober 1542 durch einen kurfürstlichen Erlafs 8 ) an den Schösser 
Wolf Beham (Böhme) die endgültige Überweisung des Grünhainer Hofes an 
den Rat gegen Zahlung der festgesetzten Summe von 400 fl. erfolgte. Dem 
von Michaelis genannten Jahres an als Klosteramtmann in Aussicht genommenen 
Martin Scharfenstein wurde bedeutet, er 'möchte sich anderswo vnterbringen', 
der Schösser aber sollte die 400 fl. vorläufig in seiner Verwahrung im Amte 
behalten. Da in diesem Schreiben des Kurfürsten nur von der Übergabe der 
400 fl., die der Rat früher vom Abte erhalten hatte, an den Schösser, nicht 
aber von der Bezahlung der aufserdem zum Bau eines neuen Vorwerks ge- 
forderten 300 fl. die Rede ist, so ist wohl die Vermutung gerechtfertigt, dafs 

») S. Beil. B. ») S. Beü. C. 

■) Zw. Ratsarchiv (Z. R. A.) 1. Alme, 13. Schubk. Nr. 12. Eine Abschrift davon im 
Ratsprotokoll. Die Auszahlung der 400 fl. an den kurfürstlichen Schösser erfolgte nach 
Ausweis des 'Chammerbuchs' Ausgabeteil Mich. 1542 — ebendahin 1543, S. 6. Dornstags 
nach Dionysij [10. Okt.] 1542. 



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30 E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1644) 

der Kurfürst den Bitten des Bürgermeisters Lasan entsprechend diese Summe 
der Stadt für die Einrichtung des Grünbainer Hofes überlassen haben werde. 
Die Übergabe des Hofes erfolgte am 10. Oktober unter grofsen Feierlich- 
keiten 1 ) durch den Schösser an den Rektor Plateanus. Die Kosten aber, die 
der Stadt durch die Einrichtung des neuen Pädagogiums und namentlich wohl 
auch durch einen ausgedehnten Umbau des Grünhainer Hofes erwuchsen, waren 
so bedeutend, dafs der Rat im Vertrauen auf die Zuneigung, die die Ernestiner 
von jeher 2 ), und ganz besonders auch der damals regierende Kurfürst Johann 
Friedrich, der Stadt bewiesen hatten, auf den Vorschlag des Rektors Plateanus 
und einiger anderen Herren den Versuch zu machen beschlofs 3 ), von dem 
Kurfürsten auch die 400 fl., die sich noch in der Verwahrung des Schössers 
befanden, wenn nicht ganz so doch wenigstens zu einem guten Teil zu be- 
kommen. Sei es nun aber, dafs man gleich von Anfang an der Erfüllung 
dieser Bitte nicht allzukühne Hoffnungen entgegenbrachte, sei es, dafs man in 
dem Umbau keine Verzögerung eintreten lassen wollte, man beschlofs 4 ) bald 
nachher auf Ansuchen des Bürgermeisters Lasan, des Ratsherrn und Schul- 
inspektors Dr. Nather und des Rektors Plateanus zum Umbau des Grünhainer 
Hofes eine Anleihe vom 'gemeinen Gut* d. h. aus der Stadtkasse zu bewilligen, 
bis so lange, 'dafs man die alte Schul und das Schulhäuselein , verkaufen 
könne, aus deren Erlös dann die Anleihe zurückerstattet werden sollte. Da 
nun aber der völlige Umbau offenbar mit gröfseren Kosten verknüpft war, als 
man ursprünglich angenommen haben mochte, so fafste man, jedenfalls um 
auch vor allen Dingen für die Unterbringung der fremden Schüler Raum zu 
gewinnen, Mittwoch nach Conversion. Pauli [31. Januar] 1543 6 ) den Beschlufs, 
c erstlich die zwo grossen stuben nach aller notdurfft zu bawen vnd zurichten 
zu lassen', während die übrigen baulichen Veränderungen auf die folgenden 
Jahre verteilt werden sollten. Wie die Ratsrechnungen ('Chammerbücher') der 
folgenden Jahre ausweisen, wurde denn auch jedes Jahr eine gröfsere oder 
geringere Summe zum Ausbau der Gebäude verwendet. Der Umstand, dafs 
die Ausgaben für den Schulbau in der ersten Bauperiode 1542/43 115 g/3o 
36 gr. U (ca. 330 fl.), in der zweiten Periode 1543/44 31 g/3o 48 gr. 3 \ 



l ) Vgl. meinen Plateanus im Zw. Gymnasialprogramm v. 1878, S. 22 f. 

*) So insbesondere Kurfürst Friedrich der Weise, der nach einer Mitteilung des kur- 
fürstlichen Diplomaten und ehemaligen Zwickauer Ratsherrn Dr. Georg v. Komerstadt 
einigen Räten gegenüber, die ihn gegen Zw. einzunehmen suchten, bemerkte, 'er wolle Zw. 
vnuerderbet haben, Zwickaw wahre sein klein Venedig (mit Bez. auf die die Strafsen der 
Stadt damals durchschneidenden kleinen Kanäle), sie sollten Zwickaw zufrieden lassen'. 
S. meinen Aufsatz: f Die Stadt Zwickau unter den Einwirkungen des Schmalkald. Kriegs' 
in Heft I d. Mitteil, des Altertumsvereins f. Zwickau u. ümg., 1887, S. 2. 

8 ) R. P. v. Sonnabend nach Galli [21. Okt.] 1542: f Dieweil ... der Schulmeister 
Mgr. Plateanus neben etlichen Herren es dafür achten, das diese vierhundert Gulden bei 
hochgedachtem, vnserm gnädigsten Herren, wo nicht gar, jhe etwas auszubringen sein 
solten, Als ist beschlossen' u. s. w. 

4 ) R. P. v. 1542/43, Bl. 19 b . f Dornstags nach Catharine [30. Nov.] 1542'. 

6 ) R. P. v. 1542/43, Bl. 31 b . 



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E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 31 

(ca. 90 fl.) betrugen, in der dritten 1544/45 aber, während deren dem Rektor 
Plateanus die Rechnungsführung über den Bau obgelegen zu haben scheint, 
auf 15 g/3o 18 gr. 7 A (ca. 43 fl.) herabgingen 1 ), deutet darauf hin, dafs in 
dem letztgenannten Jahre die Arbeiten sich ihrem Abschlüsse näherten. Es 
war dies um so notwendiger, als die Zahl der Schüler in geradezu erstaun- 
licher Weise zunahm. War dies auch einerseits höchst ehrenvoll für die Stadt 
und ihre Schule, so wurden ihr doch dadurch anderseits auch wieder ganz er- 
hebliche Opfer auferlegt, und als im Jahre 1544 die Schülerzahl auf 800, 
darunter 485 Bürgerskinder, stieg und sich noch stetig mehrte, so wandte sich 
der Rat wiederum vertrauensvoll an den Kurfürsten und entsendete den Bürger- 
meister Lasan und den Rektor Plateanus an den Hof 2 ) mit einem Begleit- 
schreiben 3 ), worin die Schulverhältnisse der Stadt eingehend dargelegt waren. 
Ebenso überbrachten die beiden Abgesandten des Rats dem Landesherrn ein 
Exemplar der Schulordnung von 1537, sowie der Hausordnung für das Päda- 
gogium. Ihre Aufgabe, den Kurfürsten dazu zu bewegen, der Stadt eine Unter- 
stützung für Lehrer und arme Schüler sowie einige Stipendia für das neue 
Pädagogium zuzuwenden, war nicht ohne allen Erfolg. Während nun zwar 
der Kurfürst durch ein Schreiben vom 1. November die Bitte um Verleihung 
einiger Stipendien ohne weiteres genehmigte 4 ), verlautet dagegen von einer 
Unterstützung der Lehrer nichts. In seinem Dankschreiben 5 ) für die beiden 
gewährten Stipendia, die für angehende Theologen bestimmt waren, legt der 
Rat aufs neue dem Kurfürsten die Lage der Schule ans Herz, indem er nament- 
lich darauf hinweist, dafs die Anzahl der Bürgerskinder, 'so in die schule 
gehen, itziger zceit jn die vjC ohne die frembden' betrage. 

So war denn unter der Leitung eines mit aufserordentlichen Lehrgaben 
und einem ganz ungewöhnlichen organisatorischen Talent ausgestatteten Schul- 

*) 'Chammerbuch' v. 1542/43, Ausgabeteil, S. 7, ebenda 1643/44, S. 7. Im Chammer- 
buch von 1544/45, Ausgabeteil, S. 7 heifst es: xv gute /Jo (Schock) xviij gr. vij Zs hat der 
Schulmeister Mgr. Petrus Plateanus verrechent, ausgegeben zu notdurfft des Schulbaws in 

Grünhayner Hoff, an einem priuet vnd anderm' . In den beiden Vorjahren war f Er 

Lorentz Schnabel verordenter vorwalter des Schulbawes jm Grünhayner Hoff'. 

*) Von dieser Reise berichtet uns nur das sogenannte f Chammerbuch' (Ratsrechnung) 
von Mich. 1543 bis ebendahin 1544, Ausgabeteil, S. 17: 

'Sonnabend nach Sebaldj 
iiij g/?o vnd xxxiij gr. haben der Burgermeister Er Oswald Lasan vnd Magister Petrus 
Plateanus selbdritt mit zweyen pferden zwelff tage verzert, als sie der Stipendien halben 
zum Newen padagogio vnd vmb einen Schulgehülffen ann Magister Nicolaen Rudolphi stat 
nach Torgaw vnd Wittenbergk abgeferttiget seind worden. Das fürlohn mitgerechnet.' 

8 ) S. meinen Plateanus S. 32, Beil. H. Gleichzeitig verwendete sich auch der Rat 
für seine Jungfrauschule, f drinne eine grofse antzal Jungkfreulein oder Meidlein stets sein, 
Christlich vnd wol geler et vnd ertzogen werden'. — Die Hausordnung für das Pädagogium 
wird im nächsten Hefte folgen. 

*) Vgl. meine Veröffentlichung f Zwei kurfürstl. Begnadungen' u. s. w. in den Mitteil. 
des Altertums Vereins für Zw. u. IL, Heft III, wo Seite 44 die betreffende Urkunde ab- 
gedruckt ist. 

6 ) Dat. Mitwochs am Tage Elisabethae [19. Nov.] 1644. Abschrift im Copeybuch 
Nr. 19 (R.-A.). 



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32 E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 

mannes 1 ), wie es Petrus Plateanus nach allen uns überlieferten Zeugnissen un- 
streitig gewesen sein mufs, die Zwickauer Schule zu einer Blüte und zu einem 
Ansehen gelangt, dafs sie den Vergleich mit keiner andern Schule weit und 
breit zu scheuen brauchte. 

A 

Bericht des Bürgermeisters Osw. Laean an den Kurfürsten Joh. Friedrich 
Durchlauchtigster vnd Durchlauchter, Hochgeborne Fürsten vnd Herren, bin kurtz- 
verschiener zeit jst E. Chur. vnd f. g. zu derselben eignen handen, eine schrifft von mir 
zugestellet, darjnnen allerley notwendige Artickel vermeldet, dadurch e. Chur vnd f. g. 
gemeyner Stad Zwickaw, meinem Vaterland, viel nutzes zuentspringen verhoffende, wo 
von e. Chur vnd f. g. dieselbigen Artickel gnediglich bewogen vnd denen nachgesatzt würde, 
wie mir gar nicht zweiffei, £. Chur vnd f. g. werden darob ein gnediges bedencken haben 
vnd gnediglich verschaffen, das es zu guttem ende gereiche. Dieweil ich aber eigentlich 
weifs, das dieselbige e. Chur vnd f. g. aus sonderlicher Götlicher Verleihung zu forderung 
gemeynes nutzes der Schulen vnd Gottesdienste geneigt, hab ichs nicht vnterlassen sollen 
vnd wollen, E. Chur vnd f. g. nach einen Artickel, der jhe so notwendig als die andern 
zuuermelden, nemlich wie die weitberuffene Schule e. Chur vnd f. g. Stad Zwickaw jnn 
ein gröfser auffnehmen, denselben e. Chur vnd f. g. zu hohen ehren, ewigem rühm vnd 
preifs, mochte gebracht werden, Vnd do e. Chur vnd fürst, g. jhne diese sache auff meine 
anzeige zu gemute gehen lassen wurden, wie ich zu dem ewigen barmhertzigen Gotte ver- 
hoffe, geschehen soll, wüste ich nicht, was ich auff erden besseres hette ausrichten mügen, 
Dann ich mich schuldig erkenne, alles das, was zu wolfart meines Vaterlandes thut ge- 
reichen, nichtes zu vnterlassen, Demütigs vnterthenigs vleisses bittende E. Chur vnd f. g. 
wolten darob kein vngnedigs misf allen tragen, Sondern jnn gnaden denselbigen folgende 
Artickel auch gnediglich zu gemut füren vnd ernstlich bedencken. 

Nachdem auff schierstkomend Michaelis aus gnediger E. Chur vnd f. Durchlauchtig- 
keiten Verschaffung der Grünhayner Hoff alhie zu Zwickaw, dem Radth heymf allen 
wirdet, denselbigen zur Schulen zugebrauchen, vnd vnser Schulmeister Magister Petrus 
Plateanus mit zeitigem Radthe der ernwirdigen hochgelarten herren Martini Luthers, 
der heiligen Schrifft Doctoris, vnd Magistrj Philip pj MelanchthoniB jhme furgenommen 
hat, den jungen knaben zum besten vnd sonderlich für arme Stadkinder vnd andere, so zu 
Studiren geschickt, ein Pedagogium anzurichten, wie er dann solches begrieffen hat, vnd 
auffs papir etlicher masse, wie beiliegend zu befinden, entworffen vnd zum anheben solches 
notigen ehrlichen wercks, welchs vnser lieber Gott fördern wolte, etwas fürhanden sein 
mufs, Ah ist an Ewer Chur vnd f. g. mein vnterthenigst bitten, dieselben wolten gnedigst 
erscheinen , vnd dis Götliche lobliche werck gnediglich auff folgende wege helffen fördern, 
Ihnen auch gnedigst gefallen lassen, vnd hieran dem ewigen Gotte zu ehren, lob vnd 
preifs, Landen vnd leuten zu ewigem nutz, gedeyen vnd auffnehmen, ein sonderlich ruhm- 
lich gestuft vnd Schulen anrichten. Denn wo derselben e. Chur vnd f. g. vnterthanen, die 
vom Adel, Bürgere vnd andere, derselben Ihrer Chur vnd f. g. zu solchem wercke gneigten 
willen vermercken, werden sonder zweiffei jhr viel sein, die ihre almosen vnd Testament 
auch hierzumachen werden, Vntertheniger tröstlicher zuuersicht, E. Chur vnd fürstliche 
Durchlauchtigkeit werden sich hier au ff gnedigst erzeigen vnd folgende Artickel jnn gnaden 
vermercken. Erstlich Nachdem E. Chur vnd f. g. obgnantem vnserm Schulmeister eine 



') S. meinen Plateanus, S. 16 f. Von den zahlreichen daselbst vorgebrachten Zeug- 
nissen sei nur das von Balthas. Menk angeführt: f Lau dem et celebritatem scholae Cygnensis 
non tantum tutatus fuit, sed etiam amplificavit . . . M. Petrus Plateanus, pietate et doc- 
trina praestantissimus vir, quo viro illis temporibus hae terrae non habuerunt 
magistrum et artificem magis industrium et feliciorem in educatione puerili 
neque instructiorem omnibus iis, quibus ad hanc opus est.' 



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E Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1644) 33 

Thumerey jm Stießt Aldenburgk alle dieweil er alhie die Schule regirt, gnediglich folgen 
lassen, das das einkomen derselben Thumerey, wie es dieser itzige hat, für den Schul- 
meister möchte perpetuirt werden. 

Zum Andern, Dieweil dis furhaben am meisten armen knaben, die da gemeyniglich 
treffliche feine Ingenia haben, aus not oder gebrechen der narung jemmerlich verterben 
müssen, Das E. Chur vnd f. g. zum anfange gnediglich verschaffen wolten, das von dem 
getreydewachs der Carthausen, bey Crymmitzschaw gelegen, jherlich Sechtzigk scheffel 
körn vnd waitz hierzu gereicht wurden. Dann dieselbige Carthause, wie E. Chur vnd 
f. g. sich gnediglich zuerjnnern haben, von einem Bürger alhie Federangel gnant, ge- 
stifftet, erbawet vnd mit grossen zinsen vnd einkomen von dem seinen auffgericht vnd ver- 
sehen worden. 

Zum Dritten, Nachdem vnsere vorfaren alhie jnn E. Chur vnd f. g. Stad Zwickaw 
vngef ehrlich jnn die Sechtzigk lehen gestifftet, welcher einkommen itzo jnn Gemeynen 
kästen geschlagen vnd die Reseruat etzlicher belehnter Priester jherlich widder anheym 
fallen, Das Ewer Chur vnd f. g. gnedigst verschaffen wolten, das zu solchem wereke, do 
jnn die sechshundert Schuler bey handen, vber die geordente besoldung der Schulendiener 
noch jerlich Einhundert gülden aus dem Gemeynen kästen möchten gereicht werden, Dann, 
Gotte sey lobe, solches ohne abbruch der besoldung der kirchen- vnd Schulendiener, auch 
des Armuts wohl mag geschehen, jnn sonderlichem bedencken, das dieselbigen Stiefftere 
jhr almosen furnehmlich den ein wohnern dieser Ewer Chur vnd f. g. Stad zum besten ver- 
ordenet haben, Wie solches jhre stifftbrieffe vnd Confirmationes klar ausweisen vnd mit- 
bringen. 

Zum vierden, Nachdem der Grunhayner Hoff auff niderlegung der dreyhundert gülden 
Gemeyner Stad zur Schulen folgen solle, wie solches E. Chur vnd f. g. gnedigste befehle 
anzeigen vnd vermelden, Das E. Chur vnd f. g. so gnedigst erscheinen wolten vnd dieselben 
dreyhundert gülden als zun grundstein der Stiefftung gnediglich folgen lassen, Also das 
der Radth vnd Gemeyne Stad alhie, dieselbigen dreyhundert gülden haubtsum jherlich 
mit funffzehen gülden verzinsen mochten, Dann es gewis andern vom Adel vnd sonderlich 
wolhabenden Burgern anleytung vnd reytzung geben wurde, jhr almosen auch hierzu zu 
verschaffen vnd die Schulen jnn jhren Testamenten zu bedencken. 

Ewer Chur vnd f. g. wolten dis alles gnedigst erwegen vnd auch gnedigst fördern jnn 
ansehung vnd betrachtung des nutzes, der hieraus Landen vnd leuten vnd furnehmlich der 
armen vnuersorgten Jugend folgen mufs vnd aus Verleihung Gottes gnaden itzo vnd zu 
ewigen zeitten folgen wirdet. 

E. Chur vnd f. g. 

vntertheniger 
gehorsamer 

Oswald Lasan zu 
Zwickaw Burger. 

B 

Schreiben Philipp Melanchthons an den Kurfürsten 

(2. Januar 1642) 

Gottes gnad durch vnsern herrn Jhesum Christum zu uor, Durchleuchtister Hoch- 

geborner gnedigster churfurst vnd herr, E c f g wort die notturfft der Schul zu Zwicka 

vntertheniglich furbracht vnd das es notturfft sey, habe ich solchs selb gesehen, nemlich 

das die gemach jn der ietzigen Schul so eng sind, das ein grosser hauff vor den stuben 

bleiben mufs, welches jm winter dem jungen volk an der gesuntheit schaden bringet, so 

macht es auch sunst Verhinderung. Denn es sind bey sechfshundert knaben, jtem die 

frembden armen knaben haben nit wohnung. 

Vnd so jung volk jn einer behausung beysamen wohnen soll, ifs zum hohisten von 
noten, das es ein vff sehen vnd Regiment habe, solch gesind jn zucht vnd jn einer Ordnung 
zu halden. Nu habe ich das bedencken von solcher Schulordnung, so an E c f g jn vnter- 
tfeue Jahrbücher. 1899. II. 3 



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34 E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 

thenikeit gelanget, besehen vnd ist so viel ich verstehe notturfftiglich bewogen. Diweil 
denn E c f g als ein hochloblicher vnd christlicher churfurst wissen, das zu erhaltung 
christlicher lahr rechte bestellung der Schulen von nödten ist, wissen auch gelegenheit der 
ehrlichen Stat Zwicka, vnd zu hoffen, das ettlich Burger yhr Elemosvnen an dises werk 
wenden werden, Bitt ich auch in vnterthenikeit E c f g wollen sich hierin gnediglich gegen 
bemelter Stadt erzeigen. Es wollen sunst die Schulen jn allen landen dünn vnd swach 
werden, vnd sind vns ictzund leider viel gelarter vnd gottforchtiger menner vnd gesellen 
am Rhein gestorben, da man nit der gleichen hatt nach zu setzen, vnd wirt Beer viel jn 
E c f g land vmb personen geschriben. Darumb bitt ich vntertheniglich E c f g wolle 
gemeiner Christenheit zu gut yhrer vnterthanen schuler des gnediger furderung erzeigen, 
welches gott reichlich belohnen wirt. Gott bewar E c f g allezeit. Dat. Witeberg 
2 Januarij 1542 

E c f g vntertheniger 
Diener 

Philippus Melanthon. 
Dem durchleuchtisten , hochgebornen fursten vnd herrn, herrn Johansfridrich, 
Churfursten, hertzogen zu Sachsen, Landgrauen jn Duringen Marggrauen zu meissen 
vnd Burggrauen zu Magdeburg, meinem gnedigsten herrn. 



Schreiben des M. Petrus Plateanus an den Kurfürsten 
Durchlauchtigi8ter Hochgeborner Churfurst, Gnedigister her. Was vnd wieviel gmeiner 
Christenhait an dem, das die Jugent baydes in der gotselikeyt vnd guten künsten recht- 
schaffen auffertzogen vnd vnderweiset werde, gelegen, Ist E. Churf. G. Got lobe vnuerporgen, 
Als wil meines wenigen Verstandes der Obrikayt vnther andern ires Ampts befohlen, 
rhumlich sein die bestellung tzu thuen, dormit die ihenen, die mit solchem wergk beladen 
vnd des mit vleys apwarten, nicht allein die tzeit vber vnd diweil sie demselben wergk ob- 
liegen, Sonder auch, wen sie nhun dem von wegen ires alters ader schwacheit nicht mehr 
fursein können, mit tzimlichem vnterhalt vorsehen werden. Diweil mich dan der Almechtige, 
vnnser her vnd Got, in diese mühe gesteckt vnd dem nhun etliche Jahr in andern Stetten 
vnd alhier in E. Churf. G. stadt Zuicka obgelegen, wil mir nicht gepüren, mit was ge- 
trewem vleis vnd rhum, auch mit was gedeihe das geschehn, zu melden, Sonder ich wils 
andere der Sachen vorstendige, ja auch das wergk selbst besagen lassen, vnd were noch 
wol gnaigt, mich darjnnen furder, solang es Got gefeilig vnd mir möglich, mit allem ge- 
purenden vleis alhier geprauchen tzu lassen, wen ich allein vff tzeit, so ich der arbeit 
nicht mehr fürsein könte, ein tzimliche vntterhalt für mich, mein weib vnd kinderlein 
haben möchte. Die aber tzu erlangen, weis ich kaine andere tzuflucht dan zu E. Churf. G. 
tzu haben. Vnd biete derowegen zum demütigisten, E. Churf. G. wolten mich ans sondern 
gnaden mit einer prebend im Stiefft Aldenburg vff mein leben vorsehen. Darkegen bin 
ich erpötig, bey der Schuel alhier, solang es Got gefellig vnd ich die arbayt vormagk, tzu 
pleiben, alle meinen vleis darauff tzu wenden, darmit die Jugent, so mir befolen (vnther 
denen, Got lobe, Grafen, hern, Ritter vnd Edelleut kinder seint) Christlich vnd wol, So 
viel Got gnade verleihet, mögen ertzogen werden. Das wirdt E. Churf. G. rhumlich sein. So 
wil ichs in aller vnderthenikeit zuuordieven nicht vorgessen, Gnedigister antwort gewartent 

E. Churf. G. 

gantzwilligister 
Diener 

Petrus Plateanus Schul- 
meister alhie tzu Zuicka. 
(Schlufs folgt.) 



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DIE AUFGABEN DER LITERATURGESCHICHTE 

Von Alfred Biese 

Vor langen Jahren safs ich als grüner Student zu den Füfsen eines be- 
geisterten Hegelianers; er gehörte zu den letzten Säulen; 'und diese, schon ge- 
borsten, kann stürzen über Nacht', lautete der Refrain manches ketzerischen 
Jüngers, so sehr wir auch mit Liebe zu dem ehrlichen, von Idealen erfüllten 
Manne aufschauten. Der trug uns also Wesen und Bedeutung einer 'Encyklo- 
pädie der philosophischen Wissenschaften' vor. Diese — so hiefs es im 
zweiten Kapitel des diktierten Heftes — 'befriedigt allein die Grundnatur des 
Studierenden, nämlich das systematische Bewufstsein; dieses Kapitel eröffnet 
uns in überraschender Weise neue Blicke in die innere Natur des Menschen, 
in die Geschichte der Menschheit, in das Wesen der Philosophie, in unsere 
Muttersprache, und ist vor allem begründet auf dem Verständnis eines einzigen 
Wortes, welches Entwickelung heifst'. Noch heute steht vor mir in der 
Erinnerung der edle Mann mit dem feinen, von weifsem Bart umrahmten 
Gesicht, wie er mit dem Kneifer beim Vortrage tändelt und dann in lebhafter 
Bewegung die Kreide ergreift, um die Wichtigkeit dieses Begriffes in Kurven, 
die vom Nichtsein durch das Werden hindurch zum Sein führen, in des Wortes 
eigenstem Sinne uns anschaulich zu machen. Bald aber galt es wieder, die 
Feder ergreifen und nachschreiben: 'Dieser Begriff der Entwickelung ist so 
reich, dafs sich ergeben wird, dafs folgende Ausdrücke sämtlich in ihm ent- 
halten sind und nur durch ihn und mit ihm verstanden werden können.' Ein 
leiser Schwindel fafste uns, als nun aufmarschierten in geschlossenen Kolonnen 
die stolzen Begriffe: 'Abstrakt, konkret, Möglichkeit, Wirklichkeit, pQtentia, 
actu, prius, das Ansichsein, das Fürsichsein, Anfang, Ende, das Werden, Moment, 
Negation, Position, Negativität, das Unvollkommene, Vollkommene, Dialektik, 
immanente Bewegung, Verstand, Vernunft', und so ging es noch eine Weile 
weiter, bis schlief such das systematische Bewufstsein den gewaltigen Bau 
krönte, über den als Kuppel sich wölbte der Allerweltsbegriff, das Zauber- 
schlagwort Entwickelung. Schon damals schmerzte den an Ideen reichen Mann 
das Schwinden des systematischen Bewufstseins, d. h. nicht nur der Verfall der 
Philosophie, die für ihn in Hegel ihren Gipfel gefunden hatte, sondern auch 
das Vorherrschen geistloser Spezialstudien, besonders auf dem Gebiete der 
Literaturgeschichte. Aber was würde er erst in dem späteren Jahrzehnt 
gesagt haben, als die Flut der Zeitschriften ins Ungemessene wuchs, als immer 



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36 A. Biese: Die Aufgaben der Literaturgeschichte 

lauter der Ruf nach Arbeitsteilung, nach Detail, nach Notizen, nach Samm- 
lungen erscholl, als man sich mühte, naturwissenschaftliche Begriffe auf die 
Geisteswissenschaften mit gewisser Koketterie zu übertragen, als man die 
Zauberformel Entwicklung in eine mechanische Evolution umschmolz, Darwinsche 
und Spencersche Gedanken bei der Maulwurfsarbeit als Richtschnur wählend, 
als die Aufgabe der Literaturgeschichte immer mehr in der Einbalsamierung 
langst verwester Leiber, in der 'Rettung* kleiner und kleinster Geister gesucht 
wurde, als das Cliquen- und Koterienwesen immer mehr wuchs und gerade die 
trennte, welche auf demselben Geistesboden Schulter an Schulter hätten streiten 
sollen. Und auch heute, wo freilich manches auf bessere Zeiten schon hin- 
deutet, würde er am Ende in die Worte ausbrechen: 'Meine Herren! Unserer 
Zeit fehlt vor allem das systematische Bewufstsein, der hohe, adlergleiche Flug, 
der sich über die Einzelerscheinungen emporhebt zum Allgemeinen, zu Ideen! 
Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht; man verrennt sich im Dickicht; 
kein Lichtstrahl dringt von oben erhellend und erwärmend hinein. Die physische 
Atmosphäre ist von Bazillen erfüllt, die wir endlich erkannt haben und nun 
bekämpfen, die geistige aber wird nicht minder von schlimmen kleinen 
Bazillen beherrscht, die wir selten erkennen und noch seltener bekämpfen; ich 
kann sie unter einem Sammelnamen zusammenfassen, als die — Seuche des 
Spezialismus.' Und er würde wieder zur Kreide greifen und Kurven zeichnen, 
die vom Sein durch den Begriff der geistesarmen Langeweile und der Ver- 
wesung zum Nichtsein führten, und würde wieder eine Unsumme von Wörtern 
diktieren, die alle unter jenen unheilvollen Begriff des Spezialismus fallen, wie: 
konkret, aber unwirklich, fleifsig, aber beschränkt, anmafsend, eingebildet, 
Gröfsen Wahnsinn, Eifersucht, Neid, Bosheit, Götzendienst, Buchstabenklauberei, 
Kritikasterei, Banausentum, Epigonentum und andere Ungetüme, Alexandrinis- 
mus, Byzantinismus, Scholastizismus, Gottschedianismus, Doktrinarismus und 
andere -ismusse, Homero-, Shakespeare-, Goethe-, Heine-Manie u. s. w. 'Alles 
das liegt, m. H., im Keime im Spezialismus begründet, in dem Mangel an 
systematischem Bewufstsein.' 

Und ist es nicht wahr, dafs bei all dem Anwachsen der Detailkenntnis, 
bei der überwuchernden, anatomisierenden Induktion die zusammenfassende 
Synthese nur selten sich findet, natürlich auch deshalb schon, weil sie durch 
die Fülle des Stoffes erschwert ist, aber vor allem doch, weil unserer ganzen 
Zeit der Charakter der Empirie, des Eklektischen, des Haftens an Einzelnem, 
des Mangels an wahrhaft befreienden Ideen geschlossener Systeme fehlt? 

Wir haben eine Fülle von Literaturgeschichten über die modernen und 
die antiken Völker. Aber bei der grofsen Mehrzahl fehlt eben 'das systematische 
Bewufstsein', fehlt das philosophische Grundprinzip. Und dieses kann die 
Literaturgeschichte eines Volkes nur als einen Teil seiner gesamten Geistes- 
geschichte auffassen, den einzelnen schaffenden Geist nur als Sohn seiner Zeit 
und zugleich als eine sich entwickelnde individuelle Persönlichkeit. Daher ist 
es nicht gethan mit Daten und Titeln, mit Inhaltsangaben, mit biographischem 
Detail; sondern Verstehen ist im höchsten Sinne Nachschaffen, Nachempfinden, 



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A. Biese: Die Aufgaben der Litteraturgeechichte 37 

sich in eine Seele mit eigener Selbstaufopferung, mit Selbstvergessen versenken. 
So mufs ein Litterarhistoriker die Seele des Volkes, das er behandelt, in ihrem 
allmählichen Erwachen, in der Fülle ihres Lebens belauschen, mufs sich in die 
Seele des Einzelnen vertiefen, ihre Wandlungen aufspüren; er mufs den psycho- 
logischen Stimmungen, Gefühlen, Motiven, soweit sie einen Niederschlag finden 
in Poesie und Prosa, nachgehen, mufs die Verschlingungen religiöser, ethischer, 
sozialer Regungen der Volksseele mit den ästhetischen aufweisen, und das alles 
nicht von der ^oschperspektive' eines Volkes, einer Einzelepoche aus, sondern 
von dem umfassenden Gesichtspunkte der Weltliteratur, der vergleichenden 
Literaturgeschichte. 

Eine Litteraturgeschichte mufs auf Völkerpsychologie sich gründen, mufs 
einen Teil der vergleichenden Poetik bilden; sie mufs das Werden der sprach- 
lichen und metrischen Formen und ihre Verkettung mit dem Gedanken- und 
Gefühlsgehalt schildern; sie mufs die Einzelerscheinung unter den Gesichts- 
punkt des Allgemeinen rücken, sei diese eine linguistische oder ästhetische; sie 
mufs den Mikrokosmus der einzelnen Individualität nur als ein Glied des 
Makrokosmus, d. h. jener unendlichen Kette, welche Vergangenheit und Gegen- 
wart verbindet, und zugleich als Spiegelbild seiner Zeit verstehen. Erst sub 
specie aeternitatis gewinnt die Litteraturgeschichte ihre Aufgaben, die ihr als 
Wissenschaft des geistigen Menschen gebühren. 

Wir stehen zumeist noch, wie die Literaturgeschichten zeigen, unter dem 
Banne einer Philologie, die Buchstabendienst bedeutete; sie ist nur bei wenigen 
Auserwählten frei von diesem und von Notizenkram und hat nur selten zu 
jener Höhe geführt, welche die Wechselwirkung von Stoff und Individuum, 
von Allgemeinem und Einzelnem überschaut, welche die einzelne Dichtung als 
Bruchstück eines ganzen reichen Innenlebens und dieses selbst wieder als Glied 
der grofsen Kette, die da Volk, die da Menschheit heifst, betrachtet. Die 
Wissenschaft der modernen Litteraturen verlor in ten Brink den berufensten 
Darsteller, die der antiken, besonders der griechischen, jüngst in Erwin Rohde, 
dessen Geschichte des griechischen Romans und dessen (in 2. Auflage er- 
schienenes) Werk Tsyche* Musterleistungen sind; weit hervor ragen ferner in 
der griechischen Litteraturforschung die leuchtenden Namen Ulrich von 
Wilamowitz-Möllendorff und Hermann Usener; ich nenne von diesem 
nur die *Religionsgeschichtlichen Untersuchungen', von jenem den Herakles 
und den Hippolytos des Euripides. Dies sind wegweisende Einzelarbeiten, in 
denen die Sprachkenntnis eines Gottfried Hermann mit dem ideenreichen 
Geiste eines Welcker und Otto Jahn sich vermählt. 

Um aber im Sinne dieser Grofsen eine Gesamtdarstellung der Litteratur- 
geschichte der Griechen zu schreiben, dazu bedarf es zunächst der Sichtung 
des Riesenstoffes, den der Forschungseifer der letzten Jahrzehnte zusammen- 
getragen hat, es bedarf der Handbücher. Ein solches haben in streng 
philologischer Weise und in dieser Beschränkung mustergültig Wilh. Christ 
für die griechische und Martin Schanz für die römische Litteratur geliefert 
in dem grofsen von Iwan v. Müller geleiteten Unternehmen (Beck, München); 



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38 A. Biese: Die Aufgaben der Literaturgeschichte 

dafs sie dem Jünger der Wissenschaft zuverlässige Führer durch die Fülle 
von Thatsachen, Daten, Notizen geworden sind, beweisen die neuen Auf- 
lagen. Doch den höheren und höchsten Anforderungen der vergleichenden, 
der psychologisch-ästhetischen Litteraturbetrachtung fühlen auch sie sich nicht 
gewachsen. 

Doch was heifst vergleichende Litteraturbetrachtung? Goethe war der 
erste, der den Begriff und das Wort c Weltliteratur' entdeckte; ihm ist Litteratur 
c das Fragment der Fragmente: das Wenigste dessen, was geschah und ge- 
sprochen worden, ward geschrieben; vom Geschriebenen ist das Wenigste übrig 
geblieben; und doch bei aller Un Vollständigkeit des Litterarwesens finden wir 
tausendfältige Wiederholung, woraus hervorgeht, wie beschränkt des Menschen 
Geist und Schicksal sei*. 

Dies weist uns hin auf eine vergleichende Literaturgeschichte, auf die 
'Vogelperspektive', von der aus wir die verschiedenen Litteraturen verschiedener 
Zeiten überschauen und die Einzelfragen unter den Gesichtspunkt des All- 
gemeinen rücken. Wie es keine wissenschaftliche Geschichte der Philosophie, 
der Ethik oder Soziologie u. s. w. geben kann ohne den Gesichtspunkt der 
Vergleichung, wie wir schliefslich in unserem Denken und Urteilen bei der 
Betrachtung vergangener Begebenheiten und Zustände, entschwundener Bräuche, 
Sitten, Anschauungen stets den Mafsstab eigener Erfahrung, eigenen Erlebens, 
eigener Geistesrichtung anlegen müssen, d. h. also wie wir nur bis zu einem 
gewissen Grade objektiv, mit Selbstvergessen, Fremdes beurteilen können, so 
stellt auch jede Litteraturbetrachtung uns vor die Aufgabe, die Zusammen- 
hänge mit anderen Litteraturen, ihre Wechselwirkung, die gegenseitige Be- 
fruchtung mit Ideen, Motiven, Anschauungen aufzudecken. 

Die griechische Litteratur weist uns auf die Wechselbeziehung von Asien 
und Europa, speziell von Kleinasien und Griechenland; ja die Fabel weist wohl 
nach Ägypten und Indien zurück. Aber die griechische Litteratur ward früh 
selbständig und somit das Ideal einer nach inneren Gesetzen, *in immanenter 
Bewegung* — sagt der Hegelianer — sich entwickelnden Litteratur; so originell 
wie diese ist niemals wieder eine andere gewesen. Sie ist vorbildlich in ihrem 
stufenweisen Übergänge vom Epos zur Elegie, von der Elegie zum Liede, vom 
Dithyrambus zum Drama, von der Poesie zur Prosa, vom Naiven zum Idyllischen 
und Sentimentalischen, wovon Epigramm, Idylle und Roman Zeugnis geben. 
Welche Fülle von Problemen thut sich da auf, wenn wir das homerische Epos 
mit dem Nibelungenliede, mit esthnischen, finnischen u. a. Epen und Volks- 
liedern, wenn wir die Tragik in den Dramen der drei grofsen Griechen mit 
jener bei Shakespeare und unseren Klassikern, wenn wir die Behandlung des- 
selben oder des verwandten Stoffes bei antiken und modernen Dichtern ver- 
gleichen. 

Die römische Litteratur war die erste, welche, befruchtet von hellenischem 
Geiste, an den unerreichten Mustern sich bildete, um von direkter Übersetzung 
und Entlehnung zu selbständigerer Nachbildung fortzuschreiten und in helle- 
nische Versform national-römischen Geist zu giefsen. Dieser Prozefs setzt sich 



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A. Biese: Die Aufgaben der Literaturgeschichte 39 

im Mittelalter fort, indem seine lateinische Dichtung wieder die Spätlinge der 
römischen Litteratur sich zu Mustern wählt, so dafs z. B. für die Idylle sich 
jene Stufenfolge ergiebt von Theokritos, Vergilius, Calpurnius, Nemesianus zu 
Naso Muadovinus, Beda und Alkuin. 

Für die deutsche Litteratur ist keine Frage wichtiger als die nach der 
Entlehnung, nach der Umschmelzung der fremden Vorlage mit höherer oder 
geringerer Selbständigkeit. Es ist nichts bezeichnender, als dafs unser erstes 
Denkmal der Literaturgeschichte eine Übersetzung, eine Bibelübersetzung ist, 
dafs germanische Dichtungen ganz spärlich überliefert sind, da der undeutsche 
(kirchliche) Inhalt alles überwucherte und das Lateinische im Zeitalter der 
Ottonen zur Herrschaft gelangte; die lateinische Litteratur ruht aber auf antiker 
Kultur und Mischung dieser mit christlichen Elementen. So haben wir schon 
früh eine Art Renaissance. Und so ist denn auch die deutsche Dichtung des 
Mittelalters mit mancherlei antiken Bestandteilen zersetzt; der trojanische Krieg 
und die Heldensage Alexanders des Grofsen finden Bearbeiter, aber die Brücke 
schlägt der Einflufs des westlichen Nachbarn. Und so ist denn für die Blüte- 
zeit des höfischen Epos und der höfischen Lyrik nichts interessanter, aber auch 
nichts schwieriger als die Frage nach der äufseren und inneren Abhängigkeit 
unserer mittelalterlichen Sänger von ihren französischen Vorlagen und ferner 
nach dem Ursprünge dieser Vorlagen selbst. Und wie in Italien die Wieder- 
erweckung der Antike eine neue Kulturwelt heraufführt, wie der Humanismus 
in Deutschland folgt, so entnehmen auch die gefeiertsten Dichter des 15. und 
16. Jahrhunderts in England und Deutschland, Hans Sachs und Shakespeare, 
manche Stoffe dem Boccaccio, der selbst in seinem Dekameron nicht blofs 
aus antiken, sondern aus uralten Motiven geschöpft hat. Im 18. Jahrhundert 
spielte man gerne mit den Ehrennamen der Vergangenheit, die man auf die 
kleinen Tagesgröfsen übertrug, den Vater Gleim zu einem Tyrtaios, die Karschin 
zu einer Sappho stempelnd, doch auch England und Frankreich machen ihren 
Einflufs geltend, bis Winckelmann, Lessing, Herder, Goethe und Schiller eine 
neue Wiedergeburt der Antike im deutschen Geiste heraufführen. Doch diese 
Schranken werden den Romantikern zu eng; sie flüchten sich nicht nur ins 
romantische Mittelalter, sondern auch in den Orient zurück, und die modernen 
Litterat urströmungen schwanken hin und her zwischen märchenhafter Symbolik, 
wie sie bald der ferne Osten bietet, bald die eigene Heimatsage, und krasser 
Wirklichkeitszeichnung nach dem Muster der Norweger oder Russen oder 
Franzosen. So laufen überall die Fäden alter und neuer Dichtung zusammen, 
und eine Literaturgeschichte darf heute nicht mehr für wissenschaftlich gelten, 
die diesen Gesichtspunkt der Vergleichung, d. h. eben der Quellenuntersuchung, 
nicht vorwalten läfst; in der kleinen deutschen Literaturgeschichte von Max 
Koch (Göschen) bildet dieser den eigentlichen Vorzug; ging Koch, als Schüler 
Carrieres, doch auch darin mutig ans Werk, dafs er eine eigene 'Zeitschrift für 
vergleichende Literaturgeschichte' gründete, die es trotz aller Gegenströmungen 
siegreich zum 12. Bande gebracht hat, aber noch viel weiterer und regerer 
Förderung bedürfte. 



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40 A. Biese: Die Aufgaben der Literaturgeschichte 

Aber die vergleichende Literaturgeschichte hat noch viel weitere Auf- 
gaben als die bereits angedeuteten. Sie will nicht blofs die direkten Ein- 
wirkungen, Nachbildungen und Stoffwandlungen bei den europäischen Kultur- 
völkern aufspüren, sondern sie geht darauf aus, die zahllosen, überall in Nord 
und Süd, im fernen Afrika ebensogut wie in China immer wieder- und wieder- 
kehrenden uralten Motive der Volks- und Kunstdichtung aufzudecken und in 
Parallele zu setzen. Sie folgt jenen breiten grofsen Kanälen der arischen, 
semitischen und ostasiatischen (chinesisch -mongolischen) Völkergruppen und 
sucht das Ewig- Gleiche zu gruppieren und das wechselseitige Geben und 
Empfangen darzuthun. Es gehört aber in der That zu den fesselndsten Auf- 
gaben der Litteraturgeschichte, dieselben Motive durch die Jahrhunderte in 
ihrem Wandel bei den verschiedenen Nationen zu verfolgen, jenen breiten 
Kanälen nachzugehen, die sich wieder teilen und begegnen und zusammenrinnen, 
und die überraschendsten Analogien in Hindostan und Europa und Afrika zu 
entdecken und aus unscheinbaren Keimen die mannigfachsten, bedeutsamsten 
Gebilde entstehen zu sehen. Bald belauscht man den Übergang vom Mythos 
zur Sage und zum Märchen, bald erkennt man in der Verschiedenartigkeit, in 
der Völker und Zeiten derselben Empfindung Ausdruck leihen, gerade das 
Charakteristische, das sie kennzeichnet, bald wird man gewahr, dafs der Dichter 
recht hat, der da singt: *Eins ist die Menschheit, Ein Herz, Über Meere hin 
den Riesenpulsschlag schleudernd-, Ein Geist, In Millionen Geistern Ringend 
zur Kraft, In Millionen Nervenfasern Fühlend Unrecht und Gerechtigkeit — 
Ein Mensch ist die Menschheit.' 

Aber eine solche Betrachtung lehrt auch, dafs auch die psychischen Äufserungs- 
formen einen bestimmten Entwickelungsgang nehmen, dafs namentlich die 
ästhetischen Gefühle einen langen Prozefs durchlaufen, ehe sie einen hohen 
Grad von Feinheit erreichen. Dies habe ich hinsichtlich des Naturgefühls ge- 
zeigt, und es freut mich, dafs im Anschlufs daran Ludwig Stein in seinem 
Werke 'die soziale Frage im Lichte der Philosophie' (Stuttgart, Enke 1897) 
mehrfach (S. 60. 143. 495) fordert, man müsse Ahnliches in eingehender Durch- 
musterung der Litteraturen auch für alle anderen ästhetischen oder sittigenden 
Gefühle, wie Kunstsinn, Freundschaft, Wohlthätigkeitssinn, Liebe, Furcht, 
Rache, Reue, Mitleid, Aufopferungsfähigkeit u. s. w. aufweisen. 

Doch eine solche vergleichende Betrachtung der Weltliteratur, die in 
psychogenetischer Methode die Entwickelung verfolgt, ist noch jungen Datums; 
das 'systematische Bewufstsein' ist zumeist noch von der Engherzigkeit des 
Spezialismus dicht ummauert, und schon mancher Jüngling, der, auf dem 
Gymnasium vielseitig angeregt, auf der Universität auch in dieser Hinsicht 
Gewinn hoffte, kehrte enttäuscht wieder heim, weil er gefunden, wie jeder 
einzelne Spezialist nur seinen eigensten, eng umgrenzten Acker pflügte, wie kein 
inneres Band das eine mit dem anderen verknüpfte; ja, das Fachstudium nimmt 
mit erdrückender Detailfülle den einzelnen so sehr in Beschlag, dafs für die 
weiteren, allgemeineren, und das ist wahrhaft wissenschaftlichen, weil philo- 
sophischen, Fragen keine Zeit und kein Interesse mehr übrig bleibt. Macht 



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A. Biese: Die Aufgaben der Literaturgeschichte 41 

doch mancher Dozent die traurige Erfahrung bei Behandlung eines weit- 
schichtigeren, mehrere Sprachen umfassenden Themas, dafs die Belege aus den 
alten Sprachen dem Neuphilologen, aus den neuen dem Altphilologen gleich- 
gültig und überflüssig erscheinen — weil eben für ihr Examen kein Bedarf 
vorliegt. So züchtet Spezialistentum Banausentum auch heute noch. 

Unsere Zeit steht eben unter dem Zeichen der Zersplitterung und Zer- 
klüftung; die ideenreiche Synthese fehlt; man häuft in der Literaturgeschichte 
die Daten, die Notizen; man sucht in der Poetik das Ewig Wandelbare und 
doch ewig Bestandige, das in der Wurzel Inkommensurable, nämlich das innere 
Leben und Weben des menschlichen Geistes, auf nüchterne Schemata, Formeln 
und Normen zurückzuführen; man zergliedert lediglich verstandesmäfsig, zer- 
pflückt — und so geht die Seele der Kunst verloren; man borgt sich naturwissen- 
schaftliche Begriffe und verwendet diese, ohne das Flittergold solcher Metaphern 
zu erkennen, an Stelle psychischer Erklärung. Aber jedenfalls: man sucht, 
man spürt doch nach neuen Wegen, freilich oft in trügerischem Wahne hin- 
sichtlich der Neuheit. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, dafs der ver- 
gleichenden Poetik *), der vergleichenden Literaturgeschichte die Zukunft gehört. 

Auch die Schule hat mit ihr zu rechnen; ja, eine tiefere Behandlung der 
alten Schriftsteller ist ohne sie undenkbar, wenigstens in den elementareren 
Grundzügen. Wer kann die Weisheit des Sokrates in Xenophons Memorabilien, 
in Piatons Dialogen 2 ), wer Ciceros Tuskulanen oder Officien deuten, ohne 
Hellenisches, ohne Römisches mit verwandten Gedankenkreisen des Christen- 
tums überhaupt oder der Gegenwart insbesondere zu vergleichen? Wer kann 
das antike Epos, das antike Drama erklären ohne stete Beziehung zu unseren 
eigenen Meisterwerken, wer in die Tragik, in die Auffassung von Schuld und 
Schicksal und Sühne einführen, ohne Parallelen zu ziehen zwischen Sophokles, 
Euripides und Shakespeare, Goethe, Schiller? Wer vermag Horaz seinen 
Schülern näher zu bringen, ohne auf moderne Blüten der Lyrik, auf verwandte 
Stimmungen und Anschauungen und auf die grofsen und tiefen Unterschiede 

*) Freilich nicht in der Form, wie sie der mifsglückte Versuch Kurt Bruchmanns 
(Berlin, W. Hertz 1898) zeigt; vgl. m. Anz. in d. Ztschr. f. G. W. 

*) Es sei hier von neuem auf das schöne Werkchen von Gustav Schneider 'Hellenische 
Welt- und Lebensanschauungen für den gymnasialen Unterricht' (Gera 1893) hingewiesen 
und hinzugefugt, dafs der treffliche Verfasser jüngst ein Buch hat erscheinen lassen, das 
den Titel führt: r Die Weltanschauung Piatons, dargestellt im Anschlüsse an den Dialog 
Phädon' (Berlin, Weidmann 1898). Es bietet eine treffliche, philologisch und philosophisch 
eindringende Inhaltsanalyse und stellt den Dialog, der bisher meist nur bruchstückweise, 
d. h. Anfang und Schlufs, gelesen zu werden pflegt, in den Dienst der philosophischen 
Propädeutik, d. h. der Unterweisung über die wichtigsten philosophischen Grundbegriffe, 
wie Kreislauf des Werdens, a priori, Geist und Materie, Substanz und Accidens, Materialis- 
mus, mechanische Erklärung der Welt, Sensualismus, a posteriori, Ideenassoziation, Idee, 
Idealismus, Zweck (Teleologie), organische Welterklärung u. s. w. Hoffentlich findet das 
Buch weite Verbreitung zur Belebung des klassischen Unterrichtes, sei es als Pensum der 
Klassenlektüre selbst oder als Privatlektüre im engeren Schülerkreise, wozu es sich be- 
sonders gut eignen dürfte. Aber auch Studierenden ist es dringend zu empfehlen, und die 
Plato-Kenner selbst werden vieles mit Genufs und Belehrung aufnehmen. 



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42 A. Biese: Die Aufgaben der Literaturgeschichte 

in lyrischer Begabung und in der lyrischen Empfindungswelt bei Antiken und 
Modernen hinzuweisen? Erinnert sich doch gewifs mancher heutige Lehrer 
noch mit Schauder, wie er nach Dillenburgers Vorgang den Inhalt der Horaz- 
Oden in lateinische Prosa umsetzen mufste, und mit Entzücken der Stunden, 
als er plötzlich z. B. durch Naucks Kommentar inne wurde, wie vieles bei Horaz 
an ganz ähnliche moderne Dichteraussprüche erinnere, und vor allem, wie ein 
antikes Gedicht rein menschlich, seinem Gefuhlsgehalte nach, aufgefafst werden 
müsse und so gedeutet werden könne, ohne dafs man im Sprachlichen und 
Metrischen hängen bleibe. So wird z. B. die Art, wie Horaz den Frühling 
betrachtet 1 ), wie er den kalten Tod in das lebenswarme Bild hineinzieht, wie 
er trotz des Werdens und Blühens den Gedanken an den Wechsel der Zeiten 
und an die Wandelbarkeit und Nichtigkeit des menschlichen Daseins nicht los 
werden kann (Pulvis et umbra sumus), wie er die Frage aufwirft: Quis seit an 
adiciant hodiernae crastina summae Tempora di superi? prächtig illustriert und 
unserem eigenen Empfinden so viel näher gebracht durch die Parallele des 
Lenauschen Verses: f Welkt die Rose, kehrt sie wieder; Mit den lauen Frühlings- 
winden kehren auch die Nachtigallen: Werden sie dich wiederfinden?' Doch 
es leuchtet auch ein, wie viel individueller und inniger der moderne Ausdruck 
ist, und wie langatmig das Verweilen bei dem Todesgedanken im römischen 
Gedichte, noch dazu, da Horaz ihn auch sonst so häufig variiert. 

Ein lehrreiches Beispiel, wie verwandt und doch wieder verschieden die 
Stimmung und der Ausdruck bei antiken und modernen Lyrikern sein können, 
scheinen mir die 13. Epode und Theodor Storms Oktoberlied zu bieten. Der 
Anlafs beider ist derselbe: draufsen ist es gar unwirtlich, um so behaglicher 
wollen wir es uns drinnen machen, indem wir zechen und mit frohen Sinnen 
nicht nur die Gegenwart geniefsen, soweit sie zu geniefsen und zu nutzen ist, 
sondern auch den Blick in die Zukunft richten. — Was ähnlich ist, was aneinander 
anklingt oder auch nur ungefähr entspricht in der Horazischen Epode, will ich 
dem Stormschen Gedichte beifügen, dessen Wortlaut — leider — nur wenigen 
unserer Philologen geläufig sein dürfte: 

Der Nebel steigt, es fallt das Laub, Horrida tempestas caelum contraxit, et 

Schenk ein den Wein, den holden, imbres 

Wir wollen uns den grauen Tag Nivesque dedueunt Jovem . . 

Vergolden, ja vergolden. Tu vina Torquato moveconsulepressameo.. 

rapiamus amici occasionem de die . . 
Und geht es draufsen. noch so toll, . . nunc et Achaemenio 

Unchristlich oder christlich, Perfundi nardo iuvat et fide Cyllenea 

Ist doch die Welt, die schöne Welt, Levare diris pectora sollicitudinibus . . 

So gänzlich unverwüstlich. . . nunc mare, nunc siluae 

Threicio Aquilone sonant . . 



*) Vgl. über das Naturgefühl des Horaz meine f Entw. d. Naturgefühls bei d. Gr. u. 
Rom.' II S. 79 — 88 und die ebenso ansprechend wie ausführlich alles Einschlagende be- 
handelnde Darstellung von Franz Hawrlant f Horaz als Freund der Natur' Landskron 
Progr. 1895 u. 96. 



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A. Biese: Die Aufgaben der Literaturgeschichte 43 

Und wimmert auch einmal das Herz, . . omne malum vino cantuque levato, 

Stofs an und laus es klingen; Deformis aegrimoniae dulcibus alloquiis. 

Wir wissen's doch, ein rechtes Herz . . dumque virent genua 

Ist gar nicht umzubringen . . . Et decet,obductasolvatur fronte senectus. 

Der Nebel steigt u. s. w. 

Wohl ist es Herbst, doch warte nur, Cetera mitte loqui: deus haec fortasse 
Doch warte nur ein Weilchen, benigna 

Der Frühling kommt, der Himmel lacht, Reducet in sedem vice . . 
Es steht die Welt in Veilchen. 

Die blauen Tage brechen an, 

Und ehe sie verfließen, 
Wir wollen sie, mein wackrer Freund, 

Geniefsen, ja geniefsen. 

Wie charakteristisch ist für Horaz der so allgemein gehaltene Ausdruck 
der Hoffnung auf die Zukunft, in der die Gottheit alles wieder ins rechte Gleis 
bringen wird, wenn auch einmal die Stirn von Sorgen umwölkt ist, wenn 
auch einmal 'das Herz wimmert*. Wie charakteristisch ferner die Einkleidung 
der Reflexion, welche das sonst so hübsche Gelegenheitsgedicht wieder all- 
beherrschend schliefslich erfüllt, in die immerhin doch frostige Reminiszenz 
aus dem mythischen Altertum, indem er den biederen Chiron als Zeugen dafür 
aufruft, dafs Gesang und Wein gut sind gegen alle Grillen und Sorgen, ja 
gegen die Gedanken an den allen, selbst dem Sohne der Göttin sicheren Tod. 
Wie prächtig dagegen ist der sieghafte Humor bei unserem modernen Dichter, 
die volkstümliche Sprache ('unchristlich oder christlich . . gänzlich unverwüstlich . .', 
'ist gar nicht umzubringen'), die kernige, unbezwingliche Lebensfreude und der 
frohe Ausblick auf den sicher wiederkehrenden Frühling; wie fein, dafs in 
diese Lenzessehnsucht und Lenzesgewifsheit sich harmonisch auflösen sowohl 
die Stürme, die da draufsen toben, als auch die schweren Gedanken, die ins 
wimmernde Herz Unruhe bringen; c es mufs doch Frühling werden' singt auch 
Unland, Frühling da draufsen und Frühling mit Jubel und Glück im Menschen- 
herzen! Wie viel freier und unbefangener ist es, dafs Storm die Schönheit 
der Welt zum Beweggrunde des Lebensgenusses macht, während Horaz das 
Schreckbild des Todes heraufbeschwört! 

Solche Vergleiche, bei denen ja freilich ebensovieles verschieden wie 
ähnlich erscheinen wird, haben jedenfalls das Gute, den Blick für alle Einzel- 
heiten zu schärfen und zugleich an einem konkreten Beispiele, wenn auch nur 
im engen Bereiche, zu zeigen, dafs trotz aller Einheitlichkeit und gewissen 
Einförmigkeit des menschlichen Fühlens, trotz all der gleichen Töne, die antike 
und moderne Dichter anschlagen, uns doch wieder etwas begegnet, was 
spezifisch antik, was spezifisch modern ist, was also in den Kern des Wesens 
hineinführt, was uns die Eigenart des Volkes und der Zeit, sowie der einzelnen 
Persönlichkeit erschliefst. Der antike Mensch verrät sich auch hier beinahe in 
jeder Zeile, ob wir nun an Juppiter, an Torquatus, an die Achämenische Salbe, 



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44 A. Biese: Die Aufgaben der Literaturgeschichte 

an die Cylleneische Leier, an den Thracischen Nordwind denken — freilich ist 
vieles von diesem ebensowenig national römisch wie der Mythus, auf den das 
Lied anspielt — ; aber auch das Moderne sprüht und glüht in jedem Verse — 
sei es nun die glückliche Antithese von 'steigen* und fallen', von 'grau* und 
'golden', sei es die 'Unverwüstlichkeit' der schönen Welt, sei es das Herz, das 
nicht 'umzubringen* — alles das läfst sich in keiner Sprache deckend wieder- 
geben — , sei es der Zauber der Melodie des Verses, die prachtige Wirkung 
der Wiederholung — 'vergolden, ja vergolden', 'die Welt, die schöne Weit', 
'doch warte nur, doch warte nur', 'geniefsen, ja geniefsen*. 

Was sich so im einzelnen, im kleinen darthun lälst, das stellt eine ver- 
gleichende Literaturgeschichte im grofsen dar. Ohne deren Grundgedanken ist 
die Betrachtung der Poesie und Prosa eines Volkes unvollständig, unphilo- 
sophisch. Mit ihr müssen sich aufs engste die philologisch-historische und die 
psychologisch-ästhetische Betrachtung 1 ) verschmelzen. Wie jene den Zusammen- 
hang mit der weiten Welt, so stellen diese den Zusammenhang mit der engeren 
Welt, mit Zeit und Volk dar und verfolgen nicht nur die Entwicklung, die 
Höhepunkte und Niederungen, nicht nur das psychische Werden der Dichter 
und ihrer Kunstwerke, sondern auch das wechselseitige Verhältnis von Stoff 
und Form, von Innerem und Aufserem, die Entfaltung des Stils, der Sprache, 
des Verses und versenken sich in das allgemeine Gefühlsleben, das die Seele 
aller Kunst, aller Poesie ist, spüren seinen Wandlungen im ganzen und im 
einzelnen nach, immer bedacht auf den Zusammenhang mit der Kulturgeschichte 
und mit der Völkerpsychologie, und weisen in den einzelnen Offenbarungen 
der Poesie ihr ewiges Wesen und zugleich ihre mannigfach wechselnden Formen 
nach. Erst sub specie aeternitatis — ich wiederhole es — gewinnt die Lite- 
raturgeschichte ihre Aufgaben, die ihr als Wissenschaft des geistigen Menschen 
gebühren. 

Ob diesem Ideal unsere heutigen griechisch-römischen und deutschen 
Literaturgeschichten in jeder Hinsicht und in allen ihren Teilen schon ent- 
sprechen? Ich glaube, kaum. Unsere neuesten Darstellungen der deutschen 
sind an dieser Stelle erst kürzlich charakterisiert worden, und so will ich nicht 
auf sie und alle die zahllosen zum Teil ja ganz wertvollen, zum Teil wertlosen, 
sich im grofsen und ganzen hinsichtlich des Stoffes recht sehr ähnelnden Leit- 
fäden eingehen. Nur eine Schlufsfolgerung sei aus dem Gesagten gezogen: 
unsere Literaturgeschichten sind noch überreich an völlig unfruchtbarem 
Detail, sie sind überladen mit einem Wust von Daten und Titeln; und doch 
müfste, was nicht selbst entscheidend den Gang der Litteratur beeinflufst hat, 
was nicht ein wichtiges Moment in der Entwicklung gewesen ist, was nicht 
ein bedeutsames Spiegelbild der Zeit bietet, als tot am Wege liegen bleiben; 
unsere Darstellungen bieten des Unwesentlichen — namentlich, wenn sie ans 



') Vgl. Ernst Elster, Prinzipien der Literaturwissenschaft (Halle, Niem. 1897); über 
das jedenfalls bemerkenswerte Buch habe ich mich ausführlich in der Ztschr. f. d. Philol. 
ausgesprochen. 



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A. Biese: Die Aufgaben der Litteraturgeschichte 45 

deutsche Haus, an den gebildeten Mann sich richten — , eine wahrhaft er- 
drückende und beklemmende Fülle, je näher sie der Gegenwart rücken, und 
entraten des Wesentlichen in so vielen Stücken, d. h. der Betonung der grofsen 
Grundzüge, des wahrhaft Keimfähigen, des wahrhaft Charakteristischen. Und 
warum? Weil die Gelehrsamkeit das ästhetische Urteil, den psychologischen 
Scharfblick trübt und die historisch-philosophische Methode überwuchert, weil 
in falschem Spezialistenwahn die Beschränkung auf das Wesentliche als Mangel 
an Vollständigkeit und somit als unwissenschaftlich aufgefafst wird. Wie aber 
unsere Litteratur selbst einem gewaltigen Kunstgebilde, einem mächtigen Dome 
vergleichbar ist, der festgegründet auf heimatlichem Boden seine Türme zu 
dem Himmel und seinen Wolken emporhebt, in dem stolz und breit der Haupt- 
gang und die Seitenschiffe sich dehnen, während Nischen und Kapellen und 
Nebenkammern sie umgeben, so mufs auch eine Litteraturgeschichte ein fest- 
gefügtes Kunstwerk sein, von einheitlichem Plane und von einem Geiste er- 
füllt, der das Einzelne nur betrachtet unter dem Gesichtspunkte des Allgemeinen, 
und sie mufs in ihrem Stil getragen sein von einer kernhaften, begeisterten 
und begeisternden Persönlichkeit. 



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DIE EINFÜHRUNG DEE KRAFTLINIEN 
IN DEN PHYSIKUNTERRICHT DER GYMNASIEN 

Von Karl Hünlich 

Die folgenden Erörterungen über die Kraftlinienfrage wüfste ich nicht 
besser einzuleiten als durch die Erinnerung an einen Physiker, der sein Leben 
vor etwas mehr als 30 Jahren beschlofs, hochbetagt, aber auch hochgeehrt in 
aller Welt und ausgezeichnet durch alle nur denkbaren Ehrentitel und Ehren- 
bezeugungen. Er hatte seinen Lebensweg als einfacher Laufbursche begonnen 
und starb als der gröfste Experimentalphysiker vielleicht aller Zeit. Ganz und 
gar Autodidakt, ist er der Begründer der neueren Elektrizitätslehre geworden, 
und seinen Untersuchungen verdanken wir den so mächtigen Aufschwung, den 
die Elektrotechnik in unseren Tagen genommen hat. Ich meine selbstverständ- 
lich Michael Faraday, der vom Buchbindergehilfen zum Assistenten Davys 
im Laboratorium der Royal Institution erwählt wurde und 12 Jahre später 
zum Direktor desselben aufrückte. Von der Natur mit den reichsten Gaben 
des Geistes ausgerüstet, war er dazu berufen, durch seine geradezu bewunderns- 
werte Fälligkeit für experimentelle Kombinationen und durch fast instinktartig 
zweckmäfsige Verknüpfung der Grundbedingungen von Erscheinungen unsere 
Kenntnisse der magnetischen und elektrischen Vorgänge in solchem Mafse zu 
erweitern, wie es vor ihm und nach ihm einem einzelnen Forscher nicht mehr 
gelungen ist und wie es nur vielleicht einem Heinrich Hertz wieder möglich 
gewesen wäre, wenn er das Alter eines Faraday erreicht hätte. Von den 
Arbeiten Faraday s, wie er sie in 30 Reihen mit mehr als 3% Tausend §§ 
hinterlassen hat, sind besonders die von hohem Interesse, in denen er sich mit 
dem Versuche befafst, an Stelle der alten, für ihn unannehmbaren Ansichten 
über die Fernwirkung neue Grundvorstellungen über magnetische und elektrische 
Erscheinungen zu entwickeln, und die insbesondere durch die Einführung der 
Kraftlinien so bahnbrechend gewirkt haben. Wie die Kraftlinien eines leuchten- 
den Körpers die von ihm ausgehenden Lichtstrahlen sind, wie ein heifser 
Körper Wärmestrahlen aussendet, so fafst Faraday die magnetischen 
Kraftlinien auf als den Ausdruck des magnetischen Zustandes, als die 
Repräsentanten der magnetischen Kraft, und zwar nicht nur hinsichtlich der 
Qualität und Richtung, sondern auch der Quantität. Denn da Faraday das 
mächtige Hilfsmittel der Mathematik nicht zu Gebote stand, war er auch zur 
Bestimmung der Kraftintensität darauf angewiesen, sich der anschaulichen 
Konstruktion der Kraftlinien zu bedienen. 



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K. Hünlich: Die Einführung der Kraftlinien in den Physikunterricht der Gymnasien 47 

Dabei ist es selbstverständlich, dafs ihm die Kraftlinien nicht mehr als 
Symbole sind, und dafs für ihn die Bedeutung des Ausdruckes keinerlei Vor- 
stellung über die physikalischen Ursachen der Erscheinungen in sich schliefst. 
Er läfst ausdrücklich dahingestellt, wie sich die magnetische Kraft durch die 
Körper oder durch den Raum fortpflanze, aber er läfst auch deutlich durch- 
blicken, dafs er den Äther für das vermittelnde Medium hält. 

So sehr nun die glänzenden experimentellen Entdeckungen Faradays, die 
Induktionswirkungen, die Gesetze der Elektrolyse, die Einwirkung des Magnetis- 
mus auf das Licht, der Diamagnetismus u. s. f. begeisterte Aufnahme bei seinen 
Zeitgenossen fanden und seinen Ruhm weithin verbreiteten, so wenig fanden 
seine Ideen über diese Erscheinungen Beifall und Verständnis; ja es läfst sich 
nicht leugnen, dafs er hier viel mehr Gegner als Anhänger hatte. So hat 
Faraday nicht in dem eigentlichen Sinne des Wortes Schule gemacht; seine 
Anschauungen sind vielmehr erst in der neueren Zeit durch Männer wie 
Thomson, Tyndall und namentlich Maxwell mehr zu Ehren gekommen. Einen 
vollständigen Umschwung hat freilich erst die Elektrotechnik zu Wege ge- 
bracht. In ihrer Hand sind die Faradayschen Kraftlinien, in enger Verknüpfung 
mit dem Potential, zu dem so überaus wirksamen Rüstzeuge geworden, das sie 
zu den glänzendsten Entdeckungen und Fortschritten geführt hat. Seitdem 
erst kann man von einem wirklichen Siege der Faradayschen Ideen sprechen. 

Bis in die Schulen freilich sind die Faradayschen Kraftlinien wohl noch 
nicht allgemein vorgedrungen. Und im Hinblick auf die üblichen Lehrbücher, 
die zwar meist Andeutungen und Fingerzeige, aber keine tiefer gehenden Aus- 
führungen darüber enthalten, könnte man zu der Ansicht kommen, dafs die 
Faradaysche Behandlung der magnetischen Erscheinungen für die Schule über- 
haupt ungeeignet sei. Nur wenige der neueren Lehrbücher gehen vollständig 
auf diese Materie ein, so unter anderen die sehr empfehlenswerten Elemente 
des Magnetismus und der Elektrizität von Jamieson, übersetzt und ergänzt 
von Kollert, das Lehrbuch der Physik von dem Jesuitenpater Dressel, die 
Physik von Börner, Maxwells Elektrizität in elementarer Behandlung, die 
Elektrizitätslehre von Kolbe und besonders Eberts Magnetische Kraftfelder, 
ein Buch, so recht für den Studenten und Lehrer zur Orientierung geeignet. 

In den physikalisch -pädagogischen Zeitschriften begegnet man fast in 
jeder Nummer Aufforderungen und Anweisungen zur Einführung von Kraft- 
linien und Potential, und besonders eifrige Reformatoren gehen soweit, dafs 
sie Magnetismus und Elektrizität in der Schule ganz und gar im Sinne der 
Elektrotechniker betreiben, d. h. dafs sie nicht nur die Kraftlinien überall 
verwenden, sondern auch das Potential. Dem gegenüber fehlt es nicht an 
Stimmen, die insbesondere vor der Einführung des Potentialbegriffes warnen 
und die, mehr eine konservative Haltung bewahrend, nur langsam und all- 
mählich reformieren möchten. Zu ihnen zählt offenbar auch Prof. Weinhold 
in Chemnitz. In seiner neuesten Auflage der Vorschule von 1897 hat auch 
er die Kraftlinien aufgenommen, aber in weiser Beschränkung bringt er davon 
nur das Einfachste und Notwendigste. Und in diesem Weinholdschen Sinne 



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48 K. Hünlich: Die Einführung der Kraftlinien in den Physikunterricht der Gymnasien 

möchte auch ich nun meine Hauptfrage behandeln, die Frage: In welcher Weise 
und in welchem Umfange empfiehlt es sich, die Kraftlinien in den Physik- 
unterricht der Gymnasien aufzunehmen? 

Wir haben Magnetismus und Elektrizität resp. Galvanismus in Klasse II b 
und II* zu behandeln, haben also, zumal bei Besprechung des Magnetismus, 
Anfänger vor uns, die kaum über die elementarsten Unterweisungen hinaus sind. 
Für solche Schüler aber kann der Unterricht im neuen Lehrstoff nicht einfach 
genug sein, und das vornehmste Erfordernis scheint mir die Anschaulichkeit 
zu sein. In dieser Beziehung ist aber die Lehre von den Kraftlinien der alten 
Methode ganz aufserordentlich überlegen. Das alte Verfahren beginnt mit der 
Fern Wirkung. Die Schüler sehen sich sogleich einer rätselhaften, geheimnis- 
vollen Erscheinung gegenübergestellt; sie erkennen wohl die Wirkung, aber die 
Verbindung von Ursache und Wirkung bleibt unerklärt. 

Man könnte mir einwenden, dafs hier die Geheimnisse der Natur nicht 
gröfser sind, als wenn ein Apfel vom Baume fällt. Gewifs, der Unterschied 
ist nur der, dafs der Schüler nach einem Erklärungsgrund für eine ihm durch 
tägliche Erfahrung geläufige Fallerscheinung sicher nicht fragt, so sicher wie 
er im anderen Falle die Frage stellen wird. Wie ganz anders aber sieht die 
Sache aus, wenn man durch den einfachsten Versuch mit Eisenfeilspänen dem 
Schüler eine Darstellung des magnetischen Feldes als des Wirkungsbereiches 
eines Magneten vor Augen führt, wenn man ihm zeigt, wie die Natur selbst 
die Kraftlinien aufzeichnet, und wie eine kleine, leicht bewegliche Magnetnadel 
stets eine mit den Kraftlinien übereinstimmende Lage annimmt. 

Auf solche Weise wird zugleich Verständnis und Interesse geweckt. Und 
wenn auch durch die Kraftlinien die Wirkung in die Ferne noch keineswegs 
erklärt ist, wie wir sie ja überhaupt nicht zu erklären vermögen, so tritt doch 
durch sie das Walten der Naturkräfte anschaulich zu Tage, und alles Unbegreif- 
liche fällt weg, weil ein sichtbares Etwas da ist, das die Wirkung von einer 
Stelle zur anderen vermittelt. 

Wenn der Schüler ferner die Kraftlinienbilder zweier gleichnamiger oder 
zweier ungleichnamiger Pole sieht, mufs er da nicht ganz von selber, ich möchte 
sagen, aus der Figur ablesen, wie in der Richtung der Kraftlinien ein Zug, 
ein Streben nach Vereinignng herrscht, als ob die Kraftlinien Gummifäden 
wären, und wie senkrecht zu jener Richtung ein Druck, eine Abstofsungs- 
wirkung statt hat, wie sich die Kraftlinien gleichnamiger Pole gegeneinander 
aufbäumen und dadurch die ihnen innewohnende Gegensätzlichkeit der Richtung 
auschaulich machen. 

Mit welchem Interesse wird weiter die Änderung des Kraftlinienbildes 
verfolgt, wenn man ein Stück Eisen in das Feld legt und dessen förmliche 
Saugwirkung auf die Kraftlinien zur Darstellung bringt, oder wenn man zeigt, 
wie im Hohlraum eines Eisenringes keine Kraftlinien sichtbar sind, wie das 
Eisen also die Möglichkeit bietet, einerseits die Kraftlinien nach einer be- 
stimmten Stelle des Feldes hinzulenken, wie es ja durch die Polschuhe der 
Magnete geschieht, oder wie man anderseits durch die Schirmwirkung dea 



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K. Hünlich: Die Einführung der Kraftlinien in den Physikunterricht der Gymnasien 49 

Eisens gewisse Gebiete des Feldes gegen das Eindringen der Kraftlinien 
schützen kann. Ein guter Leiter, wie Eisen oder allenfalls Stahl, sucht eine 
solche Lage im Felde anzunehmen, dafs er möglichst viel Kraftlinien des Feldes 
aufnehmen und fortführen kann, und er wird sich durch Richten oder Annähern 
möglichst nach dem Orte der stärksten Wirkung, d. h. der dichtesten Kraft- 
linien begeben; ebenso wie sich jede bewegliche Magnetnadel unter Einwirkung 
eines anderen Magneten so stellt, dafs die aus dem Nordpol des letzteren aus- 
tretenden Kraftlinien möglichst zahlreich vom Südpol der beweglichen Nadel 
aufgenommen und durchgeleitet werden können. Ist durch wiederholtes Zer- 
brechen einer magnetischen Stricknadel gezeigt worden, dafs wir ein Recht 
haben, schon den Molekülen magnetische Eigenschaften zuzuschreiben, so ist es 
leicht, diese Anschauung auch auf Eisen und Stahl auszudehnen und damit 
die Erläuterung und Begründung der Induktions- oder Influenzwirkungen ein- 
zuleiten. Wenn man den Schülern den Verlauf der Kraftlinien bei einem 
vollständigen Magneten gezeigt und sie darauf aufmerksam gemacht hat, 
wie man bräuchlicherweise die Richtung der Kraftlinien als vom Nordpol aus- 
gehend definiert, wie die am Nordpol austretenden Kraftlinien sich umbiegen 
und schliefslich im Südpole wieder eintreten, so läfst sich darlegen, dafs eigent- 
lich alle Kraftlinien geschlossene Kurven sind, dafs ihrer ebensoviel am Nordpol 
austreten wie am Südpol eintreten, und dafs die Zahl der Kraftlinien, die das 
Innere des Magneten durchsetzen, genau dieselbe ist, wie die aufserhalb. Aus 
der Art und Weise aber, wie die Kraftlinien aufserhalb des Magneten sich 
voneinander entfernen, läfst sich auf die Intensität des Feldes an irgend einer 
Stelle schlief sen. Berücksichtigt man dazu nur einen einzeln gedachten 
Pol, von dem dann ja die Kraftlinien radial nach allen Seiten gleichförmig 
und geradlinig ausgehen, so ergiebt sich, dafs die Anzahl der Kraftlinien, die 
in beliebigem Abstände auf die Flächeneinheit kommt, umgekehrt proportional 
zum Quadrat der Entfernung sein mufs. Denkt man sich nun um jenen Pol 
eine Kugel vom Radius 1 cm, also mit 4jt qcm Oberfläche, beschrieben und 
setzt man fest, dafs ein Einheitspol durch jedes Quadratcentimeter nur eine Kraft- 
linie senden soll, so ist auch leicht ersichtlich, dafs ein Einheitspol 4;r, 
ein Pol von der Stärke m \it m Kraftlinien aussendet und dafs damit der 
ganze Raum in 4x resp. 4jt m Kraftröhren zerlegt wird. Minder einfach ist 
freilich die Einheit der Polstärke zu definieren, die ja bekanntlich dann vor- 
handen ist, wenn zwei gleich starke Pole einander mit der Kraft von einer 
Dyne abstofsen. Die Untersekundaner kennen die Beziehungen von Kraft, 
Masse und Beschleunigung noch nicht, und man wird ihnen den Begriff der 
Dyne wohl nur so verständlich zu machen vermögen, dafs man ihnen vergleichs- 
weise angiebt, dafs die in 1 g Wasser enthaltene Masse von der Erde mit 
981 Dynen angezogen wird. Etwaige Bedenken dagegen, dafs sich ja die 
Einheitspolstärke in Wirklichkeit nicht herstellen läfst, können durch Hinweis 
darauf zerstreut werden, dafs ja auch Flächen und Körper nie so gemessen 
werden, wie es der ursprünglichen Erklärung entsprechend sein müfste. 

Die Definition der Feldstärke in irgend einem Punkte durch die Anzahl 

Neue Jahrbflcher. 1899. II. 4 



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50 K. Hünlich: Die Einfahrung der Kraftlinien in den PhyBikunterricht der Gymnasien 

von Kraftlinien, die dort durch die Flächeneinheit gehen, ist einfach. Gehen 
n Kraftlinien durch das Quadratcentimeter, so heifst das eben, die Wirkung an 
jener Stelle ist dieselbe, wie sie ein Pol von der Starke n in der Entfernung 1 
ausübt. — Die Besprechung des Erdmagnetismus und der zugehörigen 
Kraftlinien, sowie die richtende Wirkung auf die Magnetnadel, die sich im 
Sinne der Kraftlinie einstellt, bietet keinerlei Schwierigkeit dar. 

Erwähnen wird man hier, dafs das magnetische Feld der Erde für kleinere 
Gebiete als homogen anzusehen ist. 

Soweit ungefähr wird man mit den Untersekundanern gehen dürfen, wenn 
man nicht vielleicht noch vorzieht, die zuletzt angegebenen Definitionen über 
Polstärke und Feldstärke wegzulassen. Darüber hinauszugehen aber würde 
mir sehr bedenklich erscheinen. 

In Obersekunda kann nun an passender Stelle das durch den galvanischen 
Strom hervorgerufene Kraftfeld zum Gegenstand der Untersuchung gemacht 
werden. Sind die Schüler mit der Thatsache bekannt geworden, dafs ein 
stromdurchflossener Draht seiner ganzen Länge nach im stände ist, Eisenfeile 
anzuziehen und die Teilchen senkrecht gegen seine Längsrichtung zu stellen, 
so wird man zunächst eine genauere Darstellung des Kraftfeldes eines solchen 
geradlinigen Leiters geben, indem man diesen mitten durch starkes Papier 
oder Pappe führt und zeigt, wie die Eisenfeilspäne den Leiter in konzentrischen 
Kreisen umschliefsen. Die Richtung der Kraftlinien läfst sich leicht nach 
Weinhold mit der kleinen Probenadel feststellen. Ein kleiner isolierter Nord- 
pol müfste sich im Sinne der Kraftlinien um den Stromleiter herum bewegen, 
ein Südpol im entgegengesetzten Sinne. Für jemanden, der etwa einem guten 
Schülerjahrgange etwas Besonderes darbieten will, wäre hier die Möglichkeit 
gegeben, Faradays Apparate zum Nachweis der Drehung eines Stromes um 
einen Pol und umgekehrt zu erläutern. 

An zweiter Stelle würden die Kraftlinien eines kreisförmigen Leiters 
herzustellen sein. Dabei zeigt sich, dafs beim aufsteigenden Stromteile die 
Kraftlinien entgegengesetzt der Uhrzeigerrichtung laufen, beim absteigenden 
Leiterteile mit dem Uhrzeiger. Um hier eine klare Vorstellung von den räum- 
lichen Verhältnissen des Feldes zu gewinnen, empfiehlt es sich, das ganze Feld 
einer Stromschlinge zu zeichnen, womit ja auch sofort die anschaulichste Dar- 
stellung der Wirkung des Stromes auf die Magnetnadel gewonnen ist. 

Der nächste Schritt führt zu den Kraftlinien einer Gruppe von mehreren 
parallelen Drahtringen, die alle im gleichen Sinne vom Strome durchflössen 
sind, zum Soleno'id. Überall da, wo der Strom durch zwei parallele Ringe 
in demselben Sinne fliefst, werden zwischen den Ringen entgegengesetzte Kraft- 
linienrichtungen vorherrschen, deren Wirkungen einander aufheben, so dafs 
schliefslich nur die äufseren, umfassenden Teile übrig bleiben und sich ver- 
schmelzen, derart, dafs sich für das ganze Soleno'id als Wirkungssumme genau 
das Kraftlinienbild eines Magneten ergiebt. 

Das Soleno'id besitzt also selbstverständlich Polarität wie jeder Magnet. 
Bringt man nun noch Eisen in den Hohlraum des Solenoides, so werden die 



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K. Hünlich: Die Einfuhrung der Kraftlinien in den Phyaikunterricht der Gymnasien 51 

Moleküle desselben gleichgerichtet, und ihre Kraftlinien addieren sich zu denen 
des Solenoi'des. Da ein freibewegliches Eisenstück sich nach den Stellen 
der dichtesten Kraftlinien hinbewegt, mufs ein Eisenstab in die Spule hinein- 
gezogen werden, eine Erscheinung, die ja bekanntlich für die Erklärung der 
Bogenlampe wichtig ist. 

Es liegt auf der Hand, dafs nun der Lehre vom Elektromagnetismus Thür 
und Thor geöffnet ist, und ebenso bequem läfst sich nun die Besprechung der 
Ampfereschen Gesetze angliedern. Es lehrt ja schon der blofse Anblick der 
beiden Kraftlinienfelder bei parallelen gleichgerichteten und parallelen entgegen- 
gesetzt gerichteten Strömen, dafs im ersten Falle Anziehung, im zweiten Ab- 
stofsung vorhanden sein mufs. Zu beachten dürfte sein, dafs sich der übliche 
Wortlaut der Ampereschen Gesetze umkehrt, wenn man die Wirkungen durch 
das Verhalten der Kraftlinien ausdrücken will, da ja zwischen parallelen gleich- 
gerichteten Kraftlinien Abstofsung besteht, und umgekehrt. 

Ich komme nun zum wichtigsten, aber zugleich schwierigsten Kapitel der 
Kraftlinienfrage, zur Induktionswirkung. Aber gerade hier tritt auch die 
Überlegenheit der Kraftlinienmethode deutlich hervor, da sie die Voltainduktion, 
Magnetinduktion und unipolare Induktion aus einheitlichem Gesichtspunkte zu 
erklären vermag, wie durch sie ja auch die Übereinstimmung der magnetischen 
und elektrischen Erscheinungen von einer zufälligen zu einer notwendigen ge- 
worden ist. Das Ziel, auf das ich hier ganz direkt zusteuern will, ist die 
Erklärung der Dynamomaschine. Die Berechnung ihrer Wirkung liegt wohl 
jenseits der Grenzen des Gymnasialunterrichts und ist Sache des Elektro- 
technikers. Die Erklärung aber der Dynamomaschine vereinfacht sich durch die 
Kraftlinien gegenüber der alten Erklärungsweise so sehr, dafs ich gerade 
darin eine der Hauptveranlassungen erblicke, die Kraftlinien im Gymnasium 
zur Besprechung zu bringen, denn wir stellen thatsächlich damit nicht etwa 
eine neue Zumutung an die Schüler, sondern bieten ihnen eine Erleichterung. 

In der Umgebung eines stromdurchflossenen Leiters herrscht ein Spannungs- 
zustand, der durch einen Leiter, der sich dort bewegt, gestört werden mufs, 
ähnlich wie durch Bewegung eines Stabes in der Luft oder im Wasser Ver- 
dichtungen vor, Verdünnungen hinter dem Stabe entstehen, während ein 
ruhender Stab keinerlei Veränderungen veranlafst. Durch solche Veränderungen 
im Felde entstehen nun die Induktionswirkungen. Für unseren Zweck wollen 
wir zwei Hauptfälle unterscheiden: 1. Induktion in einem, im Felde bewegten, 
geradlinigen Leiter und 2. Induktion in einem geschlossenen Stromkreise, 
in einer Stromschleife. Für diese beiden Fälle gelten folgende Sätze: 

I. Weijn ein geradliniger Leiter sich im magnetischen Felde so 
bewegt, dafs er Kraftlinien schneidet, so wird in ihm ein Strom 
induziert. Die Gröfse der E. M. K. hängt ab von der Anzahl der Kraftlinien, 
die in der Sekunde geschnitten werden. Über die Richtung des Induktions- 
stromes orientiert man sich hier nach der Faraday sehen Schwimmregel oder 
besser nach der Flemingschen Dreifingerregel: Man halte den Zeigefinger 
der rechten Hand in die Richtung der Kraftlinien, den Daumen in die Richtung 



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52 K. Hünlich: Die Einführung der Kraftlinien in den Physikunterricht der Gymnasien 

der Bewegung, dann wird der Mittelfinger die Stromrichtung angeben, voraus- 
gesetzt, dafs alle drei Finger senkrecht zueinander stehen. 

Und für den Fall der bewegten Stromschleife hat man den Satz: 

IL Bewegt sich ein geschlossener Leiter im magnetischen Felde, 
so wird immer dann ein Strom induziert, wenn die Anzahl der Kraft- 
linien, die durch das vom geschlossenen Leiter umspannte Flächen- 
stück geht, sich ändert. 

Und hier gilt für die Stromrichtung die Maxwellsche Regel: Man 
blicke in der Richtung der Kraftlinien durch den Stromkreis, dann wird ein 
Strom in der Richtung des Uhrzeigers (Zeigerstrom) induziert werden, wenn 
bei der Bewegung des Leiters die durch ihn gehende Zahl der Kraftlinien 
abnimmt. Bei zunehmender Kraftlinienzahl kommt ein Gegenzeigerstrom 
zu stände. 

Zum experimentellen Beweise des ersten Satzes kann man sich eines 
geradlinigen metallischen Gleitstückes bedienen, das an zwei festen, mit einem 
empfindlichen Galvanometer verbundenen Metallstäben rasch hingleitet. Schneidet 
es dabei die Kraftlinien eines starken Feldes, dann läfst sich am Galvanometer 
die Richtigkeit des Satzes samt der Regel konstatieren. Um umgekehrt zu 
zeigen, dafs kein Strom im Gleitstück induziert wird, falls bei der Bewegung 
keine Kraftlinien geschnitten werden, hat Grimsehl in seiner Cuxhavener 
Programmarbeit von 1893 das Feld zweier gleichnamiger Pole benutzt und die 
Gleitschienen parallel zu den sich gegeneinander aufbäumenden Kraftlinien 
gestellt. Ein anderes Verfahren ist von Szymanski aus Berlin im 7. Bande 
der Zeitschrift f. phys. u. ehem. Unterricht angegeben worden. Er stellt mit 
dem räumlichen Verlaufe der Kraftlinien ganz übereinstimmende Kupferschienen 
her, befestigt sie an den Polen seines Magneten und läfst nun diesen Kraft- 
linienschienen entlang das Gleitstück sich bewegen. Auf diese Weise wird 
auch kein Induktionsstrom zu stände kommen. Für den Nachweis des quanti- 
tativen Teiles des ersten Satzes möchte ich auf die Szymanskischen Angaben 
im schon genannten 7. Bande der Zeitschr. f. phys. u. ehem. Unterricht ver- 
weisen; hier würden die Darlegungen zu zeitraubend sein. 

Die Begründung des IL Hauptsatzes, resp. der Maxwellschen Regel leitet 
Grimsehl, dessen Arbeit übrigens auch auszugsweise im 6. Band der genannten 
Zeitschrift enthalten ist, so ein, dafs er ein mehrmals rechtwinklig gebogenes 
Drahtstück, das ein einseitig geöffnetes Rechteck darstellt, um eine Achse, die 
der fehlenden Seite entspricht, innerhalb der Kraftlinien eines homogenen 
Feldes dreht. 

Bei jeder halben Umdrehung des Drahtes wird das Galvanometer einen 
Stromstofs anzeigen, aber so, dafs die Stromrichtung jedesmal wechselt, wenn 
der Leiter die höchste oder tiefste Stelle erreicht hat, da ja in diesem Augen- 
blicke die Bewegung parallel zu den Kraftlinien erfolgt. Am raschesten werden 
die Kraftlinien geschnitten, wenn der Leiter in halber Höhe steht, so dafs da 
der gröfste Stromstofs zu erwarten ist. 

An zweiter Stelle verwendet nun Grimsehl ein vollständig geschlossenes 



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K. Hünlich: Die Einführung der Kraftlinien in den Physikunterricht der Gymnasien 53 

Rechteck, bei dessen Drehung um die Mittellinie in den gegenüberliegenden 
Leiterteilen entgegengesetzt gerichtete Ströme erzeugt werden, so aber, dafs 
der ganze Leiter in einheitlichem Sinne vom Strome durchflössen wird. Auch 
hier tritt natürlich mit jeder halben Umdrehung ein Stromwechsel ein und 
zwar in dem Augenblicke, wenn die beiden Hauptleiterteile die höchste und 
niedrigste Stellung haben, wenn also die Rechtecksfläche senkrecht gegen die 
Kraftlinien steht. Das ist aber der Moment, in dem die gröfste Zahl der Kraft- 
linien durch die Stromfläche geht. Bei horizontaler Lage der Rechtecksfläche 
können keine Kraftlinien durch sie hindurchgehen; ehe aber diese Lage erreicht 
wird, hat die Zahl der Kraftlinien abgenommen, wie sie nachher wieder wächst. 
Beachtet man noch, dafs wir vor und nach der horizontalen Stellung die 
Rechtecksfläche von verschiedenen Seiten sehen, so erkennt man sofort die 
Richtigkeit der Maxwellschen Regel. Bei fortgesetzter Drehung liefert das 
Rechteck natürlich einen Wechselstrom, der sich aber leicht durch eine 
Kommutatoreinrichtung in einen Gleichstrom umwandeln läfst. Um noch zu 
zeigen, dafs bei Verschiebung eines Rechteckes im homogenen Felde, wo zwar 
Kraftlinien geschnitten werden, aber so, d&fs die Zahl der durch die Fläche 
gehenden Linien sich nicht ändert, kein Induktionsstrom zu stände kommt, 
genügt es darauf hinzuweisen, dafs in je zwei gegenüberliegenden Leiterteilen 
gleichsinnige Induktionsströme entstehen, die sich im geschlossenen Leiter 
natürlich wegen ihres entgegengesetzten Laufes aufheben. 

Die Erzeugung von Induktionsströmen erfolgt übrigens ebenso, wenn an 
Stelle des Leiters die Kraftlinien oder ihre Träger sich bewegen. So entstehen 
Induktionswirkungen durch Öffnen und Schliefsen oder durch Änderung in der 
Stärke des Stromes, durch Bewegungen von Magneten oder auch wenn, wie 
beim Telephon, Eisenmassen im Felde bewegt werden. 

Nun schliefst sich sehr einfach die Erläuterung des Siemensschen Cylinder- 
induktors an. Man läfst nur an Stelle des einen oben besprochenen Rechteckes 
mehrere solcher Windungen sich bewegen, dann wird die Wirkung verstärkt, 
da ja die einzelnen Windungen einander unterstützen. Wenn dann endlich 
der Raum innerhalb der Drahtwindungen mit Eisen ausgefüllt wird, so saugt 
dies die Kraftlinien des Feldes ein, und nun können viel mehr Kraftlinien 
durch das Rechteck hindurchgehen als ohne das Eisen. Damit ist in einfacher 
und anschaulicher Form diese Maschine erklärt. Die Erklärung des Grammeschen 
Ringankers läfst sich zweckmäfsig an eine Zeichnung, wie die Sennewaldschen, 
angliedern. Taf. IV derselben zeigt die beliebige Bewegung einer Stromschleife 
im homogenen Felde, Taf. V stellt die Induktionsströme eines kreisförmigen 
Leiters dar, der im Felde rotiert, und wenn man diesen Vorgang überträgt 
auf ein Feld, wie die zweite Figur auf Taf. I es aufweist, so erkennt man 
unter Berücksichtigung der Maxwellschen Regel klar, dafs die über dem Eisen- 
ringe bewegte Stromschleife von der Stellung bis 180° Strom in dem einen, 
von 180 bis 360° Strom im entgegengesetzten Sinne liefert. Zur Gleichrichtung 
wäre wieder ein Kommutator zu verwenden. Nun wird die eine Drahtwindung 
durch eine Gruppe nahe beisammen liegender Windungen ersetzt und damit eine 



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54 K. Hünlich: Die Einführung der Kraftlinien in den Physikunterricht der Gymnasien 

Steigerung der Wirkung herbeigeführt. Ferner ist leicht ersichtlich, dafs der 
Eisenring seine Aufgabe des Kraftlinienaufsaugens ebensogut erfüllen kann, 
wenn er gedreht wird, wie wenn er ruht. 

Man könnte also, wie Grimsehl es thut, einen teilweisen Ringanker mit 
nur einer Windungsgruppe herstellen und zwischen den Polen eines kräftigen 
Magneten rotieren lassen. In den höchsten und tiefsten Stellungen der Windungs- 
gruppe ist dann die Stromstärke 0, und sie hat ihren gröfsten Wert in der 
Stellung senkrecht dagegen. Brächte man jetzt eine zweite Windungsgruppe an, 
um 90° gegen die erste verschoben, dann würde diese das Maximum der Strom- 
stärke liefern im Augenblicke, wo die andere keinen Strom giebt, und damit einen 
Ausgleich herbeiführen, indem sie das Herabsinken des Stromes auf den Null- 
wert hindert. Noch besser ist es, vier symmetrische Windungsgruppen mit vier 
Kommutatorsektoren zu benutzen, und nun liegt es auf der Hand, dafs zur 
Vollendung des Grammeschen Ringes lediglich noch eine Vermehrung der 
Windungsgruppen und der Sektoren vorzunehmen ist. 

Das ungefähr ist das Ziel, dem ich mit der Einführung der Kraftlinien 
in unseren Physikunterricht zustreben möchte. Es kann wohl kein Zweifel be- 
stehen, dafs der von mir flüchtig angedeutete Weg den Vorzug gröfserer Ein- 
heitlichkeit, gröfserer Anschaulichkeit und gröfserer Einfachheit gegen- 
über dem alten Verfahren hat; und ich meine, wir dürfen nicht mehr zögern, 
den Schritt, den die Technik gebieterisch fordert, zu thun, auch wenn wir 
noch so weit davon entfernt sind und bleiben müssen, eine Art Vorschule für 
Elektrotechniker zu sein. 

Dafs innerhalb der von mir gezeichneten Umrisse der individuellen Be- 
handlung der freiste Spielraum bleibt, leuchtet ein. Ich habe ja nur andeuten 
wollen, dafs und wie es möglich ist, die Kraftlinien in der Schule zu be- 
handeln. Und wie ich mir sehr wohl bewufst bin, absolut nichts Neues 
geboten zu haben, bitte ich meine Darlegungen nur auffassen zu wollen als 
eine Anregung zum Nachdenken über die zweckmäfsige Praxis auf diesem Gebiete. 

So sehr ich nun der Einführung der Kraftlinien in unseren Physikunter- 
richt das Wort reden möchte, so zweifelhaft erscheint es mir, ob mit der 
Heranziehung des Potentiales ein richtiger und nützlicher Schritte gethan würde. 

Es mag sich vielleicht bei Anstalten, die den Physikunterricht in konzen- 
trischen Kursen erteilen, die Behandlung des Potentiales auf der Oberstufe 
rechtfertigen lassen; dafs wir in Sachsen aber unseren Untersekundanern mit 
dem Potentiale unter die Augen gingen, will mir unthunlich erscheinen. Es 
kann niemand leugnen, dafs der Potentialbegriff für Schüler seine ganz erheb- 
lichen Schwierigkeiten hat, und sie bleiben auch bestehen, mag man nun das 
Potential als Arbeit oder Elektrizitätsgrad, als Ladungsgrad oder Zustand im 
Felde definieren. Und in meiner Auffassung bestärkt mich auch der Gedanke, 
dafs wir doch der Universität auch noch einigen Lehrstoff in der Physik übrig 
lassen müssen, und die Lehre vom Potential ist nach meiner Überzeugung der 
Hochschule viel mehr angemessen als der Sekunda des Gymnasiums. 



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DIE GESUNDHEITSPFLEGE BEIM MITTELSCHULUNTERRICHTE 

Von Alexander Weinberg 

Grofse Anforderungen stellt in unserer Zeit das Leben an die geistige 
Kraft des Einzelnen. Mit vielseitigen und gründlichen Kenntnissen mufs der 
Mann ausgestattet sein, um es zu einer entsprechenden Lebensstellung zu 
bringen und hernach im Berufe den Wettbewerb der Existenz siegreich be- 
stehen zu können. Diesen Anforderungen der Zeit an die Intelligenz des 
Einzelnen sollen und müssen die Erziehung und die Schule gerecht werden. 

Aber nicht nur die Pflege des Geistes und die Erziehung in den Grenzen 
der Sitte und Religion sind die ernsten Ziele der Schule, auch für die körper- 
liche Entwicklung mufs sie Sorge tragen. Die Jugend ist das kostbare 
Gut der Familie und damit ein wohl zu hütendes Kapital des Staates. 
Und die Aufgabe des Staates ist es, darauf zu sehen, dafs die Heranbildung 
unserer Kinder keine einseitig geistige sei, sondern in harmonischer Weise 
Geistes- und Körperbildung sich vereinigen, damit einst dem Staate tüchtige, 
gesunde, wehrhafte Männer erwachsen. 

Die Ansicht, dafs es Pflicht der Schule sei, für die körperliche Entwicke- 
lung der Jugend zu sorgen, ging von England aus, wo schon lange in den 
Colleges und Schulen der Pflege des Körpers das gröfste Gewicht beigelegt 
wurde. Dort waren und sind es in erster Linie die Jugendspiele, welche 
während des elementaren Unterrichts, in der Mittelschule und auf den Hoch- 
schulen gepflegt und geübt werden. Daneben ist es der Wassersport und 
andere Körperübungen, die mit ihren Wettspielen zu wahren Festlichkeiten 
werden. In Deutschland und Osterreich bot zuerst der Unterricht im Turnen 
Gelegenheit, diese Seite im Gesamtunterrichte der Jugend zu üben. An den 
Realschulen Österreichs ist der Turnunterricht ein obligatorisches Lehrfach, und 
die Turnlehrer sind zumeist akademisch gebildet. Die Gymnasien Österreichs 
dürften auch bald das Turnen allgemein als Unterrichtsgegenstand einführen, 
nachdem es bisher nur als freier Lehrgegenstand gegolten hat. 

Erst seit wenigen Jahren wird nun auch den Jugendspielen und manchen 
sportlichen Übungen, wie Schlittschuhlaufen, Skielaufen, Schwimmen besondere 
Aufmerksamkeit zugewendet. Es ist nur natürlich, dafs die in der Jugend ge- 
pflegten Spiele auch noch später im Mannesalter zu vielen Zerstreuungen Ver- 
anlassung geben; an die Stelle der Jugendspiele treten dann die Volksspiele, 
als sportliche Vergnügungen aller Art, wie dies in England heute der Fall 
ist und wie es in Belgien und den Niederlanden schon vor Jahrhunderten ge- 
wesen, was uns die Bilder eines Brueghel, Teniers, Snyders u. s. w. in so schöner 
Weise zur Anschauung bringen. 

Die Jugendspiele sollten daher ein integrierender Teil der Erziehung 
unserer Jugend in den Mittelschulen sein; sie mögen dem Turnunterrichte an- 



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56 



A. Weinberg: Die Gesundheitspflege beim Mittelschulunterrichte 



gegliedert werden. Es ist eine gerechte Forderung, dafs die Städte und der 
Staat genügend grofse Spielplätze der Jugend zur Verfügung stellen und dafs 
beim Umbau oder der Neuerrichtung der Schulen auf einen beim Schul- 
gebäude gelegenen Spielplatz genügend Rücksicht genommen werde. 

Die Fürsorge des Staates für die Gesundheit der heranwachsenden Jugend 
äufsert sich aber auch in den hygienischen Einrichtungen im Schulgebäude selbst. 

Auf all die Einzelheiten und Vorschläge, die in dieser Richtung gemacht 
wurden, näher einzugehen, würde zu weit führen. Nur über Ventilation 
und Beleuchtung möchte ich einige kurze Bemerkungen machen. 

Bezüglich der Ventilation seien in den Schulen die besten Systeme, die 
geräuschlos funktionieren, in Anwendung gebracht. Im Notfalle müfste von 
der einfachsten Ventilation, bestehend im Offnen von Thüren und Fenstern, 
Gebrauch gemacht werden. An vielen Anstalten besteht der Zwang, während 
der Respirien die Klassen von den Schülern zu evakuieren und alle Fenster zu 
öffnen, desgleichen stets nach Schulschlufs durch Öffnen der Fenster für den 
genügenden Luftwechsel Sorge zu tragen. Wie notwendig die Ventilation 
ist, haben mich vielfache Kohlensäurebestimmungen in Schulzimmern gelehrt 
und beweisen auch die mafsgebenden Versuche Pettenkofers. Nach Petten- 
kofer wirkt die Luft schon bei einem Kohlensäuregehalt von 0,1 Volum- 
prozenten auf die Geruchsorgane und macht sich das Bedürfnis nach Erneuerung 
der Luft fühlbar. Es erzeugt Wohnungsluft mit 1 — 5% per Mille Kohlen- 
säure bei vielen Menschen Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit. Petten- 
kofer hat daher den Kohlensäuregehalt von 1 per Mille als den Grenzwert für 
gute Luft festgesetzt. Die Störungen des Allgemeinbefindens sind indessen 
durchaus nicht der Kohlensäure selbst zuzuschreiben, sondern vielmehr anderen, 
gleichzeitig der Luft zugeführten Produkten der Respiration und Perspiration, 
die noch nicht genau bestimmt sind und schlechter Zimmerluft den unan- 
genehmen Geruch geben. Die Kohlensäure dient daher nur als Mafsstab für 
die Luftverschlechterung. Der Grenzwert von 1% l&fst sich aber nicht ein- 
halten; wir müssen zufrieden sein, wenn der Kohlensäuregehalt 2 — 3 per Mille 
nicht übersteigt. 3 — 6%o Kohlensäuregehalt sind indessen entschieden als un- 
zulässig zu bezeichnen. Und trotzdem liefs sich in gefüllten Klassen bei ge- 
schlossenen Thüren und Fenstern sowie mangelnden Ventilationseinrichtungen eine 
Kohlensäuremenge von 8 — 10 °/ w nachweisen. Im Friedrich- Wilhelms-Gymnasium 
in Berlin, welches Kachelofenheizung besafs und wo keine Ventilation vorhanden 
war, betrug der Kohlensäuregehalt der Klasse Sexta A am 19. Februar 1883: 





Temperatur 


Kohleni&ure 


Luftgehalt 


Zeit 


der »öfteren 


der Zimmer- 


per Mille 


an 




Luft 


luft 


in der Klane 


Durchichnitt 


Kohlensaure 


8 h 


-5,0 


+ 10,0 


1 






9 


— 4,26 


+ 12,26 


3,6 






10 


— 3 


+ 13,6 


5,5 


5,6 


0,1 


11 


-1,6 


+ 14,6 


6,8 




12 


0,0 


+ 14,5 


7,3 






1 


1,0 


+ 15,25 


8,3 







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A. Weinberg: Die Gesundheitspflege beim Mittelschulunterrichte 57 

Der Kohlensäuregehalt stieg also in dieser nicht ventilierten Klasse vom 
Beginne des Unterrichts bis zum Schlüsse unausgesetzt und erreichte am Ende 
der Unterrichtszeit eine Höhe von 8,3%, während die Aufsenluft einen Gehalt 
von nur 0,5 hatte und die Grenzwerte einer Zimmerluft 2 — 3% betragen. 
Heute dürften auch an dieser Lehranstalt die Verhältnisse günstiger liegen. 

Interessant ist auch der Umstand, dafs nach den Unterrichtspausen bei 
offen gehaltenen Fenstern und Thüren der Kohlensäuregehalt aufserordentlich 
niedrig ist, um nach Unterrichtsbeginn gleich wieder zu steigen. 

Fast über alle sanitären Verhältnisse der Schulen liegen bereits Unter- 
suchungen vor. So hat unter anderen Cohn in Breslau, der bekannte 
Botaniker, mittelst eines Photometers verschiedene zu Vorhängen benutzte 
Stoffe auf ihre Lichtdurchlässigkeit und daraus folgende Brauchbarkeit für 
Schulen untersucht. Zu den guten Vorhängen zählt er solche, die 44 — 50% 
rotes und 21 — 45% grünes Licht durchlassen. Es sollen nur jene Stoffe ge- 
wählt werden, die diesen Bedingungen genügen; das sind weifser, feinfädiger 
Shirting, Garn oder cremefarbiger Köper und weifser Dowlas. 1 ) 

Ruebe in München untersuchte die Luft der Schulzimmer auf Bakterien. 
Die Prüfungen fanden immer nachmittags um 2 x / % h statt und ergaben auf 
1 cm 3 Luft zwischen 1500 und 3 Mill. Bakterien. Darunter fand er auch 
einen neuen Bacillus, der für Mäuse, Meerschweine und Kaninchen tötlich wirkte. 2 ) 

Mit der Beleuchtung werde in Schulräumen, namentlich solchen, wo 
gezeichnet oder geschrieben wird, ja nicht gespart. Ein grofser Teil der 
Studenten holt sich seine Kurzsichtigkeit in der Schule. In grofsen Klassen, 
bei weiter Entfernung der Schultafel, erscheint im Dämmerlicht das An- 
geschriebene oft so undeutlich, dafs die Schüler durch zu scharfes Sehen 
sich die Augen überanstrengen. Indem die Schüler dann in das Heft ihres 
Nachbars blicken, wird das Auge durch den seitlichen Blick noch mehr gereizt. 

In den Schulen mufs für eine ausgiebige Tafelbeleuchtung gesorgt sein. 
Unter den künstlichen Lichtquellen verdient das elektrische Bogen- und 
Glühlicht an erster Stelle genannt zu werden. Bei Gaslicht scheue man 
nicht die guten und sparsamen Auerschen Brenner. Ferner lenke man 
heute schon die Aufmerksamkeit dem Acetylen zu, das eine ruhige, rein 
weifse Flamme giebt und dessen Herstellung in jedem Schulgebäude für sich 
allein durchgeführt werden kann. 

Wenden wir uns nun der Hygiene beim Unterrichte zu. Die Hygiene 
oder Gesundheitslehre sollte dem Lehrplane einer jeden Lehranstalt eingefügt 
werden. Da dies bis jetzt an unseren Mittelschulen nicht gut durchführbar war, 
möge sich jeder Lehrer das Moment der Gesundheitspflege vor Augen halten 
und in diesem Sinne auf seine Schüler Einflufs zu gewinnen suchen. Es ge- 
schieht dies ja in sehr vielen Fällen. So sehen z. B. die Fachlehrer jener 
Gegenstände, in denen an der Tafel geschrieben wird, seit jeher darauf, dafs 



*) Deutsche med. Wochenschrift 1895, Nr. 17. 
*) Münch. med. Wochenschrift 1895, Nr. 17. 



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58 A. Weinberg: Die Gesundheitspflege beim Mittelschulunterrichte 

auf der sauberen Tafel nur mit dicken Kreidestrichen gearbeitet werde. Bei 
dem Entwerfen von geometrischen Zeichnungen an der Tafel, wo oft viele 
Linien auftreten, wird sich für Hilfslinien die Anwendung farbiger Stifte 
empfehlen. Man achte beim Unterrichte in allen Gegenständen darauf, dafs 
die in der Bank schreibenden Schüler eine korrekte Haltung bewahren. Zahl- 
reich sind die Winke, die man den Schülern beim Unterrichte im Turnen, bei 
den Jugendspielen, gelegentlich der Schülerausflüge u. s. w. zu geben vermag. 
So kann jeder Lehrer in hygienischem Sinne auf seine Schüler Einflufs ausüben. 

Ganz besonders ist aber der Fachlehrer der Naturgeschichte, 
Physik und Chemie in der Lage, durch die dem Unterrichte ein- 
gestreuten Bemerkungen über die Pflege der Gesundheit belehrend 
auf seine Schüler einzuwirken. 

Schon während des elementaren naturgeschichtlichen Unterrichts 
vermag man beim Beschreiben und Vergleichen verschiedener Tierformen diese 
Vergleichung auf den Menschen auszudehnen, wodurch Gelegenheit geboten 
wird, bereits auf der Unterstufe einzelne Organe des Menschen in den Kreis der 
Betrachtung zu ziehen. Die Betrachtung der Gliedmafsen und Körperbedeckung 
lenkt die Aufmerksamkeit auf die Haut und Nägel hin. Man beleuchte deren 
Zweck, ihre Pflege, und füge einige Worte über die Reinlichkeit der Hand, 
das Waschen und Baden des Körpers an. Das Gebifs der Tiere führt zu den 
Zähnen des Menschen. Es läfst sich vom Zahnwechsel, der Reinigung und 
Pflege der Zähne sprechen. Die grofse Muskelkraft der Raubtiere gestattet 
einen Seitenblick auf die Muskeln des Menschen, und man wird nicht umhin 
können, auf die Kräftigung der Muskulatur durch das Turnen, Schwimmen, 
Eislaufen, Spielen u. s. w. aufmerksam zu machen. Ebenso bietet diese Tier- 
gruppe Gelegenheit, über das Auge und Ohr einiges zu sagen. Es wird der 
Jugend einzuschärfen sein, nicht bei Dämmerlicht zu lesen oder zu schreiben und 
das Studium zur Nachtzeit zu unterlassen. Bemerkungen über die Bedeutung 
des Ohres, dessen Pflege, Reinigung u. s. w. werden ebenfalls von Nutzen sein. 

Die Beobachtung der im Wasser lebenden Säuger lehrt die Jugend, dafs 
diese Tiere nicht durch den Mund, sondern durch die Nase atmen. Man er- 
weitere diese Beobachtung auf den Menschen. Der Lehrer weise die Jugend 
darauf hin, dafs auch der Mensch durch die Nase zu atmen habe, um die Luft 
vorzuwärmen und vom Staube zu reinigen. Daran lassen sich leicht einige 
Bemerkungen über die Respiration und die Pflege der Lungen knüpfen. 

Die Wolle des Schafes giebt Gelegenheit, vom Tuche und der mensch- 
lichen Kleidung zu reden: 'Kopf kühl, Füfse warm!' ist auch für die Jugend 
beherzigenswert. Man trete der Neigung der Knaben für allzuleichte Be- 
kleidung im Winter entgegen und rate von der Benützung der Halstücher, 
Ohrlappen u.s. w. ab. Solche Besprechungen nehmen nur aufserordent- 
lich geringe Zeit in Anspruch, fesseln aber die Aufmerksamkeit der 
Schüler, erweitern ihre Kenntnisse und tragen zur Gesundheits- 
pflege bei. 

Die Botanik giebt Veranlassung, von den efsbaren und giftigen Schwämmen, 



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A. Weinberg: Die Gesundheitspflege beim Mittelschulunterrichte 59 

von Gift-, Nähr- und Arzeneipflanzen zu sprechen. Der eifrige Lehrer wird 
von Zeit zu Zeit landschaftliche Schilderungen an der Hand guter Bilder den 
Schülern entwerfen, um deren Phantasie anzuregen und die abgehandelten 
Pflanzenfamilien in ihrer Gesamtheit vorzufuhren. Dabei lassen sich ganz gut 
Bemerkungen über den Nutzen des Waldes, die Schädlichkeit der Sümpfe, den 
Vorteil der Hochgebirgsluft u. dgl. einflechten. Auf botanischen Spaziergängen, 
wo ein innigerer Verkehr des Lehrers mit den Schülern möglich ist, kann auf 
diese Verhältnisse besonders gut eingegangen werden. 

Ganz ähnliche Betrachtungen vermag man auch beim naturgeschichtlichen 
Unterrichte auf der Oberstufe, allerdings in ausführlicherem, dem entwickelten 
Verstände der Schüler angepafsten Mafse anzustellen. In der Zoologie bietet 
die eingehende Betrachtung des menschlichen Baues Gelegenheit, auf die 
Pflege der Organe im gesunden und kranken Zustande näher einzugehen. Die 
Botanik veranlafst den Lehrer, sich über die Bakterien und die Hygiene der 
Infektionskrankheiten zu verbreiten. Es läfst sich über den Nährwert der 
Cerealien und Hülsenfrüchte sprechen, und werden auch manche ausländische 
Kulturpflanzen, wie Gewürze, Kaffee, Thee nach ihrer Verfälschung, ihrem 
Nutzen und Schaden betrachtet werden können. In der Pflanzenphysiologie 
kann über den Nutzen der Pflanzen im Haushalte der Natur, den Kreislauf 
des Stoffes, die Düngung und andere mehr oder weniger hygienische Momente 
berichtet werden. 

Reichliche Gelegenheit zu hygienischen Betrachtungen bietet 
der Unterricht in der Naturlehre. Beim Studium der Luft, des Sauer- 
stoffes und Ozons weise man auf die Bedeutung dieser Körper für die menschliche 
Gesundheit hin. Die Diffusionserscheinungen regen zu lehrreichen Betrachtungen 
der Ventilation an. Eventuelle Kohlensäurebestimmungen im Schulzimmer bei 
geschlossenen und offenen Fenstern fahren den Schülern recht anschaulich die 
Notwendigkeit der Ventilation und Lüftung vor Augen, so dafs sie in ihrem 
späteren Berufe gewifs diesem wichtigen hygienischen Umstände Rechnung zu 
tragen sich bemühen werden. Es wird sich empfehlen, die Hygiene des 
Trinkwssers in ausführlicher Weise zu behandeln und auch auf die Be- 
deutung des Grundwassers näher einzugehen. Die Elektrizität, der Kohlen- 
stoff und das Leuchtgas veranlassen die Besprechung der Beleuchtung und 
Heizung vom hygienischen Gesichtspunkte aus und belehren die Jugend, wie 
bei Leuchtgas- und Kohlenoxydgasausströmungen vorgegangen werden mufs, 
um Unglücksfälle zu verhüten. Die giftigen Metalle und Metallver- 
bindungen in Bezug auf ihren Heilwert und ihre Schädlichkeit fallen eben- 
falls in diesen hygienischen Teil des naturkundlichen Unterrichtes. Der Alkohol 
und die geistigen Getränke lenken auf deren Nutzen und Schaden in Bezug 
auf die Gesundheit hin, woran sich Vorsichtsmafsregeln beim Aufbewahren des 
Weingeistes knüpfen lassen. 

Bei manchen Chemikalien läfst sich die Verwendung als Desinfektions- 
mittel angeben, woran man eine kurze zusammenhängende Schilderung der 
Desinfektion und Antisepsis schlief sen kann, mit spezieller Belehrung des 



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60 A. Weinberg: Die Gesundheitspflege beim Mittelschulunterrichte 

Vorgehens bei Epidemien, Verwundungen und Verbrennungen. Den Heilwert 
der Alkalo'ide lasse man bei der Behandlung dieses Teiles der organischen 
Chemie nicht unerwähnt, und stelle ihre Schädlichkeit bei stärkerem Genüsse 
ins rechte Licht. Hierbei kann auch vom Tabake gesprochen und auf seine 
gesundheitsschädliche Wirkung beim Rauchen im jugendlichen Alter eingegangen 
werden. Solche vom Fachlehrer an die Schüler gerichteten Worte wirken oft 
mehr als Schulgesetze und Verordnungen und unterstützen diese sehr häufig 
aufs kräftigste. 

Die Eiweif s stoffe fuhren den Lehrer zur Nahrung und Besprechung 
der rationellen Ernährung des menschlichen Körpers. Einige Worte über 
unsere wichtigsten Nahrungsmittel, wie Fleisch, Milch, Butter, Käse, ihre 
Eigenschaften im guten Zustande, ihre Verfälschungen und die leichtere Nach- 
weisung der letzteren werden hier am Platze sein. 

So wie es hier in einzelnen Fällen angedeutet wurde, lassen sich manche 
hygienischen Betrachtungen in den naturwissenschaftlichen Unterricht einstreuen. 
Die darauf verwendete Zeit ist kaum nennenswert, so dafs der übrige Unter- 
richt darunter niemals leiden wird. Die dem Lehrer erwachsene Mühe wird 
reichlich aufgewogen durch das grofse Interesse, mit dem die Jugend diesen 
Erörterungen folgt. Die Schüler erkennen, welche praktische Nutzanwendung 
naturwissenschaftliche Kenntnisse für die Gesundheit des Menschen haben; der 
Lerneifer für die solche Kenntnisse vermittelnden Gegenstände wird bedeutend 
gehoben. Indem der Lehrer auf den Nutzen der Reinlichkeit, die Mäfsigkeit 
im Essen und Trinken, die Pflege und Schonung der Nerven aufmerksam 
macht, wirkt er in hohem Grade ethisch auf die Schüler ein und fordert so 
auch ihre sittliche Erziehung. 

Durch die Erteilung hygienischer Winke erhalten Lehrer und 
Schule einen wirksamen Einflufs auf die Gesundung und Erstarkung 
der ihnen anvertrauten Jugend. 

Wir erziehen aber unsere Jugend auch zur Gesundheit, indem wir ihr 
Gelegenheit bieten, möglichst oft sich im Freien zu ergehen. 

Alle diese Umstände bringen es mit sich, dafs man heute der Methodik 
des Unterrichtes jene sorgfältige Ausgestaltung angedeihen läfst, die notwendig 
ist, um der Jugend soweit als möglich in der Schule die notwendigen Kennt- 
nisse einzuprägen, ohne dafs zur Erreichung dieses Zieles die jungen Leute 
stundenlang und des Abends ihren Arbeiten für die Schule obliegen müssen. 
Um nun diese hygienischen Anforderungen mit den Bedingungen des Unter- 
richtes in Einklang zu bringen, liegt der Gedanke nahe, ob man nicht 
einen wenn auch sehr geringen Teil des Unterrichtes ganz ins Freie 
verlegen sollte. Dieser Unterricht im Freien könnte an die Stelle einzelner 
Unterrichtsstunden treten, oder an manchen freien Nachmittagen stattfinden. 
Er bestände in kleineren oder gröfseren Studiengängen ins Freie, 
aber nicht nur zur Förderung des Unterrichtes in der Naturgeschichte und 
Chemie, wie schon lange üblich, sondern zur Ausgestaltung und Vertiefung des 
physikalischen, geographischen, historischen und Zeichenunterrichtes. 



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A. Weinberg: Die Gesundheitspflege beim Mittelschulunterrichte 61 

Solche Studiengänge ins Freie haben, wenn auch in sehr bescheidenem 
Mafse unternommen, doch einen bedeutenden Wert. Sie verfolgen ein dem 
Unterrichte direkt zu gute kommendes Ziel, indem die Schüler auf den Exkursionen 
Dinge und Vorgange zu Gesicht bekommen, die in der engen Schulstube nicht 
geboten werden können und den Kreis der Anschauung bedeutend vergröfsern. 
Aus diesem erweiterten, praktischen Anschauungsunterrichte folgen aber be- 
deutende Vorteile für die formale und praktische Heranbildung unserer Jugend. 
Bei den wissenschaftlichen Landpartien tritt der Lehrer mit seinen Schülern 
in innigen Kontakt, er vermag erläuternd und belehrend in jeder Richtung 
Einflufs zu üben. Die Exkursionen tragen zur Konzentration des Unter- 
richtes aufserord entlich bei, und auf einem einzigen derartigen Ausfluge kann 
praktisch mehr gelehrt werden als in vielen Unterrichtsstunden. Die Zahl der 
Unterrichtsstunden könnte infolgedessen eingeschränkt werden und doch dasselbe 
Lehrziel erreichen. Wer jemals einen solchen Schulausflug unternommen hat, 
weifs, mit welchem Jubel und welcher Freude sich die Schüler daran beteiligen. 
Der eifrige Lehrer wird als wahrer Freund der Jugend auf diesen wichtigen, 
den Schulunterricht unterstützenden, aber auch entlastenden Lehrbehelf gewifs 
nicht verzichten, zumal da hierdurch die Liebe der Schüler zu dem Gegenstande 
und ihrem Lehrer mächtig gefordert und durch den Aufenthalt im Freien der 
Jugend Gelegenheit zur Erholung geboten wird. 

Möge zum Schlüsse noch darauf hingewiesen werden, dafs auch an 
den Volks- und Bürgerschulen, sowie an allen Bildungsstätten für 
die weibliche Jugend die Hygiene einen Teil des Unterrichtes bilden 
sollte. Der oft nur elementaren Unterricht geniefsende Handwerker und 
Gewerbsmann wird die Lehren der Gesundheitspflege nutzbringend verwerten 
können und der Gewerbehygiene, dieser aufserordentlich humanen Institution, 
das richtige, fordernde Interesse entgegenbringen. Und die Mädchen haben in 
ihrem künftigen Berufe als Frauen und Mütter die Pflicht, Kenntnisse in der 
Gesundheitslehre und dem Samariterdienst zu besitzen, um ihren Kindern im 
kranken und gesunden Zustande hilfreich zur Seite zu stehen. 



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ANZEIGEN UND MITTEILUNGEN 



ZU GOETHES IPfflGENIE 
I. Goethe und Racine 
Im nennten Bande des Goethe-Jahrbuchs 
S. 238 hat E. v. Lippmann mit Goethes f Zwei 
Seelen wohnen ach in meiner Brust' Racines 
f Je trouve deux hommes en moi' l ) zusammen- 
gestellt, und ebenso im zwölften Bande S. 258 
J. Schneider mit dem Liede f Wer nie sein 
Brot mit Thränen afs' den Monolog Jocastes 
in der Thdbaide des französischen Tragikers 
und besonders die Verse: 
Voilä de ces grands dieux la supreme 

justice! 
Jusques au bord du crime ils conduisent 

nos pas, 
Ils nous le fönt commettre et ne l'excuaent 
pas. *) 
Ich möchte zu diesen beiden Parallelen eine 
dritte fügen. In Racines Phedre Akt 3 Sc. 2 
sagt Hippolyte: 

Quelques crimes toujours pr£cedent les 
grands crimes; 
Quiconque a pu franchir lex bornes legi- 
times , 
Peut violer enfin les droits les plus 8acre"s, 
Et jamais on n'a vu la timide innocence 
Passer subitement ä l'extreme licence. 
Der Gedanke — ein moralisches 'natura 
nihil facit per saltum' — die allmähliche 
Steigerung des Guten wie des Bösen, kehrt, 
selber grandios zu der Idee einer durch 
Generationen sich fortsetzenden und poten- 
zierenden ethischen Reihe gesteigert, in 
Goethes Iphigenie wieder. Den Bericht der 
Priesterin von den Greueln ihres Hauses 
unterbrechend, sagt Thoas in der ältesten 
Fassung des Stückes Akt I Sc. 3: f Es wälzet 
böse That vermehrend sich ab in dem Ge- 
schlecht', und Iphigenie antwortet mit dem 

*) Ein neuerer Biograph Racines, P. Mon- 
ceaux (Paris 1892) beginnt seine Darstellung 
mit diesem Gesänge, einem der vier für 
Saint-Cyr gedichteten, und erzählt, Louis XIV. 
habe, als er die Strophen singen hörte, zu 
Frau von Maintenon gesagt: f Madame, voila 
deux hommes que je connais bien.' 
*) Es folgen die Worte: 
Prennent-ik donc plaisir a faire des cou- 

pables ; 
Afin d'en faire, apres, d'illustres miserables V 



Hinweis auf die Allgemeinheit der Erscheinung, 
auf das sittliche Entwickelungsgesetz : f Ein 
Haus erzeuget nicht gleich den Halbgott 
noch das Ungeheuer, eine Reihe von Edlen 
oder Bösen bringt zuletzt die Freude oder 
das Entsetzen der Welt hervor.' — In der 
letzten Redaktion hat diese Stelle bekannt- 
lich unter der vollendenden Hand des Dichters 
eine bemerkenswerte Umgestaltung erfahren. 
Der Gedanke selbst ist geblieben, aber er 
ist anders eingeführt und anders verwendet, 
er ist direkt auf Iphigenie selbst bezogen. 
Entsetzt bei der Vorstellung ihrer Zugehörig- 
keit zu dem unseligen Stamm, hält sie inne 
und schickt dann, zum Fortfahren aufgefordert, 
der weiteren Erzählung von ihrer Ahnen 
Schicksalen die schmerzliche Betrachtung 
voraus : 
Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt, 
Der froh von ihren Thaten, ihrer Gröfse 
Den Hörer unterhält und, still sich freuend, 
Ans Ende dieser schönen Reihe sich 
Geschlossen sieht. Denn es erzeugt nicht 

gleich 
Ein Haus den Halbgott noch das Ungeheuer, 
Erst eine Reihe Böser oder Guter 
Bringt endlich das Entsetzen, bringt die 

Freude 
Der Welt hervor. 
Die dramatische Absicht der Änderung ist 
leicht erkennbar, und die Erreichung dieser 
Absicht ist unzweifelhaft. Eine leise, nur 
aus der Geschichte der Stelle sich erklärende 
Unebenheit läfst sich indessen nicht wohl 
leugnen, und es ist kein Zufall, und philo- 
logisch nicht uninteressant, dafs gerade da, 
wo die aus den früheren Fassungen über- 
nommenen Worte an neugedichtete angefügt 
sind, dem Interpreten eine gewisse Schwierig- 
keit entsteht und darüber gestritten werden 
konnte und kann, wohin das begründende 
'Denn' zielt. Die ursprüngliche Anknüpfung 
der erklärenden Erwiderung Iphigeniens — 
die Befremdung des Königs darüber, dafs 
böse That vermehrend sich weiter wälzt — 
ist weggefallen, und so bleibt die Partikel 
undeutlich; sie kann nur auf den, für eine 
so gewichtige Betrachtung aber zu schwach 
accentuierten, Ausdruck f Schöne Reihe' gehen. 
Zuzugeben ist freilich, dafs das Gefühl für 



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Anzeigen und Mitteilungen 



63 



die bezeichnete gelinde Diskontinuität durch 
die Vergleichung mit der ursprünglichen 
Form der Stelle geschärft wird. 

Um auf Racine zurückzukommen, so hat, 
wie Paul Stapfer, Goethe, Paris 1880 S. 130, 
erwähnt, G. A. Heinrich, der französische Ver- 
fasser einer Geschichte der deutschen Litte- 
ratur, auf eine Analogie zwischen Goethes 
Iphigenie und Racines Be*re*nice hingewiesen: 
r La Situation est semblable, puisque, dans 
les deux trage*dies, Tamour s'immole et que 
Titus consent au de'part de la reine, comme 
Thoas ä celui de la pretresse.' Stapfer selbst 
fugt hinzu: 'L'harmonie generale des deux 
pieces se räsume dans le mot de la fin de 
chacune d'elles: le dernier mot de B^ränice 
est un triste et profond soupir; le dernier 
mot dTphiggiiie est un adieu viril etre*8igneV 
Vgl. jetzt auch Herman Grimm, Deutsche 
Rundschau 1897 Bd. 91 S. 124. 

(Nr. II folgt im nächsten Hefte.) 

J. Imelmann. 



Triobild Ziegler, Der Kampf gegen die 
Unmassigkkit auf Schule und Universität 
(Vortrag, gehalten in Heidelberg am 
27. Juli 1898) 
ist mir, der ich dabei zunächst nur an die 
Schule als das Hauptgebiet meiner Thätig- 
keit denke, durchaus sympathisch bis auf 
weniges. Zu diesen Differenzpunkten gehört 
der Satz bei Ziegler, dafs f die Pflege von 
allerlei Sport in Schülerkreisen dem Zwecke 
jenes Kampfes nicht förderlich sein dürfte'. 
Darüber urteile ich anders, und ich be- 
greife es nicht recht, warum Ziegler dieses 
Hilfsmittel für die Schule verwirft, während 
er es für die Studentenschaft angelegent- 
lich empfiehlt (S. 8). Was ist es denn 
hauptsächlich, das Gymnasiasten zu der Ver- 
irrung wüster Kneiperei verlockt? Jugend- 
lust und Jugendmut, die sich auswirken 
wollen; das Bedürfnis der Geselligkeit; die 
Grofsmannssucht, die sich gern als freies 
und erwachsenes Wesen fühlen möchte; 
endlich der Wetteifer, der sich irgendwie 
unter den Altersgenossen hervorzuthun und 
eine Überlegenheit zu bekunden strebt. Diese 
natürlichen Triebe, die kein vernünftiger 
Erzieher gewaltsam zu unterdrücken sucht, 
selbstverständlich auch der praktische und 
allem Extremen abgeneigte Ziegler nicht, 
müssen von stumpfsinnigem Commentreiten 
und ekelhafter Völlerei abgelenkt werden 
zu etwas Besserem und Gesünderem. Für eine 
solche pädagogisch wichtige Ablenkung 
ist mir schliefslich jeder Sport gut genug, 
sei es Radeln oder Rudern, Fulsball oder 



Faustball, oder was sonst unsere Sach- 
verständigen Brauchbares erfinden mögen. 
Dabei kann die Schule anregend und 
fördernd, anderseits auch, wenn die Gymnastik 
zur Athletik auszuarten droht, einhemmend 
wirken. Neben dem gymnischen aber können 
wir doch auch mancherlei für den fraglichen 
Zweck sehr nützlichen musischen Sport 
pflegen: ich meine die Ausbildung des 
Kränzchen- und Vereinswesens in den Ober- 
klassen für musikalische und schöngeistige 
Betätigungen verschiedener Art; neuerdings 
empfehlen sich dafür besonders auch archäo- 
logische und sonst kunstwissenschaftliche 
Unterhaltungen. Und der alte Lateinschul- 
sport des Komödiespielena ist ebenfalls eine 
sehr wirksame Ableitung in dem oben an- 
gedeuteten Sinne. Lehrer von Geist und 
gutem Geschmack, denen eine über die un- 
mittelbaren Pflichten des Amtes hinaus- 
gehende Opferwilligkeit und gegenüber 
etwaigen burschikosen Anwandlungen ihrer 
Primaner Unbefangenheit, Takt und Libera- 
lität nicht fehlen, werden als Leiter und 
Hüter derartiger Schülergeselligkeit auch für 
das torquere ab obscenis einen recht wohl- 
thätigen Einflufs ausüben. 

Was Ziegler über die zweifelhafte Wirkung 
etwaiger Drakonismen der Schulordnungen 
gegen den Wirtshausbesuch sagt, ferner über 
die grofse Bedeutung einer strengen Arbeits- 
zucht im Gegensatze zu weichlichen Ent- 
bürdungsbestrebungen, endlich über den 
hohen Wert des guten Vorbildes der Er- 
wachsenen und darüber, dafs in Sachen der 
Temperenz die häusliche Erziehung mafs- 
gebend sei und die Schulerziehung daneben 
oder dagegen wenig leisten könne, das unter- 
schreibe ich alles mit voller Zustimmung. 
Über das Unwesen der geheimen Schüler- 
verbindungen drängt es mich zu den Ziegler- 
schen Andeutungen ergänzend noch etwas 
hinzuzufügen. Wenn eine Schülerverbindung 
entdeckt wird, ergiebt sich nicht selten, dafs 
sie ihre eigenen sogenannten alten Herren 
hat, die durch den Besuch der Sitzungen 
dieser grünen Neo- Alemannia und durch 
andere Formen der persönlichen Teilnahme 
den groben Unfug sanktionieren und fördern, 
und das sind nicht etwa nur adulescentuli, 
die selbst eben noch auf der Schulbank ge- 
sessen haben, sondern auch reifere Leute, 
Männer in Amt und Würden, die das Un- 
verantwortliche und Sündhafte einer solchen 
Begünstigung erkennen müfsten. Die obersten 
Schulbehörden haben scharfe Verordnungen 
gegen die Schülerverbindungen erlassen: 
sollten sie nicht auch Mittel und Wege 
finden können, um jenen gedanken- und 



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Anzeigen und Mitteilungen 



gewissenlosen Verführern der Jugend ihr 
Treiben zu verleiden und zu erschweren? 

Nicht einverstanden bin ich damit, dafs 
Ziegler, wo er von der Schule spricht, neben 
der sinnlichen Genußsucht als einen anderen 
ebenbärtigen Feind des Idealismus ausdrück- 
lich das Strebertum nennt. Was wäre 
denn ein verwerflicher Streber in der Schule? 
Ich lasse diesen mir tiefverhafsten Ausdruck, 
den zunächst doch nur der giftige Neid der 
Dummheit und der Faulheit gegen das Talent, 
den Pflichteifer und den Fleifs gemünzt hat, 
als pädagogischen Begriff schlechterdings 
nicht gelten, obgleich ihm wunderlicher 
Weise die pädagogische Encyklopädie von 
Rein einen besonderen Artikel, freilich auch 
mit einer sehr unsicheren Darstellung der 
Sache gewidmet hat. 

Beiläufig möchte ich hier noch den armen 
Victor von Scheffel gegen Ziegler in 
Schutz nehmen, der mit ihm nicht nur in 
der geschichtlichen Einleitung seines Heidel- 
berger Vortrags, sondern auch in seinem 
neuen Werke über die geistigen und 
sozialen Strömungen des neunzehnten 
Jahrhunderts (S. 340 f.) in einer nach 
meiner Auffassung unbilligen Weise ins 
Gericht geht. Er spricht davon, dafs die 
Reaktion der fünfziger Jahre einem Öden, 
inhaltsleeren und begeisterungslosen Kneip- 
leben in der deutschen Studentenschaft 
förderlich gewesen sei. Das ist gewifs richtig, 
schon der Natur der Sache nach; aus per- 
sönlicher Erfahrung kann ich es allerdings 
nicht bestätigen, da meine Studentenzeit erst 
an das Ende dieser Periode fallt (1859—1862), 
wo schon ein ganz anderer frischer Wind 
wehte. Wenn nun aber Z. den Beweis für 
das fade und völlerische Treiben aus der 
damals bei den Studenten beliebten Poesie 
geben will und als solche lediglich Scheffeische 
Lieder anführt, so ist das zunächst chrono- 
logisch nicht richtig; denn die bewufsten 
Durstlieder Scheffels sind bekanntlich weit- 
aus zum gröfsten Teile überhaupt erst Mitte 



der fünfziger Jahre entstanden, wo die 
schlimmste Reaktion schon vorüber war, 
und als Kommerslieder verbreitet haben sie 
sich noch später; als ich studierte, waren 
erst einige wenige von den naturgeschicht- 
lichen Scherzen aus den Fliegenden Blättern 
in die Kommersbücher übergegangen; die 
Blütezeit dieser Poesie fallt in das der 
Reaktion folgende Jahrzehnt des erneuten 
politischen Aufschwungs. Aber auch ab- 
gesehen davon: in dieser scheinbaren Ver- 
herrlichung des unersättlichen Durstes und 
unermüdlichen Saufens ist doch die Ironie zu 
handgreiflich, und die komische Resignation, 
mit der die darin verewigten gänzlich ver- 
bummelten Helden schliefslich sich hinaus- 
werfen oder auspfänden oder vom Zipperlein 
plagen lassen oder sonstwie verkommen, hat 
doch bei allem Ulk der Behandlung einen 
zu kräftigen Zusatz von dem Gefühle wohl- 
verdienter Nemesis, als dafs man dem Dichter 
vorwerfen könnte, der Studentenschaft seiner 
Zeit mafslose Zechlust suggeriert zu haben. 
In dieser Beziehung dürfte der Herr von 
Rodenstein nicht verführerischer sein als 
Falstaff oder Siebel, Brander und Genossen. 
Und was endlich den Humor dieser anspruchs- 
losen Bierzeitungspoesie anlangt, so empfehle 
ich zu richtiger Abschätzung in dem all- 
gemeinen Reichskommersbuch für deutsche 
Studenten, von dem mir die achte Auflage 
zur Hand ist, die Seiten 415 — 530 durch- 
zuprüfen. Auch das Schmollis S. 392 'Brüder, 
was jubelt ihr lustig daher' eignet sich zu 
einer Vergleichung, namentlich die ge- 
schmackvolle zweite Strophe: 
Schwangere, Fässer mit blutendem Mund 
Thun die Entbindung durch Seufzen uns kund, 
Und ihre Kinder mit dumpfem Gebrumm 
Laufen als Kater dann morgen herum. 
Ziegler nennt den Scheffeischen Humor r dünn' ; 
ja, der übrige Humor in dem bezeichneten Ab- 
schnitte ist allerdings grösstenteils dicker oder, 
lateinisch ausgedrückt, crassior vel pinguior. 
Richard Richter. 



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JAHRGANG 1899. ZWEITE ABTEILUNG. ZWEITES HEFT 



DIE ERRICHTUNG 
EINES ALUMNATS AN DER ZWICKAUER SCHULE (1544) 

Von Ernst Fabian 

(Schlufs) 

Über die innere Einrichtung des in Verbindung mit der Schule stehenden 
Pädagogiums oder Alumnats giebt uns die Haus- und Schulordnung 1 ), die 
Plateanus selbst für die neue Anstalt in lateinischer Sprache verfafst hatte, 
Aufschlufs. Auch hier, wie bei seiner Schulordnung, schwebte ihm wohl das 
Beispiel der Hieronymianer*), aus deren Schule er ja gleich seinem berühmten 
Zeitgenossen Johannes Sturm hervorgegangen war 8 ), als Vorbild vor, da sonst 
wenigstens weit und breit von einem Alumnat, abgesehen von dem seit 1539 
an der Kreuzschule zu Dresden errichteten, aber einen ganz andern Zweck ver- 
folgenden, noch keine Rede war. Der Verfasser erachtet es in der Vorrede 4 ) 
als eine Hauptaufgabe der Regierungen, für eine tüchtige Jugenderziehung zu 
sorgen, und beruft sich dabei auf unsere Vorfahren, die namentlich in der Er- 
richtung von Klosterschulen (xowößia) das Ziel, tüchtige Männer für Staat 
und Kirche zu erziehen, zu erreichen gesucht hätten. Wenn dieses Bestreben 
nicht von dem wünschenswerten Erfolge begleitet gewesen sei, so dürfe man 
sich doch durch diesen Mifserfolg nicht von weiteren Versuchen in dieser 
Richtung abschrecken lassen. So hoffe man denn auch in Zwickau, nachdem 
der Stadt durch das Entgegenkommen des Kurfürsten die Möglichkeit zur Er- 
richtung eines Alumnats gewährt worden sei, auf Grund der folgenden Ord- 
nung, reiche Frucht für den Staat zu ernten. Die Zahl der Lehrer beträgt 
fünf, den Schulmeister nebst vier Gehülfen, die auf Kosten der Stadt besoldet 



») S. Beil. D. 

*) Kämmel, Gesch. des deutschen Schulwesens im Übergange vom Mittelalter zur Neu- 
zeit, Leipzig 1882, S. 219. 222. Ders., Art. Hieronymianer in Schmids Encyklopädie, Bd. III 
S. 640 f. Wildenhahn, Die Schulen der Brüder vom gemeinsamen Leben mit einem Hin- 
blick auf unsere Realschulen, Annaberger Realschulprogr. 1867, S. 5. 30. 32. Raumer, 
Gesch. d. Pädagogik, Stuttgart 1847, Bd. I 66 ff. Vgl. meinen Plateanus S. 7. 13. 

*) S. meinen Plateanus S. 13. 

4 ) Der Titel der Haus- und Schulordnung für das Pädagogium fehlt und ist wahr- 
scheinlich beim Einheften derselben in das Aktenfascikel verloren gegangen. Die beiden 
deutschen Exemplare, die allerdings nicht eine wörtliche Übersetzung bieten, führen den 
Titel: f Kurtzer ausczugk von auffrichtung eines neuen Pädagogij jm Grunhainer Hoff zu 
Zwickaw.' 

Neue Jahrbücher. 1899. II 5 



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6G E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1644) 

werden. Diese sollen auf Grund der bestehenden Schulordnung 1 ) die Knaben 
täglich mit gröfstem Fleifs unterrichten, und zwar in der Weise, dafs jeder 
Knabe täglich drei Stunden habe. Ausgenommen ist dabei die Musik, das 
Aufsagen des in den Stunden Gelernten, ferner Deklamationen und Disputationen. 
Weil nun aber die Jugend nicht auf eigenen Füfsen zu stehen und das, was 
ihr als nützlich vorgetragen werde, für sich selbst nicht recht zu würdigen 
verstehe, dagegen aber nur gar zu gern geneigt sei, sich, sobald sie sich dem 
Auge des Lehrers entrückt sehe, mit andern ihr mehr zusagenden Dingen zu 
beschäftigen, so soll ein besonders grofses Gemach eingerichtet werden, wo 
sich alle Knaben nach gehörten Lektionen versammeln und beständig unter 
der Aufsicht ihrer besonderen Lehrer leben sollen, denen ihrerseits die Aufgabe 
obliegt, die Sitten und Studien der ihnen untergebenen Schüler fleifsig zu 
überwachen. Das Gemach soll geräumig und entsprechend hoch sein; die 
Knaben sollen daselbst die gehörten Lektionen ihren Lehrern aufsagen, schreiben 
und den Worten der Lehrer lauschen. 2 ) Auch sollen die Knaben, denen Kost 
gewährt wird, daselbst ihre Mahlzeiten einnehmen. Die Schlafzimmer zu je 
10 Betten sollen guten Raum und gesunde Luft haben und nach der günstigen 
Himmelsrichtung gelegen sein. Neben jedem solchen Schlafsaal ist ein kleineres 
Schlafzimmer für den die Aufsicht führenden Lehrer mit nur einer, nach dem 
Schlafgemach der Knaben führenden, Thüre vorgesehen. In jedem Schlafsaal 
soll während der Nacht ein Licht brennen, auch sollen einige arme Knaben 
darin schlafen, um für etwa als notwendig sich erweisende Dienstleistungen zu 
Gebote zu stehen. 3 ) Wollen Edelleute oder reiche Bürger für ihre Kinder ein 
eigenes Zimmer mit Schlafstube haben, so soll ihnen das gestattet sein unter 
der Bedingung, dafs ihre Knaben ihre eigenen Lehrer bei sich haben. Auch 
Küche und Speise- oder Vorratskammern sowie abgesonderte Krankenzimmer 
sind vorgesehen. 

Ein besonderer Abschnitt handelt von den Lehrern. Es sollen nur be- 
kannte und bewährte Männer angestellt werden, namentlich aber solche, welche 
aus der Zwickauer Schule selbst hervorgegangen 4 ) sind und sich in Wittenberg 



*) Offenbar ist unter dem praescriptum-ludimagistri die Schulordnung des Plateanus 
vom J. 1537 zu verstehen, man müfste denn gerade annehmen, dafs es sich dabei ganz im 
allgemeinen um die Oberaufsicht des Schulmeisters im Pädagogium handele. Auf seine 
Schulordnung und zwar auf Kap. VII derselben de ratione docendi weist Plat. die Lehrer 
noch besonders hin. 

*) Nach der Natherschen Schulordnung speiste der Rektor mit seinen Kostgängern 
vormittags um 9 Uhr und nachmittags um 2 Uhr in der Schule, und dabei konnten auch 
diejenigen, welche die Kost nicht bei dem Rektor hatten, zugegen sein und zuhören, was 
hierbei von dem Rektor mit seinen Kostgängern gesprochen wurde. S. Weller, Altes aus 
allen Teilen der Geschichte, Bd. II S. 682. 

*) Vgl. die Famuli auf den Fürstenschulen. Flathe, Sankt Afra, Gesch. d. kgl. sächs. 
Fürstenschule zu Meifsen, Leipzig 1879, S. 116. 

4 ) Namentlich bei der Wahl eines Schulmeisters war es eine althergebrachte Sitte, 
von der nur selten abgewichen wurde, f ein statt- oder burgerskindt' (s. Peter Schumann 
in s. hdschr. Annal. ad a. 1522) zu wählen. 



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E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 67 

die Magisterwürde erworben haben. 1 ) Sie sollen die ihrer Obhut anvertrauten 
Knaben mit gutem Beispiel und durch rechte Lehre zu Frömmigkeit, guter 
Sitte und wissenschaftlicher Thätigkeit anhalten, mit ihnen speisen, neben 
ihrem Schlafsaal in einem besonderen Schlafzimmer schlafen (s. o.), nicht 
schwelgen noch schlemmen und die Knaben weder bei Tage noch bei Nacht 
ohne Aufsicht lassen. Wenn aber etwa einer von einem Bürger zu Tische ge- 
laden werden sollte, so hat er einen andern Lehrer einstweilen mit seiner Stell- 
vertretung zu betrauen. Dem Schulmeister, als demjenigen, dem die Ober- 
aufsicht über die ganze Schule wie über das Pädagogium anvertraut ist, sollen 
sie in allen Stücken gehorsam sein. 

Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit den Knaben, bei denen 4 hin- 
sichtlich der Beköstigung je nach dem Stande ihrer Eltern ein Unterschied in 
Aussicht genommen ist, während im Unterrichte der Standpunkt völliger 
Gleichheit gewahrt werden soll. Nur Knaben, die das siebente oder achte 
Jahr zurückgelegt haben, sollen im Pädagogium Aufnahme finden und darin 
Tag und Nacht, natürlich mit Ausnahme der Erholungsstunden 2 ), weilen. Die 
Knaben aber, die im Pädagogium beköstigt werden, dürfen ohne Erlaubnis 
überhaupt nicht herausgehen. Früh 5 Uhr sollen sie auf ein gegebenes 
Zeichen rasch aufstehen, sich ruhig ankleiden und dann auf ein abermals ge- 
gebenes Zeichen sich zum Gebete versammeln, wobei einer der Lehrer zunächst 
eine Ermahnung an die Knaben richtet, sich und ihre Studien Gott zu empfehlen 
und den Tag nicht unnütz zu verbringen. Nach dem Gebete hat ein jeder sich 
zu seinem Lehrer in die Stunde zu begeben. Um 7 Uhr nach Schlufs 
der Lektion soll für die Kostgänger des Pädagogiums das Frühstück (jenta- 
culum 8 ) bereit gehalten werden, diejenigen aber, die auswärts essen, sollen sich 
ihr Frühstück von den Eltern oder Quartiergebern hereinbringen lassen, da es 
um diese Zeit keinem erlaubt ist, das Schulgebäude zu verlassen. Nach dem 
Frühstück sollen die Schüler die gehörten Lektionen bis zum Wiederbeginn des 
Unterrichts repetieren oder schreiben. Um 9 Uhr haben sie dann nach 
Schlufs der Lektionen das soeben Gehörte ihren Lehrern herzusagen. Um 
10 Uhr findet die Mittagsmahlzeit statt, nach der es dann erlaubt sein soll, 
im Hofe sich zu ergehen, zu plaudern oder zu singen, um sich dann wieder 
um 12 Uhr auf ein gegebenes Zeichen zum Musik- (wohl Gesangs-)unterricht, 
zum Aufsagen der gehörten Lektionen, zu Deklamationen und Disputationen zu 

l ) Von dem Nachfolger des Plateanus, dem in Zwickau geborenen Georg Thiem, ver- 
langte der Rat ausdrücklich, er solle vor Antritt seiner neuen Stellung erst in Wittenberg 
promovieren f einem Erbaren Radt zu gefallen, gemeyner Stadt zu ehren vnnd weil es 
von alters hehr also gehalten worden'. Vgl. m. Plateanus S. 3 u. Not. 17, S. 25 
Not. 142, ferner meinen Aufs. f Die Wiederaufrichtung der Zwickauer Schule nach dem 
Schmalkaldischen Kriege' im 2. Hefte der Mitteil, des Zw. Altertumsvereins S. 6. 23. (Schreiben 
des Zw. Rats an den von Zerbst Nr. VI) 25 (Schreiben des Zw. Rats an G. Thiem Nr. VIII). 

*) Die Stelle f exceptis duntaxat horis, quibus corporibus reficiendis spatium detur' 
giebt der f ausczugk' mit den Worten wieder: 'Allein die stunden des mittages vnnd 
abentmals ausgeschlossenn.' 

3 ) Im 'ausczugk' wiedergegeben mit: f Frühsuppen.' 

5* 



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68 E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 

versammeln. Um 2 Uhr erhält jeder Schüler sein Vesperbrod. Um 3 Uhr 
sollen sie eine Lektion hören, sei es bei ihren Privatlehrern, sei es bei den 
Lehrern der Anstalt. Nach 4 Uhr findet wie nach dem Frühstück eine gleiche 
einstündige Pause statt, während deren sich die Schüler im Hofe bei allerhand 
Kurzweil vergnügen können. Um 5 Uhr wird die Abendmahlzeit eingenommen. 
Nach dieser sollen sich dann die Schüler im Komödiespielen, Hersagen von 
Fabeln und Versen oder im Redewettkampf üben. Um 7 Uhr soll sich jeder 
auf das, was er folgenden Tages zu hören hat, vorbereiten, und wenn ihm dabei 
etwas unklar ist, die Lehrer um Rat fragen. Um 8 Uhr versammeln sich alle 
Knaben zum Gebet, um dann sofort zu Bette zu gehen. Keiner darf ohne be- 
sondere Erlaubnis aufbleiben. In den Schlafzimmern soll es anständig und 
ruhig zugehen. In jedem Schlafgemache sollen sich einige arme Knaben be- 
finden, deren Aufgabe es ist, die Zimmer rein zu halten und darauf zu sehen, 
dafs die Sachen eines jeden an ihrem bestimmten Platze seien. Wenn einer 
der Knaben sich genötigt sieht, des Jfachts aufzustehen, so soll ihm einer der 
armen Schüler mit einer Laterne das Geleit geben und ihn wieder zurück- 
führen. Zur Sommerszeit ist es jedem Schüler gestattet, ein Tischchen im 
Schlafzimmer zu haben, um daran in der freien Zeit zu arbeiten. 

Im Schlafgemach soll keiner des andern Kleider, Bücher oder sonstigen 
Dinge gegen den Willen des Besitzers anrühren. Im Schlafzimmer zu spielen 
oder Unfug zu treiben, ist streng verboten, ebensowenig ist es erlaubt, da- 
selbst zu essen oder zu trinken. Untersagt ist den Schülern auch das Kaufen 
und Verkaufen, das Schenken und Annehmen von irgend welchen Gegenständen 
ohne Wissen der Lehrer. 

Der nächste Abschnitt behandelt die Pauperes, die armen Knaben. 

Eine Anzahl armer, aber gut beanlagter Knaben soll im Pädagogium freie 
Verpflegung finden. An erster Stelle sind dazu bestimmt geeignete Bürgers- 
söhne, an zweiter Söhne kurfürstlicher Unterthanen überhaupt. Jeder hat vor 
der Aufnahme eine Prüfung zu bestehen, und keiner soll Aufnahme finden, der 
nicht ordentlich deklinieren und konjugieren kann. Es können sogar nach ihrer 
Zulassung diejenigen, welche den auf sie gesetzten Erwartungen nicht entsprechen, 
wieder entfernt werden. Den übrigen Alumnen gegenüber sind sie zu kleinen 
Dienstleistungen verpflichtet. Auch soll ihnen mit Rücksicht auf den zu- 
nehmenden Mangel an Theologen bei ihrer Aufnahme das Versprechen ab- 
genommen werden, sich dem Studium der Theologie zu widmen. Wenn sie 
dann in die zweite Klasse aufgerückt sind, sollen sie täglich eine Lektion über 
die heilige Schrift hören. Auch soll an den Sonntagen einer von ihnen nach 
dem Gesänge der Vesperhymnen vor versammeltem Schülercötus eine ihm vom 
Lehrer zuvor bezeichnete Stelle aus den Evangelien oder den Paulinischen 
Briefen in deutscher Sprache erklären. Ebenso sollen auch andere Knaben der 
ersten beiden Klassen an derartigen Übungen sich beteiligen. Auch soll den 
Schülern dieser Klassen dann und wann die Gelegenheit geboten werden, zu 
ihrer eigenen Übung Unterricht in den unteren Klassen zu erteilen. 

Ein besonderer Abschnitt behandelt die Pflichten des Ökonomen oder 



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E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 69 

Hausvaters, der ein Mann von makellosem Wandel und Ruf und entweder 
ein Witwer oder doch wenigstens nicht mit Kindern beladen sein soll. Dieser 
hat mit dem Beirate der Anstaltsvorsteher alle Lebensbedürfnisse rechtzeitig 
einzukaufen. Das dazu nötige Geld bekommt er durch Vermittelung der 
Lehrer von den Vorstehern. Er sowie die Lehrer haben darüber genau Buch 
zu fuhren und jeden Monat über Einnahme und Ausgabe Rechnung abzulegen, 
ausserdem aber sich jedes Jahr zweimal im Beisein des Rates und anderer 
Bürger einer öffentlichen Rechnungsprüfung zu unterziehen. Um zu vermeiden, 
dafs das Geld in Verwahrung einer Person sei, sollen es die vom Rate ver- 
ordneten Vorsteher im Verein mit dem Schulmeister sofort nach Empfang in 
einen mit drei Schlössern verwahrten Kasten schliefsen, wozu der Rat den 
einen Schlüssel, den zweiten der Schulmeister und den dritten ein Edelmann 
t verständigs vnd zimlichs alters' 1 ) haben sollen. Diese drei haben wöchentlich 
das für die Bedürfnisse der Anstalt nötige Geld daraus zu entnehmen und den 
Lehrern zu übergeben, von denen es dann der Hausvater empfängt. 

In engstem Zusammenhange mit diesem Abschnitt über den Hausvater 
stehen die Verfügungen über *die Bestellung der kost vnd trangks* 
(de mensa). Es wird genau vorgeschrieben, was den Knaben an Speise und 
Trank zu gewähren sei. Die Kost soll reichlich und gut sein. Gespeist wird 
an zwei Tafeln. An der einen sitzen die Reichen und die Edelleute, die auch 
in Speise und Trank vor den Ärmeren bevorzugt werden sollen, die ihrerseits 
an der zweiten Tafel sitzen. An der ersten Tafel giebt es zu Mittag vier, 
abends drei Gerichte (missus) nebst Butter und Käse, dreimal in der Woche 
Gebratenes, auch *alte Hennen vnnd junge Hüner oder fogel zwier, Fisch frische 
und gesaltzene' oder trockene c auch zwier'. 2 ) Der Hausverwalter soll nur das 
beste Fleisch und die besten Fische kaufen, Wildpret aber und teure grüne 
Fische soll er ohne besonderen Auftrag nicht anschaffen. An jedem Tische 
hat ein Lehrer den Vorsitz. Falls Eltern ihren Kindern Wildpret oder etwas 
anderes schicken, so soll es ihnen der Hausvater sorgfältig zurichten und auf- 
tragen, worauf sie es dann mit ihren Lehrern oder andern guten Freunden, 
die sie etwa einladen wollen 8 ), verzehren können. An der zweiten Tafel giebt 
es zu Mittag und Abend je drei Gerichte, alles aber gut und wohl zubereitet. 
Gebratenes bekommt diese Tafel nur Sonntags. Das Brot soll jedesmal auf 
eine Woche neubacken eingekauft werden. Als Getränk wird Bier in zweierlei 
Güte verabreicht, die erste Tafel bekommt das beste, die zweite eine geringere 
Sorte; beide Biere aber sollen gesund und unverfälscht sein. Ebenso bekommen 
zum Vesperbrod und vor dem Schlafengehen alle ohne Unterschied Bier. Auf- 
gabe der Lehrer ist es, die Knaben bei Tische auf gute Sitte und Höflichkeit 
aufmerksam zu machen. Damit nun aber nicht blofs für den Leib, sondern 
auch für den Geist gesorgt werde, soll einer der Schüler von Anfang bis zum 

l ) So giebt der Auszug die Worte f nobili alicui adoleacenti et grandiusculo' wieder. 
*) Auszug. 

s ) Auszug: f Darzu mögen sie jre Magistros vnnd andere guthe freunde, so jhnen ge- 
f eil ig, bitten.' 



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70 E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1644) 

Ende des Mahls eine geistliche Lektion vorlesen, und die Lehrer sollen die 
Schüler daran gewöhnen, aufmerksam zuzuhören und sich über die Bedeutung 
des Vorgelesenen durch Fragen zu unterrichten. 

Wie man sieht, zeichnen sich diese Anordnungen durch Einfachheit, Klar- 
heit und bündige Kürze aus, Vorzüge, die auch den Schulgesetzen 1 ) des 
Plateanus eigen sind und in auffallendem Gegensatz stehen zu den ausführ- 
lichen Bestimmungen anderer Anstalten, wie z. B. der sächsischen Fürsten- 
schulen 2 ) oder des Pädagogiums zu Gandersheim. 8 ) Plateanus selbst weist am 
Schlüsse seiner Alumnatsordnung ganz ausdrücklich darauf hin, dafs er es für 
seine Pflicht gehalten habe, nicht zu viel Worte zu machen, vor allem aber 
nicht zu viel zu versprechen, damit man ihm nicht den Vorwurf der Prahlerei 
machen könne. Bei aller Kürze der getroffenen Anordnungen aber zeigt sich 
doch, dafs für alle Bedürfnisse der neuen Anstalt in trefflicher Weise gesorgt 
ist. Die Beschäftigung der Knaben ist für die einzelnen Tagesstunden streng 
geregelt, wobei auch der Erholung genügend Rechnung getragen ist. Wohl- 
thuend berührt insbesondere auch die Fürsorge für die Gesundheit der Zög- 
linge, für die Beschaffung hoher, gesunder und luftiger Räume. Ganz beson- 
dere Anerkennung aber verdient es, dafs sogar schon auf eigene Kranken- 
zimmer Bedacht genommen ist, zumal wenn man bedenkt, dafs z. B. für die 
Fürstenschule in Meifsen 4 ) erst durch die Schulordnung von 1588 eine der- 
artige Einrichtung getroffen wurde. Die Kost ist gut und reichlich. Dafs auf 
die Wahrung der strengsten Zucht grofses Gewicht gelegt war, ist bei einem 
so gottbegnadeten Pädagogen, wie es Plateanus war, ganz selbstverständlich. 

Was die Schicksale des Pädagogiums anlangt, so sind wir darüber leider 
nur unvollkommen unterrichtet. Schon in Bezug auf die Frage, wann die An- 
stalt ins Leben getreten sei, läfst sich etwas Bestimmtes nicht feststellen. 

In dem Bittschreiben 5 ) des Rats an den Kurfürsten vom Mittwoch nach 
Assumptionis Mariae (20. August) 1544, worin er den Landesherrn um Unter- 
stützung für sein Schulwesen angeht, heifst es unter anderm: c So vbersenden 
E. C. f. G. wir hiebei eine abschrifft vnserer Schulen Ordnung, vnd daneben 
auch einen begreiff, wie das paedagogium alhie möchte anzurichten 
vnd in guth werck vnd wesen zu bringen sein.' Daraus geht klar her- 
vor, dafs um jene Zeit das Alumnat noch nicht bestanden haben kann. Dafs 
es aber thatsächlich in Gang gekommen ist, beweist ein Brief 6 ), den der spätere 
Nachfolger des Plateanus, Georg Thiem, nach seiner Berufung zum Zwickauer 
Rektorat an den Rat am 25. November 1547 von Weimar aus richtete. Darin 
heifst es nämlich: 'Wenn E. a. w. die Schuhl mit dem Pädagogio also 
wolten bestellet haben, wie vormals unter dem plateano gewesen 



l ) Vgl. meinen Plateanus S 31. 

*) Flathe, a. a. 0. S. 13 ff. 70 ff. 88 ff. 101 ff. 116 ff. 123 ff. 
3 ) Koldewey, a. a. 0. S. 79 ff. 4 ) Flathe, a. a. 0. S. 115. 
5 ) S. meinen Plateanus S. 32, Beil. H. Vgl. Not. 32. 

8 ) S. meinen Aufsatz 'Die Wiederaufrichtung der Zwickauer Schule nach dem Schmal- 
kaldischen Kriege' in den Mitteil, des Altertumsvereins f. Zw. u. U. Heft II, S. 24. 



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E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 71 

vnd ich genzliches vorhoffens bin, ein Erbar Radt wirdt es darzu widerkomen 

vnd gereichenn lassen .' Wie lange das Pädagogium neben der Schule 

bestanden habe, läfst sich mit voller Sicherheit ebenfalls nicht mehr feststellen. 
Denn wenn auch Georg Thiem, wie oben erwähnt, der sichern Erwartung Aus- 
druck giebt, dafs es der Rat mit der Schule und dem Pädagogium ebenso 
bleiben lassen werde, wie es vordem unter dem Plateanus gewesen sei, so kann 
man doch daraus noch keineswegs den festen Schlufs ziehen, dafs der Rat auch 
wirklich das Pädagogium neben der Schule wieder eingerichtet habe, und zwar 
um so weniger, als in den sämtlichen die Schule betreffenden Ratsbeschlüssen 
aus jener Zeit auch nicht ein einziges Mal der Wiederaufrichtung des Päda- 
gogiums gedacht wird. Auch der Umstand, dafs in der umfangreichen neuen 
Schulordnung, die der treffliche M. Esrom Rüdinger, der verdienstvolle Nach- 
folger Thiems, erliefs, nirgends das Pädagogium besonders erwähnt wird, läfst 
doch mit ziemlicher Bestimmtheit vermuten, dafs mit dem Weggange des 
Plateanus und unter den Schrecknissen des Schmalkaldischen Krieges auch das 
Pädagogium zusammengebrochen ist. Die Zeitverhältnisse waren der Wieder- 
aufrichtung einer solchen Anstalt so ungünstig wie nur möglich. Schon mit 
Rücksicht auf die ungeheuren Geldopfer 1 ), die der Krieg der Stadt auferlegt 
hatte, konnte der Rat einem solchen Gedanken überhaupt nicht auch nur nahe 
treten. Dazu kam, dafs mit dem Wechsel der Landesherrschaft auch die der 
Stadt von den Ernestinern bisher in so reichem Mafse gewährten Vergünstigungen 
naturgemäfs in Wegfall kamen. Der neue Landesherr, Kurfürst Moritz, hatte 
um so weniger Veranlassung, sich den Zwickauern besonders gefällig zu 
erzeigen, da diese keine Gelegenheit vorübergehen liefsen, ihm ihre Abneigung 
zu erkennen zu geben und ihre Liebe zu dem alten Landesherrn ganz offen- 
kundig zu bezeugen. 2 ) Auch lag ihm ja gerade damals ganz besonders das 
Gedeihen seiner eigenen Schöpfungen, der neuerrichteten Fürstenschulen viel 
zu sehr am Herzen, als dafs er sein Interesse dem Schulwesen einer einzelnen, 
ihm noch dazu entschieden feindselig gesinnten Stadt hätte zuwenden sollen. 
War nun aber auch die Stadt infolge der damit verbundenen allzugrofsen Geld- 
opfer nicht im stände, das Pädagogium oder Alumnat wieder aufzurichten, so 
sorgte sie doch mit rührendem Eifer für die Wiederaufrichtung 3 ) der durch 
den Weggang des Plateanus und die Schrecken des Krieges völlig zum Er- 
liegen gekommenen Schule, und wenn man auch mit der Wahl des M. Georg 
Thiem 4 ) zum Nachfolger eines Plateanus einen entschiedenen Mifsgriff machte, 

') S. meine Abhandlung f Die Stadt Zwickau unter den Einwirkungen des Schmal- 
kaldischen Krieges' in den Mitteil, des Altertumsvereins f. Zw. u. U. Heft I, S. 62. Dazu 
kam dann noch die vom Kurfürsten Moritz der Stadt wegen ihrer Widerspenstigkeit auf- 
erlegte Kriegssteuer im Betrage von 24000 fl. S. ebenda S. 78 ff. 

■) S. ebenda S. 71 ff. 

*) S. ebenda S. 86 und meinen Aufsatz f Die Wiederaufrichtung der Zwickauer Schule 
nach dem Schmalkaldischen Kriege' in den Mitteil, des Altertumsvereins f. Zw. u. U. 
Heft II, S. 1 ff. 

4 ) Unter ihm erfolgte am 10. April 1648 die Übersiedelung des gesamten Schulcötus in den 
nunmehr völlig umgebauten Grünhainer Hof. Vgl. darüber f Die Wideraufr. d. Zw. Schule' S. 9 f. 



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72 E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 

so wufste man doch bald genug durch energische Beseitigung des zu schwachen 
Mannes den Schaden wieder gut zu machen. Der auf Empfehlung Melanchthons 1 ) 
an Stelle Thiems berufene M. Esrom Rüdinger, der Schwiegersohn des Joachim 
Camerarius, ein tüchtiger Gelehrter und Schulmann, wirkte ganz im Geiste des 
Plateanus und erweckte gar bald die völlig in Verfall geratene Schule zu 
neuem, frischem Leben. 

D 
Praefatio. 

Quoniam vere dictum est, felices fore Resp: si aut sapientes eis praefuerint, aut qui 
praesunt, sapientiae studuerint, praeclare eos de patria mereri necesse est, qui in hoc 
operam curamque suam ponunt, ut optima disciplina instituta pueritia non rectores tan tum 
Reip: sapientes, sed cives etiam optimos quam plurimos relinquant. Nee aliter sensiese 
viri sapientes, qui de Reip: institutione conscriptos libros ad posteros transmiserunt, existi- 
mandi sunt; praeeipua enim cura hanc partem eos executos esse testantur etiam, quae 
hodie extant Piatonis, Xenophontis et Aristotelis de eadem re monumenta. Et nostri etiam 
maiores in eadem fuisse sententia satis perspieuum fit ex tot passim institutis noLvoßioig, 
tot collegiis, ut loca essent, in quibus optimis artibus et inprimis pia de religione doctrina 
imbuti adolescentes postea ecclesiae praeficerentur, essent etiam, qui ad regum et prin- 
cipum adhiberentur consilia. Quamquam autem horum consilium partim imperitia partim 
scelere quorundam male cesserit, tarnen votum repraehendi non debet. Nee nos despera- 
tione meliori8 eventus vel odio eorum, quibus optima quaeque depravare Studium est, a 
sentiendo ac faciendo, quae reeta sunt, absterreri oportet. Semper enim posterior dies est 
prioris diseipulus (ut est in proverbio) et saepe priorum dueum temeritas prudentia sequen- 
tium est correeta, ac inclinata acies vel ex iniquo loco nonnunquam restituta vicisse 
legitur. Quid quod post naufragia etiam maria repeti videmus. Quamobrem optima 
conantibus nunquam est cessandum, in quibus etiamsi effectus fefellerit, tarnen voluntas 
meretur laudem. Et in DEI iudicio cogitationum maior quam factorum est aestimatio. 
Quando igitur benignitate illustrissimorum prineipum aedes monachorum Cistertiensium 
scholae nostrae donatae sunt, cogitavimus pium prineipum donum etiam nostro studio 
cumulare et easdem scholas sie instituere, ut quam maxime uberes fruetus ex eis Resp: 
poBsit capere. Id autem ea, quae sequitur, ratione nos consecuturos speramus. 

Et prineipio quidem ludimagjstrum habemus cum quatuor hypodidascalis publico salario 
conduetum, hi summa fide et industria iuxta praescriptum eiusdem ludimagistri pueros 
quotidie erudient curabuntque, ut omnes pueri tres horas singuli quotidie praeeeptorem 
publice audiant praeter Musicam, recitationes , declamationes et disputationes. Qua de re 
qui velit plura cognoscere libellum legat de ratione docendi pueros a ludimagistro nostro 
conscriptum. Sed quia imbecillus puerorum animus nee prospicere per se satis potest, 
quae ipsis sunt profutura, nee ab aliis commonstrata constanter retinere potiusque, ubi 
conspectum effugerint praeeeptorum, ad ea cogitationem et Studium transferunt, quae in 
praesentia magis blandiuntur, quam quae a magistris meditanda aeeeperint, providebitur 
a nobis, ut locus sit in ipso ludo, ad quem a publicis magistris digressi conveniant et ubi 
dies ac noctes sub imperio privatorum paedagogorum degentes semper habeant et morum 
et studiorum suorum praesentes censores. Locus hie amplum et iustae altitudinis habebit 
hypocaustum, in quo pueri reddere praeeeptoribus ea, quae audierunt, recitare, scribere et 
audire magistros possunt, prandere etiam ac coenare illi, quibus eibus praeberi debet. 
Cubicula similiter ampla ac perflabilia, et quantum fieri potest, salubri coeli regioni obversa, 
quorum singula decem lectorum facillime sint capatia(!). Singula cubicula unius Magistri 



*) Vgl meine Abhandlung f Die Beziehungen Ph. Melanchthons zur Stadt Zwickau' 
im Neuen Archiv f. sächs. Gesch. (Dresden 1890) Bd. XI, S. 52 ff. 



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E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 73 

habebunt adjunctum cubiculum, in quod tarnen nullus sit nisi per puerorum cubilia aditus 
Causa autem tantae cubiculorum magnitudinis, ut omnes possunt habere et vitae et morum 
suoruni perpetuos custodes et testes. Quamobrem et pernox in singulis cubiculis ardebit 
lucerna et pauperes aliquot in uno quoque eorum cubabunt, ut praesto sint ad ministerium, 
si quid forte opus fuerit. Quod si quis nobilium aut divitum proprium velit habere liberis 
suis hypocaustum ac cubiculum, id ita licebit, dum Magistrum aliquem aut paedagogum 
prob a tum habeat adiunctum. 

Culina etiam stet et cellae condendis et promendis rebus ad victum necessariis idonea. 
Hypocaustum etiam cum adjunctis cubiculis seorsum ab aliis habitaculis, quo recipi possint 
pueri, si qui gravius aegrotare ceperint nee statim remitti ad parentes possint. 

De Magistris. 
Magistros praeficiemus huic paedagogio iuvenea cognitos ac probatos, maxime eos, 
qui ex schola nostra profecti Magisterii titulos Vuitebergae fuerint adepti. Hi summo 
studio curaque advigilabunt, ut pueros suae fidei commendatps exemplo et doctrina primo 
ad pie colendam religionem forment, deinde literis ac moribus optimis iuxta hoc prae- 
scriptum nostrum ac ludimagistri imbuant. Nullius non saneti, non casti exempli pueris 
autores erunt. Cibum cum ipsia capient. Cubicula habebunt puerorum cubiculis adiuneta. 
Non compotationes, non convivia agitabunt. Nunquam pueros solos nee interdiu nee nootu 
relinquent. Quod si quis eorum a civibus ad caenam fuerit vocatus, curabit, ut interim 
auam vicem collegarum aliquis expleat. Ludimagistri dicto in omnibus audientes erunt. 
Huic enim prima ut totius ludi ita et paedagogii huius cura ineumbet. 

De Pueris. 
Etsi puerorum, qui in hoc paedagogium reeipientur, non eadem potest esse conditio, 
alii enim cives, alii peregrini, alii item divites, alii tenues, nonnulli inopes sint necesse 
est, quidam etiam cibum in eo cum praeeeptoribus capient, quidam apud parentes vel 
cives alentur. Quod tarnen ad diseiplinam et mores pertinet, eadem omnium habebitur 
ratio, nisi quod a pauperibus maior et virtutis et literarum exigetur diligentia. Nemo 
autem reeipietur, nisi qui iam septimum vel oetavum annum egressus sit quique dies ac 
noctes exceptis duntaxat horis, quibus corporibus reficiendis spatium datur, nolit in eo 
exigere. Qui autem hie non erudientur modo, sed alentur etiam, nusquam digredi nisi 
impetrata a praeeeptoribus copia audebunt. Mane hora quinta signo facto statim omnes 
alacriter consurgent ac vestem quisque cum silentio induet, mox iterum signo ad preces 
convocati aderunt, ubi prius brevis fiet ab aliquo praeeeptorum exhortatiuneula , ut se 
suaque studia attente Deo commendent, ut cogitent, ne praesentem diem inanem sibi 
effluere patiantur. Idem deinde preces auspicabitur, quibus absolutis unusquisque ad 
audiendum praeeeptorem se comparabit. Hora septima finita praelectione in paedagogio 
quidem ientaculum erit paratum. Qui autem foris cibum capiunt a parentibus vel hospi- 
tibus allatum aeeipient. Neque enim tum exire licebit. Post ientaculum repetentur, quae 
sunt audita, donec iterum ad praeeeptorem audiendum convocentur, aut scribetur. Hora 
nona similiter finitis praelectionibus easdem privatis magistris exponent. Hora deeima 
signo facto statim omnes dimittentur ad prandendum. A prandio in interiore atrio aedium 
licebit ambulare, confabulari, canere, donec hora duodeeima signo facto ad audiendam 
Musicam vel recitationem, declamationem aut disputationem sit convenlendum. Hora 
seeunda merendam aeeipient quemadmodum mane ientaculum nee quisquam foras dimit- 
tetur. Tertia vel publicos vel privatos audient praeeeptores. Paulo post quartam signo 
facto dimittentur omnes a Magistris licebitque quemadmodum a prandio obambulare, canere 
aut ludere, donec hora quinta ad caenam abeant. Post caenam hilariores erunt exercita- 
tiones veluti recitationes comoediarum, fabularum aut epigrammatum vel concertabunt 
dicendo. Hora septima quisque, quae postridie sunt discenda, ipse secum meditabitur et 
si quid parum successerit, magistros consulet. Hora oetava signo facto ad Gratiarum 



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74 E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 

actione8 ac preces convenietur ac mox discedetur cubitum nee licebit diutius manere nisi 
a magistriß potestate impetrata. In cubiculo nihil invereeunde, nihil cum strepitu geretur. 
Pauperes, qui in unoquoque erunt, curabunt, ut munda sint cubicula et ut quisque res 
suas suo loco habeat compositas. Si cui necesse erit surgere ac cubiculum egredi, eum 
pauperum aliquis cum laterna deducet ac reducet. Aestivis etiam diebus licebit in cubi- 
culia mensulas habere et ad eas studere horis, quibus a praeeeptoribus est otium, sed 
silentio. Vestem, librum aut quiequid id fuerit, nemo invito domino contingere audebit. 
Ludere in cubiculo aut turbare aliquid qui ausus fuerit, graviter plectetur. Nee edere nee 
bibere in eo cuiquam permittetur. Nee rem ullam ab alio emere aut vendere vel dono 
dare vel aeeipere nisi conseiis praeeeptoribus fas erit. 

De Pauperibus. 
Quoniam saepe usu venire solet, ut eximia ingenia fortunis destituta ob inopiam 
a literarum studio desciscere cogantur, dabitur opera, ut in hoc nostro paedagogio pau- 
peres aliquot adolescentes gratis alantur. Hi primum ex civibus nostria, si idonei fuerint 
reperti, deligentur, mox ex eis, qui sub ditione illustrissimorum prineipum nostrorum nati 
fuerint. Nemo autem admittetur, nisi cuius indoles ante a praeeeptoribus fuerit explorata, 
quique iam ante declinare nomina et verba probe seiverit, hoc est, quintam in nostro 
classem obtinuerit. Quin etiam iam admissi nisi virtutis et literarum studio se prae- 
eeptoribus probaverint, iterum excludentur. Hi ministeria obibunt paedagogii. Et quando 
hodie temporum vitio plerique in ea studia ineumbunt, ex quibus magnas opes et amplos 
honores expeetant, fit, ut sacrarum literarum perpauci studiosi reperiantur, cui malo oecur- 
rendo cavebitur, ut, quotquot huc pauperes adolescentes reeipientur, promittant, se iuxta 
consilium praeeeptorum ac suorum studiorum progressum operam daturos discendis sacris 
literis. Itaque ubi in seeundam pervenerint classem, quotidie praelectionem unam audient 
divinarum scripturarum. Quin et diebus singulis dominicis unus ex hoc ordine decantatis 
vespertinis hymnis in coetu scholastico locum aliquem ex Evangeliis aut Paulinis epistolis 
a praeeeptoribus praescriptum sine ostentatione quidem, sed diligenter tarnen meditatum 
germanice explicabit. Nee prohibendi sunt ab hoc exercitii genere et alii seeundae vel 
primae classis adolescentes. Quin et alias licebit, ut praeeeptores hisce interim aliquid 
muneris in docendis inferiorum classium pueris tradant. Ita enim fiet, ut ad docendum 
magis reddantur idonei 

De Oeconomo. 
Virum aliquem vitae et famae probatae, qui aut iam matrimonio sit defunetus aut 
liberis non impeditus, deligemus, qui rem domesticam curet. Is igitur ex consilio eorum, 
quibus paedagogii cura mandata est, omnia, quae adolescentibus ad usum vitae sunt 
necessaria, in tempore, ut provisa sint, advigilabit. In eam rem peeuniam a Magistris 
aeeipiet. Magis tri porro a praefectis paedagogii conficientque utrique Magistri scilicet et 
oeconomus diligentissime tabulas aeeepti et expensi, ex quibus singulis mensibus putari 
rationes possint. Quotannis vero bis et cum praefectis et cum magistris atque oeconomo 
publice praesente senatu ac caeteris etiam, qui adesse voluerint, rationes conferentur. Hoc 
inprimis cavebitur, ne traetatio peeuniarum in unius alieuius manu sit posita. Sed prae- 
fecti a senatu dati cum ludimagistro peeuniam aeeeptam in aerarium conferent. Cuius una 
clavis penes senatum, altera penes ludimagistrum sit, tertia vero nobili alicui adolescenti 
et grandiusculo committatur. Idem denuo ex aerario depromptam peeuniam in usus neces- 
8arios singulis hebdomadibus magistris paedagogii tradent, a quibus deinde oeconomus 
eam aeeipiet. 

De Mensa. 
Duplicem mensam instruet oeconomus, unam quidem pro nobilibus ac divitibus, alteram 
pro tenuibus ac pauperibus. In priore quotidie in prandio quidem quattuor dabuntur 
missus cum butiro et caseo. Vesperi tres. Magistri videbunt, ut iusta singulorum sit 



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E. Fabian: Die Errichtung eines Alumnats an der Zwickauer Schule (1544) 75 

copia. Assa ter in hebdomade dabitur. Gallinae etiam aut pulli vel aves bis dabuntur. 
Pisces similiter bis recentes et salsi aut sicci. Emet vero oeconomus optimas tum carnes 
tum pisces etiam nisi quod ferinam aut preciosos recentes pisces, nisi nominatim ad eam 
rem pecuniam acceperit, non emet. Si una mensa omnes capere non poterit, singulis unus 
saltem magistrorum accumbet. Quod si parentes liberis suis aliquid vel ferinae vel aliarum 
rerum miserint, oeconomi opera paratum fideliter eis offeretur eoque cum magistris suis et 
si quos alios ad mensam suam vocare voluerint vescentur. Posterior mensa tres habebit 
niissus tarn in prandio quam in coena. Nihil tarnen ne huc quidem nisi bonum et bene 
paratum inferetur. Assa dominico tantum die dabitur. Panes singulis hebdomadibus 
recentes dabuntur. Cerevisia in priori quidem mensa optima dabitur, mediocris in posteriore, 
sed salubris utraque et incorrupta. Haec ad merendam et vesperi, antequam cubitum 
discedatur, omnibus promiscue dabitur. Magistri morum et civilitatis in mensa admonebunt 
pueros. Periniquum etiam cum sit, ut corpora curentur et negligantur animi, adolescentum 
aliquis a principio convivii ad finem usque sacram lectionem recitabit assuefacientque 
magistri pueros, ut ad eam auscultent interrogantes nonnunquam nunc hos nunc illos quid 
sit id, quod lectum est. 

Haec sie ruditer adumbrasse nunc sit satis; cavendum enim duximus, ne inani verbo 
ex apparatu ac promissorum splendore vanitatis notam merito subire possimus. Ipsa re 
modo CHRISTYS suo praesenti numine conatus nostros prosequatur, praestabimus, ut omnia 
eint promissis pleniora. 



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SOLL DIE SCHULE ERZIEHEN? 

Von Carl Reichardt 

Ein französischer Beobachter hat den gegenwärtigen Zustand der Pädagogik 
in Deutschland ein Chaos genannt. Das Wort mag gelten, insofern es die An- 
schauung eines wogenden Wettstreites und Widerstreites der Stimmungen, 
Gedanken und Willenstriebe zum Bilde verdichtet. In seinem Grunde aber 
ruht eine Vorstellung, die dem wirklichen Wesen unserer Tage fremd ist. Das 
Chaos steht am Anfang der Dinge, vor dem ersten Gewordenen: keimender 
Urgrund und dämmernde Ahnung des noch Namenlosen. Hier aber will nicht 
Neues aus dem Nichts entstehen, sondern Altes zum Neuen sich umbilden: die 
deutsche Schule, die deutsche Jugend- und Volkserziehung strebt nach neuer, 
eigenartiger organischer Gestaltung. Hier ist — um Bild für Bild zu setzen — 
nicht Chaos, sondern Gärung. 

Die brausende Erregung der Gegenwart ist nur der Abschlufs der lang- 
samen Zersetzung, welche seit dem Anfange des Jahrhunderts die altpreufsische 
Landschule von innen heraus mehr und mehr durchdrungen und in ihrem 
Wesen aufgelöst hat, so dafs nun die Frage nicht mehr abzuweisen ist: was 
will werden? Der Keim aber, welcher diese Gärung wirkte? Ich finde ihn 
in dem Gedanken der Erziehung, der absichtsvollen, den ganzen Menschen er- 
fassenden Erziehung, den das vorige Jahrhundert zuerst zur vollen Klarheit 
erhob und den die Zeit der Freiheitskriege der preufsischen Volksschule ein- 
pflanzte. 

Der Gedanke einer bewufsten, menschengestaltenden Erziehung ist ein 
echter Funke aus dem Geiste der Aufklärung. Die Zeit, welche alles Gegebene 
beiseite schob, alle historische Gebundenheit leugnete, welcher die Welt tabula 
rasa war, bestimmt, durch die Vernunft des Menschen einen neuen Inhalt zu 
empfangen — sie mufste auch am ehesten den Mut finden, den Menschen 
selbst nach ihrer souveränen Willkür zu bilden: den Willen zum homunculus! 
Die Überspannung des Gedankens konnte seine treibende Kraft nur steigern. 
Zu jeder grofsen Wirkung ist eine geniale Einseitigkeit des Denkens und 
Wollens Vorbedingung. So ergriff denn der hoffnungsreiche Gedanke idealer 
Menschenbildung gerade die Besten. Pestalozzi fafste ihn mit seinem ganzen 
warmen Herzen, Herbart mit scharfem, ordnendem Verstände — jener das un- 
erreichte Vorbild der Erziehungskunst, dieser der gefeierte Begründer der Er- 
ziehungswissenschaft. 



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C. Reichardt: Soll die Schule erziehen? 77 

Neue Strömungen im Geistesleben der Nation dringen niemals leicht, bei 
uns in Deutschland vielleicht schwerer als anderswo, durch die festen Schranken 
der politischen und sozialen Institutionen. So lag denn auch zwischen jenen 
idealen Bestrebungen und der Wirklichkeit der damaligen Fridericianischen 
Schule eine Kluft, welche überbrücken zu wollen wohl niemandem ernsthaft 
einfiel. Aber ungeahnte Geschehnisse liefsen bald das bisher kaum Gedachte 
möglich, ja notwendig erscheinen. In den Stürmen der Franzosenzeit brachen 
alle festen Gefüge des alten Staates zusammen. Jetzt fielen auch die Schranken, 
welche die Statten des Jugendunterrichts bislang von der Aufsenwelt geschieden 
hatten. Neue Ideen sollten eine völlige Wiedergeburt des Staates, der Gesell- 
schaft, des Volkes herbeiführen helfen, neue Ideen sollten vor allem auch in der 
Jugendbildung wirksam werden. Fichte forderte eine Erziehung des künftigen 
Geschlechtes nach den Grundsätzen des grofsen Schweizers. Der Boden war 
gelockert, um den Keim eines Neuen willig in sich aufzunehmen. So trat der 
Gedanke der Erziehung in die preufsische, die deutsche Schule ein. 

Geschlechter vergehen, ehe ein neuer Gedanke, den die Grofsen im Geiste 
zuerst erfafsten und in die Mitwelt warfen, von den breiteren Schichten willig 
aufgenommen, apperzipiert wird. Zuerst packt jede neue Offenbarung die Ge- 
müter. Denn die unmittelbarste und mächtigste Wirkung geht von der 
lebendigen und vollen Persönlichkeit aus, in welcher der Gedanke selbst 
Mensch wurde, und darum ergreift sie auch den ganzen Menschen. So mufste 
zunächst Pestalozzis Herzenswärme und sein kindlich fester Glaube an die sieg- 
reiche Macht des Guten Tausende erheben und zur Nachfolge begeistern. In 
sich Pestalozzi darzustellen, blieb lange Zeit das stille, aber alle Kräfte des 
Willens weckende Ideal der besten deutschen Lehrer. In dieser Nachfolge 
fühlte der Lehrer mit bescheidenem Stolze sich gehoben, geadelt zum Erzieher. 
Die Schule war — in diesem Glauben atmete die Zeit, ohne sich dessen immer 
voll bewufst zu werden — zur Stätte der Erziehung geworden. 

Dem Glauben ist zu ihrer Zeit noch immer die Reflexion gefolgt, das 
Aufleuchten des Bewufstseins von dem eigenen Stand und Wesen, das Streben 
nach verstandesmäfsiger Erkenntnis und systematischer Betrachtung des eigenen 
Wirkens. Was ist eigentlich die Erziehung? worauf gründet sie sich? wodurch 
wirkt sie? wohin zielt sie? Diese Fragen traten immer deutlicher in das 
Gemeinbewufstsein der Lehrerschaft. Es war natürlich, dafs diese theoretischen 
Erwägungen auf Herbart zurückgriffen, den Vater der spekulativen und syste- 
matischen Pädagogik. Denen um Ziller ist das Verdienst nicht abzustreiten, 
dafs sie zuerst versucht haben, eine wissenschaftliche Pädagogik auf breiter 
Grundlage zu schaffen. Der Versuch darf heute als gescheitert gelten, soweit 
man den Aufbau ihrer Lehren als ein Ganzes nimmt. Soll ein neues Unter- 
fangen zu besserem Gelingen führen, so gilt es, den Ursachen des Mifserfolges 
nachzufragen. 

Ich gebe zwei Umständen die Schuld. Zum ersten: die neue Wissenschaft 
baute auf zu schwankendem Grunde. Die Jünger Herbarts haben selber klar 
erkannt und aufs entschiedenste erklärt, dafs eine wahrhaft wissenschaftliche 



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78 C. Reichardt: Soll die Schule erziehen? 

Pädagogik nur auf dem Grunde einer zuverlässigen Psychologie aufgebaut 
werden kann. Diesen aber nahmen sie als gegeben. Die Gegenwart ist anderer 
Meinung. Sie bemüht sich erst, auf physiologischen Voraussetzungen und 
durch fleifsige Beobachtung und scharfsinnige Kombination der einzelnen 
psychischen Thatsachen eine empirische Psychologie nach und nach aufzubauen. 
Gerade das rege Schaffen aber, welches diese junge Wissenschaft rühmlich aus- 
zeichnet, beweist, dafs wir auf diesem Gebiete menschlichen Forschens noch 
weiter als sonstwo von dem Ideal einer befriedigenden und allgemein an- 
erkannten Theorie der vorhandenen Erscheinungen entfernt sind. Alle die 
Schwankungen und Erschütterungen aber, welchen das Gebäude der modernen 
Psychologie noch immer ausgesetzt ist, müssen in der Wissenschaft der Päda- 
gogik, welche sich auf diesem Unterbau erheben soll, natürlich doppelt fühlbar 
werden und ihre ruhige Fortentwickelung mit schweren Störungen bedrohen. 
Man darf darum wohl fragen, ob überhaupt schon die Zeit für eine exakte 
Wissenschaft der Pädagogik gekommen ist. 

Zum anderen: die Spekulation der sogenannten Herbartischen Schule, die 
mit solchem Eifer das Wesen der Erziehung zu ergründen und in ein er- 
schöpfendes System zu bringen bemüht war, machte seltsamer Weise vor einer 
Frage Halt, die unbedingt zunächst ihre Lösung erheischte: vor der Frage nach 
dem inneren Verhältnisse von Schule und Erziehung. Es ist wohl nicht zu 
viel behauptet, wenn ich sage, man nahm die herkömmliche Verquickung beider 
Begriffe einfach als etwas Gegebenes. Man schien ganz zu vergessen, dafs 
Herbart seine Theorie nicht aus den Verhältnissen der öffentlichen Schule, 
sondern aus den Erfahrungen der häuslichen Erziehung abgeleitet hat und 
mithin solche Theorie auch nur auf diese unmittelbar und ohne Einschränkungen 
angewendet werden kann. In dem durchaus zu billigenden Streben, alle Formen 
der Einwirkung auf das jüngere Geschlecht dem einen Hauptziele der Erziehung, 
der Charakterbildung dienstbar zu machen, kam Herbart zu der Überzeugung: 
Unterricht ist Erziehung! Aber man darf sich nicht auf ihn berufen, wenn 
man diesen Satz umkehrt und behauptet: Erziehung ist Unterricht I Und eben 
diesen Unterschied nicht klar genug erkannt, ja bisweilen geradezu verwischt 
zu haben, das, scheint mir, mufs man denen, die sich mit Herbarts Namen 
decken, zum Vorwurfe machen. 

Das Kind erziehen — was gehört nicht alles dazu! Es heilst dem Leibe 
Nahrung zuführen, den Körper stählen, die Kräfte und Fähigkeiten der Glied- 
mafsen entwickeln, die Sinne schärfen, die Anschauung wecken, das Wissen 
bereichern, das Denken aufrufen, die Phantasie beflügeln, den Willen anregen, 
leiten und üben, das Selbstbewufstsein mit der Erkenntnis der Abhängigkeit 
auf der einen, der vielfältigen Verpflichtung auf der anderen Seite in Einklang 
setzen, alle Wesensäufserungen zusammenfassen zur Einheit des Charakters. Zu 
solchem vielseitigen Geschäfte müssen natürlich Wirkungen der verschiedensten 
Art ineinandergreifen. Und mannigfaltigsten Wesens sind denn auch die er- 
ziehenden Kräfte, welche c in munterm Bunde* den werdenden Menschen zu 
bilden beflissen sind. Da wirken Haus und Hof, Feld und Wald, Wind und 



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C Keichardt: Soll die Schule erziehen? 79 

Wetter. Dazu helfen die Bäume im väterlichen Garten und das Bad am Erlen- 
busche; der Raubvogel, der in blauer Höhe seine Kreise zieht, und der muntere 
Schlag des Finken. Da hat der Bauer hinterm Pfluge seine Bedeutung so gut 
wie die lärmenden Zigeunerbuben um den schmutzigen Karren. Da bringen 
Erzählungen des Bruders, den die Tropensonne verbrannt hat, die Kupferstiche 
in den alten Folianten der grofsen Bibliothek zu lebhafter Wirkung. Da wölbt 
sich das sternenfunkelnde Firmament über der Dämmerwelt des Märchens, und 
die verhallenden Klänge eines fernen Liedes tragen die Seele weit übers offene 
Feld. Da legt die Freundschaft den Arm um die Schulter, und das spöttische 
Wort des überlegenen Kameraden reizt zur Selbstzucht. Da weckt der prüfende 
Blick des Vaters, die leise Hand der Mutter auf den braunen Locken die erste 
Ahnung des Selbstbewufstseins in der jungen Brust. 

Und nun kommt die Schule, nimmt die jungen Menschenkinder, in denen 
schon eine Welt im kleinen sich zu gestalten trachtet, vier Stunden täglich in 
ihre Obhut und spricht: Sitzt fein stille! jetzt will ich euch erziehen! — Wie 
ganz anders ist diese Schulwelt als die da aufsen! Da ist Ruhe und feier- 
licher Ernst. Da sind vier Wände, die den Blick beschränken und in sich 
kehren. Da sind allenfalls Bilder, die doch aber nur die Abstraktion einer 
Anschauung geben. Da ist ein einseitiger Ehrgeiz des Intellekts. Da sind vor 
allen Dingen Worte und wieder Worte, aus denen sich eine innere Welt durch 
die Vermittelung des Denkens aufbauen soll. 

Ich will nicht ungerecht sein. Ich erkenne ausdrücklich an, dafs gerade 
die Schule, welche ich hier zunächst im Auge habe, redlich bemüht ist, eine 
Spaltung des Bewufstseins, die Bildung einer Schulwelt neben der wirklichen, 
zu vermeiden. Man setzt sich zur Aufgabe, den Anschauungskreis und die 
Gedankenwelt, welche die einzelnen Kinder mit in die Schule bringen, kennen 
zu lernen; an das Bekannte anzuknüpfen; die Eindrücke, welche die Aufsen- 
welt fortlaufend den Kindern bietet, im Unterrichte zu verwerten. Man will 
ja nichts Gegebenes verwerfen; man will den Kreis der Vorstellungen nur 
ordnen, erweitern, zum System gestalten. Das alles verdient sicher Zustimmung 
und Nacheiferung. Freilich ist die Aufgabe, welche damit dem Lehrer gestellt 
wird, sehr schwer — viel schwerer jedenfalls, als wohl die meisten sich dessen 
bewufst sind, wenn sie frohen Mutes sich auf dieses Programm verpflichten. 

Doch das wäre an sich kein hinreichender Grund zu prinzipiellem Wider- 
spruche. Man darf also wohl den Theoretikern der Zillerischen Schule im 
wesentlichen zustimmen, so lange nur die Bereicherung des Wissens und die 
Entwicklung des Denkens, kurz die Bildung des Intellektes in Frage steht. 
Denn für die Belehrung und für die Übung des Verstandes ist das gesprochene 
und geschriebene Wort das natürliche Mittel. Hier ist also die Schule in 
ihrem eigentlichen Elemente; das ist es ja, was ihr von jeher und ehedem aus- 
schliefslich zur Aufgabe gestellt wurde: der Unterricht. Dafs man darunter 
jetzt wohl nirgends mehr Mitteilung von Wissen allein versteht, sondern An- 
leitung zum eigenen Erwerb und zur nutzbringenden Verwertung des Wissens 
• — auch das soll dankbar als wesentlicher Fortschritt anerkannt werden, wenn- 



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80 C. Reichardt: Soll die Schule erziehen? 

gleich es wohl zu keiner Zeit an Lehrern gefehlt hat, denen diese Anschauung 
Prinzip ihres Wirkens war. 

Um so entschiedener aber mufs man es ablehnen, wenn nun an Stelle des 
Unterrichts die Erziehung schlechthin als die eigentliche Aufgabe der Schule 
bezeichnet wird. — Fassen wir das Wesen unserer allgemeinen öffentlichen 
Schule scharf ins Auge: in regelmäfsigen, a,ber kurzen Fristen werden eine 
Schar von Kindern verschiedenster Herkunft und Beanlagung in geschlossenem 
Räume und unter fester Disziplin zu gemeinsamem Unterrichte vereinigt. Wie 
soll diese Institution befähigt sein, die vielerlei Aufgaben einer allseitigen und 
abschliefsenden Erziehung zu erfüllen? 

Auf die Ausbildung des Körpers hat diese Schule zunächst kaum irgend 
welchen Einflufs. Zur Schärfung der Sinne kann sie schon der Ungunst des 
Raumes wegen nicht allzuviel beitragen. Für die Anschauung mufs sie zurück- 
greifen auf die Erinnerungsbilder, welche die Kinder von aufsen mitbringen, 
oder sie mufs zur mittelbaren Anschauung durch Abbildungen ihre Zuflucht 
nehmen; nur weniges läfst sich in eigenster Gestalt und Erscheinung in der 
Klasse vor die Augen führen. Damit aber entfallen auch die stärksten An- 
triebe zur Entfaltung der Phantasie. Die Willensbildung endlich, die Achse 
aller wirklichen Erziehung, kann höchstens erleichtert und gefördert werden 
durch angemessene Einwirkung auf den Vorstellungsverlauf, während die bei 
weitem stärkeren und zuverlässigeren Einflüsse der Übung und Gewöhnung 
sich nur in sehr beschränkter Weise zur Anwendung bringen lassen. 

Wir sehen: wo immer die Schule die Grenzen des eigentlichen Unterrichts 
überschreitet, begiebt sie sich auf fremden Boden, verliert sie die Möglichkeit 
unmittelbarer Wirkung und kann also keine einigermafsen sichere Gewähr 
mehr bieten für den Erfolg ihrer Bestrebungen. Mit einem Worte: die Schule, 
wie sie heute ist, kann wohl erziehen helfen — und dafs sie dies den Lehrern 
aufs neue ins Gewissen gerufen haben, soll den Verehrern Herbarts ebenfalls 
unvergessen sein! — aber sie kann nicht im vollen Sinne des Wortes selbst 
erziehen. Proklamiert sie an Stelle des Unterrichts die Erziehung als ihre 
eigenste Aufgabe, so unternimmt sie eine Arbeit, die weit über ihre Kräfte 
geht. Will man dennoch Ernst machen mit der Erfüllung dieser weiteren 
Aufgabe, so mufs man notwendig auch das Wirkungsgebiet der Schule und 
ihre Wirkungsmittel weit über die altgewohnten Grenzen erweitern. Kurz, der 
Gedanke der Erziehung durch die Schule mufs, wenn er nicht eine Phrase 
bleiben soll, das überlieferte Gefüge der öffentlichen Schule von innen heraus 
sprengen und zum Aufbau eines ganz neuartigen und weit umfassenderen 
Gebäudes führen. 

Es fehlt nicht an Antrieben und Kräften, welche die Entwickelung unserer 
Schule in solche neuen Bahnen drängen möchten. Ja, dies scheint mir gerade 
das Losungswort für die Phase der pädagogischen Entwickelung, in der wir 
uns eben jetzt befinden: des Chaos, von dem unsere Betrachtung ausging. 
Der Unterricht allein — das fühlte man denn doch bald — kann den viel- 
seitigen und vielartigen Aufgaben der Erziehungsschule nicht genügen. So 



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C. Reichardt: Soll die Schule erziehen? 81 

galt es denn, andere Mittel und Wege zu finden, um allen Forderungen, welche 
aus der veränderten Grundanschauung von Wesen und Beruf der Schule sich 
notwendig ergeben mufsten, einigermafsen zu entsprechen: um den Körper zu 
bilden und die Hände zu üben, um Auge und Ohr zu schulen und lebendige 
Anschauungen zu vermitteln, um ästhetisches Empfinden zu wecken und die 
Phantasie in aussichtsreiche Bahnen zu leiten, um Mut und Thatkraft, Ent- 
schlossenheit und Selbstbeherrschung zu kräftigen, um Kameradschaft und 
Gemeinsinn zu pflegen — kurz, um ganze Menschen, feste Charaktere, echte 
Bürger zu erziehen. Zuerst hatte — das einzige Überlebsei aus dem Schiff- 
bruch der Ideale von anno 13 — das Turnen sich den Eintritt in die Schulen 
ertrotzt. Dafs es organisch in den Rahmen der bestehenden Schule eingefügt 
sei, wird wohl bis heute niemand behaupten. Dafs es sich als fremdartiges 
Anhängsel der Unterrichtsschule dennoch standhaft behauptete, verdankt es 
wohl, neben der wachsenden Einsicht in seine Bedeutung für den Wehrdienst, 
hauptsächlich dem Umstände, dafs man darin das einzige bequeme Gegenmittel 
sah, der drohenden Hypertrophie auf Seiten der geistigen Entwicklung vor- 
zubeugen und die mancherlei hygienischen Bedenken, zu denen der herkömm- 
liche Schulbetrieb Ursache gab, zum Schweigen zu bringen. Seit nun aber 
nicht mehr der Unterricht allein oder doch vorwiegend, sondern die allseitige 
Menschenbildung als Aufgabe der Schule ausgerufen wurde, begannen bald 
immer neue Bestrebungen Einlafs in die Hallen der Erziehungsanstalt zu be- 
gehren. Da kam — ich greife auf gut Glück in den Strudel — das Jugend- 
spiel und der Rudersport, das Modellieren und Kartenzeichnen, die Handfertig- 
keits- und Haushaltungslehre, die Beschäftigung in Schulgärten und der Unterricht 
im Freien, Vogelschutz und Schulreisen, der Besuch von Museen und Theatern 
— ganz zu geschweigen von den Disziplinen, die in den Unterricht selbst Auf- 
nahme heischten: Geologie und Klimakunde, Biologie, Verkehrsgeographie, 
Kulturgeschichte, Volkswirtschaftslehre und Gesetzeskunde — und zu dem 
allem noch wahrhaft grundstürzende Forderungen an die Unterrichtsmethode 
und das Lehrverfahren in jedem einzelnen Wissensgebiete — wahrlich ein Chaos! 
Wenn wir dieser Flut von Vorschlägen und Zumutungen nicht ratlos 
gegenüber stehen wollen, so müssen wir uns zunächst eine klare und bestimmte 
Antwort geben auf die Frage: Was wollen wir eigentlich in Zukunft? Will 
und soll die Schule wirklich erziehen, volle Menschen bilden? Bejahen wir diese 
Frage — gut, dann haben alle jene Bestrebungen ihren guten Sinn und, mehr 
oder weniger, Anspruch auf Beachtung und Verwirklichung. Ja, dann wird 
noch gar manches andere, was bis jetzt noch nicht zu dem Schlagworte 
einer Reform ausgeprägt wurde, sich notwendig erweisen. Dann aber gilt es, 
mit dem Wirkungsgebiete auch den Machtbereich und die Machtvollkommen- 
heit der Schule viel weiter abzustecken. Sollen wir ganze Menschen bilden, 
so müssen wir auch die ganze Erziehung ausschliefslich in Händen haben. 
Eine völlig einheitliche und planmäfsige Erziehung ist überhaupt, wie mir 
scheint, nur in drei Formen denkbar, und welche von den dreien man vorzieht, 
wird einzig von der sozialen Färbung abhängen, in welcher der Einzelne die 

Neue Jahrbücher. 1893, II 6 



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82 C. Reichardt: Soll die Schule erziehen? 

Dinge dieser Welt anschaut. Dem aristokratischen Individualismus des acht- 
zehnten Jahrhunderts entsprach das Hofmeister- und Hauslehrerwesen, der 
klassenmäfsig gegliederten Gesellschaft des neunzehnten die Fürstenschulen, 

Kadettenhäuser, Priesterseminarien dem konsequenten Staatssozialismus 

aber, der das nächste Jahrhundert zu beherrschen hofft, kann nur die sparta- 
nische Massenerziehung genügen. 

Die Staatserziehung! Der Gedanke liegt offenbar genau in jener Richtung, 
nach welcher die thatsächliche Entwickelung unserer sozialen Verhältnisse 
schon seit Jahrzehnten hinzudrängen scheint. Schritt für Schritt hat sich der 
Begriff des Staates als Hauptträgers öffentlich-rechtlicher Funktionen erweitert 
und vertieft. Immer fester durchwurzelt die Staatsgewalt mit tausend feinen, 
aber energisch ansaugenden Organen den ganzen Boden unseres Kulturlebens. 
Es ist verständlich, wenn radikale Schwärmer hier und ängstliche Gemüter 
dort den baldigen Sieg der Staatsomnipotenz mit Sicherheit erwarten. Aber 
die Konsequenz einer historischen Entwickelung liegt selten in der geraden 
Linie. Denn jeder noch so starke Antrieb wird bald gekreuzt und abgelenkt 
durch Kräfte anderen Ursprungs und abweichender Richtung. Vor allem aber 
findet jedes Gewordene und Wachsende die Grenzen seiner Entfaltung in den 
Grundbedingungen, in denen sein Wachstum wurzelt. Wollte seine eigene Ent- 
wickelung zur Vernichtung jener Voraussetzungen führen, so würde damit die 
Axt an seine Wurzel gelegt sein. Ich wecke ein einfaches und grofses Bei- 
spiel: das römische Reich! Aus einem kerngesunden Volkstume und einer 
festgefügten Staatsordnung erwachsen, strebte es mächtig empor, solange dieser 
Mutterboden sich annähernd in seinem alten Wesen erhielt. Von der Zeit- 
wende aber, wo die Entwickelung des Reiches selbst rückwirkend jene Grund- 
lagen zu zersetzen begann, hebt auch die innere Auflösung des Kolosses an, 
wenn er auch dank seinem Schwergewichte erst um Jahrhunderte später dem 
zertrümmernden Stofse von aufsen erlag. Was an diesem welthistorischen 
Exempel in die Augen leuchtet, das gilt nun aber im weiteren von dem Staate 
schlechthin. Er lebt und gedeiht, solange er sich den Nährboden seines 
Wachstums und Gedeihens zu erhalten weifs. Die Grundbedingungen aber für 
die gedeihliche Entwickelung jedes Staates möchte ich in der freien Selbst- 
bestimmung des Individuums und dem Eigenrechte der Familie erblicken. Sie 
scheinen mir geradezu das männliche und weibliche Prinzip der Staaten- 
schöpfung, aus denen jeder Staat, so lange er lebendig fortbestehen will, immer 
aufs neue wiedergeboren werden mufs. Mit ihrem Absterben oder ihrer gewalt- 
samen Vernichtung welken die Wurzeln des ganzen Staatswesens hin. Denn 
nur Individuen, denen die Möglichkeit der freien Selbstbestimmung nicht allzu- 
sehr beschränkt wird, können in der Befriedigung der ihnen eigenen Willens- 
triebe und besonderen Anlagen, in der Umsetzung ihrer dvva^iig in ivigyEia^ 
den stets erneuten Antrieb finden zu kräftigem und fruchtbarem Handeln, 
nicht nur zum eigenen Vorteil, sondern damit zugleich auch zum Besten der 
Gesamtheit, des Staates. Und nur im Schofse der festgeschlossenen Familie, 
die durch ihre natürliche und enge Verbindung immer die stärksten Ströme 



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C. Reichardt: Soll die Schule erziehen? 83 

sympathischen Empfindens von Mensch zu Mensch erwecken wird, kann der 
Mensch sich mit jener gleichbleibenden Wärme des Gefühls erfüllen, welche 
die Voraussetzung für alle wahre altruistische und soziale Gesinnung und damit 
zugleich das festeste Band der Staaten bildet. Darum hat es mit dem Siege 
der Staatserziehung gute Wege. Denn eine solche würde nichts weniger be- 
deuten als die Entmündigung des Individuums und die Entrechtung der Familie. 
Es mögen aber eher willensfreie Einzelmenschen den Kampf ums Dasein durch- 
führen, als ein Staat, dessen Einzelglieder keiner eigenen Entschliefsung mehr 
fähig sind, und es können leichter Familien ohne einen Staat bestehen als ein 
Staat ohne Familien. Deshalb wird die Ausdehnung der Staatsgewalt stets 
ihre Grenze finden an den altererbten Rechten der Familien, und unter diesen 
unveräufserlichen Rechten ist das älteste, natürlichste und notwendigste das 
Recht auf die Erziehung. Gewisse Einschränkungen und genauere Begrenzungen 
auch dieses Familienrechtes sind unvermeidlich und im Begriffe des Staates 
als einer organischen Vereinigung von Familien gegeben. Aber das nächste 
und wichtigste Anrecht, freilich auch die nächste und stärkste Pflicht zur Er- 
ziehung ihrer jugendlichen Glieder, wird immer der Familie verbleiben. 

Doch halt: diese Position ist nicht so leicht gewonnen. Denn hier empfängt 
uns ein vernichtendes Feuer von einer anderen Seite her. Wo sind denn die 
Familien, so wirft man uns mit bitterem Hohne entgegen, in deren sicherem 
und warmem Schofse die junge Brut sorglich herangezogen wird, bis sie 
selber den ersten Flug wagt? Das ist ein Traum der guten alten Zeit, der 
allenfalls noch hie und da in der beschränkten Sphäre kleinbürgerlichen Lebens 
nachgeträumt wird. Die oberen Zehntausend gehen im Genufs des Tages oder 
im Fieber des Erwerbens auf und müssen ihre Kinder die längste Zeit fremden 
Personen überlassen, die höchstens zur familia im Sinne der Alten gehören. 
Und die unteren Hunderttausende und aber Hunderttausende? Dafs Gott 
erbarm! Der Mann und die Frau gehen zur Arbeit und sehen sich, wenns 
gut geht, einmal zur Mittagspause auf dem Bau oder im Fabrikhofe, und die 
Kinder — die finden im günstigsten Falle in einem jener humanen Institute 
eine Zuflucht, welche solchen kleinen verlassenen Wesen die Familie zu er- 
setzen versuchen und die doch bei edelstem Bemühen nur freundliche Kasernen 
sein können. Wenn also die Erziehung durch eigens dazu bestellte Persönlich- 
keiten, ja wenn die Massenerziehung für einen grofsen Bruchteil aller deutschen 
Kinder schon Wirklichkeit geworden ist, wenn thatsächlich die deutsche Familie 
in zahllosen Fällen schon abgedankt und sich selbst ihrer edelsten Pflichten 
und Rechte zugleich, sei es freiwillig oder unter dem Drucke zwingender Ver- 
hältnisse, entschlagen hat, warum sträubt man sich dann gegen die unaus- 
weichliche Konsequenz dieser Entwickelung: die Mediatisierung der Familie 
und die Verstaatlichung ihrer wichtigsten Funktionen, vor allem also der Er- 
ziehung? 

Warum? — Es mag ein Gleichnis für mich reden! Man weifs, dafs viele 
Tausende unserer Volksgenossen dem schleichenden Übel der Lungenschwind- 
sucht verfallen sind, dafs das furchtbare Leiden langsam, aber unerbittlich 

6* 



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84 C Reichardt: Soll die Schule erziehen? 

weiter um sich greift, dafs bisher aller Scharfsinn und Opfermut der Gelehrten, 
Ärzte und Pfleger dem stillen, aber rastlos wirkenden Feinde kaum Einhalt zu 
gebieten, geschweige irgend welchen wesentlichen Abbruch zu thun vermocht 
hat. Hat man aber schon gehört, dafs darum jemand geraten, ja gefordert 
habe, man solle so rasch als möglich die unausweichliche Eonsequenz dieser 
Entwicklung ziehen, für möglichst schnelle Infizierung aller noch von der 
Krankheit nicht berührten Individuen sorgen, weil nach völliger Durchseuchung 
des ganzen Volkes keine Gefahr mehr zu befürchten sei? 

Nun denn: so wäre auch mit dem allgemeinen Siege der Staatserziehung 
die gleichmäfsige und gleich sorgliche Erziehung aller Kinder unseres Volkes 
vielleicht sichergestellt — ich hege allerdings diese Erwartung keineswegs — 
aber der Staat selbst, der mit der Durchführung einer solchen Mafsregel die 
Auflösung der Familien vollendete, wäre sicher in absehbarer Zeit, wie ich 
vorhin schon nachzuweisen versuchte, selbst der Auflösung verfallen. Nein, 
man bekämpft ein Übel nicht, indem man seine Symptome unterdrückt, sondern 
indem man das Übel selbst in seinem Herde und Hauptsitze aufsucht und an- 
greift, indem man die Ursachen seines Wachstums zu beseitigen und die er- 
regenden Keime selbst zu vernichten strebt. Es gilt nicht, die Erziehung der 
Jugend, mit der es freilich in vielen tausend Familien von heute recht übel 
bestellt ist, kurzerhand dem Staate, der öffentlichen Schule zu übertragen, 
sondern es gilt, diejenigen, denen von Gottes und Rechts wegen diese Er- 
ziehung zu allernächst obliegt, die Familien wieder in den Stand zu setzen, 
dafs sie dieser Aufgabe einigermafsen gerecht zu werden vermögen. 

Alles verständige und fruchtbringende Wirken setzt Kompromisse voraus; 
denn es fordert stets eine Vereinigung von Kräften, die niemals ganz parallel 
gerichtet sind: in ihrer Diagonale also liegt das erreichbare ZieL Legen wir 
also die Waffen nieder und erklären: die Schule von heute kann in den ihr 
gesetzten Schranken die Erziehung schlechthin nicht ausüben, und eine wesent- 
liche Erweiterung dieser Schranken würde folgerichtig zur Staatserziehung 
führen, damit aber nach unserer Überzeugung zum Untergange des Staates 
selbst. Die Familie von heute aber kann in tausenden von Fällen die Er- 
ziehung ebensowenig ausüben, weil ihr dazu alle Voraussetzungen fehlen: die 
Einsicht, die Kräfte, die Mittel und die Zeit. Wo die Familie dazu im stände 
ist* kommt ihr zunächst und vorwiegend das Recht und die Pflicht der Er- 
ziehung zu; wo sie dazu nicht im stände ist, mufs sie wieder in den Stand 
gesetzt werden. Das heifst freilich nichts weniger als die soziale Frage lösen. 
Aber wir sind nicht bange. Was wir heute mit diesem Namen nennen, ist nur 
ein Übergang, der mit Sicherheit und vielleicht in gar nicht allzuferner Zeit 
zu einer neuen und doch ähnlichen Gruppierung und Organisierung der Gesell- 
schaft führen wird, wie diejenige war, deren Zersetzung wir mit ansehen. Denn, 
wenn anders wir die Erfahrungen der Geschichte richtig deuten, scheint eine 
derartige soziale Organisation in der menschlichen Natur selbst begründet und 
darum zu steter Wiederauferstehung, wenn auch in mannigfaltig wechselnden 
Formen, bestimmt. Es wird und mufs also, wenn unser Volk seine alte Lebens« 



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C. Reichardt: Soll die Schule erziehen? 85 

fähigkeit noch weiter beweist — und dafür sprechen alle Anzeichen — es 
wird und mufs ein neuer Mittelstand, freilich in wesentlich veränderter Be- 
grenzung und Erscheinung, sich bilden, und damit auch der kräftige und breite 
Boden für das Wachstum und Gedeihen von tausenden deutscher Familien, 
welche dann auch mit neuer Freudigkeit und Frische der alten Haupt- und 
Ehrenpflicht der Familie sich unterziehen werden, der Erziehung der Kinder. 

Solange freilich diese Zeit noch nicht erreicht ist — und damit reichen 
wir die Hand zum Kompromisse — solange wird die Schule, wie sie jetzt ist, 
und deren nächste und Hauptaufgabe immer der Unterricht bleiben wird, 
manches wichtige Stück Erziehung, das eigentlich den Organen des Eltern- 
hauses zufiele, vicarie übernehmen und, so gut es angeht, selbst verrichten 
müssen. So gut es angeht! Pestalozzi wufste am besten, wie schwer dieses 
Wort wiegt. Wann und wo solche Stellvertretung sich notwendig erweist, 
wie weit sie ihre Wirksamkeit auszudehnen hat, welches Verfahren sie dabei 
verfolgen soll, inwiefern vielleicht auch besondere Organe und Institutionen 
neben der Schule vom Staate für diese Aufgaben zu schaffen sein werden — 
das alles wird nur von Fall zu Fall entschieden werden können und mit dem 
Wechsel der Verhältnisse selbst dem Wechsel unterliegen. In jedem Falle 
aber soll der Staat und die Staatsschule gern und willig dem Elternhause 
alles überlassen, was dieses nach seinen wirtschaftlichen und intellektuellen 
Qualitäten irgend leisten will und kann, und die Schule soll nur nicht ver- 
gessen, dafs auch der Unterricht, der ihre eigentliche Aufgabe ist und bleiben 
wird, ein Stück Erziehung ist — ein Stück nur freilich, nimmer die Erziehung! 

Damit wir aber bald wieder aus diesem Provisorium, dem alle Mängel 
eines solchen Zustandes notwendig anhaften, herausgelangen, damit bald wieder 
überall in deutschen Landen das Hauptstück der Erziehung in den Händen liegt, 
denen es nie hätte entgleiten sollen, dazu mag jeder helfen, den Einsicht und 
Fähigkeiten zur Sorge für die Zukunft unseres Volkes berufen, indem er die 
Hände mitanlegt zu dem notwendigsten Werke der nächsten Jahrzehnte, dem 
Wiederaufbau der deutschen Familie. 



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DIE ENTSÜHNUNG IN GOETHES IPHIGENIE AUF TAURIS 

Von Martin Wohlrab 

Goethe hat den Gesichtspunkt, unter dem er seine Iphigenie aufgefafst 
wissen will, in den Versen angedeutet, die er am 31. März 1827 dem Schau- 
spieler Krüger nach einer vortrefflichen Darstellung des Orest in ein Dedikations- 
exemplar des Stückes schrieb: 



Was der Dichter diesem Bande So im Handeln, so im Sprechen 

Glaubend, hoffend anvertraut, Liebevoll verkünd* es weit: 

Werd' im Kreise deutscher Lande Alle menschlichen Gebrechen^ 

Durch des Künstlers Wirken laut! Sühnet reine Menschlichkeit. 



eri\ 

itj 



Wunderbarerweise haben aber diese Verse statt einer Erleichterung des 
Verständnisses neue Schwierigkeiten geschaffen. Ja, Frick geht in seinem Weg- 
weiser durch die klassischen Schuldramen 1. Abt. S. 420 f. so weit, dafs er sie 
als eine mehr gelegentliche und mehr Äufserliches treffende Bemerkung ansieht, 
die um so weniger zum Losungswort der gesamten Auslegung gemacht werden 
könne, als sie der alternde Dichter fast 50 Jahre nach der Entstehung der 
Dichtung niedergeschrieben habe. Aber wem ist das glaublich, dafs Goethe, 
nachdem er einer Aufführung seines Stückes beigewohnt hatte, sich nicht mehr 
darüber klar gewesen sei, was er eigentlich mit demselben gewollt habe, und 
infolgedessen etwas nur Nebensächliches hervorgehoben habe, Goethe, der sich 
bis in die letzten Jahre seines Lebens voller geistiger Klarheit erfreute? 

Auch die Erklärung, die Frick von diesen Versen giebt, ist nicht möglich. 
Wenn er für 'Gebrechen sühnen' 'Wirren lösen' setzt, so ändert dasTlie Sache 
wesentlich. Und diese Wirren sollen gelöst sein nicht nur durch die reine 
Mens chlichkeit Iphigeniens, sondern auch durch ihre pries terliche Hoheit. Aber 
schlief sen die Goethischen Verse die priesterliche Seite nicht geradezu aus? 
Andere Erklärungen sind wohl noch versucht worden; befriedigend ist schwer- 
lich eine. 

Sehr nahe scheint es zu liegen, als die Vertreterin der reinen Menschlich- 
keit Iphigenie selbst zu nehmen. Man hat sich die erdenklichste Mühe ge- 
geben, unter dieser Voraussetzung den Vorgang der Entsühnung des Orest 
einigermafsen begreiflich zu machen. Aber wenn man auch Iphigeniens Un- 
aufrichtigkeit gegen ihren Wohlthäter Thoas übersehen wollte, so hat doch 
noch niemand überzeugend nachgewiesen, wie ein schuldloser Mensch als solcher 
einem andern das Bewufstsein seiner Schuld abnehmen kann. 

Dieselbe Schwierigkeit ergiebt sich, wenn man Iphigenie als Priesterin 



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M. Wohlrab: Die Entsühnung in Goethes Iphigenie auf Tauris 87 

nehmen will. Man hat sie zu lösen gesucht, indem man auch vor der Annahme 
nicht zurückschreckte, Goethe habe nicht umhin gekonnt, christliche Vor- 
stellungen in den antiken Stoff hineinzutragen, ja sogar Vorstellungen, die 
sonst bei ihm nicht nachweisbar sind. Aber kann eine priesterliche Person 
jemandem im Zustande der Bewufstlosigkeit, also ohne seine persönliche Be- 
teiligung, seine Sünden vergeben? Das müfste doch der Fall sein, wenn die 
Entsühnung des Orest nach Iphigeniens Gebet (III 3) erfolgte, wie man ge- 
wöhnlich annimmt. 

Hiernach ist klar, dafs die Entsühnung des Orest, wenn sie durch Iphigenie 
geschieht, durch eine Art Wunder, auf eine magische, also unerklärliche Weise 
geschieht, und bei dieser Annahme scheinen sich jetzt die meisten zu beruhigen. 
In diesem Falle leidet freilich die Dichtung unzweifelhaft an einem Fehler, 
der, da er sich an einem so wesentlichen Punkte findet, kaum als kleiner be- 
zeichnet werden kann, als eine Lösung durch den deus ex machina. Aber darf 
man Goethen einen solchen Fehler zutrauen? In den Gesprächen mit Ecker- 
mann (I S. 153) sagt er: 'Glaube und Unglaube sind nicht diejenigen Organe, 
mit welchen ein Kunstwerk aufzufassen ist; vielmehr gehören dazu ganz andere 
menschliche Kräfte und Fähigkeiten. Ein religiöser Stoff kann ein guter Gegen- 
stand für die Kunst nur in dem Falle sein, wenn er allgemein menschlich 
ist/ Dafs dies immer Goethes Meinung war, hat Kanzow im Programm des 
Kneiphöfischen Gymnasiums zu Königsberg von 1887 über die Entsühnung des 
Orestes in Goethes Iphigenie S. 3 ff gut nachgewiesen. 

Nach alledem darf man wohl die Frage aufwerfen: was berechtigt denn 
zu der Annahme, Goethe habe die Entsühnung des Orest durch die Heldin des 
Stückes, durch seine priesterliche Schwester Iphigenie herbeiführen wollen? 
Fassen wir zunächst das Orakel ins Auge! Begünstigt es diese Auffassung? 

Der Wortlaut des Orakels ist an den verschiedenen Stellen verschieden. 
Das darf nicht wunder nehmen. Je nachdem die augenblickliche Lage die eine 
oder die andere Auffassung begünstigt, die Erfüllung möglich erscheinen läfst 
oder nicht, wird es durch Weglassungen oder Zusätze modifiziert. Als Orest 
im Haine der Diana dem Opfertode verfallen ist, glaubt er, auf diese Weise 
erfülle sich eben das Orakel. 

Als ich Apollen bat, das gräfsliche 

Geleit der Rachegeister von der Seite 

Mir abzunehmen, schien er Hilf und Rettung 

Im Tempel seiner vielgeliebten Schwester, 

Die über Tauris herrscht, mit hoffnungsreichen, 

Gewissen Götterworten zu versprechen; 

Und nun erfüllet sichs, dafs alle Not 

Mit meinem Leben völlig enden soll. (II 1, 563 — 70.) 

Pylades korrigiert ihn; nicht den Tod stelle das Orakel in Aussicht, sondern Hilfe. 

Apoll 
Gab uns das Wort, im Heiligtum der Schwester 
Sei Trost und Hilf und Rückkehr dir bereitet, (H 1, 610—12.) 



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88 M. Wohlrab: Die Entsühnung in Goethes Iphigenie auf Tauris 

Und in dieser Fassung citiert er das Orakel auch in der erdichteten Erzählung 
II 2, 838 — 41. Sie genügte hier für seinen augenblicklichen Zweck, Iphigenie 
auf den Zustand des Orest vorzubereiten. 

Als Pylades aber von der Aufgabe spricht, die der Götter Wille dem Orest 
gestellt habe, da verlangt das Orakel mehr als die Reise nach Tauris. 

Bringst du die Schwester zu Apollen hin, 

Und wohnen beide dann vereint in Delphi, 

Verehrt von einem Volk, das edel denkt; 

So wird für diese That das hohe Paar 

Dir gnädig sein, sie werden aus der Hand 

Der Unterirdschen dich erretten. (II 1, 722 — 27.) 

In dieser Fassung teilt Iphigenie dem König Thoas das Orakel mit (V 3, 
1928 — 33). Aber sie beruhte auf einer Interpretation des Orest und Pylades, 
die ja nicht ahnen konnten, dafs sie in Tauris Iphigenie antreffen würden, und 
deshalb nur an die Schwester des Apollo denken konnten. Auch eine an- 
sprechende Motivierung ersann Pylades; er meinte, das rauhe Volk der Scythen 
sei eines solchen heiligen Schatzes nicht würdig (IV 4, 1602 f.). 

Und so kommt erst durch Orest volle Klarheit in das Orakel; erst durch 
ihn erfahren wir die authentische Fassung. 

Jetzt kennen wir den Irrtum, den ein Gott 
Wie einen Schleier um das Haupt uns legte, 
Da er den Weg hieher uns wandern hiefs. 
Um Rat und um Befreiung bat ich ihn 
Von dem Geleit der Furien. Er sprach: 
'Bringst du die Schwester, die an Tauris' Ufer 
Im Heiligtume wider Willen bleibt, 
Nach Griechenland, so löset sich der Fluch/ 
Wir legtens von Apollens Schwester aus, 
Und er gedachte dich. (V 6, 2108 — 17.) 

Hiergegen regt sich nur ein Bedenken. Man hat zunächst den Eindruck, als 
werde die Entsühnung des Orest erst in Aussicht gestellt, und doch ist sie, 
wie die folgenden Worte beweisen, bereits erfolgt. 

Von dir berührt, 
War ich geheilt. 

Dieses Bedenken hebt sich, wenn man den abgekürzten Satz: ^Bringst du die 
Schwester' u. s. w. nicht hypothetisch, sondern temporal auffafst: der Fluch 
löst sich zu der Zeit, wo du die Schwester nach Griechenland bringst. Und 
so enthält das Orakel zwei Zweideutigkeiten: der Begriff Schwester und der 
Vordersatz lassen eine doppelte Auffassung zu. 

Sonach bringt das Orakel die Entsühnung des Orest nur mit der Heim- 
kehr der Iphigenie in Verbindung, aber in keiner Fassung ist etwas davon 
gesagt, dafs die Entsühnung durch sie erfolgen werde. 

Ja noch mehr. Iphigenie weifs selbst nichts davon, dafs sie ihren Bruder 



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M. Wohlrab: Die Entsühnung in Goethes Iphigenie auf Tauris 89 

entsühnt habe. Das müfste aber doch der Fall sein, wenn sie die Göttin 
darum gebeten hätte; denn dessen, worum man bittet, ist man sich doch be- 
wufst. Sie spricht allerdings von einer Entsühnung, aber nur von der Ent- 
sühnung ihres Hauses, die nach ihrer Rückkehr erfolgen sollte. 

So hofft' ich denn vergebens, hier verwahrt, 

Dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen 

Die schwerbefleckte Wohnung zu entsühnen. (IV 5, 1699 f.) 

Ebenso V 3, 1967 f. Die Entsühnung des Orest war aber schon am Ende des 
dritten Aufzuges erfolgt. Hätte Iphigenie sie herbeigeführt, so bliebe es un- 
verstandlich, wie sie in dem Monologe, mit dem der vierte Aufzug anhebt, 
die Befürchtung aussprechen könnte, Orest könne von den Furien wieder ver- 
folgt werden. 

Sorg* auf Sorge schwankt 
Mir durch die Brust Es greift die Furie 
Vielleicht den Bruder auf dem Boden wieder 
Des ungeweihten Ufers grimmig an. (IV 1, 1411 — 15.) 

Als Iphigenie dem König Thoas den Betrug entdeckt und die volle Wahr- 
heit sagt, teilt sie ihm auch den Inhalt des Orakels mit. 

Apoll schickt sie von Delphi diesem Ufer 

Mit göttlichen Befehlen zu, das Bild 

Dianens wegzurauben und zu ihm 

Die Schwester hinzubringen, und dafür 

Verspricht er dem von Furien Verfolgten, 

Des Mutterblutes Schuldigen Befreiung. (V 3, 1928 — 33.) 

Hiernach glaubt Iphigenie noch gar nicht, dafs Orest entsühnt sei, obwohl 
Pylades es ihr versichert hatte (IV 4, 1535 f.). Sie hält sich an den Wort- 
laut ^des Orakels, wie er ihr bekannt war, und meint, dafs eine Rückkehr des 
Übels noch möglich sei, da der Befehl des Gottes noch nicht ausgeführt war. 
Und so können auch die Verse HI 1, 1164 — 67 

wenn vergossnen Mutterblutes Stimme 
Zur HölP hinab mit dumpfen Tönen ruft, 
Soll nicht der reinen Schwester Segenswort 
Hilfreiche Götter vom Olympus rufen? 

nur in dem Sinne aufgefafst werden, dafs Iphigenie durch den Hinweis auf der 
Götter Hilfe Orest trösten und ermutigen will. 

Wenn somit der Nachweis erbracht ist, dafs Iphigenie ihren Bruder nicht 
entsühnt hat, so ist jede Notwendigkeit, ein Wunder anzunehmen, beseitigt, 
zugleich aber auch die Möglichkeit gegeben, den Goethischen Schlüssel zum 
Verständnis des Stückes anzuwenden: 

Alle menschlichen Gebrechen 
Sühnet reine Menschlichkeit. 



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90 M. Wohlrab: Die Entsühnung in Goethes Iphigenie auf Tauriß 

Wenn die reine Menschlichkeit genügt, um menschliche Gebrechen zu sühnen, 
so ist jede priesterliche Einmischung ausgeschlossen. Fragt man, wie mensch- 
liche Gebrechen in rein menschlicher Weise gesühnt werden, so darf die 
Antwort wohl so lauten: man hat offen und unumwunden das Bekenntnis 
der Schuld abzulegen, man hat aufrichtige Reue darüber zu empfinden, 
man hat die entsprechende Sühne zu geben. Ist das alles erfolgt, so kann 
die Schuld als gesühnt gelten. Selbst der Mord gilt als gesühnt, wenn der 
Mörder die genannten Voraussetzungen erfüllt und als Sühne sein Leben ge- 
lassen hat. 

Wie steht es nun mit Orest? Iphigenien zur Opferung übergeben, erkennt 
er aus ihren teilnahmsvollen Fragen ihre nahen Beziehungen zu seinem Hause. 
Er wird von ihr gedrängt, eingehend zu erzählen, wie er, um den Tod des 
Vaters zu rächen, seine eigene Mutter getötet hat. Es hatte ihm dabei durchaus 
nicht das Bewufstsein gefehlt, dafs sein Vorhaben widernatürlich sei. Als er 
zum ersten Male wieder seiner Mutter gegenüberstand, da regten sich die heiligen 
Gefühle wieder, die auf dem Verhältnis zwischen Mutter und Sohn beruhen. 
Die schreckliche That wäre vielleicht ungethan geblieben, hätte nicht Elektra 
so sehr dazu getrieben. So hatte Iphigenie dem Orest die direkte Veranlassung 
gegeben, ein volles Bekenntnis seiner Schuld abzulegen. 

Sie ist es auch, die ihn nötigt weiter zu erzählen, wie er seit jener ver- 
hängnisvollen That von den Erinyen verfolgt wird, wie der Zweifel, der ihn 
schon vor der That erfafste, ihm nach derselben keine Ruhe mehr läfst, wie 
die Reue jeden andern Gedanken als den an sein Verbrechen von ihm fern 
hält. So hat Iphigenie auch diesen erschütternden Ausdruck der Reue bei 
Orest hervorgerufen. 

Nachdem Orest alles noch einmal innerlich durchlebt hat, beherrscht ihn 
ganz das Gefühl, dafs er ein dem Tode verfallener Verbrecher sei, und in 
diesem Gefühle der äufsersten Schmach, die auf ihm liegt, vermag er es gar 
nicht zu fassen, dafs die Jungfrau, die in priesterlicher Reinheit und Hoheit 
vor ihm steht, seine Schwester sei; durch die Aufserung ihrer innigsten Teil- 
nahme fühlt er sich nur noch mehr von ihr geschieden. Ja, er kommt schliefs- 
lich zu der Vorstellung, dafs durch das in seinem Hause waltende Verhängnis 
die Schwester bestimmt sei, ihn am Altare zu opfern. Dieser Wahn erlangt 
eine solche Macht über ihn, dafs er den Todesstreich zu erleiden glaubt, der 
ihm Erlösung bringt von den entsetzlichen Seelenqualen. 

Hätte nach des Dichters Intention die Entsühnung des Orest durch Iphigenie 
erfolgen sollen, so mufste das an dieser Stelle geschehen. Alle Voraussetzungen 
dazu waren gegeben: Bekenntnis, Reue, Bufse. Iphigenie mufste nun das ent- 
sühnende Wort aussprechen oder die entsühnende Handlung vornehmen. Aber 
ganz das Gegenteil geschieht. In völliger Ratlosigkeit verläfst sie den Bruder 
und sucht bei Pylades Hilfe. 

Orest selbst ist also von der Wahnvorstellung beherrscht, dafs er von der 
Schwester geopfert sei, dafs er in den Hades eingehe. Dort findet er seine 
Ahnen, die sich auf Erden das Schlimmste angethan hatten, alle versöhnt. So 



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M. Wohlrab: Die Entsühnung in Goethes Iphigenie auf Tauris 91 

darf er sich zu ihnen gesellen und sich der Verzeihung seiner Mutter versichert 
halten, wie dieser sein Vater verziehen hatte. 

So ist denn in dieser Szene dargestellt, wie sich die Entsühnung des Orest 
in rein menschlicher Weise vollzogen hat: er hat seine Schuld bekannt, er hat 
sie bereut, er hat die Qualen des Todes innerlich, erlebt, er hat der Unterwelt 
angehört und dort Verzeihung gefunden. Man könnte fragen, warum der 
Dichter alles das so ausführlich behandelt, wenn es nicht die Entsühnung 
selbst darstellen soll. Diese ist also thatsächlich schon vor der Szene erfolgt, 
in die man sie gewöhnlich verlegt. Iphigenie und Pylades finden Orest noch 
in der Wahnvorstellung befangen, als sei er in der Unterwelt. Darum kann 
Iphigenie auch nur beten, dafs Diana ihn von der Finsternis des Wahnsinns, 
von den Banden des auf ihm lastenden Fluches erlöse. Ihre Bitte geht also 
auf den Zustand der Betäubung, in dem sie ihn vorfindet. Diesem möchte 
die Göttin ein Ende machen, damit die Rettung möglich werde. Das ist 
doch etwas ganz anderes als Entsühnung, Befreiung von der Schuld, die auf 
ihm lastet. 

Und wäre Iphigeniens Gebet von solcher Wirkung, dafs es dem Bruder 
Entsühnung brächte, so begreift man nicht, warum sie nicht unmittelbar nach 
demselben eintreten sollte. Handelt es sich atjer darum, Orest dem Leben 
wiederzugeben, dann wird es vollkommen verständlich, wie nach Iphigenie der 
thatkräftige Pylades nach Art eines Irrenarztes eingreift und so, was sie be- 
gonnen hat, zu Ende führt, die Rückgabe des Orest an die Wirklichkeit, die 
denn auch nach seinen verständigen Vorstellungen sich vollzieht. Nur hierauf 
können die Worte Iphigeniens gehen: 

Kaum wird in meinen Armen mir ein Bruder 
Vom grimm'gen Übel wundervoll und schnell 
Geheilt u. s. w. (IV 5, 1704 f.) 

Orestes aber kann nun, nachdem er aus seiner Betäubung erwacht ist, das 
Gefühl haben, befreit, entsühnt zu sein. 

So hätte also Iphigenie keinen Anteil an der Entsühnung des Orest? Wer 
das behaupten wollte, dem könnte man mit Recht entgegenhalten, was Orest 
sagt V 6, 2119—24: 

Von dir berührt, 

War ich geheilt; in deinen Armen fafste 

Das Übel mich mit allen seinen Klauen 

Zum letzten Mal, und schüttelte das Mark 

Entsetzlich mir zusammen. Dann entfloh's 

Wie eine Schlange zu der Höhle. 

Hiernach ist klar, dafs Orest ohne das Zusammentreffen mit seiner Schwester 
nicht entsühnt worden wäre. Sie war es, die ihm das Bekenntnis seiner Schuld 
entlockte; im Gegensatz zu ihrer priesterlichen Reinheit fühlte er sich um so 
mehr als Verbrecher. Nur sie konnte in ihm die Vorstellung erwecken, dafs 
er durch sie den Opfertod zu erleiden habe. Alle Voraussetzungen der Ent- 



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92 M. Wohlrab: Die Entsühnung in Goethes Iphigenie auf Tauris 

sühnung werden also von Iphigenie herbeigeführt, ohne dafs sie den Zusammen- 
hang auch nur ahnt. 

Aber die Goethische Anweisung zum Verständnis der Iphigenie erstreckt 
sich noch weiter. In eine ähnliche Lage, wie die des Orest war, geriet auch 
seine Schwester; auch sie fiel einem menschlichen Gebrechen anheim. Nicht 
in ihrer Seele wurde ihre Versündigung geboren, sowenig wie die des Orest in 
seiner Seele. Beide wurden von aufsen bestimmt, Orest durch eine Verpflich- 
tung, die auf ihm lag und zu deren Erfüllung er grofs gezogen war, Iphigenie 
durch die Notwendigkeit, den Bruder und seinen Freund vom Tode zu retten, 
und durch die Sehnsucht nach der Heimkehr. Beide waren sich vollkommen 
klar über das, was sie vorhatten. Sie spricht es selbst offen aus: 

So legt die taube Not ein doppelt Laster 

Mit ehr'ner Hand mir auf: das heilige, 

Mir anvertraute, viel verehrte Bild 

Zu rauben und den Mann zu hintergehn, 

Dem ich mein Leben und mein Schicksal danke. 

(IV 5, 1707 — 11.) 

Wie Orest durch Elektra zijm Morde angereizt wurde, so wurde Iphigenie 
durch den ihr an Klugheit, Thatkraft und Ruhe überlegenen Freund ihres 
Bruders, Pylades, zum Treubruch durch Überredung gewonnen. Wie Orest nach 
vollbrachter That von Reue gefoltert wurde, so Iphigenie vom Zweifel vor 
der That. 

In welch entsetzliche Qualen Iphigenie durch die ihr von Pylades über- 
tragene, ihrer innersten Natur widerstrebende Rolle versetzt wird, das ersehen 
wir aus dem Schlüsse des vierten Aktes. In den höchsten Nöten des Lebens 
hat sie das Gefühl der Gottverlassenheit, und das führt sie zur Gottentfremdung. 
Die Priesterin fürchtet, der Titanenhafs möge in ihr wieder aufleben, der in den 
Göttern willkürliche, sogar gegen ihre Günstlinge ungerechte, unbarmherzige, 
peinliche Erinnerungen meidende, unbegreifliche und deshalb zu fürchtende 
Wesen sieht. Die Verzweiflung legt ihr die Worte auf die Lippen: 

Rettet mich 
Und rettet euer Bild in meiner Seele! 

Nach dieser Krisis erfolgt Iphigeniens Befreiung in anderer Weise als die 
des Orest, sie erfolgt, als sie vor den Mann tritt, an dem sie sich versündigen 
sollte. Orest stand einer todeswürdigen Verbrecherin gegenüber, Iphigenie 
einem Manne, so gut, so wahr, wie sie selbst war. Das war ihre Rettung. 
Dem Arkas gegenüber konnte sie eine kurze Zeit die Künste der Verstellung 
üben, dem Thoas gegenüber gehen trügerische Worte kaum über ihre Lippen; 
sie versucht es mit Vorstellungen, mit Bitten, und wird, als alles wirkungslos 
ist, zur Heldin; sie wagt auf die Gefahr hin, ihre Freunde und sich zu ver- 
derben, das Äufserste. Und in diesem Heldenmut gewinnt sie auch das Gott- 
vertrauen wieder, in dem sie betet: 



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M. Wohlrab: Die Entsühnung in Goethes Iphigenie auf Tauris 93 

Allein euch leg ichs auf die Kniee. Wenn 
Ihr wahrhaft seid, wie ihr gepriesen werdet, 
So zeigts durch euren Beistand und verherrlicht 
Durch mich die Wahrheit! (V 3, 1917 — 20.) 

fco überwindet sie die Versuchung zur Sünde und findet sich selbst, ihr besseres 
Selbst wieder. Es war ein entsetzlicher Kampf, den sie durchzukämpfen hatte. 
Diesem Kampf entsprach der Siegespreis: die Rettung des Orest und Pylades 
und ihre Heimkehr mit ihnen unter Aufrechterhaltung der freundschaftlichen 
Beziehungen zum Scythenvolk und Scythenkönig. 

So war Iphigenie durch übermächtige Verhältnisse in menschliche Ge- 
brechen verstrickt worden. Niemand war ihr in ihren Nöten zu Hilfe ge- 
kommen. Die Rücksicht auf die, die ihr am nächsten standen, trieb sie immer 
mehr in die Schuld hinein. Schliefslich war es die reine Menschlichkeit in ihr, 
die allen drohenden Gefahren zum Trotz zum Durchbruch kam und sie von 
dem Gebrechen befreite, das sie ergriffen hatte. 

So kann die reine Menschlichkeit, d. h. die Summe aller der guten Eigen- 
schaften, auf denen des Menschen Gottähnlichkeit beruht, die ihm verliehene 
Würde getrübt werden, aber sie hat die Kraft in sich, sich von der tiefsten 
Erschütterung wieder zu erholen, sich in ihrer Reinheit wieder herzustellen. 
Diese Denkart findet sich auch sonst bei Goethe. Im Prometheus giebt er ihr 
den verwegensten Ausdruck: 

Hast du nicht alles selbst vollendet, 
Heilig glühend Herz? 

Auch die Aufserung in seinem Tagebuche vom 13. Mai 1780 bringt Verwandtes. 
c Die menschlichen Gebrechen sind rechte Bandwürmer. Man reifst wohl ein- 
mal ein Stück ab, aber der Stock bleibt. Ich will doch Herr werden.' 

Wenn diese Denkart der Iphigenie zu Grunde liegt, so wird freilich die 
christliche Tendenz, die manchem das Stück lieb gemacht haben wird, völlig 
beseitigt. Aber dafs gerade ein Goethe an einem antiken Stoffe christliche 
Anschauungen zur Darstellung gebracht haben soll, hat wohl von vornherein 
wenig Wahrscheinlichkeit. 

Ist aber die hier gegebene Auffassung richtig, so empfiehlt sie sich auch 
dadurch, dafs sie das Verständnis des ganzen Stückes eröffnet, nicht blofs das 
Verständnis des Teiles, der die Entsühnung des Orest behandelt, wie man daraus 
folgern wollte, dafs die dasselbe erschliefsenden Verse in ein dem Darsteller 
dieser Rolle gewidmetes Exemplar der Iphigenie geschrieben waren. 



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XENOPHONS MEMORABIL1EN CAR I UND II IN IHKEN 
BEZIEHUNGEN ZUR GEGENWART 

Von Emil Rosenberg 

Xenophon hat den eigentlichen Denkwürdigkeiten oder besser Erinnerungen 
an Sokrates zwei Kapitel vorausgeschickt, in denen er auf eigene Hand den 
Sokrates zu entlasten sucht. Die Sokratesfrage hat nämlich nicht mit dem 
Tode des Sokrates ihr Ende gefunden. Die Erörterung, ob die Verurteilung 
gerecht war oder nicht, ging weiter, und noch im Jahre 393 hatte der 
Sophist Polykrates eine Anklage des Sokrates geschrieben, in welcher die 
Athener in ihrem Beschlufs gerechtfertigt wurden. Das gab dem braven 
Xenophon Veranlassung, jetzt, wo er in Skillus von den Kriegsstürmen und 
Wanderungen ausruhte, zu der Frage das Wort zu ergreifen; hatte er doch 
selbst zu den Schülern des Sokrates gehört, ihm auch in seiner Hinneigung 
zu Sparta nahe gestanden. Nun opfere ich diesen beiden ersten Kapiteln, 
welche doch eigentlich keine philosophischen Erörterungen in der Sokratischen 
Frageform enthalten, die ganze Zeit von Michaelis bis Weihnachten, ja, es ist 
mir einmal, wo die Generation im Griechischen im Sommer nicht weit genug 
gefördert war, passiert, dafs ich noch den halben Januar hinzunehmen mufste. 
Ist das berechtigt? Verdienen die beiden Kapitel einen so langen Zeit- 
raum? Diese Frage ist wichtig. Denn für die Schule ist das Beste gerade 
gut genug, oder, sagen wir lieber, das Geeignetste. Nun ist aber nach meiner 
Überzeugung die Frage zu bejahen. Xenophons Memorabilien sind in der Ein- 
leitung wie in der Durchführung litterarisch kein Meisterwerk, die gut gemeinte 
Arbeit eines mittelmäfsig beanlagten Menschen, sie sind aber für die Sekunda 
von grofsem Wert. Es würde mir immer das Herz" bluten bei dem Gedanken, 
es könnte eine Generation nach Prima kommen, die nicht diesen Elementar- 
unterricht in der Philosophie genossen und sich nicht an allen diesen damals 
wie heute modernen Fragen gebildet hätte. Das ist es nämlich gerade, weswegen 
ich diese Schullektüre besonders liebe, weil sich hierbei die Fragen des Frickschen 
didaktischen Katechismus so gut beantworten lassen, z. B. sogleich die erste: 

Welches innere Verhältnis hat der Schüler nach seiner Individualität und 
Bildungsstufe von vorneherein zu dem Unterrichtsobjekt, und wie kann ich 
ein solches Verhältnis befestigen? 

Dann die vierte: Wie kann ich durch anschauliche und wiederholte Dar- 
bietung des Stoffes bewirken, dafs die geordneten und gesichteten Wahr- 
nehmungen des Schülers sich zu inhaltsreichen Anschauungen verbinden und 
befestigen, und dafs als Niederschlag und Frucht der gewonnenen Anschauungen 
klare und inhaltsreiche Vorstellungen zurückbleiben? 



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E. Rosenberg: Xenophons Memorabilien cap. I und II in ihren Beziehungen zur Gegenwart 95 

Und endlich: Wie kann ich auf das gesamte Erkenntnisvermögen und 
dadurch indirekt auch auf das Willensvermögen des Schülers einwirken durch 
Weckung und Pflege: des empirisch-ästhetischen, des spekulativen, des ethischen, 
endlich des sympathetischen, des sozialen und religiösen Interesses? 

Kurz, die in den beiden ersten Kapiteln behandelten Fragen sind teils so 
wichtig, teils so einfach, teils den Schülern so naheliegend, dafs es von Seiten 
des Lehrers wahrlich keiner Kunst bedarf, um das Interesse wachzuhalten und 
dauernden Gewinn für Gemüt und Verstand der Schüler für alle Zeit zu er- 
zielen. Von dem zweiten Kapitel gilt das Gesagte noch mehr als von dem 
ersten. 

C. I 

Das erste Kapitel ist bestimmt, die Anklage zu widerlegen, dafs Sokrates 
nicht an die Staatsgötter glaube, sondern neue Gottheiten einzuführen suche. 
Das will der gute Feldhauptmann nicht zugeben. Wir werden es aber doch 
wohl müssen. Freilich Xenophon meint, sein Meister opfere nicht nur zu Hause, 
sondern auch auf den gemeinsamen Altären der Stadt. Ein Philosoph wie Sokrates 
konnte das, denn in der Unterordnung des Menschen unter Gott, in der Be- 
schäftigung mit göttlichen Dingen, der Einkehr der Seele in sich lagen für 
ihn so viele Wahrheiten, dafs er ihnen auch den volkstümlichen Ausdruck 
geben konnte und durfte, wenn er freilich auch mit einem ganz andern Gottes- 
begriff vor dem Altar stand, als der gewöhnliche Grieche. Am Schlüsse des 
Kapitels aber wird Xenophons geringer Scharfsinn selbst von dem ungeübten 
philosophischen Sinn des Schülers deutlich erkannt. Hat er denn nicht, so 
ruft er ungefähr aus, als iiuördryg der Stadt lieber den Zorn des Volkes auf 
sich laden und selbst sein Leben preisgeben wollen, als dafs er sich an dem 
Eide vergangen hätte, den er den Staatsgöttern geleistet hatte? Hatte Sokrates 
mit dem feinen dacfiövcov einen Eid geleistet — wem auch immer — dann 
mufste er ihn in dem gemeinten Sinne halten. Eine reservatio mentalis, ein 
Klügeln und Sophistereitreiben war dem, welcher die Sophistik vernichten, d. h. 
überwinden wollte, nicht zuzutrauen. Ein Beweis also war das nicht. Eher 
hätte Xenophon sagen müssen: hätte Sokrates nicht an die Staatsgötter ge- 
glaubt, dann hätte er den Eid nicht geleistet. Wenn er nun gar hinzufügt, 
dafs Sokrates auch nie eine Gotteslästerung gesagt habe, so ist Xenophon ent- 
weder zu wenig scharfsinnig, wenn er dies als Gegenbeweis gegen die Staats- 
anklage vorbringen zu können meint, oder er hat als geschickter Sophist uns 
unter den Händen das Richtige weggenommen und etwas ihm Passenderes 
dafür eingeschoben. Denn er beweist ja, dafs Sokrates kein Atheist war, aber 
das hatte ja keiner behauptet. Was war nun Xenophon? Ein Irrender oder 
ein Täuschender? 

Aber ich habe ja das Hauptargument übergangen dafür, dafs Sokrates an 
die Staatsgötter geglaubt haben soll: er war ein eifriger Anhänger der Mantik, 
glaubte also an die Vorhersagung der Zukunft durch die Götter, mufs also 
einen festen Glauben an diese gehabt haben. Auch dieser Beweis ist kein Be- 



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96 E. Rosenberg. Xenophons Memorabilien cap. I und II in ihren Beziehungen zur Gegenwart 

weis. Was hat es aber auf sich mit der Mantik? Wir erfahren von Zeichen- 
vägeln olcovoC, (pr^Lcti Stimmen, evußolcc Begegnungen. Da ist die geeignete 
Stelle, vom arischen Wahrsagewesen zu sprechen, von all dem germanischen 
Heidentum, dafs sich durch die Tausende von Jahren erhalten hat, von den 
Auguren u. a. Da kommt dann die schwere Frage vom Sa^vvov zur Ent- 
scheidung, die gewifs dazu beigetragen haben kann, den Sokrates in den Ver- 
dacht zu bringen, als versuche er neue Gottheiten einzuführen. Was das dat,- 
(löviov eigentlich sei, hat Xenophon sicherlich nicht klar erkannt, sonst hätte 
er nicht so unklar darüber geschrieben, dafs wir die verschiedensten Meinungen 
darüber bis in die allerneueste Zeit finden. Selbst Plato scheint nicht mit der 
sonstigen Klarheit diese Besonderheit des Sokrates erkannt, wenigstens be- 
schrieben zu haben. Ich will nur das neueste Resultat anführen. Danach iet 
es nicht etwas Dämonisches, sondern nichts anderes, als sein eigenes sittliches 
Bewufstsein, sein eigenes, nur durch die Gottheit vermitteltes Wissen, d. h. sein 
Gewissen oder die warnende Stimme seines unverfälschten sittlichen Gefühls, 
eine den Sokrates stets begleitende, wie von den Göttern kommende Mahnung, 
nichts zu thun, was seinem besseren und höheren Ich nicht entsprechen würde, 
etwa das, was Goethe sagt: 

Ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brust, 
Ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, 
Was zu ergreifen ist und was zu fliehn. 

Will man dabei an eine Einwirkung von aufsen denken, an eine wirkliche 
göttliche Stimme, so nimmt man ihm die sittliche Selbstbestimmung und ent- 
zieht so seiner Lehre den eigentlichen Pfeiler, auf dem sie ruht. Nimmt man 
aber das Daimonion als einen in Sokrates unbewufst wirkenden Trieb oder 
Takt, so macht man den verstandesklarsten Menschen, den es je gegeben hat, 
der alles Thun und Handeln auf ein bestimmtes Wissen und alles Wissen auf 
bestimmte Begriffe zurückführte, zu einem Träumer oder Ekstatiker. Phantastisch 
und mystisch war nichts an Sokrates. Wenn ihn aber Xenophon in Bezug 
auf diese Stimme nicht begriffen hat, so wollen wir ihm dies nicht allzusehr 
anrechnen. Sokrates hat diese Frage seinen Freunden gegenüber nie beant- 
wortet. Wer von seiner Zeit in seinem innersten Wesen nicht begriffen wird, 
kann die Motive, aus denen er handelt, nicht immer bei dem eigentlichen 
Namen nennen. Grofse Männer behalten immer etwas Rätselhaftes. — Von 
dieser Frage will ich offen gestehen, dafs ich sie in Obersekunda immer nur 
gestreift habe. Für die Köpfe dieser Klasse ist sie zu schwer, und es bleibt 
dessen, was ihr Interesse findet und leicht begriffen wird, übergenug. So kann 
Xenophon das Kapitel von der Mantik nicht beendigen, ohne des Sokrates 
richtige Beurteilung der Frage: Wann allein ist sie zulässig? anzuführen. Man 
darf das Orakel nicht mit jeder Frage behelligen; alle, welche von der mensch- 
lichen Vernunft, wenn man sie recht benutzt, selbst gefunden werden können, 
sind von dieser auch zu beantworten. Nur in das geheimnisvolle Dunkel des 
Erfolges aller, auch der besten menschlichen Thätigkeit dürfe die Gottheit 



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E. Rosenberg: Xenophons Memorabilien cap. I und II in ihren Beziehungen zur Gegenwart 97 

hineinleuchten. Dem, der sein Ackerland gut besäe, sei es nicht offenbar, wer 
die Früchte ernten, dem, der sich ein Haus in edlem Baustil erbaue, nicht, wer 
darin wohnen werde, dem Feldherrn nicht möglich zu wissen, ob seine Thätig- 
keit der Erfolg krönen werde, noch dem Politiker, ob spätere Geschlechter ihn 
segnen würden; auch dem, der sich eine Schöne geheiratet habe, ihrer sich zu 
erfreuen, nicht, ob er nicht ihretwegen sich ärgern werde, endlich dem nicht, 
der sich in der Stadt einflufsreiche Schwäger erkoren habe, ob er nicht gerade 
dieser wegen einst wprde verbannt werden. Welch schöner religiöser Sinn 
liegt nicht in dem allen! 'Doch der Segen kommt von oben!' Welche Be- 
scheidung der Gottheit gegenüber! Da ist keine vßQig, eher *Demut\ Wie 
ist aber dieser tiefe Gedanke spafshaft und breit von Xenophon ausgedrückt! 

Ich schliefse diesen Abschnitt mit einem der letzten Gründe, welche 
Xenophon gegen die Anklage des Sokrates, als glaube er nicht an die Staats- 
götter, vorbringt. Sokrates sei auch gar nicht erst in Versuchung gekommen, 
sich unfromm oder unheilig zu äufsern, weil er sich mit Naturphilosophie 
nicht beschäftigt habe. Er habe solche Grübler über die Entstehung des 
xöepog, über die Naturgesetze der am Himmel stattfindenden Veränderungen 
für Narren erklärt. Erst habe man bei sich, bei dem Menschen Einkehr zu 
halten, erst, wenn man den Menschen kenne, könne man aufser sich blicken. 
Kenne man denn das Wesen des Menschen? Und dann? Es sei ja für 
Menschen ganz unmöglich, Fragen der Naturphilosophie zu lösen. Seht doch 
einmal die Resultate an, zu denen diese Philosophen kommen. Entgegengesetzt 
sind sie wie die Erscheinungsformen des Wahnsinnes. Den einen scheint trö 8t/, 
die Welt, eine untrennbare Einheit, den andern eine Zusammensetzung aus un- 
zähligen Dingen. Die einen glauben an eine ewige Bewegung, die andern an 
fortwährend unveränderliche Ruhe. Die lassen das All entstanden sein und 
vergehen, das Gegenteil sagen ihre Gegner. Ja, und wenn noch solche Unter- 
suchungen etwas nützten, durch sie etwas erreicht würde. Lernst du die 
Schusterei, kannst du dir und anderen Schuhe machen. Aber können sie je, 
wann sie auch wollen, Winde, Wasser, Jahreszeiten, oder wessen sie sonst be- 
dürfen, machen? Hoffen sie das auch nur? Nein, die Erforschung der Natur- 
gesetze ist ihnen genug. Und was ist dies? 

Xenophon hat die Glocken läuten hören. Sokrates war es in der That, 
der primus philosophiam de caelo devocauit. Der Mensch war in der That das 
Objekt seiner Studien. Aber weiter ist auch nichts an der Deduktion des 
guten Xenophon wahr; das andere gehört ihm an, ist ein Ragout aus wirklich 
Gehörtem, halb Verstandenem und einseitig Ergänztem. Hätte Sokrates gar 
nicht Naturphilosophie getrieben, gar nicht das Haupt grübelnd zum Himmel 
erhoben, gar nicht auf den Schultern seiner grofsen Vorgänger gestanden: wie 
hätte er dann jenen unbeschreiblichen Einflufs auf alle spätere Philosophie ge- 
winnen können, jenes göttliche Ansehen, das ihn bei allen folgenden Philo- 
sophenschulen geradezu verklärte? Nein, wir wissen aus Plato, dafs auch solche 
Fragen von ihm behandelt wurden, wenn auch mit der Beschränkung eines 
Meisters, der seine Kraft für Gröfseres spart. Also die Nichtbeschäftigung mit 

N«ue Jahrbücher. 1*99. II 7 



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98 E. Rosenberg: Xenophons Memorabilien cap. I und II in ihren Beziehungen zur (legenwart 

der Naturphilosophie hätte ihn nicht vor feindlichen Zusammenstöfsen mit der 
Gotteslehre bewahrt. Schon die Erwähnung der verschiedenen damals wie 
noch jetzt vorhandenen Systeme zeigt, dafs er sie kannte und begriff. Hier 
läfst sich einsetzen und den Schülern nach dem kurzen Kompendium von 
Weifsenfeis ein Überblick über die vorsokratische Philosophie geben. Da 
kommen so viele noch heute die Aufmerksamkeit fesselnde Fragen zur Er- 
wähnung: Giebt es einen Urstoff? Die Elemente, Sonnen- und Mondfinster- 
nisse, das Werden, die Atome, Moleküle, Gnomon u. s. w. Nun soll Sokrates 
ferner gesagt haben, die Philosophie über die Kräfte schaffe keinen Nutzen, 
und die Fortschritte unserer Zeit sind eine Illustration zu dem Satz, dafs das 
Leben der Menschen sich erleichtere und verschöne, je mehr es ihm gelinge, 
in das Innere der Natur zu dringen und jene aviyxai zu finden, durch welche 
sich alles ereigne. Dafs wir Winde machen könnten, dafs wir Wasser sogar 
aus Luft gewinnen, ist den Schülern bekannt, und dafs die Forschung, auch 
wenn sie zu einem praktischen Erfolge nicht führt, darum doch an und rar 
sich wertvoll ist, schon weil sie den Geist mit göttlichen Dingen beschäftigt 
und mit Andacht erfüllt, ist ihnen bekannt zu geben. Das ist ja überhaupt 
ein Haupt- und Kernpunkt, der für die Erklärung des Xenophon immer und 
immer wieder betont werden mufs: dieses Utilitätsprinzip, diese ewige Frage: 
*ist etwas nützlich?' ist die Xenophontische platte, wenn auch naheliegende 
und durchaus nicht immer abzuweisende Auffassung des Sokratischen: 'Ist es 
menschenwürdig?' Diese Frage, die uns so oft entgegentönt und ärgert: 
c Wozu hat er das nötig? Was nützt es ihm?' ist Sokratisch und insofern 
hat Xenophon recht, und ist es auch nicht; sie ist eine plebeisch aussehende 
Verwandte des idealen Sokratischen, von Plato zu drastisch hervorgehobenen: 
Ist es deinem Wesen, deinem Begriffe entsprechend? Die Jünger des Herrn 
fragten noch nach seiner Auferstehung nach dem Reiche, das der Herr aufrichten 
werde, die Schüler des Sokrates, von der Art des Xenophon, hatten nur ver- 
standen, dafs alle Schönheit und alle Idealität sich auf dem Nutzen aufbaue. 
Es gilt hier noch ein soziales Interesse anzuregen: Sokrates hatte die 
Gegensätzlichkeit in den Resultaten der Philosophen mit den Erscheinungs- 
formen des Wahnsinnes verglichen und diese dabei angegeben. Drei Gruppen 
der Wahnsinnigen zu je zwei Gegensätzen: die Tobsüchtigen und am Ver- 
folgungswahnsinn Leidenden — die Schamlosen und Blöden — die Religions- 
losen und Fetischdiener. Giebt es noch heute diese Formen des Wahnsinnes? 
Fehlt eine Klasse? Gelten alle diese Erscheinungsformen bei uns für Wahn- 
sinn? Die Manie! Hatten die Alten Irrenhäuser? Die Humanität des Alter- 
tums. Das giebt eine Menge von Gesichtspunkten, deren Besprechung den 
Gesichtskreis erweitert und den Blick für die Gegenwart schärft. So ist im 
ersten Kapitel ein vielseitiges Interesse erregt und befriedigt: Das empirische: 
Abweichungen von der religiösen Ansicht der Menge erzeugen Mifsverständnisse 
und Verfolgung. Luthers Lehre von der Freiheit des Christenmenschen — die 
Bauernkriege. — Das spekulative: Genesis der Verurteilung des Sokrates. — 
Das ethische: Sokrates will alles auf Wissen und Klarheit zurückfuhren und 



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E. Roeenberg: Xenophons Memorabilien cap. I und II in ihren Beziehungen zur Gegenwart 99 

hört in sich eine Stimme des Gefühls. — Das sympathetische: Xenophon er- 
scheint uns als ein etwas banausischer, aber durch seine Wahrheitsliebe und 
beredte Dankbarkeit uns nähertretender Schriftsteller. Von dem sozialen und 
religiösen Interesse habe ich schon gesprochen. 

C. II 
Das zweite Kapitel handelt von Pädagogik. Man könnte es überschreiben: 
Lehrer und Schüler. Fragen werden behandelt, die ein geradezu aktuelles 
Interesse haben für junge Leute, die 10 Jahre lang Lehrer gehabt haben und 
Schüler gewesen sind. Sie wirken klärend, verständigend für das Verhältnis 
des Lehrers zum Schüler, sie können ein inneres gegenseitiges Verstehen an- 
bahnen. Es dreht sich um die Anklage: UoxQoir^g tovg viovg diiyftsiQSv. 
Sokrates suchte die jungen Leute zu — ja, wie soll ich nun übersetzen? nicht 
'verderben', noch weniger Verführen', sondern 'verwirren', er hat das pro und 
contra zu oft herausgesucht, er hat sie gelehrt, dafs tout comprendre heifse 
tout pardonner. Er hat die sittlichen Grundlagen erschüttert, ihnen manche 
Stütze als haltlos nachgewiesen und sie von den herkömmlichen Ansichten zu 
solchen geführt, die bei der Mitwelt sittliche Bedenken erregten. Wie konnte 
Sokrates das? urteilt Xenophon, da er in Liebes- und Leibesgenüssen eine selten 
wieder erreichte Mäfsigkeit zeigte, in allen Unannehmlichkeiten eine heroische 
Standhaftigkeit bewies und sich zu jener Selbstbescheidung erzogen hatte, die 
ihn materielle Sorgen vergessen liefs. Das ist verständig von Xenophon. Das 
Vorbild des Lehrers in Pünktlichkeit, Sorgsamkeit, Überwindung körperlichen 
Unbehagens, Zufriedenheit ist von einer grofsen, allerdings unbewufsten, 
geradezu mystischen Einwirkung auf die Schüler, welche noch gröfser sein 
würde, wenn die Vielzahl der Lehrer, das Zerstreuende des Lebens, Einflüsse 
anderer nicht störend wirkten. Tredigen' und ^ermahnen' sind pädagogisch 
verbrauchte Mittel, Wassersuppen, die keine Änderung hervorrufen. Durch die 
Persönlichkeit suggerierend einwirken — ist die einzige pädagogische Allkunst, 
wenn nur die Persönlichkeit des Lehrers immer die gefestigte, gestählte, 
leidenschaftunterdrückende des Sokrates wäre. Er war aber auch darin, nach 
Xenophons Ansicht, ein grofser Pädagoge, dafs er dem Körper sein gebührendes 
Recht wahrte. Nicht einmal die Speise der Schüler war ihm gleichgültig. Zu 
viel Gänge beim Mittagbrot, ein allzureichliches Abendbrot hätte er als die 
Sorge für die Seele hindernd an seiner Anstalt verboten. Wenn er aber nicht 
einmal Geld für seine Unterweisung haben wollte, geht er uns in den Gründen 
wie in der Thatsache selbst doch über Menschliches hinaus in eine Idealwelt, 
in die ihm nur wenige folgen können. Nicht einmal Paulus, dieser göttlich- 
starke, impulsive Vertreter des Christentums, hat sich immer durch seine Zelt- 
weberei ernähren können; er dankt den Philippern für ihre Gaben. Und wir, 
denen Erziehung ein Beruf ist, können darin dem Sokrates nicht folgen, ebenso- 
wenig wie die Arzte mit dem Gotteslohn zufrieden sein würden für ihre auch 
noch so gern erwiesene Hilfe. Wir brauchen aber auch nicht ihm darin zu folgen; 
denn wir können die Gründe nicht anerkennen ; die Sokrates — Xenophon dafür 

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100 E. Rosenberg: Xenophons Memorabilien cap. I und II in ihren Beziehungen zur Gegenwart 

anführt. Sklavenhändler, Leute, die sich selbst, ihre Seele, verkaufen, ihre Frei- 
heit darangeben, nennt er solche, die für pädagogische Unterweisung Geld be- 
anspruchen. Die Alten waren in Bezug auf ihre Freiheit zu ängstlich; dazu 
waren die Lebensverhältnisse zu einfach; sie kannten den Kampf ums Dasein 
nicht. Wir können es also begreifen, wenn Sokrates als den schönsten Lohn 
etwas Höheres erstrebte, als Geld, nämlich die Freundschaft seiner Schüler, die 
da gleichwertig sei einer steten Übung in der Tugend. Wenn wir dem Staate 
unsere Kraft verkaufen, so wuchern wir mit einem in uns gelegten Pfunde, so 
zerreiben wir die eigene Kraft, um ihm immer bessere, immer harmonischer 
ausgestaltete Mitglieder zuzuführen, ihn selbst zu starken und das Niveau zu 
heben; und wenn wir dieser grofsen, schönen Aufgabe nicht als bezahlte 
Knechte dienen, die nur schematisch ihre Pflicht thun, denen Schüler Nummern 
sind, die im Unterricht keine Freude, keinen Schmerz kennen, wenn wir in 
unserem Berufe aufgehen, dann glauben wir uns dennoch auch unsere Schüler 
zu Freunden zu machen, auch wenn wir uns bezahlen lassen. Das schöne Band, 
das Schulen mit ihren Schülern für das Leben verknüpft, ist ein sprechender 
Beleg hierfür. Aber die Sokratische Lehre ist doch ein pädagogischer Wink, 
ein Wegweiser zu einer idealeren Auffassung des Lehrerberufs. 

Nun treibt aber den Xenophon, der sicherlich ein vortrefflicher Pädagoge 
gewesen ist und in diesem Kapitel uns in einer viel vorteilhafteren Beleuchtung 
entgegentritt, die Begründung dieser Anklage seitens der Gegner sichtlich in 
die Enge. Es war in der That ein schwerbelastendes Moment für Sokrates, 
dafs gerade die Männer, die man wegen ihrer Mafs- und Sittenlosigkeit und 
ihrer eines Atheners unwürdigen Eigenschaften hafste, dafs Kritias und Alkibiades 
seine Schüler gewesen waren. Denken wir uns diese Beweisführung auf eine 
moderne Erziehungsanstalt angewendet und deren Wert gemessen nach solchen 
einzelnen fragwürdigen Erziehungsprodukten. Die Gründe, die man dagegen 
vorbringen könnte, hat Xenophon schon mit rührender Peinlichkeit hervor- 
gehoben, um seinen geliebten Meister zu entlasten. 

Zunächst macht Xenophon geltend, beide, Kritias wie Alkibiades, seien 
eigentlich nicht Schüler des Sokrates gewesen. Sie hätten gesehen, dafs er mit 
auf serordentlich geringen Mitteln zufrieden wie ein König lebe, dafs er mit 
einer souveränen Gewalt seine Leidenschaften beherrsche und dafs er alle, die 
sich mit ihm unterredeten, zu jedem von ihm gewollten Ziele führe. Das habe 
sie dazu geführt, seinen Unterricht für die geeignetste Vorschule zu ihrer 
staatsmännischen Thätigkeit anzusehen und ihn aufzusuchen. Seine Weisheit, 
seine Lebensführung sei ihnen kein Gegenstand ihres Strebens gewesen. Darum 
seien sie, sobald sie das Gewünschte gelernt zu haben glaubten, vom Sokrates 
abgesprungen und direkt auf ihr eigentliches Ziel losgegangen. Dieser Einwand 
ist eine Fundgrube köstlicher Gedanken. Er fährt auf die Frage, ob Vermitte- 
lung von Kenntnissen Sache der Schule sei oder Erziehung, auf das Verhältnis 
der sogenannten Presse zur Schule u. s. w. Xenophon fühlt taktvoll heraus, dafs 
diejenigen, welchen als Ziel nur die Erwerbung einiger Kunstgriffe und der 
nacktesten Kenntnisse vorschwebt, die in der Schule nur die Verzögerung ihrer 



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£. Rosenberg: Xenophons Memorabilien cap. I und II in ihren Beziehungen zur Gegenwart 101 

Laufbahn sehen, die kein persönliches Gefühl für den Lehrer gewinnen, nicht 
die rechten Schüler sind, dafs das Anfüllen mit Kenntnissen kein Erziehen sei 
und kein Pietätsverhältnis begründe. 

Die zweite Entschuldigung des Xenophon: Eritias und Alkibiades gaben 
in ihrem sittlichen Verhalten keinen Anlafs zum Tadel, so lange sie bei 
Sokrates waren, und nicht etwa, weil sie Furcht vor Scheltworten und körper- 
licher Strafe hatten, sondern weil sie dies für das Beste hielten. Freilich, sie 
seien ja nicht so geblieben. Aber auch zur Tugend gehöre Übung, wie zu 
körperlicher Gewandtheit; und durch schlechten Umgang gehe die Tugend zu 
Grunde. *Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du 
bist/ Kneipereien und Liebeshändel wären geeignet, den anfänglich guten 
Sinn völlig zu verderben. Der Sparsamste werde zum Verschwender. Die 
Seele stände auf einer Feld wacht; sie habe keinen Augenblick ihre Wachsam- 
keit den Leidenschaften gegenüber aufzugeben. Das seien Narren, die da 
meinten, ein Gerechter könne nicht ungerecht, ein sittlicher Mensch kein 
Frevler werden; man könne überhaupt verlernen, was man einmal gelernt 
habe. — Es macht den Schülern stets Freude, wenn man ihnen nachweist, 
dafs der Einwand an und für sich nicht so unsinnig ist. Wer einmal schwimmen, 
tanzen, Schlittschuhlaufen gelernt hat, verlernt es nie ganz wieder. Wer einmal 
Grammatik gelernt hat, verlernt wohl die Formen, aber nicht das grammatische 
Denken. Ja, kämen unsere Schüler so sittlich gefestigt von der Schule, wie 
es wohl wünschenswert wäre, aber nicht durchführbar ist, dann könnten jene, 
die dem Sokrates die Unsittlichkeit jener beiden Schüler zurechnen wollen, 
wohl recht haben. Aber die menschliche Natur ist schwach — und es giebt 
niemand, der nicht beten müfste: Tühre mich nicht in Versuchung.' In wie 
viel Dramen, in wie viel Romanen sehen wir nicht mit Mitleid im Herzen, wie 
die Versuchung schliefslich auch die festeste Mauer untergräbt und die Erb- 
schaft des Blutes so oft die kluge Arbeit des Kopfes vereitelt. Es giebt also 
keine absolute sittliche Reife, die nicht an Kautelen gebunden wäre, und 
die Eltern werden alle Zeit, wie die zu Sokrates' Zeit, auf den Umgang zu 
achten und jene Störenfriede der Ruhe, cpikoizoöla und Zqcoxss, fernzuhalten 
haben. Ich pflege dabei den Schülern immer das ixxvki6% , (vxeg klar zu machen; 
es ist ein so treffendes Bild, dafs sie durch alle solche Leidenschaften gewisser- 
mafsen aus der rechten Strafse, aus dem Wagen gestürzt werden, Verunglückten 
gleichen. Schon damals waren es dieselben Verhältnisse, die begabte und vom 
Schicksal äufserlich begünstigte junge Menschen vom rechten Wege abzudrängen 
suchten. Xenophon nennt diese Verführungen: Thessalien war das Paris der 
damaligen Griechen, Schönheit des Körpers sogar für vornehme Frauen ein 
Grund, Jagdnetze zu stellen, Einflufs, Name, Adel, Reichtum, Ehre erschwerende 
Momente für die fortdauernde Übung in der Tugend. Übrigens waren die 
Athener auch vernünftig genug, die Väter nicht verantwortlich zu machen, wenn 
die Söhne etwas versahen, so lange sie selbst für vernünftig und ordentlich galten. 

Noch eine pädagogische Wahrheit, zu der Xenophon durch seine Studien 
gelangt ist, will ich erwähnen: er ist der Meinung, dafs eine Jicctösvöcg nicht 



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102 E. Roeenberg : Xenophons Memorabilien cap. I und II in ihren Beziehungen zur Gegenwart 

stattgefunden habe, sondern nur eine 6vvov6icc Eine italdtvöLg könne über- 
haupt nicht von einem ft^ ccqböxcov ausgehen, d. h. von einem, der dem 
anderen nicht sympathisch sei. Die Persönlichkeit des Sokrates war beiden, 
nur von Ehrgeiz beseelten, mit ihren Gedanken nur einseitig auf den Staat 
gerichteten jungen Männern antipathisch gewesen; die Erziehung konnte daher 
tiefere Wurzeln nicht fassen. Es steckt etwas Richtiges darin; den ver- 
schiedenen Temperamenten der Schüler sind die Lehrer nicht alle und nicht 
gleichmäfsig angenehm. Die Hauslehrertheorie kann daher für manche Kinder 
geradezu verhängnisvoll werden. Der Lehrerwechsel ist, wenn er nicht zu oft 
stattfindet, ein Segen für die Schüler. Wie die Pflanzen sich oft bei einer 
Änderung der Pflege wunderbar erholen, wenn sie schon nahe dem Ersterben 
waren, so wachen auch manche Schüler bei einem anderen Lehrer aus der 
Lethargie auf. Vor allem aber mufs sich ein inneres Verhältnis herausbilden, 
wenn es vor Verkennung bewahren soll. Dort, wo der Schüler schon mit 
den Gedanken mitten im Leben steht, ist die Bildung eines solchen kaum 
noch möglich; darum predigt auch Xenophon den Eltern, dafs sie ihre Söhne 
nicht allzu oft und tief in ihre eigenen Gedankenkreise einführen sollen. 

Übrigens konnte Sokrates auch zuweilen recht scharf werden, und Xenophon 
findet das recht. Als Kritias Päderastie trieb, nannte Sokrates ihn ein c Schwein'. 
Aber dieses Schimpfwort mufs doch ein seltenes gewesen sein, sonst hätte es 
ihm Kritias nicht noch nach langer Zeit zu vergelten gesucht. Und nun folgt 
jene köstliche Geschichte: Sokrates vor seinen Schülern vor Gericht, eine 
Geschichte, welche stets eitel Freude erregt und aufserordentlich nutzbar ge- 
macht werden kann. Aus Rache hatte ihm sein früherer Schüler Kritias die 
Konzession, junge Leute zu unterrichten, entzogen. 

Nun setzt Sokrates in seiner ironischen Art den Machthabern auseinander, 
dafs sie gar keine Gesetze zu machen verständen. Ganz thörichter Weise 
nähmen sie relative Begriffe, wie *jung', und unbestimmte wie dicdsyse&cci in 
den Wortlaut auf, und an drastischen Beispielen aus dem Leben weist er nach, 
zu welchen unsinnigen Konsequenzen man dabei gelange. Aber er hat ihnen 
auch in ernster Weise seine Meinung nicht vorenthalten. Wie mufste es ihn 
schmerzen, von seinen eigenen Schülern in jene Klasse der Sophisten ein- 
gereiht zu werden, denen nicht Wahrheit das Ziel ihres Strebens war, sondern 
Schein, gerade der Sophisten, die er durch seine Methode hatte überwinden 
wollen. Darum weifs er im Beginn seines Gespräches mit den Machthabern 
ihnen die Pille zu geben, dafs sie nicht einmal wüfsten, dafs es auch eine 
Kunst der Rede gäbe, welche der Wahrheit zum Siege verhelfe. Hierbei er- 
fahren die Schüler, wie schwer es ist, Gesetze zu machen. Dieser lebhafte 
Dialog mit Hm! Hm!, mit c auf die Schulter klopfen* und mancher andern 
stummen Handlung wird in seinem Eindruck auf die Schüler fast noch über- 
troffen durch die Vorführung eines Gesprächs des ganz jungen Alkibiades mit 
seinem Vormund, dem berühmten Perikles. Alkibiades möchte gerne wissen, 
wie man 'Gesetz' definiert, denn als Sokratiker weifs er, dafs er niemals mit 
Recht ein gesetzlicher Mann' genannt werden würde, wenn sein gesetzliches 



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E. Rosenberg: Xenophons Memorabilien cap. I und II in ihren Beziehungen zur Gegenwart 103 

Handeln nicht auf Wissen beruhe; und als Sokratiker weifs er auch genau, 
wonach er fragt. Es ist also ein Versuch, den Perikles aufs Glatteis zu führen, 
und in der That strauchelt der Staatsmann und mufs sich mit süfssaurem 
Gesicht und der Verlegenheitsphrase: Ja, es gab auch für mich eine Zeit, in 
der ich in solchen dialektischen Fragen grofs war, heraushelfen. Die Schüler 
aber haben dabei die Schwierigkeit des Definierens gelernt, dafs die Definition 
nicht zu weit, nicht zu eng sei. Wie unterscheidet sich Gewalt von Gesetz? 
Mufs ich dem Feinde gehorchen, wenn er sich meines Landes bemächtigt und 
mir Gesetze vorschreibt? Wie ist es mit der Geschichte aus dem Leben Jesu 
vom Zinsgroschen? u. s. w. 

Der Inhalt des zweiten Kapitels ist noch lange nicht erschöpft; und auch 
über das Verhältnis der Kinder zu den Eltern, über körperliche und geistige 
Verwandtschaft weifs der gute Pädagoge Xenophon in der Verteidigung seines 
Lehrers noch manches Schöne und Interessante vorzubringen: man hat dabei 
Gelegenheit, an das ähnlich zunächst hart erscheinende Wort Jesu zu erinnern: 
Lasset die Toten ihre Toten begraben. — Auch gegen das Citieren aus dem 
Zusammenhang heraus, das schon viel Unglück angestiftet hat, und das edlen 
und gebildeten Menschen so häfslich ansteht, weifs er eine Lanze einzulegen. 
Welches Interesse wachgerufen wird, wenn man an der Hand der Memorabilien 
untersucht: Wer ist ein Arbeiter? Etwa auch der Würfelspieler oder der 
Dieb? läfst sich leicht denken. 

So hat sich uns unter den Händen das Bild des Xenophon verändert. Er, 
der schwache, banausische Philosoph, hat sich als ein tüchtiger Erzieher, ein 
anerkennenswerter Pädagog zu erkennen gegeben. Wächst der Schüler dabei 
aber auch genügend in die Persönlichkeit und die Bedeutung des Sokrates 
hinein? Denn Sokrates ist es doch, um dessentwillen die Memorabilien gelesen 
werden. Ist der Sokrates des Xenophon der echte, rechte? Darüber herrscht 
Streit unter Leuten, die mehr davon verstehen als ich, und ich mufs den Aus- 
gang erwarten. Aber so viel kann ich versichern, dafs sie schon aus diesen 
beiden ersten Kapiteln so viel über Sokrates lernen und ihn so weit begreifen, 
dafs er keine Philister- oder Utilitätsmoral lehre, dafs die Memorabilien keine 
stroherne Epistel seien, wenn auch kein Johannesevangelium für Sokrates, 
sondern wenigstens nur insoweit eine stroherne Epistel, wie der Jakobusbrief 
es nach Luther sein soll, aber nicht ist. Dafs das &ccv{i,d&iv des Sokrates aus 
dem Vergleich der natürlichsten, in ihrem Grunde so leicht zu erfassenden 
Verhältnisse mit anderen zunächst weniger klaren entsteht, dafs auf solche 
Verhältnisse ein aufklärendes Schlaglicht geworfen wird, und die Beispiele der 
Zimmerleute, Flötenspieler und Schuster nicht umsonst von ihm so abgegriffen 
werden, dafs der Nutzen zwar ein Motor für Handlungen sein mufs, dafs 
es aber einen höheren Gesichtspunkt für alle Handlungen giebt — den, dem 
Ideal gemäfs zu handeln, dafs man die Eltern z. B. nicht deshalb liebe, 'auf 
dafs es einem wohl gehe und man lange lebe auf Erden', sondern weil Liebe 
des Menschen gröfste und wahrste Kunst ist, — das alles, und wie er seine 
Zeit überragte und an dem Mangel an Verständnis scheiterte, das können 



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104 E. Rosenberg : Xenophons Memorabilien cap. I und II in ihren Beziehungen zur Gegenwart 

die Schüler schon an den beiden ersten Kapiteln fühlen und begreifen und zu- 
weilen auch aussprechen, und mit Lebhaftigkeit werden sie an der Erörterung 
teil nehmen, ob Sokrates' Gegner wirklich blutdürstige, schlechte Männer waren, 
oder ob auch Liebe zum Staate, Politik sie bewogen haben kann. Freilich 
giebt es auch Sophismen genug bei Xenophon — und ganz werden sie auch 
beim Sokrates wohl nicht gefehlt haben — aber der Lehrer ist ja da, diese 
aufzudecken und zu überwinden. Wenn Xenophon z. B. den Vorwurf, dafs 
Sokrates seine Schüler zu Verächtern der Staatsverfassung mache, dadurch zu 
entkräften sucht, dafs seine Schüler gewifs immer nur auf dem Wege der 
Überredung versucht haben würden, die staatlichen Zustände zu ändern, so er- 
innert das sehr an die 'unblutige Revolution', von der moderne Weltverbesserer 
träumen. Junge Männer über Fehler der Staatsverfassung aufzuklären, ist 
immer ein bedenkliches Unternehmen; und wenn Sokrates es gethan hat, ist 
es nicht zu verwundern, wenn es auch in Athen Männer gegeben hat, welche 
ihn mundtot machen wollten. 

So eng verschlungen ist mit Fragen der Gegenwart der Anfang der 
Memorabilien, und wer sie behandelt, wirkt klärend, lehrend, interessierend auf 
junge Gemüter. 



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MAKEDONIEN UND PEEUSSEN 

Ein sehulmäfsiger geschichtlicher Vergleich als Konzentrationsprobe 
Von Hermann Kose 

Wenn man von den Männern und Verhältnissen, die die Gründung des 
brandenburgisch -preufsischen Staates und die Einigung Deutschlands durch 
Preufsen unter Kaiser Wilhelm herbeigeführt haben, seine Blicke zurücklenkt 
auf die Entstehung des makedonischen Reiches, auf die Einigung Griechen- 
lands und die Unterwerfung Persiens durch Philipp und seinen grofsen Sohn, 
so fühlt man sich überrascht durch so manche der preufsisch-deutschen Geschichte 
ähnliche Züge des Bildes, welches die damalige Entwickelung uns darbietet. 
Ich weifs wohl, dafs geschichtliche Vergleiche nicht zu sehr ins einzelne aus- 
gesponnen und nicht zu falschen Schlüssen auf die Zukunft mifsbraucht werden 
dürfen, aber anderseits liegt ein Hauptinteresse der geschichtlichen Forschung 
in dem Vergleiche verschiedener Zeiten; ich bin mir ferner wohl bewufst, 
dafs manche diesen Vergleich * despektierlich* finden, aber was brauchen wir 
preufsischer zu sein, als der preufsische König, der seinen Staat zu einer 
europäischen Grofsmacht erhob. Denn kein Geringerer als Friedrich IL hat 
jenen Vergleich zuerst aufgestellt und damit für die Beurteilung der Zeit nach 
dem Sturze des attischen Reiches den richtigen Gesichtspunkt angegeben. Er 
schrieb nämlich an den Rand seines Handexemplars von Montesquieu* Con- 
siderations *ces rois de Macedoine etaient ce qu'est un roi de Prusse et un roi 
de Sardaigne de nos jours'. 

Die griechische Halbinsel ist ein wunderbar gegliedertes Land. Im Innern 
ist sie nach allen Richtungen von Gebirgen durchzogen, und von aufsen dringen 
Meerbusen tief in dieselbe ein. So entstehen viele streng von einander ge- 
trennte Landschaften, und wenn man dabei den Unterschied in der Abstammung 
und der Verfassung bei den alten Griechen berücksichtigt, so darf man sich 
nicht wundern, dafs ihnen der Partikularismus angeboren war. Dabei waren 
jene Landschaften, wenigstens nach unseren Begriffen, nur klein, ihre Gröfse 
schwankte zwischen 4 und 87 Quadratmeilen. So konnte keine von ihnen den 
Anspruch, die Führerin der andern zu sein, durch ihre Gröfse begründen. 
Selbst als Sparta durch den Besitz von Messenien 2 / 5 des Peloponnes besafs, 
gehorchte ihm nicht der ganze Peloponnes, und als es im Perserkriege ganz 
Griechenland um sich geschart hatte, war diese Unterwerfung nur eine frei- 
willige, nach dem peloponnesischen Kriege aber und erst recht nach dem 
antalkidischen Frieden nur durch Persiens Hilfe erreicht und behauptet. Im 



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106 H. Rose: Makedonien und Preufsen 

Norden von Griechenland lag der Staat, der durch seine Gröfse berechtigt war, 
Griechenland zu einen und zu leiten. Dies war Makedonien. Denn es hatte eine 
Gröfse von 1200 Quadratmeilen, und, was das Wichtigste war, es bildete einen 
einheitlichen Staat. Gewifs gab es Unterschiede zwischen den reichen, am 
Meere gelegenen Fruchtebenen Untermakedoniens und den Berglandschaften 
Obermakedoniens, aber das Ganze war ein einheitliches Reich. 

Doch waren die Makedonier wirklich Griechen? Waren es nicht vielmehr 
Barbaren? Die Verteidiger der alten hellenischen Freiheit haben oft über 
diese Frage gestritten, und ihr gröfster Wortführer Demosthenes geht so weit 
zu sagen, die Makedonier seien weder Griechen noch mit den Griechen ver- 
wandt, sondern Barbaren, die nicht einmal zu Sklaven taugten, wenn sie 
auch etwas hellenische Kultur angenommen hätten. Also nicht barbarisierte 
Hellenen, sondern hellenisierte Barbaren. Aber so hoch man Demosthenes auch 
stellen mufs, er ist zu sehr Parteimann, um ein ein wandsfreier Gewährsmann 
zu sein, und die älteren Quellen, die noch nichts von den Kämpfen zwischen 
Philipp und Athen wissen, geben eine andere Auffassung. Aeschylos und 
Herodot erklären die Makedonier für Griechen, und dafs deren Ansicht die 
richtige ist, bezeugt die Religion, die Sitte und noch mehr die Sprache der 
Makedonier. Denn diese stand den älteren Dialekten des Griechischen recht 
nahe. Ein Blick auf die Karte bestätigt dies auch. Denn die Lage des 
Landes bringt es mit sich, dafs die ältesten Völkerzüge ihren Weg durch das- 
selbe nehmen mufsten, und sicher sind Splitter derselben zurückgeblieben, aber 
anderseits mufs man zugeben, dafs an den Grenzen Vermischungen mit illyri- 
schen und thrakischen Stämmen stattgefunden haben, und wenn man endlich 
bedenkt, dafs wenigstens die Bewohner Obermakedoniens auch später in dem 
ursprünglichen Kulturzustande verharrten, da sie fast gar nicht mit den Griechen 
in Berührung kamen, so darf man sich nicht wundern, wenn die Makedonier 
später den Griechen als Barbaren oder wenigstens als Halbbarbaren erschienen. 

Ahnlich liegt die Sache in Deutschland. Das Gebiet der Alpen und des 
Mittelgebirges ist in den verschiedensten Richtungen von Gebirgen durchzogen. 
Das bunte Relief dieses Gebirgslandes findet sein Abbild in der politischen 
Zersplitterung dieses Gebietes, in welchem sich nur wenige gröfsere Territorien, 
so Böhmen und Bayern, bilden konnten. Dazu kommt noch, dafs die Bevölke- 
rung aus verschiedenen Stämmen besteht, die durch Sitte und Dialekt wohl 
geschieden sind, so Rheinländer, Hessen, Thüringer, Franken, Schwaben und 
Bayern. Dafs diese Zersplitterung günstig einwirkte au£ die Entwicklung 
dieser Landschaften, unterliegt keinem Zweifel. Daher finden sich hier auch 
schon im frühen Mittelalter zahlreiche Städte mit vielfachen Industrien, und 
auf diesem Boden spielt sich wesentlich die Geschichte des Mittelalters ab, 
aber ebenso leuchtet ein, dafs keines von diesen Staatengebilden die Führung 
Deutschlands übernehmen konnte. Dazu sind sie viel zu klein. Ganz anders 
ist aber der Norden beschaffen. Er besteht aus Tiefland, und auf so ein- 
förmigem Boden sind auch die Lebensverhältnisse und Interessen der Bewohner 
gleichartiger, und so konnten sich schon im Mittelalter hier gröfsere politische 



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H. Rose: Makedonien und Preufsen 107 

Territorien bilden. So lange das Mittelmeer das Zentrum des Weltverkehrs 
war, lagen diese Länder auf der Peripherie, aber seit den Entdeckungen änderte 
sich dies Verhältnis. Sie sind, begünstigt durch die grofsen natürlichen Wasser- 
strafsen, die dem gebirgigen Süden fast ganz fehlen, mehr in den Mittelpunkt 
des Seeverkehrs getreten, und deshalb liegt hier jetzt der Schwerpunkt von 
Deutschlands Macht. Hier konnte sich ein Staat bilden, der stark genug war, 
die nationale Sache zu vertreten. 

Doch wie steht es um die Bewohner dieser weiten Landstriche? Sind sie 
Deutsche oder nur ein Mischvolk aus Deutschen und Slaven? Im Jahre 1866 
ward diese Frage oft in leidenschaftlicher Weise erörtert, gelbst in Schüler- 
kreisen, und je nach dem politischen Standpunkte des Redenden oder seiner 
Eltern entweder die Preufsen, wie man kurz sagte, für Deutsche erklärt oder 
nicht. Diejenigen, welche für die Lösung waren, die das Jahr 66 gebracht 
hatte, erklärten die Preufsen für gute Deutsche, die Gegner unterliefsen nicht, 
darauf hinzuweisen, dafs der gröfste Teil des preufsischen Staates früher von 
Slaven bewohnt gewesen war, ja dafs noch heute viele Slaven im Gebiete des- 
selben wohnen, und nannten kurzweg alle Preufsen Wasserpolacken. Wer von 
den beiden hat nun recht? Die Geschichte bestätigt, dafs die östlich der Elbe 
gelegenen Provinzen Preufsens — denn um diese handelt es sich, da sie der 
Kern von Preufsens Macht sind — bei der Völkerwanderung, als die Germanen 
auswanderten, von Slaven besiedelt wurden. Diese blieben nicht an der Elbe 
stehen, sondern drangen auch über dieselbe vor, aber in Jahrhunderte langen 
Kämpfen sind diese von den Deutschen bekämpft und endlich besiegt. Viele 
Slaven sind in diesen gefallen, aber die Mehrzahl der Bevölkerung blieb und 
verschmolz mit den zahlreich einwandernden Deutschen, indem sie deren 
Sprache, Glauben und Recht annehmen mufste. Bis in die Gegenwart haben 
sich allerdings wendische Sprachinseln erhalten, so im Spree wald, und an den 
Rändern dieses weiten Gebietes vollzieht sich noch heutigen Tages, wenn auch 
in friedlicherer Weise, der Kampf zwischen Slaven und Deutschen, ja der 
Ethnograph wird noch an vielen Eigentümlichkeiten in Aberglauben, Sitte, 
Bauart der Dörfer, einzelnen Wörtern und in der Körperbeschaffenheit auf 
slavischen Ursprung schliefsen können, aber es würde thöricht sein, wenn man 
die Bevölkerung dieser Provinzen nicht für deutsch halten wollte. Das Ent- 
scheidende ist der Besitz der deutschen Kultur, und seit Jahrhunderten haben 
sich diese Provinzen an dem gesamten Leben des deutschen Volkes beteiligt. 
Will man sie aber trotzdem ausschlief sen, so müfste man die Bewohner 
Sachsens und Mecklenburgs, dessen Fürstengeschlecht sogar slavischen Ursprungs 
ist, und erst recht Österreichs ausschlief sen, aber das that man 1866 nicht; 
diese hielt man für gute Deutsche. 

Ganz im Gegensatze zu der Bevölkerung galt das Fürstengeschlecht, 
welches in Makedonien regierte, unbestritten für gut griechisch. Der Über- 
lieferung nach war es aus Argos eingewandert und leitete seinen Ursprung von 
dem hellenischen Nationalheros Herakles ab. Darum wurden sie auch zu den 
olympischen Spielen zugelassen und beschickten diese öfter, um ihre Zugehörig- 



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108 H- Rose: Makedonien und Preufsen 

keit zu den Griechen zu beweisen, ja als sie den Persern sich anschliefsen 
mufsten, gehörten ihre Sympathien den Griechen, wie das Auftreten Alexanders 
am Vorabend der Schlacht bei Platää beweist, aber den freien Bauern und 
dem trotzigen Adel gegenüber war das Königtum lange Zeit machtlos und 
ohne Bedeutung nach aufsen hin. Doch mit einem Schlage sollte sich dies 
ändern, als 359 Philipp den Thron bestieg. Man hat bisweilen von ihm nur 
zu berichten gewufst, er sei der Vater des grofsen Alexander gewesen, höchstens 
erscheint sein Gold als das einzige Mittel, mit dem er Erfolge erzielte, und 
alles Lob und allen Ruhm hat man auf den Sohn gehäuft. In der That, es 
giebt für die Sage und für die Dichtung keine anziehendere Persönlichkeit als 
diesen Mann, der in jungen Jahren einer der gröfsten Eroberer der Welt- 
geschichte ward und nach wahrhaft wunderbaren Erfolgen, gerade als er sich 
bemühte, als Regent noch Grösseres zu leisten, durch einen jähen Tod in ein 
frühes Grab sank. Es ist der reine Märchenprinz, aber die Geschichte wird 
urteilen, dafs auch der Vater ein grofser Mann war, ja dafs ihm die schwerere 
und undankbarere Aufgabe zufiel. Er zerbrach die alten Formen der helleni- 
schen Welt; der Heldengestalt seines Sohnes war es beschieden, eine neue Zeit 
zu begründen, den Hellenismus zu einer neuen den Osten beherrschenden 
Macht zu erheben. Sicherlich siegte Philipp oft durch schlechte Mittel, aber 
viel ist auch von Demosthenes übertrieben, und die Griechen waren ebenso 
schlecht wie er. Dabei mufste er erst die Grundlage schaffen, auf der sich 
weiterbauen liefs, und man weifs nicht, ob er gröfser ist als Organisator, 
Feldherr oder Diplomat. Auf allen Gebieten leistet er Bedeutendes, und 
das, was den Sohn so berühmt macht, die Eroberung des Perserreiches, war 
vom Vater schon von langer Hand vorbereitet, ja Philipp schickte sich 
selbst schon an, den Zug zu unternehmen, da traf ihn der Dolch des Mörders. 
So wie sein Sohn würde er sicher nicht die Eroberung vollzogen haben, dies 
Vorwärtsstürmen in die unermefsliche Ferne konnte nur ein jugendlicher Held, 
aber erobert hätte er das Perserreich auch. 

Mit wunderbarer Klarheit weifs dieser Mann sein Ziel ins Auge zu fassen, 
und mit rücksichtsloser Energie erreicht er es. An der Küste von Makedonien 
lagen reiche griechische Kolonien. So lange diese selbständig waren, war 
Philipp nicht Herr in seinem Lande. Er mufste sie unterwerfen, und die Un- 
einigkeit der Städte erleichterte ihm den Sieg, aber wenn er sie behaupten 
wollte, mufste er Griechenland selbst besiegen. Doch auch diese Erwerbung 
wieder hatte nur Bestand, wenn er Persien bezwang. Denn die Griechen hatten 
an den Persern einen Rückhalt, und um jenen diesen zu nehmen, mufste er 
die Perser wenigstens aus Kleinasien drängen. Das ist der Gang seiner Politik, 
und mit genialem Blick erkannte er gleich bei seinem Regierungsantritte den 
Punkt, wo er einzusetzep hatte. Es war das Heerwesen. Die Griechen kannten 
nur Söldner oder das Bürgeraufgebot, und wenn die Bürger in den damaligen 
Gymnasien auch gut geschult waren, ein stehendes Heer waren sie nicht. 
Philipp schuf sich ein solches aus dem Adel und den freien Bauern seines 
Landes. Die Adligen fesselte er an seine Person, indem er sie in der Jugend 



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H. Rose: Makedonien und PreufBen 109 

in sein Pagenkorps nahm; aus ihm nahm er seine Offiziere und diese nannte 
er seine Hetären d. h. seine Kameraden. Für das gemeine Fufsvolk aber gab 
das Bauernvolk seines Landes, das sich die alte Frische bewahrt hatte, ein 
vorzügliches Material. Aber Philipp that noch mehr. Unter Benutzung der 
von den Griechen ausgebildeten Kriegskunst schuf er auch eine neue Taktik, 
es ist die Phalangen taktik, deren zermalmendem Stofse kein Söldner- oder 
Bürgerheer gewachsen war. Diesem Kriegskörper flöfste Philipp durch sein 
Beispiel Leben und Thatkraft ein. Denn er war immer voran, sein Beispiel 
rifs alle fort. Es ein war Heer ohnegleichen, im Winter und Sommer gleich mobil 
und von vorzüglicher Disziplin. So bekam das ganze makedonische Volk das 
Selbstgefühl kriegerischer Kraft und eine feste Ordnung, deren Spitze der 
König selbst war. 

So gerüstet und im Besitze der zum Kriege nötigen Geldmittel konnte Philipp 
daran denken, seine Pläne auszuführen. Zwanzig Jahre dauerte dieser Kampf, 
in dem Philipp ebenso sehr Gelegenheit hatte, sein Talent als Diplomat wie als 
Feldherr zu zeigen und seine Heeresorganisation zu erproben. Vielleicht hatte 
er auf einen kürzeren Kampf gerechnet, aber er dauerte so lange, weil er einen 
Gegner wie Demosthenes hatte, aber der Ausgang war, wie zu erwarten war, 
für ihn günstig. In der Schlacht bei Chäronea fielen die entscheidenden Würfel. 
Philipp siegte, aber in dem Siege zeigte er seinen staatsmännischen Blick. Er 
dachte nicht daran, die Griechen zu seinen Unterthanen zu machen. Makedonier 
und Griechen wären nie verschmolzen, weil ihr politisches Leben auf durchaus 
verschiedener Grundlage beruhte; er war zufrieden, die freie Hilfe der Griechen 
zu haben, und diese sicherte er sich dadurch, dafs er in den einzelnen Städten seine 
Partei ans Ruder brachte. So nahm er den Griechen zwar ihre bisherige 
Autonomie, aber wenn man bedenkt, dafs dies nichts weiter war, als das Recht 
sich selbst zu zerfleischen, dann mufs man sagen, es war ein Segen für das 
ganze Land. Und es gab auch damals Leute, welche diese Ansicht hatten. 
Es ist Übertreibung oder Selbsttäuschung, wenn Demosthenes bei allen seinen 
Feinden nur philippisches Gold und vaterlandslose Bösartigkeit sehen wollte. 
Diese Männer, ein Hauptvertreter derselben ist Isokrates, wollten alle Griechen 
einen zum Rachezuge gegen Persien. Denn noch lebte die Erinnerung an das, 
was die Vorfahren unter Xerxes erlitten hatten, noch fehlte das, was nach 
antiker Anschauung für den Menschen notwendiger ist, als die Freiheit, es 
fehlte die Rache, und diese Idee benutzte Philipp in kluger Weise. Auf der 
Synode zu Korinth ward er zum Oberfeldherrn in dem Zuge gegen Persien 
ernannt. So hatte er alles zum letzten Schlage vorbereitet. Da griff eine 
höhere Macht ein. Der delphische Gott hatte ihm auf seine Frage, ob er 
Persien besiegen werde, geantwortet: *Siehe, der Stier ist geschmückt, das Ende 
da, nahe der Opfrer.' Nun war er selbst das Opfer, aber er hatte nicht ver- 
gebens gelebt, sein Sohn war der Erbe seiner Pläne. 

Auch in Deutschland galt das Fürstengeschlecht, welches in Preufsen 
regiert, stets für echt deutsch. Es stammte aus Schwaben und war 1415 in 
die Marken gekommen, um hier seine Kulturmission zu erfüllen. Zwar war 



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HO H. Rose: Makedonien und Preufsen 

die Aufnahme, die es hier zuerst fand, nicht die beste, aber gleich der erste 
Hohenzoller verstand es, anders als Philipps Ahnen, sein Fürstenrecht zu 
wahren, indem er den Widerstand des trotzigen Adels brach ; immerhin fühlten 
sich die ersten Hohenzollern nicht recht wohl in der Mark, und erst in der 
dritten Generation zeigte sich jener Herzensbund zwischen Fürst und Volk, 
der noch heute die Bewohner der östlichen Provinzen, besonders die Branden- 
burger auszeichnet, jene Königstreue, wie sie auch die Makedonier besafsen 
und dem Geschlechte Philipps bis in seine letzten unglücklichen Sprossen be- 
wahrten. Doch für die allgemeine Geschichte sind diese ersten Kurfürsten 
ohne grofse Bedeutung. Diese beginnt erst mit Johann Sigismund. Bis dahin 
sitzen sie schlecht und recht in ihrem Lande und unterscheiden sich in nichts 
von den andern grofsen Fürstengeschlechtern, den Wettinern, Weifen und 
Witteisbachern. Das ändert sich mit Johann Sigismund. Denn dieser erwarb 
als Erbe seiner Frau weite Gebiete im Osten und Westen und deutete dadurch 
gleichsam die spätere Ausdehnung des preufsischen Staates an. Dadurch mufste 
sich die Politik der Hohenzollern ändern. Denn bisher hatten sie ein Land 
regiert, welches, ziemlich abgerundet, gleiche Interessen hatte. Jetzt besafsen 
sie Gebiete, die weit voneinander lagen, ja zu verschiedenen Reichen gehörten, 
die endlich nach Konfession und Lebensinteressen ganz verschieden waren. 

Zuerst kam es also darauf an, an die Stelle der Personalunion die Real- 
union zu setzen, und je mehr der Staat dadurch erstarkte, konnte und mufste 
er sich um seiner verschiedenen Teile willen an der europäischen Politik be- 
teiligen. Bei den dadurch bedingten Kämpfen gegen Frankreich, Schweden 
und Polen stellte es sich heraus, dafs zwischen dem Staate der Hohenzollern 
einerseits und Deutschland anderseits eine völlige Interessengemeinschaft be- 
stand, aber je mehr sie dadurch unter den deutschen Fürstengeschlechtern in 
den Vordergrund traten, um so mehr erregten sie die Eifersucht Österreichs, 
und diese Spannung mufste noch zunehmen, weil Osterreich streng katholische 
Politik trieb, die Hohenzollern aber in ihrem Staate zuerst Toleranz übten, 
nach aufsen hin aber die Führung des evangelischen Deutschlands übernahmen, 
als die Wettiner um der polnischen Krone willen katholisch wurden. So 
wurde der Staat der Hohenzollern der Grundstein einer neuen Ordnung, und 
um die Frage, ob und in welcher Weise sich die andern reindeutschen Länder 
diesem Staate anschliefsen, und wie Österreich sich dazu stellt, dreht sich in 
den beiden letzten Jahrhunderten die deutsche Geschichte. Es handelte sich 
dabei um die Einigung des deutschen Volkes und um seine Befreiung vom 
Einflufs fremder Mächte. Denn die Einigung hatte nur Bestand, wenn der 
Einflufs der fremden Mächte gebrochen ward, ebenso wie die Einigung Make- 
doniens und Griechenlands nur Bestand hatte, wenn der Einflufs Persiens ge- 
brochen ward. Noch lebte ja in Sage und Dichtung 6ine Erinnerung an des 
alten deutschen Reiches Herrlichkeit, noch lebte die Erinnerung an die von 
den Franzosen erlittene Schmach, noch lebte der Wunsch, wieder einen Kaiser 
zu haben, dem alle Deutschen gehorchten, noch lebte der Wunsch, die ver- 
lorenen Provinzen wiederzugewinnen, aber erst in unsern Tagen erstand der 



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H. Rose: Makedonien und Preufsen 111 

Mann, der diese Wünsche erfüllte. Das ist der Gang der Politik, aber fast 
250 Jahre dauerte es, bis wir dies Ziel erreichten, bis der Staat der Hohenzollern 
aus einem kleinen deutschen Territorium eine europäische Grofsmacht, ja nach 
Besiegung Österreichs und Frankreichs die führende Macht Deutschlands ward. 
Bei den Makedoniern dauerte es 25 Jahre, bis alles vollbracht war. Hier sagt 
Alexander zu seinen meuternden Soldaten: *Mein Vater hat euch zu dem 
gemacht, was ihr seid.' Das könnte keiner von den Hohenzollern von sich 
sagen, aber wohl könnten sie alle, wenn sie vor uns hinträten, sprechen: 'Wir 
haben euch zu dem gemacht, was ihr seid.' Dabei zeigt sich nun die eigen- 
tümliche Erscheinung, dafs der Nachfolger seinem Vorgänger meist sehr un- 
ähnlich ist. Infolgedessen vermifst man oft eine ruhige Entwickelung, diese 
geht im Gegenteil oft sprunghaft vor sich, aber sie hat den Vorzug, dafs 
nichts vergessen wird, da jeder Regent nach seiner Eigenart die Ziele sich 
setzt. Nur in einem Punkte kann man von einer Übereinstimmung aller 
sprechen, es ist die Sorge um das Heer. Allerdings sind nicht alle Hohen- 
zollern in gleicher Weise militärisch beanlagt oder in gleicher Weise für die 
Verbesserung des Heeres besorgt. Es kommen auch auf diesem Gebiete Zeiten 
des Stillstands vor, aber an diesem Punkte setzen alle Nachfolger stets wieder 
ein, und diesem Umstände verdanken wir alles, was unser Volk erreichte. 

In der That, es ist eine eigenartige Schöpfung, dieses Heer. Es ist ganz 
wie bei den Makedoniern aus der Eigenart des Landes hervorgewachsen, und 
man hat es auch, wie das makedonische im Altertum, bald bespöttelt, bald 
hat man es bewundert, bald bitter gehafst und dennoch wieder nachgeahmt, 
aber es gedeiht nirgends anders, wie auch der rechte Parlamentarismus 
nur in England gedeiht. Der Schöpfer dieses Heeres aber ist der grofse 
Kurfürst. Als er 1640 zur Regierung kam, drohten seine Besitzungen aus- 
einander zu fallen. Zuerst galt es also, diese zu behaupten, und zu dem Zwecke 
schuf er sich ein stehendes Heer, aber dadurch ist er auch der Begründer des 
brandenburgisch-preufsischen Staates geworden. Denn der Ruhm, den sich sein 
Heer in vielen Kriegen erwarb, kam allen Teilen der Monarchie zu gute und 
trug sehr dazu bei, sie zu einigen, aber dadurch bewirkte er auch, dafs sich 
schon damals die Augen vieler Patrioten auf diesen kleinen Staat mit froher 
Hoffnung richteten. Auf dieser Grundlage bauten seine Nachfolger weiter, 
und wenn es auch nur ein Titel war, den sein Sohn erwarb, so konnte doch 
einst der Tag kommen, an dem ein König in Preufsen dem Titel den Inhalt 
-verlieh und die Devise des preufsischen Adlers 'nee cedit soli* wahr machte 
und diesen durch den Äther der Sonne zuführte. Noch mehr aber that sein 
Enkel Friedrich Wilhelm I. Denn indem dieser sich in der Verwaltung und 
dem Heerwesen als ein organisatorisches Talent ersten Ranges erwies und 
diesen beiden Zweigen des Staatswesens den Stempel seines Geistes aufdrückte, 
ebnete er einem Mächtigern den Weg, um Gröfseres zu vollbringen, ganz wie 
Philipp seinem Sohne den Weg ebnete. Doch so ähnlich beide Männer sich 
in dieser Beziehung auch sind, man darf den Vergleich nicht weiter durch- 
führen, da sonst Philipp und Friedrich der Grofse zu kurz kommen. Denn 



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112 H. Rose: Makedonien und Preufsen 

das, was Alexander vollbrachte, hatte Philipp schon vorbereitet, aber das, was 
Friedrich vollbrachte, hatte sein Vater nicht geplant, geschweige denn, dafs er 
es gewagt hätte. Sehen wir aber hiervon ab, so ergiebt sich eine eigenartige 
Parallele. Die Kriegsmacht des grofsen Kurfürsten war ein stehendes Heer 
und hatte oft die Gröfse von 40000 Mann, aber es bestand aus geworbenen 
Söldnern. Sein Enkel brachte es auf 80000 Mann, und da das kleine Land 
eine solche Zahl Soldaten nicht stellen konnte, mufste er Werbeoffiziere aus- 
senden, aber dadurch, dafs er den Grundsatz aufstellte * Jeder Preufse ist für 
die Waffen geboren' und jedem Regiment seinen Ergänzungsbezirk zuwies, in 
dem es die Diensttauglichen aushob und für den Fall eines Krieges über- 
wachte, hat er, seiner Zeit weit vorauseilend, die allgemeine Wehrpflicht ein- 
geführt, allerdings nur im Prinzip, da viele Klassen der Bevölkerung dienstfrei 
waren. Die Offiziere aber nahm er meistens aus den Söhnen seines Adels, 
und während in den andern evangelischen Ländern der Adel klagte, er müsse 
sich um das Fortkommen der Söhne sorgen, und meinte, der katholische Adel 
habe es besser, da diesem die Pfründen seiner Kirche offen ständen, brauchte 
in Preufsen kein Edelmann um die Zukunft seiner Söhne zu sorgen. Der 
König that es für ihn. Er nahm sie in frühester Jugend in seine Kadetten- 
anstalt, und sie kamen gern, wenn sie auch wufsten, dafs sie es meist nicht 
hoch brachten und erst recht nicht daran denken konnten, Reichtum dabei zu 
gewinnen. Schon als Knaben trugen sie denselben blauen Rock wie der König 
und seine Prinzen. Denn jeder Hohenzoller mufste dienen, und dafs in der 
Schlacht bei Mollwitz 10 Prinzen gewesen waren, ward wohl bemerkt. Ja, 
das war noch nie dagewesen, dafs die Könige sich als Offiziere und diese als 
ihre Kameraden betrachteten, mit Ausnahme von den Makedoniens Dadurch 
ward ein Offizierkorps geschaffen, wie es noch kein Volk gehabt hatte. Aber 
der König that noch mehr. Unterstützt von Leopold von Dessau schuf er 
eine neue Taktik, die Lineartaktik, in der Verwendung der geschlossenen 
Massen der makedonischen Phalanx wohl vergleichbar. Die Infanterie ward in 
zwei Treffen aufgestellt und marschierte, die Reiterei auf den Flügeln, in 
langen Linien, im Gleichtritt, unter dem Klange riesiger Trommeln, gegen den 
Feind und überschüttete ihn, indem die vorderen Glieder niederknieten, mit 
einem furchtbaren Salvenfeuer, und dies war um so wirkungsvoller, als die 
Preufsen, nachdem der alte Dessauer den eisernen Ladestock erfunden hatte, 
4 — 5 ma l i n der Minute schössen. Zuletzt brachte ein Bajonettangriff die Ent- 
scheidung. So war die Armee beschaffen, die Friedrich Wilhelm I. schuf. 
Gewifs, sie hatte viele Fehler, aber in ihr ward der Gedanke, dafs der Mann 
sein Leben dem Vaterlande schulde, zuerst lebendig, und aus ihr entstand 
jenes Heer, mit dem Friedrich der Grofse seine Schlachten schlug, und welches 
den preufsischen Staat des vorigen Jahrhunderts so gefürchtet machte. Da- 
durch bekam das ganze Volk, wie das makedonische, das Selbstgefühl kriege- 
rischer Tüchtigkeit und den Geist fester Ordnung, deren Spitze der König war, 
anderseits bekam das Heer etwas Volkstümliches, es ward immer mehr das 
Volk in Waffen. 



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H. Rose: Makedonien und Preufsen 113 

So gerüstet und durch die ebenso sparsame wie kluge Verwaltung seines 
Vaters im Besitze der zu einem Kriege nötigen Geldmittel, konnte Friedrich 
es wagen, das Wort seines Urgrofsvaters *exoriare aliquis nostris ex ossibus 
ultor* und das Wort seines Vaters *da steht einer, der mich rächen wird' 
wahr zu machen und mit Osterreich für die vielen Kränkungen, die die Hohen- 
zollern erlitten hatten, abzurechnen. Diese Abrechnung erfolgte in den drei 
schlesischen Kriegen. Sie war noch keine endgültige, aber Friedrich erwarb 
nicht nur die Provinz Schlesien, nein, er bewies auch im Kampfe mit halb 
Europa, dafs seinen Preufsen eine besondere Kraft innewohne, und aus dem 
Staat zweiten Ranges ward eine europäische Grofsmacht. Noch Gröfseres aber 
leistete er in den letzten Jahren seiner reichgesegneten Regierung, wenn es 
auch damals ganz unbeachtet blieb. Es handelt sich dabei um die Vergröfserungs- 
pläne Kaiser Josephs U. Dieser wollte Bayern gegen Belgien eintauschen. 
Es ist klar, dafs, wenn dieser Plan ausgeführt worden wäre, der Süden Deutsch- 
lands an Osterreich gefallen wäre, und welche Entwicklung dann die deutsche 
Geschichte genommen hätte, ist gar nicht zu sagen. Dem gegenüber war es sehr 
wichtig, dafs Osterreich nicht weiter in Deutschland sich ausdehnte, und zu 
diesem Zwecke schlofs Friedrich den Fürstenbund. Zum erstenmale stand 
Preufsen an der Spitze des aufserösterreichischen Deutschlands, und der öster- 
reichische Staatskanzler Kaunitz sagte, als Joseph seine Pläne aufgab, wenn 
die Schwerter Österreichs und Preufsens nochmals aufeinander schlügen, würden 
sie nicht eher in die Scheide fahren, als bis die Entscheidung vollkommen ge- 
fallen sei. Bis dahin hatte es allerdings noch gute Weile. Es kamen viel- 
mehr noch Zeiten, in denen der Besitz des Erworbenen völlig in Zweifel gestellt 
ward. In der Schlacht bei Jena erlag die Lineartaktik mit ihren geschlossenen 
Massen und ihrem Salvenfeuer der neuen französischen Kampfesweise mit 
ihrem zerstreuten Gefecht und ihrem Schützenfeuer, wie auch die Phalanx 
später trotz und doch wieder wegen ihrer wuchtigen Geschlossenheit der 
römischen Kohortentaktik und ihrer beweglicheren Kampfesweise erlag, und in 
dem Tilsiter Frieden schien der Staat Friedrichs des Grofsen zusammenbrechen 
zu sollen, aber diese Jahre des Niedergangs sind zugleich auch die Jahre der 
Wiedergeburt, und den späteren Sieg verdanken wir der Neuordnung des Heer- 
wesens, die Scharnhorst durchführte. Als Vorsitzender der Militärreorganisations- 
kommission griff er auf die alte Idee Friedrich Wilhelms I. von der allgemeinen 
Dienstpflicht zurück und stellte den Grundsatz auf: *Alle Bewohner des Staates 
sind geborene Verteidiger desselben/ Denn er erkannte, dafs blofs die alte 
Armee gebrochen war, aber nicht die Kraft des Volks, und dafs es darauf an- 
komme, auf dem Grunde dieser elementaren Kraft mit neuen Formen den 
Staat wieder wehrhaft zu machen. Wie richtig seine Gedanken sind, beweist 
am besten die Thatsache, dafs man immer wieder auf sie zurückgreift. Nur 
die Kostenfrage setzt der völligen Durchführung der 'Scharnhorstschen Ideen' 
eine Schranke. 

So konnte Preufsen in die Befreiungskriege treten mit einem Heere, welches 
nach Zahl und Güte die gröfste Bewunderung erregte, und die Erfolge waren 

Nene Jahrbücher. 1899. H 8 



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114 H. Rose: Makedonien und Preuisen 

dem entsprechend. Allerdings erlangte es nicht alles wieder, was es 1806 be- 
sessen hatte, und die Länder, die es als Entschädigung bekam, waren ungleich- 
artig und weit getrennt, aber das alles ward dadurch aufgewogen, dafs es 
jetzt ein rein deutscher Staat blieb und die Wacht am Rhein übernehmen 
mufste. So ward das, was zur Schwächung Preufsens dienen sollte, ein Mittel 
zu seiner Stärkung. Denn es kam dadurch in die Lage, ganz mit Deutschland 
verwachsen zu müssen, ja die Kräftigung Deutschlands war eine Bedingung 
seiner eigenen Gröfse. Vorläufig war es allerdings nur ein Wechsel auf die 
Zukunft. Denn unter den damaligen Staatsmännern gab es keinen, der für 
Preufsen die führende Rolle in Deutschland beanspruchte, selbst Stein hielt an 
der Kaiserwürde Österreichs fest. Kein Patriot sah damals ein, was diesen 
Staat von Deutschland schied. So entstand der deutsche Bund traurigen An- 
gedenkens, aber die nächsten Jahrzehnte brachten Klarheit in diese Verhält- 
nisse. Das deutsche Volk sah ein, dafs es um seine Hoffnungen betrogen war, 
und immer stärker ward die Sehnsucht nach einem deutschen Reich, immer 
lauter erscholl dieser Ruf in der Presse und in Reden. Ja, das Jahr 1848 
schien die Erfüllung der Wünsche bringen zu sollen. Nach erbitterten Kämpfen 
zwischen den ^Grofsdeutschen', die für Osterreich schwärmten, und den *Klein- 
deutschen', der preufsischen Partei, siegte diese, und Friedrich Wilhelm IV. 
ward zum Kaiser gewählt, aber er lehnte die Krone ab, indem er die propheti- 
schen Worte sprach: 'Eine Kaiserkrone kann nur auf dem Schlachtfelde ge- 
wonnen werden.' Es war ein 'Scheitern im Hafen', aber es war ein Glück, 
dafs er ablehnte. Denn für Preufsen wäre die Krone damals ein Danaer- 
geschenk gewesen. Es fehlten ihm alle Bedingungen, um dieselbe behaupten 
zu können. Doch die Vorsehung hatte schon den Mann bestimmt, der die 
Wünsche der Deutschen erfüllen sollte. Es war Wilhelm I. 

In einem Alter, welches für viele Menschen die Grenze ihrer Wirksamkeit 
ist, bestieg er den Thron, und ausgestattet mit einem natürlichen Scharfblick 
für Menschen und Dinge erkannte er sofort, welche Männer er in den Rat der 
Krone berufen und wo er einsetzen müsse, um Preufsen die ihm gebührende 
Stellung zu geben. Das Heerwesen bedurfte einer gründlichen Umänderung. 
Denn während die Bevölkerung sich fast verdoppelt hatte, war die Zahl der 
Rekruten dieselbe wie 1820, und bei einer Mobilmachung mufste man sofort 
auf die Familienväter zurückgreifen. Die allgemeine Dienstpflicht war also 
beseitigt. Dem gegenüber forderte Kaiser Wilhelm — der Entwurf ist sein 
eigenstes Werk — die Vermehrung und Verjüngung des Heeres, und trotz 
des erbittertsten Widerstandes seitens des Abgeordnetenhauses führte er seine 
Pläne aus, und der Lauf der Ereignisse gab ihm recht. In dem Kriege von 
1864 wurden die Eibherzogtümer zurückgewonnen, in dem von 1866 ward mit 
Österreich endgültig abgerechnet. Dies Land schied aus Deutschland aus und 
erkannte die führende Stellung Preufsens in Deutschland an, aber alle diese 
Erfolge übertraf der Krieg von 1870. Alldeutschland nach Frankreich hinein, 
das war die Losung. Galt es doch Rache zu nehmen für die vielen Kränkungen, 
die wir von Frankreich erlitten hatten, und der Erfolg war ein Gottesgericht. 



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fl. Rose: Makedonien und Preufsen ll5 

Beispiellos sind die Siege, durch die die französische Heeresmacht nieder- 
geworfen ward. Nur Alexanders Siege lassen sich mit diesen Siegen vergleichen, 
wie auch die Schlacht bei Issos eine auffallende Ähnlichkeit in der Stellung 
der Truppen mit den Schlachten bei Metz am 16. und 18. August besitzt. So 
ward der Grund gelegt zu einem Frieden, der Deutschland nicht nur die ihm 
vor alters geraubten Provinzen wiedergab, nein, auch die langersehnte Einigung. 
Im Spiegelsaale des französischen Königsschlosses zu Versailles, der allen 
Ruhmesthaten Frankreichs gewidmet ist, ward König Wilhelm zum Kaiser er- 
klärt, und nirgends hat er seinen staatsmännischen Blick mehr bewährt als 
bei diesem glänzendsten Erfolge seines gottgesegneten Lebens. Er dachte nicht 
daran, die deutschen Fürsten zu beseitigen und alle Deutschen zu seinen Unter- 
thanen zu machen, ebensowenig wie Philipp nach der Schlacht bei Chäronea 
alle Griechen zu Makedonien! machen wollte. Denn Kaiser Wilhelm sah recht 
gut ein, dafs zwischen den einzelnen deutschen Stämmen grofse Gegensätze be- 
stehen; er liefs also den einzelnen Staaten manche und wichtige Rechte und 
war es zufrieden, ihre freie Hilfe zu haben, indem er mehr auf die Gesinnung 
als auf die Form vertraute. Das war das Ende einer fast 250jährigen Ent- 
wickelung, und so entstand das Deutsche Reich. 



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ANZEIGEN UND MITTEILUNGEN 



ZU GOETHES IPHIGENIE 
II. Delphi oder Delos? 
Der Ort, wohin Orest 'die Schwester' aus 
dem Exil zurückbringen soll, wird an zwei 
Stellen des Stückes genannt, an einer dritten 
umschrieben. Akt 2 Sc. 1 sagt Pylades: 
Bringst du die Schwester zu Apollen hin 
Und wohnen beide dann vereint zu Delphi — 
Akt 8 Sc. 3 Iphigenie : 

Apoll schickt sie von Delphi diesem Ufer 
Mit göttlichen Befehlen zu, das Bild 
Dianens wegzurauben und zu ihm 
Die Schwester hinzubringen — 
Akt 4 Sc. 4 Pylades: 

Mit dem Befreiten 
führet uns hinüber, günst'ge Winde, 
Zur Felseninsel, die der Gott bewohnt! 
Dann nach Mycen — 
Denn dafs auch mit der Felseninsel, die der 
Gott bewohnt, das Ziel, Ausgangs- und End- 
punkt der Wallfahrt Orests bezeichnet sein 
mufs, darüber kann kein Zweifel bestehen, 
und es ist schwer begreiflich, wie 0. Frick 
(Wegweiser durch die klassischen Schul- 
dramen I S. 893) hat meinen können, es sei 
hier nur 'eine natürlich sich darbietende 
Station auf der Seefahrt von Tauris nach 
Mykene' gemeint. Zur Erwähnung eines 
solchen ersten Reiseziels ist dies sicherlich 
nicht der Moment, wo nur die Vollendung 
des Unternehmens, die Erfüllung des — ver- 
meintlichen — göttlichen Auftrages in Frage 
ist. Die Notwendigkeit, die drei Stellen von 
demselben Orte, derselben apollinischen Kult- 
stätte zu verstehen, ist, sollte man denken, 
evident. Aber eben daraus ergiebt sich ein 
kleines Problem, das den Erklärern zu 
schaffen macht und eine befriedigende Lösung 
noch nicht gefunden hat. f This line', heifst 
es z. B. in dem Kommentare C. A. Buch- 
heims (Oxford, Clarendon Press Series) 1 ) zu 
dem Verse Zur Felseninsel, die der Gott 
bewohnt, f offers considerable difficulty, and 
has given rise to various interpretations. 

x ) Ich citiere nach der zweiten Ausgabe, 
von 1883; 1895 ist die vierte erschienen. 



The expression Felseninsel can only point 
to Delos — the central island of the Cyclades 
in the Grecian Archipelago — which was 
the most holy seat of the worship of Apollo ; 
but on the other hand, the image of Diana 
was, according to II, 722 — 723, to be brought 
to Delphi, and the first version had here 
actually Delphos instead of Felseninsel. It 
cannot, of course, be assumed that Goethe 
mistook Delphi for an island; besides, the 
expression hinüber shows that he thought 
here of Delos'. Buchheim läfst die Schwierig- 
keit, wie man sieht, unerledigt. Die deutschen 
Erklärer — soviel ich weifs, nur Frick aus- 
genommen — nehmen einen Flüchtigkeits- 
fehler Goethes an. So sagt St. Wätzoldt: 
f Goethe hat Delphi mit der Insel Delos ver- 
wechselt. Dieselbe Verwechselung lag vor, 
als er am 18. Oktober 1786 aus Bologna an 
Frau von Stein schrieb: 'Heute früh hatte 
ich das Glück, von Cento herüberfahrend, 
zwischen Schlaf und Wachen den Plan zur 
Iphigenie auf Delphos rein zu finden'. Schon 
in der ersten Bearbeitung steht: dafs wir 
die Schwester ihm nach Delphos bringen. 
Auch in der letzten Bearbeitung hatte 
Goethe II, 1, 163 geschrieben f zu Delphos', 
was Herder 1 ) in f zu Delphis' änderte. 

Eine Verwechselung allerdings liegt vor, 
aber nicht in dem Sinne, dafs Delphi ge- 
meint und Delos gesagt ist, vielmehr hat 
der Dichter umgekehrt die Insel gemeint, 
und sie an den beiden anderen Stellen eben- 
falls gemeint, und Delphi (Delphos) genannt. 
Einen persönlichen, zufälligen Irrtum des 
Dichters jedoch hat man darum nicht an- 
zunehmen. Auf ein älteres Beispiel derselben 
Benennung der Insel hat vor kurzem — 
worauf mich ein archäologischer Freund, 
Herr Professor F. Kopp in Münster, auf- 
merksam machte — Salomon Reinach hin- 
gewiesen. Es findet sich in dem Atlas Blaeu 
der Kaiserl. Bibliothek zu Wien, im 34. Band 
dieser geographischen Riesenkollektion, deren 

l ) Vgl. jetzt B. Litzmann in der Weimarer 
Ausgabe, Werke Bd. X S. 390. 



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117 



Kern die von dem Holländer Blaeu 1662 
herausgegebenen 11 Folianten des Atlas 
major oder Cosmographia Blaviana bilden. 
Einer Ansicht von Delos ist da beigeschrieben : 
r Het eyland Delphos' und ebenso der von 
Rheneia: 'Klein-Delphos'. Reinach bemerkt 
darüber im Bulletin de corresp. helle*nique 
Bd. 17 (1893) S. 128, die Verwechselung der 
Namen Delos und Delphi könne nicht ledig- 
lich dem Verfasser der Beischrift zugeschrieben 
werden; man finde Spuren einer populären 
Verwechselung der Insel mit Delphi schon 
in der Beschreibung von Delos von Bondel- 
monte im Liber insularum Archipelagi, 
worüber Revue arche'ologique 1883 I S. 82 zu 
vergleichen sei. — Dafs die Konfusion von 
Delphi und Delos bei den Spätlateinern eine 
sehr gewöhnliche ist, bemerkt H. Pomtow 
im Rheinischen Museum 1896 S. 368. Eine 
Insel ist 'Delphos' auch in Robert Greenes 
Novelle Pandosto (1688), der Quelle von 
Shakespeares Wintermärchen. 

Somit würde sich der Name Delphi für 
Delos bei Goethe aus einem alten Quiproquo 
der Volksgeographie herleiten lassen und 
ein neues — das letzte und jedenfalls be- 
rühmteste — Beispiel dafür sein. 

J. Imelmann. 

NACHTRÄGLICHES ZU VEIT WERLER 

Im rheinischen Museum für Philologie 
Band XXVH (1872) S. 33 ff. und Band XXVHI 
(1873)S. 161 ff. publizierteFriedrich Ritschi 
die Resultate seiner ersten Untersuchungen 
über die Lebensschicksale des Humanisten 
Veit Werler, für den er sich interessierte, 
weil dieser eine Zeit lang den Vetus Codex 
des Plautus besafs; er erhielt ihn 1612 in 
Wittenberg von dem trefflichen Martin 
Pollich aus Mellrichstadt geschenkt, 1626 
kam dann die Handschrift in Camerarius 1 
Hände. Noch 1873 revidierte Ritschi jene 
Bemerkungen für den Wiederabdruck im 
3. Bande seiner Opuscula philologica (S. 78 
— 116). Er war sich jedoch wohl bewufst, 
noch nichts Abschliefsendes geleistet, ins- 
besondere für die Leipziger Docenten- und 
Editorenthätigkeit Werlers noch nicht allen 
erreichbaren Stoff zusammengetragen zu 
haben. Mit dem vorbildlich-unverdrossenen 
Eifer, f mit dem er bis in die letzten Lebens- 
jahre hinein alles verfolgte, was einmal sein 
Interesse erweckt hatte' ') , setzte er seine 
Nachforschungen besonders in dieser Rich- 
tung fort, mit einer Umfrage bei mehr als 
sechzig Bibliotheken des In- und Auslandes 

l ) Wachsmuth in den Opera philo- 
logica V S. 41. 



beginnend. Die Ergebnisse teilte er in einem 
Vortrage mit, den er zur Feier des 227. Geburts- 
tages Leibniz' in der kgl. sächs. Gesellschaft 
der Wissenschaften am 12. Juli 1873 hielt. 
Leider unterblieb die Drucklegung desselben. 
Jedoch hat ihn aus Ritschis Nachlafs Curt 
Wachsmuth 1879 im 6. Bande der Opera 
philologica (S. 44 — 69) herausgegeben und 
ein Widmungsschreiben Werlers, die zwei 
bereits bekannten Briefe von ihm an Wilibald 
Pirkheimer, 19 Gedichte von ihm und end- 
lich drei Proben der Exegetica Werlers in 
Leipzig beigefügt. Dazu füge ich nun im 
folgenden aus Drucken der Zwickauer Rats- 
schulbibliothek noch ein Gedicht Werlers 
zu der von Ästicampian veranstalteten Aus- 
gabe der Germania des Tacitus, Leipzig, 
Melchior Lotter 1509 hinzu, ein Gedicht von 
ihm, zur Einführung in ein Carmen heroi- 
cum Hermanns von dem Busche aus einer 
in seinem Besitze gewesenen Handschrift 
herausgegeben, und drittens ein Widmungs- 
schreiben Werlers an einen Jugendfreund 
und Studiengenossen aus demselben Buche. l ) 
Vorher sei noch die Bemerkung gestattet, 
dafs die Zwickauer Ratsschulbibliothek auch 
noch ein Buch aus Werlers Büchersammlung 
besitzt«): CONRADI CELTIS | Protucij, primi 
in Germania | poete, coronati, libri Odar^ | 
quatuor, cum Epodo, & | saeculari carmine, 
dili-|geter & accurate im'praessi, & hoc 
pri|mü typo in stu|diosor^ emo|lumentü editi. | 
Titelbordüre. Vorletzte Seite: Argentorati, 
ex officina Schureriana, | ductu Leonhardi & 
Luce Alantsee | fratrum, ANN. M. D. XHI. | 
MENSE MAIO. | — Auf der Innenseite des 
Einbandrückdeckels steht ganz oben: Vi tu 8 
Verlerus Sultzueldiensis Mantuae emit Anno 
Fe. vigesimo. Damit ist ein neues will- 
kommenes Datum für Werlers italienische 
Reise (Opera philologica HI S. 108) ge- 
wonnen. ") 

Cornelij Taciti H-|lustri88imi hystorici 
de situ. mori-|buß. et populis Germanie. | 
Aureus libellus. | 



*) Orthographie und Interpunktion ist die 
der Originale, nur letztere ist in dem 3. Stücke 
sinngemäfs modernisiert. 

■) Jetzige Signatur: VI. VH. 26. 

*) Vgl. über Werler noch Matrikel der 
Universität Leipzig, herausgeg. von Erler 1 437. 
H 386. 434. Krafft, Briefe und Dokumente 
aus der Reformationszeit (1876) S. 137. 143. 
Krause, Helius Eobanus Hessus (1879) 
I 117. 264 f. Böcking, Opera Hutteni H419. 
Allgemeine deutsche Biographie 42, 14. — 
Zur Schreibweise Berler vgl. Weinhold 
Bairische Grammatik (1867) § 124. Paul, 
Mittelhochdeutsche Grammatik 4 (1894) § 115. 



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26 ff. 4. 26 b weifs. 26* unten: | Impressum 
est hoc Cor. Taciti aureü opueculü | Lips in 
edibus Melchior Lottere. Anno|domini. M. D. 
Nono. Vltimo | die Decembris. | 
fol. 4 b — B»: 

Viti Vuerleri Sutzueldij (!) Ode Dicolos 
Tetrastrophos ad Germanos Iuuenes. 
Letus sanguineas, cum violis, rosas 
Qui vult: lacteolis: pollice carpere 
Campos, gramineo flore, perambulat 
Molli flaute Fauonio. 
Largo: si labor est: membra liquamine 
Perfundi: et varijs, pascere, odoribus 
Nares: Assyrios, hie petit, hortulos 
Et suaues Arabum sinus. 
Beryllus viridis: quem iuuat: ac suis 
Inflammans animum: Gemma: nitoribus 
Ille exercet aquas monstra per omnia 
Rostratis: vaga: nauibus. 
Quem vini retinent dulcia pocula 
Rorantes Cyathi: et Bacchica munera 
Optat Gnosiacam neetare nobilem 
Terram: et compos erit sui. 
At vo8: o Iuuenes: quis grauis artium 
Virtutisque amor est (Sunt alia omnia 
Baccarum precium: sie decus vnguinis 
Famam tendere nescia) 
Huc huc preeipiti ferte gradum pede 

Se quo euneta cohors Delphica transtulit 
Musarumque chorus: pulchra: recentibus 
Comptus: tempora: frondibus. 
Nam Vates veterum laudibus emulus 
Aestivo celebri nomine cognitus 
Scriptorum lepidis: sensa: laboribus 
Abstrusa: explicat eruens. 
Librum iam Taciti quam celeberrimi 
Romanique equitisque historiographi 
Illustris, soboli: Principis: optime 
Scriptum: publicitus leget. 
Hunc ergo: Iuuenes: sensibus intimis 
Audite: hunc manibus, voluite, seduli 
Si mores patrie: noscere: sobrios 
Vrbes si populos iuuat. 
Vel rura et placido murmure flumina 
Valles: ac nemorum lustra patentia 
Vel vastis solitas: pascua: saltibus 
Vaccas: florea: querere. 
Aut vultis Galeas, arte micantibus 
Cum conis: Clypeos: tela cruoribus 
Infecta: et vaHdo, corpora, brachio 
In rebus magis arduis. 
Reges cum Ducibus puluere sordidis 
Assuetos pluuijs atque laboribus 
Nee tantum pelagus rumpere cerulum 
Sed terras, quibus ardor est. 
Vestro quinetiam dicite Rhagio 
Laudes perpetuas: oreue: pectore 
Nee non liuor edax carpere desinat 
Quas tot delitias: hoc duce: sumitur. 



Carmen Heroicum in laudem | Gebehardi 
& Alberti Generosissimorü , ClariBßi-|morüqi 
Comitü De Mansfelt, & Schrappelei ac 
Hel|drunchij dnorü, ab Hermanno, Buschio, 
Pasiphilo | poeta & Rhetore elegätissimo 
Lipsi olim cöpositü | 
10 ff. 4. 10 b weifs. 
Auf dem Titel: 
Vitus Vuerlerus Lectori Autoris nomen indicat. 

Lector noscere si voles: 

Quisnam hunc attulerit librum 

Tarn doctum: lepidum simul, 

Multum vt sensibus affluat: 

Tarn tersis nitidum sui. 

Effectum domini vnguibus, 

Vt non hie habeat parem: 

Quo laudes Comitum sono, 

Clarorum canit optimo, 

Cura sie vigili: ut nihil, 

Rebus deesse putaueris: 

Obseruantia ea: & modo, 

Vt nil sit vaeuum super, 

Vis inquam hoc tibi dicier? 

Die quaeso absque mora mihi, 

Te voti cito compotem, 

Reddam: sed quid ego exigo: 

Velle id te quasi nesciam, 

Dicam: Buschius en meus: 

Sacris tempora frondibus 

Cinctus: Diisque sororibus, 

Hunc olim studio fauens 

Foelice dedit omine. 
fol. 1 b — Aiij » : M. Vitus Vuerlerus. Sulte- 
ueltensis, Eruditissimo ac humanissimo viro, 
Ga8pari, MeysteroLiberalium artium Magistro, 
ludique litterarij in Kitzingen praefecto, mu- 
nieipi suo, atque amico Charissimo, S. P. D. 
Si est aliquid in tota illa vniuersitatis 
machina, quod meritissimo praeconio extolli 
debeat, Gaspar mi Humanissime, Id procul 
dubio Amicitiae sanetum ac venerabile 
nomen est, Quam siue natura, omnium rerum 
proereatrix et mater, Siue potius Deus ipse, 
humani generis constantissimus reparator ac 
auetor ampliBsimus, vt reliqua omnia pro 
sua Diuina dementia orbi terrarum im- 
miserit, vt existeret vinculum aliquod, quo 
humanae vitae societas aretissimo nexu co- 
pularetur ac copulata perpetuo conservaretur. 
Nam si homines, vt M. Tüll. Cicero recte 
asserit, naturali quadam inclinatione ac 
motu congregantur, Num est aliud, quod 
huic rei aecomodatius et idoneum magis 
videri aut esse possit, quam Amicitiae vis 
admirabilis atque summa illius potestas? . . . 
Sed quorsus iste tuus de Amicitia tarn longe 
accersitus sermo? inquies, Gaspar. En eo 
spectat, vt luce clarius intelligas in omni 
vita ciuili nihil esse honestius amicitia, nihil 



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119 



vtilius, nihil iucundius. Qua si quis careat, 
tametsi cuncta alia possideat bona, omni 
tarnen pulcherrima hereditatis portione 
exi8timatur esse priuatus. Eam autem sancte 
cultam ac diligenter obseruatam inter nos 
fuisse, cum in teneriore adhuc aetate, tum 
multo magis ad prouectiorem iam paulo 
perducti, argumentis ostendimus non obscuris 
nee omnino contemnendis. Memoria namque 
adhuc teneo, et tu quoque meminißse debes, 
suauissimam illam consuetudinem, qua in 
laudatissimo Lipsensi Gymnasio adeo de- 
uineti eramus, vt ego omnia tua causa fac- 
turum me libenter et vitro promitterem, Tu 
item contra omnia tua studia et officia mihi 
sis liberaliBsime pollicitus. Quare effectum 
est, vt, quia domi frequens mecum esse per- 
seuerasti preterque morum tuorum elegantiam 
ac singularem quandam modestiam patrij 
quoque sermonis vrbanitate recreasti, Nullius 
vnquam consuetudine sim magis delectatus. 
Nemo te vno iueundior, Nemo gratior mihi 
vnquam fuit aut esse potuit. Et hoc quidem 
presentes. Postea vero quam tanta locorum 
distantia — patrium enim solum te, me 
autem Lipsica adhuc vrbs tenet — ne anti- 
quae necessitudinis et humanitatis fruetus 
studiorum etiam communitate conditus aliqua 
ex parte intermitteretur, eum ita crebris 
litterarum missionibus et mutuis scriptorum 
coneursionibus instaurauimus, vt hoc toto 
triennio, quo fere abes, non abesse, sed 
mecum viuere humaniter, conuersari iueunde, 
et blanditer colloqui mihi visus sis. Et iam 
quoque hoc noui anni initio, quod bonum, 
faustum, felix fortunatumque sit, ne Musarum 
humanitas omnino obmutesceret, has litteras 
ad te scripsi, nactus vel ea sola re scribendi 
occasionem opportunissimam , Quod, quum 
nuper Hermanni Buschij Pasiphili, optima- 
rum litterarum antiquitatisque consultissimi 
(liceat mihi hoc de praeeeptore doctissimo 
dicere), Hymettio melle atque omni neetare 
longe dulciorem libellum de laudibus Gebe- 
hardi et Alberti Clarissimorum Generosissi- 
morumque Comitum de Mansfelt, Schrappelei 
ac Heldrunchij dominorum heroico carmine 
olim Lipsie concinnatum intra supellectilem 
meam chartaceam delitescentem, aliud tunc 
forte agens, ex insperato reperissem. Volui 
hunc, ne situ puluereo, quo erat totus fere 
obrutus, omnino absumeretur, impressori 
nouis formis exprimendum illico tradere. ita 
enim et rem mihi honestam et scholasticis 
nostris Lipsensibus admodum gratam me fac- 
turum sperabam, si in quingenta exemplaria 
ille transcriptus a me in publico auditorio 
perlegeretur nomenque Auctoris alioquin 
satis celebre longe lateque secum traheret. 



Sed cui potissimum Foematicon hoc . . . 
nominatim dedicarem? Tu in primis oeeur- 
rieti, mi Suauissime Gaspar . . . Quamobrem, 
vt lepidissimi poetae verbis vtar, habe tibi 
hoc quiequid est libelli, et, si aliquando 
diseipulis tuis, quos erudis recte et instituis 
fideliter, in hoc ludo tuo litterario, vt fit, 
auetores enarrandos proponis, fac, age, te 
oro, hoc Buschij mei Carmen panegyricum . . . 
horam suam ac locum . . . habere possit. 
Spero tibi multum placiturum . . . Vale 
quam faelicissime . . . Date Lipsi. 

Otto Clemen. 

ZUKUNFTSGYMNASIUM UND ObEBLEHBBBSTAND. Von 

einem Schulmann. Wolfenbüttel 1899 
In dem kurzen Schriftchen (41 Oktav- 
seiten), das in der Hauptsache auf eine Em- 
pfehlung der Einheitsschule hinausläuft und 
daneben eine Reihe skrupelloser Vorschläge 
für angeblich notwendige Entbürdungen und 
angeblich zweckmäfsige Veränderungen in 
der Methodik des höheren Unterrichtes bietet, 
findet sich S. 16 folgender Satz: 

'Selbst die wenigen Schulstunden stellen 
allein schon eine aufreibende Thätigkeit dar: 
stetes Sprechen, beständiges Nachdenken 
über den sachlich und pädagogisch richtigen 
Ausdruck, volle Beherrschung und stetes er- 
neutes Durchdenken des Stoffes bis in die 
kleinsten Winkel, Wappnung gegen alle 
Einwände, Eingehen auf alle Irrgänge der 
Schüler, unaufhörliche Beaufsichtigung der 
Schülermassen, der Mienen, Hände, Haltung, 
um Verständnis oder Abwesenheit zu er- 
kennen, unendliche Geduld bei stets er- 
neuten Mifserfolgen im einzelnen trotz ewig 
erneuter Bemühungen, dauerndes Einatmen 
trockner, das Sprechen erschwerender Luft 
und so vieles andere mehr: das ist in der 
That schon für sich allein eine Leistung, 
die weit mehr anstrengt als das stille, be- 
friedigende Forschen des Gelehrten, die Aus- 
übung der Verwaltung und der Rechtspflege, 
abgesehen von besonderen Fällen, als die 
Thätigkeit eines Baumeisters, Forstmannes 
und noch vieler anderen Beamten.' 

Gott bewahre mich vor meinen Freunden, 
vor meinen Feinden will ich mich schon 
selber schützen. Wann endlich wird in 
unserem Stande der grobe Unfug aufhören, 
dafs einzelne seiner Mitglieder durch der- 
artige handgreifliche Übertreibungen und 
unverantwortliche, weil der erforderlichen 
Erfahrung und Sachkenntnis entbehrende 
Vergleichungen uns dem allgemeinen Hohn- 
gelächter preisgeben! Warum ertrinkt der 
Fisch nicht im Wasser und warum stürzt 
der Vogel nicht aus der Luft? Wenn freilich 



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Anzeigen und Mitteilungen 



ein Lehrer beim Lehren so wenig in seinem 
Elemente ist, dafs er die natürliche Lebens- 
äufserung seines Berufes so sich in einzelne 
Anstrengungen zu differenzieren und so kläg- 
lich zu bewinseln Anlafs hat, dann ist er 
eben Forelle in der Luft und Lerche im 
Wasser. 

Ganz besonderen Eindruck hat mir f die 
Wappnung gegen alle Einwände' gemacht. 
Mir sind dabei in der Erinnerung liebe Ge- 
sichter einstiger Schüler aufgetaucht, die 
mich dazumal bei unvorsichtigen Wendungen 
meines Unterrichts mit klugen Augen fragend 
angesehen oder mit klugem Einwände auch 
wirklich gefragt haben — verehrter anonymer 
Herr Kollege, sollten solche Leute nicht auch 
Ihnen die liebsten gewesen sein und Ihre 
Kraft vielmehr belebt als aufgerieben haben ? 

Auch ich bin selbstverständlich gegen 
Menschenopfer im Gymnasialwesen, also gegen 
barbarische Überfüllung von Schulklassen 
und Überlastung von Lehrern; aber für 
den berechtigten Widerstand gegen diese 
Barbarei müssen doch wir, die wir jeden 
Stoff f bis in die kleinsten Winkel zu durch- 
denken' gewöhnt sind, wahrhaftigere, wür- 
digere und wirksamere Methoden zu finden 
wissen als die völlig haltlose, den ersten 



Regeln eines vernünftigen Vergleichs wider- 
sprechende Behauptung, dafs der Dienst des 
Baumeisters oder der des Forstmannes minder 
anstrengend sei, eine Behauptung, die an 
den kleinen Neidhammel in der Kinderstube 
erinnert: r Mama, Erwin und Hubert haben 
ein süfseres Stück Kuchen als ich.' Da 
setzen wir uns hin und interpretieren Horaz 
f mit voller Beherrschung des Stoffes und 
mit beständigem Nachdenken über den sach- 
lich und pädagogisch richtigen Ausdruck', 
und gesellen uns doch zugleich zu den All- 
tagsthoren, die der Spott des ersten Satzes 
der ersten Satire trifft. Und wie heifst es 
am Schlüsse der Kreuzschau? 
Und nun gewahrt' er, früher übersehen, 
Ein Kreuz, das leidlicher ihm schien zu sein, 
Und bei dem einen blieb er endlich stehen. 
Ein schlichtes Marterholz, nicht leicht, allein 
Ihm pafslich und gerecht nach Kraft und 

Mafs: 
'Herr', rief er, f so du willst, dies Kreuz 

sei mein.' 
Und wie er's prüfend mit den Augen mafs — 
Es war dasselbe, was er sonst getragen, 
Wogegen er zu murren sich vergafs. 
Er lud es auf und trug's nun sonder Klagen. 
Richard Richter. 



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BEEICHT ÜBER DIE FÜNFUNDDREISSIGSTE VERSAMMLUNG 
DES VEREINS RHEINISCHER SCHULMÄNNER (1898) 

Von Emil Oehley 

Die 35. Versammlung rheinischer Schulmänner fand zu Köln am Sonnabend den 2. April 
1898 in der Aula des Marzellengymnasiums statt; 140 Teilnehmer zeichneten sich in die 
Liste ein. Die Tagesordnung wies folgende Punkte auf: 

1 ) Vortrag von Direktor Poppelreuter (Oberhausen) : Musterlehrer und Musterstunde. 

2) Thesen zu einem Referat über die Vorbildung der Geschichtslehrer an Mittel- 
schulen (für den diesjährigen Historikertag zu Nürnberg), Direktor Jäger-Köln. 

3) Oberlehrer Dr. M. Siebourg- Krefeld: Über eine halbjährige Studienreise in Italien. 

4) Finanzielles: Verwendung des Kassenüberschusses. 

Nachdem der Vorsitzende Direktor Jäger- Köln die Versammlung willkommen geheifsen 
hatte, begrüfste 

Geheimrat Dr. Deiters- Coblenz die Versammlung im Namen des Oberpräsidenten der 
Provinz, der mit unermüdlicher Arbeit und Sachkenntnis unsere Bestrebungen begleite, ebenso 
im Namen seiner Kollegen, die infolge Arbeitslast verhindert seien, persönlich zu erscheinen. 

Nachdem der Vorsitzende mit einigen Worten gedankt hat, heifst 

Direktor Milz -Köln zum zweitenmal auf seinem Territorium, der Aula des Marzellen- 
gymnasiums, die uns zu Ehren einigen Schmuck angelegt habe, willkommen. Eine Bitte 
habe er noch in Hinsicht auf das 450jährige Jubiläum seiner Anstalt: dafs die Herren, die 
an der Anstalt gewirkt hätten, ihm Nachricht davon gäben und ihm behilflich seien in der 
Beschaffung von Material für die Geschichte des Gymnasiums. 

Der Vorsitzende: Indem er von dem traditionellen Rechte, an diese stattliche Ver- 
sammlung ein paar einleitende Worte zu richten, Gebrauch mache, könne er sich nicht 
auf irgend ein besonders weittragendes Ereignis auf unserem Schulgebiet beziehen; doch 
sei für unsere Provinz nicht Unwichtiges geschehen durch den Bücktritt des Geheimrats 
Münch und seine Ersetzung durch Provinzialschulrat Matthias. Von Geheimrat Münch habe 
er aus einem Briefe mitzuteilen: er bäte ihn, falls er zufällig daran denke und es der 
Mühe wert finde, die Versammlung zu grüfsen; den Wunsch einer gedeihlichen Verhand- 
lung füge er nicht hinzu, da es Phrase sei, wohl aber wünsche er ein vergnügtes 
Zusammensein; unter dem hiesigen Meridian lebe es sich leichter als in Berlin. Die 
Thätigkeit Münchs sei auch diesen Verhandlungen lebhaft zugewandt gewesen; oftmals 
habe er sie durch einen gehaltvollen Vortrag belebt, und stets sei ihm ein wirksames Ein- 
treten in die Debatte zu danken gewesen. Seine Wirksamkeit als Schulrat sei keine un- 
getrübte gewesen, sondern durch zum Teil recht schwere Erkrankungen gestört worden. 
Um so bemerkenswerter sei, dafs er sich in dieser Zeit einen sehr bedeutenden Namen in 
der pädagogischen Welt gemacht habe, einen Ruf, der doch in gewissem Sinne auf die 
Provinz zurückstrahle; ein Eigentümliches sei, dafs er sich diesen Namen nicht etwa durch 
ein grofses Werk erworben habe, sondern durch dem Umfang nach kleinere Arbeiten, 
Schriften, die zum Teil über das unmittelbare Schulgebiet hinausreichten, in denen er 
aber immer pädagogische Fragen in einer feinen, durchaus originalen, geistvollen Weise 
beleuchtet habe, in einer Weise, die auch weitere Kreise darauf gelenkt hätte. In dieser 
Beziehung habe er ein neues Blatt in unserem pädagogischen Lebensbuch aufgeschlagen; 



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122 E- Oehley: Bericht über die 36. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 

er erinnere nur an die Rede auf der letzten allgemeinen Philologen Versammlung. Aber für 
uns sei vor allem die ganze Persönlichkeit eines Schulrats bedeutungsvoll, und in dieser 
Beziehung möchte er doch darauf aufmerksam machen, dafs Münch als Schulmann und 
Schulrat, als einer, der auf den Höhen unseres Berges gestanden habe, ein selbstgemachter 
Mann sei, und dafs er den jüngeren Fachgenossen, die ihn mit ihren Sorgen und Schmerzen 
aufsuchten, sagen konnte, dafs auch für ihn der Weg zu einer befriedigenden Wirksamkeit 
ungemein schwer gewesen sei, und ihnen dann den mannhaften Rat gegeben habe: 'Machen 
Sie sich Ihre Lage klar, ohne etwas zu verschleiern', ein Rat, der doch nur einem starken 
Mannesbewufstsein entspringen könne. In einer Beziehung sei ihm der Weg besonders 
schwer gemacht worden; es sei die Würdigung und Wertschätzung der alten Sprachen und 
ihrer Bedeutung für unser Schulwesen. Münchs Verdienst liege überwiegend auf anderem 
Gebiete; er habe dem französischen Unterricht seine Aufmerksamkeit und die ganze Schärfe 
und Feinheit seines Geistes gewidmet, und in dieser Beziehung dürfe man wohl getrost 
jeden jüngeren Lehrer auf seine Schriften verweisen. Was ihm einigermafsen im Wege 
gestanden hätte, der altsprachlichen Seite des Unterrichts dieselbe Aufmerksamkeit und 
Sympathie zu widmen, sei das gewesen, dafs er selbst in den alten Sprachen keinen Unter- 
richt an sich erlebt habe, den man in irgend einer Weise einen vorbildlichen hätte nennen 
können. Seiner, des Redners, Freundschaft mit demselben — dieser sei in Wetzlar sein 
Schüler gewesen, und zwar der beste — habe das keinen Eintrag gethan, und es sei immer 
erfreulich gewesen, mit einem Manne, wie Münch es sei, sich auszusprechen. Gelernt habe 
er recht viel auf dem von demselben gewählten Gebiete. Indes er laufe Gefahr, eine Art 
Nekrolog zu halten, und er habe im Gegenteil zu konstatieren, dafs Münch zu einem 
neuen freudigen Schaffen sich anschicke. Er glaube im Sinne aller zu sprechen, wenn er 
Münch einen freundlichen und dankbaren Grufs übermittele. 

Zu Punkt 4 der Tagesordnung 'Finanzielles' möchte er bitten, dafs die Versammlung 
sich darüber schlüssig werden wolle, ob in Zukunft statt der statutenmäfsigen Mark nur 
noch 50 Pfennige bezahlt werden und der Überschufs zu irgend einem Zwecke ver- 
wandt werden solle; er bitte für heute um Indemnität wegen f Unterschreitung des statu- 
tarischen Satzes'. 

Erster Punkt der Tagesordnung 

Direktor Poppe lreuter- Oberhausen: Er ziehe weder ein dünnes noch ein dickes 
Manuskript hervor, was allerdings nicht immer ein Mafsstab für eine Rede sei. Er bitte 
die Versammlung, recht kritisch dreinzuschauen. Er wisse, dafs er nichts Neues bieten 
könne. Man möge seinen Vortrag nehmen, wie etwa ein altbekanntes Liedchen, das man 
ab und zu doch gern einmal wieder höre. In letzterer Zeit sei auf unserem Gebiet sehr 
viel gearbeitet worden und wir würden damit einverstanden sein, dafs wir von grofsen Er- 
folgen sprechen könnten, aber ebenso damit, dafs die Befriedigung des Publikums, der 
grofsen Welt, nicht in dem richtigen Verhältnis zu unserer Arbeit stände. Woran liege 
das? Eine Befriedigung entstehe durch Erfüllung von Forderungen. Die Antwort sei also 
kurz die: weil die Forderungen nicht erfüllt würden. Weshalb nicht? Antwort: Deshalb, 
weil der Beruf sehr schwierig sei, nicht alle Forderungen erfüllt werden könnten; 
vielleicht liege es auch an den Stoffen oder daran, dafs die Schüler nicht gut seien. Er 
wolle die Aufmerksamkeit nur der ersten Frage zuwenden und damit gewissermafsen eine 
Selbstkritik üben. Die Forderungen, die an den Lehrer gestellt würden, seien sehr hohe: 
wir wüfsten selbst, wenn wir ein Urteil über andere Menschen fällten, denkend oder 
sprechend, wie scharf diese Kritik sei. 

Der Lehrer solle heute ein vollendeter Mensch sein; er solle stets die rechte Mitte finden, 
solle ernst sein, aber nicht schwermütig; tausend Dinge würden von ihm verlangt, die beim 
Unterrichten nicht so leicht geliefert werden könnten, wie man sie aufzählen könne. Von 
dem Musterlehrer fordere man, dafs er stets die rechte Mitte treffe nach der negativen und 
nach der positiven Seite: er solle gerecht sein, aber nicht hart, Kinderfreund, aber nicht 
kindisch u. s. w. 



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E. Oehley: Bericht über die 35. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 123 

Der Lehrer aber bleibe nicht wie er sei, er werde sich z. B. entsprechend seinem ver- 
schiedenen Alter umwandeln; so sei ein junger Lehrer anders wie ein im Mannesalter 
stehender, und dieser wieder anders wie ein alter Lehrer. Darüber könne man sich keinen 
Illusionen hingeben: es könne kein Mensch und Vorgesetzter von einem verlangen, dafs 
man lustig sei, wenn man traurig gestimmt wäre. 

Nun komme die andere Seite: das seien unsere Schüler; gewifs, wir sagten den ganzen 
Tag, diese sollten so und so sein, aber sie seien wie sie seien; wir müfsten uns also nach 
ihnen richten, wenn auch nicht wie eine Bonne oder ein Diener. Aber ein Ziel müfsten 
wir ins Auge fassen: wir sollten wirken, und wenn wir das wollten, müfsten wir die 
Schüler nehmen, wie sie seien: zuerst sei der Schüler klein, dann alter, dann beinahe 
erwachsen; auch sei der Schüler wie der Lehrer manchmal nicht in der Arbeitslaune, in 
der er sein solle. Dazu komme dann die grofse und weitgehende Forderung, dafs wir den 
Individualitäten gerecht würden. 

Ein grofses Gebiet liefere uns fortwährend seine besonderen Forderungen: das seien 
die Stoffe. Er spreche nur von den Stoffen, die jetzt in den höheren Schulen behandelt 
würden, nicht von denen, die etwa noch behandelt werden könnten. Jedes einzelne Fach 
verlange seinen besonderen Ton: das Deutsche, die Mathematik u. s. w.; auch die Stoffe 
im einzelnen hätten ihre Besonderheiten; ja er gehe so weit zu sagen, die gewöhnlichsten 
Dinge, die unregelmäfsigen Verba, verlangten ihre Färbung. Über solche graue, Öde 
Gebiete könne nur durch den Lehrer der Frühlingshauch kommen. 

Beim Unterricht bedürfe es, was er selbst erfahren habe, manchmal nur einer kleinen 
Abweichung im Tone, um bei der Besprechung eines ernsten Gegenstandes die Klasse zum 
Lachen zu bringen, und damit sei das Ganze des Unterrichts hin. Die Schüler seien 
empfindlicher als eine Photographieplatte. Den Unterricht so zu gestalten, dafs man voll- 
ständig davon befriedigt sei, sei schwer, fast unmöglich; denn ungeheuer grofs sei die Zahl 
der Forderungen, die sich dabei herausstelle. Das ideal Beste erhebe sich zu einer Höhe, 
dafs einem schwindele; aber man habe auch wieder Freude eben dadurch, dafs das Gebiet 
unerschöpflich sei. 

Dafs wir nicht erreicht hätten, was wir hätten erreichen wollen, habe darin seinen 
Ausdruck gefunden, dafs man nach Methoden gerufen habe; und es sei plötzlich durch die 
höheren Schulen der Gedanke gegangen, dafs man mit Methoden alles erreichen könne; 
aber, wie natürlich, habe sich gezeigt, dafs man doch nicht alles erreichen könne. Ohne 
Frage sei die Stoffbehandlung, die Kenntnis des Lehrers die Hauptsache; man dürfe auch 
die Methode nicht verachten. Unsere Wirksamkeit sei mit der Forderung, dafs wir das 
feinste Gefühl für die Gestaltung des Wortes haben sollten, als eine Kunst charakterisiert. 
Die Thätigkeit an und für sich, Stoff und Behandlung in künstlerischer Gestaltung, sei die 
Hauptsache. Ein Lehrer ohne Methode sei nicht denkbar, aber man solle sie nicht über- 
schätzen. Jede Methode habe nur soweit Wert, als ihr Gehrauch schneller zum Ziele führe 
als ihr Nichtgebrauch. Er habe vor einigen Tagen Gelegenheit gehabt, dem Unterricht 
eines Elementarlehrers beizuwohnen, und zwar einer deutschen Stunde. Diese Herren 
sprächen sich den Vorzug zu, die Methode besser behandeln zu können als wir; das sei 
richtig. Aber sie erreichten nicht das, was man wolle. In der erwähnten Stunde sei die 
Fragestellung eine sehr geschickte gewesen, die Antworten wären glatt erfolgt. Er frage 
sich aber, ob diese Methode den Zweck erreicht habe; er müsse sagen: nein. Der Lehrer 
habe schön unterrichtet, die Knaben schön geantwortet, aber von Begeisterung, von Ver- 
ständnis für den Gegenstand, die Gröfse des Vaterlandes, habe er nichts bemerkt. 

Wenn er stets so unterrichten solle, wie er schon unterrichtet habe, dann wolle er 
lieber nicht unterrichten. Wenn er z. B. eine Einleitung in Goethes 'Hermann und Dorothea' 
geben solle, und er sei in ärgerlicher Stimmung, dann suche er Wege, dem auszuweichen, 
bis er in richtigere Stimmung gekommen sei. 

Die Rettung, die der Dichter uns vor Augen führe, sei die Rückkehr zur Natur. Auch 
in der 'Macht des Gesanges' spreche er davon, dafs die höchste Wirkung darin bestehe, 



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124 E. Oehley: Bericht über die 35. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 

dafs man die Maske abwerfe und ans Herz der Mutter Natur zurückkehre: darin liege 
Wink und Weisheit auch für unser Gebiet. 

Der Vorsitzende: Da keine bestimmten Sätze vorgeführt seien, gebe er eine General- 
debatte anheim. 

Nach kurzer Auseinandersetzung zwischen Professor Kohl (Kreuznach) und dem Vor- 
tragenden über den Begriff f Ideal des Lehrers' Direktor Meyer-Langenberg: Er suche in 
seinem Unterricht ein Harmonisches zu erreichen. Es werde dem Lehrer niemals gelingen, 
alles zu erreichen. Pflichttreue wirke besonders auf den Schüler; wer selbstlose Liebe 
besitze, der habe den Schüler gewonnen; einem solchen Lehrer verzeihe der Schüler viel. 
Was nun die Lehrkunst betreffe, so habe ihm ein Wort von Direktor Jäger imponiert: 
lebe in und mit deiner Schule; darauf komme es an; man solle alle seine Mühe der Schule 
zuwenden; dann habe man alles erreicht. 

Professor Prenzel-Moers: Zum Teil sei das, was er sagen wolle, eben gesagt worden. 
Er hätte dieselbe Empfindung, dafs der eine Punkt nicht genügend gewürdigt worden sei. 
Das köstliche Amt, Lehrer der Jugend zu sein, bringe neben der Wertschätzung der 
Methode von selbst dazu, auch in die Individualitäten der einzelnen Schüler sich hinein- 
zufinden. Es sei ein vielfach mifsverstandenes Wort: für die Jugend sei das Beste gerade 
gut genug. Und doch sei er davon überzeugt, dafs jeder von uns dem zustimme. Für die 
Wahrhaftigkeit habe die Jugend das feine Empfinden, das von dem Vortragenden erwähnt 
sei, und dann werde der Lehrer finden, dafs er durch die Liebe, die er zur Jugend habe, 
auf das Rechte geführt werde. 

Direktor Gold seh eider-Mühlheim: Es seien ihm Einzelheiten aufgefallen, gegen die 
er sich wenden möchte, in denen der Redner die Sache zu stark ausgedrückt habe. Es 
sei gesagt worden, vom Erhabenen zum Lächerlichen sei nur ein Schritt. Er habe eine ganz 
andere Auffassung. Die Persönlichkeit des Lehrers stehe so da und müsse so dastehen, dafs 
Kleinigkeiten, Äufserliches gar nicht auffallen dürfe; das müsse in dem Unterricht mit 
aufgehen. Auch das sei nicht richtig, dafs der Ort auf den Unterricht einen Einflufs 
haben müsse. 

Dann sei vom Redner gesagt worden, er habe bei dem Unterricht, dem er beigewohnt, 
das Gefühl der Begeisterung u. s. w. vermifst. Dafs aber das Gefühl der Wärme nur sehr 
schwer eintreten könne, wo Zeugen seien, gebe jeder zu; das Beste komme nicht heraus, 
wenn man von anderen beobachtet werde. Die gesamte Frage lasse sich so erledigen, wie 
sie erledigt werden müsse; er erinnere an das Wort Lessings, einem Lahmen stehe es nicht 
wohl, auf die Krücke zu schmähen. Dafs die Methode eingeführt sei, sei notwendig für 
den jungen Anfänger, und wenn er ein Genie sei. Das hätte man in der Kunst doch am 
meisten erfahren. 

Poppelreuter: Er glaube nicht, dafs seine Darlegungen im Widerspruche mit den 
Forderungen Meyers und Prenzels ständen ; harmonische Ausbildung der Persönlichkeit und 
hingebende Liebe an den Beruf und die Schüler seien gewifs Dinge, deren Bedeutung er 
nicht verkenne, und die zweifellos auch in seinen Aufstellungen mitgemeint seien. 

Zu den Worten Goldscheiders bemerke er, dafs doch ohne Frage der Ort auf den 
Unterricht einwirke, und dafs doch z. B. in der Geschichte die historischen Denkmäler von 
Städten wie Berlin und Köln mit verwertet werden müfsten und hier einen ganz anderen 
Unterricht ermöglichten als in einer kleinen Stadt, wie z. B. Oberhausen. 

Dafs das Ansehen der Lehrerpersönlichkeit diese und ihre Wirkung völlig vor der 
Lachlust der Schüler sichern müsse, sei gewifs eine schöne und vertrauensvolle Annahme, 
treffe aber bei der Natur unserer Buben, wie sie nun einmal seien, nicht zu, wie die Er- 
fahrung lehre. Die Autorität des sonst geachteten Lehrers werde allerdings dadurch nicht 
gemindert, wohl aber der augenblickliche Erfolg. 

Was dann die Äufserung betreffs der Methode betreffe, so bitte er zu beachten, dafs 
er nur gegen die Überschätzung der Methode gesprochen habe, die nachteilig wirken könne, 
während das begeisterte Festhalten an der Sache selbst unter allen Umständen — auch in 
Gegenwart fremder Zeugen — wirksam bleibe. 



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E. Oehley: Bericht über die 35. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 125 

Geheimrat Deiters-Coblenz: Er hätte sich vorgenommen, nach dem Vortrag einige 
Worte zu sagen, aber er sei in die Lage gekommen, dafs manche seiner Bedenken schon 
vorweggenommen seien durch Direktor Goldscheider. Gefreut habe ihn der ideale Ton des 
Redners, aber er hätte gedacht, dafs derselbe vorzugsweise von dem jungen Lehrer, dem 
Anfänger im Amte, sprechen würde. Zwei Dinge seien sehr gefährlich. Erstens nütze es 
dem jungen Lehrer sehr wenig, wenn man ihm das Ideal vorhalte. Es nütze ihm viel mehr, 
wenn er auf das, was er wissen solle, hingewiesen und darüber aufgeklärt werde, dafs er 
seinen Beruf mit Begeisterung erfassen und seine Schüler mit Liebe behandeln solle. Damit 
hänge eigentlich das andere zusammen, womit der Redner geschlossen hätte: Rückkehr 
zur Natur; auch das halte er für gefährlich. Diesen Gegensatz von Kunst- und Natur- 
methode halte er für einen ganz unrichtigen; er verstehe ihn nicht. In diesen vielfach 
behandelten methodischen Fragen gebe es sehr vieles, was wir schon gewufst hätten, vieles 
aber auch, worauf jetzt erst aufmerksam gemacht worden sei; z. B. sei über die Art des 
Anfangs in der Geschichte, im Griechischen nichts Bestimmtes gesagt gewesen. Noch eins 
falle ihm ein: der Redner habe im Anfange gesagt, auch der Schüler habe seine Arbeits- 
laune; auch das könne er nicht zugeben. 

Poppelreuter: Er habe nur gesagt, dafs der Pädagoge wissen müsse, dafs zur Indi- 
vidualität der Jugend auch die und die Fehler gehörten; selbstredend seien diese in ent- 
sprechend individueller Behandlung zu bekämpfen. Betreffs der Methode wiederhole er, 
dafs sein Vortrag nicht gegen die Methode schlechthin, sondern gegen Übertreibung und 
Einseitigkeit in ihrer Anwendung gerichtet sei, und dafs die Methode, soweit sie der Natur 
gemäfs bleibe und rascher zum Ziele führe, auch von ihm geschätzt werde und im Vortrag 
auch gefordert worden sei. 

Kohl: Wenn gesagt worden sei, die gröfsten Künstler seien die, die nach der Methode 
lebten, so sei das nicht ganz richtig. Die genialen Männer hielten die Methode nur soweit, 
als sie sie nötig hätten. 

Hierauf wurden an Stelle der satzungsgemäfs aus dem Ausschufs ausscheidenden Mit- 
glieder, Direktor T hörne" und Professor Moldenhauer, gewählt Direktor Milz -Köln und 
Oberlehrer The od. Meyer- Köln (Realgymnasium). 

Zweiter Punkt der Tagesordnung 

Der Vorsitzende: Dafs er hier die Thesen vorgelegt habe, habe zunächst einen sehr 
egoistischen Grund; man habe ihm nämlich ein Referat über die Vorbildung und Fach- 
prüfung der Geschichtslehrer an den Mittelschulen für die Historikerversammlung 
in Nürnberg aufgegeben. Es sei nun im Interesse der Sache von Wichtigkeit, dafs ein 
Gegenstand, der einen allgemeinen Tag, der von grofsem Werte sei, beschäftigen werde, 
einer Provinzialversammlung vorgelegt werde, einer Versammlung von Schulmännern, die 
zum Teil nicht Historiker vom Fach seien. Es sei wertvoll, dafs solche Versammlungen 
nicht schlechthin isoliert seien, sondern voneinander Notiz nähmen, ganz besonders wert- 
voll auf dem Gebiet, von dem hier die Rede sei. 

Aus dem ganzen Tenor der Thesen werde man etwas entnommen haben; das wolle er 
hier ganz unumwunden aussprechen. Eine Gefahr bedrohe uns; es sei die Überwucherung 
des Spezialistentums, wie die Geographen, die Herren Neusprachler — er bitte es nicht 
übel zu nehmen, er meine nur einige — und die Turnlehrer in Vertretung ihres besonderen 
Fachs allzugrofses verlangten. Es sei dringend nötig, dafs wir die allgemeine Idee der 
höheren Schulen aufrecht erhielten, dafs jeder besondere Fachlehrer daran denke, dafs er 
ein Glied eines Organismus sei, dafs er aber nicht beanspruchen dürfe, das Centrum zu sein. 

Er wolle nun die einzelnen Thesen zur Diskussion stellen und auf dem Historikertag 
erklären, dafs er dieselben dieser Versammlung vorgelegt habe. 

These 1. Die Vorbildung des Geschichtslehrers an Mittelschulen 
(gymnasialen oder realistischen Charakters) vollzieht sich in drei 
Stufen: Gymnasium, Universität, pädagogisches Seminar (Probejahr). 

Diese könne er ganz übergehen, da sie nur Thatsächliches enthalte. 



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126 E. Oehley: Bericht über die 35. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmanner 

These 2. Als das Gewöhnliche und Wünschenswerte für den 
künftigen Geschichtslehrer ist der gymnasiale Bildungsgang zu 
bezeichnen, die lateinlose Schule kann diese Vorbereitung nicht, 
das Realgymnasium nach preufsischer Organisation nur ausnahms- 
weise und mit Vorbehalt übernehmen. 
Über diese These könnte eine grofse Debatte entstehen, wenn nämlich das gemeint 
sein sollte, dafs die ganze gymnasiale, realgymnasiale, Realschul- und Reformschulfrage 
hier aufgerollt werden sollte; das wolle er nicht. Er wolle zunächst nur bemerken, dafs 
diese Fragen seiner Ansicht nach in der Regel falsch gestellt werden. Hätte man sie so 
gestellt: Kann die so und so organisierte Anstalt die Verpflichtung übernehmen, zum 
Universitätsstudium vorzubereiten, kann etwa das Gymnasium die Verpflichtung übernehmen, 
für die technische Hochschule vorzubereiten? dann wäre es richtiger und für die Erörterung 
förderlicher gewesen. Es solle mit These 2 nichts anderes gesagt sein als das, dafs das 
Gymnasium in sehr intensiver Weise Quellenlektüre treibe, dafs es ceteris paribus die 
richtigere Vorbildungsschule für künftige Geschichtslehrer sei, nicht aber, dafs nicht auch 
aus anderen Anstalten Geschichtslehrer erstehen könnten. 

Direktor Poppelreuter: Er glaube, dafs tüchtige Oberrealschüler, wenn sie Latein 
lernten, auch tüchtige Geschichtslehrer werden könnten. 

These 3. Ihn wissenschaftlich auszurüsten durch Vorlesungen, 
Übungen im historischen Seminar, litterarische und andere An- 
regungen sei Aufgabe und zwar einzige Aufgabe der Universität. 
Früher sei die Forderung erhoben worden, dafs die Universität stetige und unmittel- 
bare Rücksicht nehme auf den künftigen Beruf, also darauf, dafs der Student künftig auf 
Mittelschulen Geschichte zu lehren habe. Seine Meinung und auch die der Bonner Pro- 
fessoren — in einer Versammlung habe man früher sich darüber geeinigt — sei die, dafs 
die Universität sich auf die wissenschaftliche Ausbildung beschränke. 
Direktor Thome"-Köln: Die letzte Zeit habe noch andere Ziele.' 

Direktor Scheibe-Elberfeld: Es sei doch sehr gut zu verstehen, dafs die ausschliefs- 
liche Aufgabe der Universität die sei, den Studenten wissenschaftlich auszubilden, nicht 
praktisch. 

These 4. Die Übungen der historischen Seminare der Universi- 
täten haben den Zweck, den künftigen Geschichtslehrer über die 
Art und Weise, wie historische Wahrheit gefunden wird, zu orien- 
tieren, — ihn historische Wahrheit finden zu lehren. Im einzelnen 
läfst sich ihre Gestaltung sehr verschiedenartig denken. 
Diese These sei nach Besprechung der dritten eigentlich erledigt. Nur möchte er 
bitten, wenn jemand Thatsächliches oder etwas Besonderes mitzuteilen wisse über ein 
solches historisches Seminar, uns das nicht vorzuenthalten. Er habe verschiedene Mit- 
teilungen bekommen, z. B. aus Leipzig, wo ihm eigentlich die Haut geschaudert habe über 
den nicht zu bewältigenden Reichtum. 

These 5. Über die Vorlesungen für den künftigen Geschichtslehrer 
läfst sich nichts Allgemeines festsetzen. Wünschenswert wären zeit- 
gemäfs erneuerte Vorlesungen über 'Philosophie der Geschichte'. 
Er möchte zwei Wünsche äufsern. Der erste bestehe darin, dafs im Gegensatz zur 
heutigen überrealistischen Richtung der Geschichtswissenschaft dasjenige wieder zum Recht 
käme, was man früher Philosophie der Geschichte genannt habe, was sich zeitgemäfs sehr 
wohl wieder erneuern liefse, wobei man über das Detail hinweggehe und über die be- 
wegenden Ideen und Kräfte der Menschengeschichte orientieren könnte. Er verspreche sich 
davon das, dafs der Geschichtsstudierende nicht so ganz im Detail hängen bleibe, wie es 
jetzt vielfach der Fall sei. 

Und zweitens wünsche er, dafs an unseren Universitäten häufiger Vorträge gehalten 
würden über die neuere Geschichte von 1816 — 71; denn das werde man vom künftigen 



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E. Oehley: Bericht über die 36. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 127 

Geschichtslehrer verlangen müssen, dafs er in der Geschichte der unserer Zeit unmittelbar 
voraufgehenden Periode gründlich orientiert sei. 

These 6. Die Fachprüfung ist zu erleichtern. Die volle Fakultas 
in Latein und Griechisch schliefst von selbst die Fakultas für alte 
Geschichte in sich. 

Bei dieser zeige sich das, was er vorhin gesagt habe. Sein Herr Korreferent verlange 
ein vierjähriges Studium der Geschichtswissenschaft und einen Nachweis der Befähigung 
durch eine doppelte Prüfung. Hier hätten wir das Spezialistentum auf frischer That. Es 
würde ihm sehr zu statten kommen, wenn er in Nürnberg sagen könnte, er habe seine 
These einer grofsen Versammlung von Schulmännern vorgelegt und dieser hätte er erklärt, 
wir sollten, wo wir noch ein Fleckchen examensfreier Erde hätten, dies sorgfältig wahren. 
Er frage, ob jemand glaube, dafs der Lehrer der Geschichte am Gymnasium u. s. w. ein 
vierjähriges Studium mit Diplomatik, Urkundenlehre und allen möglichen propädeutischen 
Wissenschaften nötig habe. 

Professor Moldenhauer-Köln: Er könne sich da durchaus der These des Vorsitzenden 
anschliefsen, dafs ein solches Examen von Übel sein würde, und dafs die Fachprüfung 
durchaus erleichtert werden müsse, wie es auch kommen werde. Dafs aber Latein und 
Griechisch für alle Klassen die Fakultas für alte Geschichte einschliefse , könne er nicht 
zugeben; diese bedinge doch auch für den Geschichtslehrer eine andere Vorbildung als sie 
hier verlangt werde. Sie verlange doch ein Geschichtsstudium, welches nicht erreicht werde 
durch die klassische Philologie. Und das, was vorhin gesagt sei, man solle einen nur 
sofort ins Wasser werfen, er müsse sehen, wie er zurechtkomme, das gelte besonders für 
den Geschichtsunterricht. Deswegen sei er der Ansicht, dafs die Fakultas in der alten 
Geschichte besonders erteilt werde. 

Der Vorsitzende: Es sei keine Gefahr vorhanden, dafs diese These in die neue 
Prüfungsordnung aufgenommen werde. Er wolle es nur als fernes und schönes Ideal hin- 
stellen. Das aber müsse doch einleuchten, dafs ein junger Mann, der in dieser alten Welt 
so einheimisch sei, dafs man ihm die volle Fakultas geben könne, durch die stärkende Luft 
des Gymnasiums auch dahin gebracht werde, dafs er alte Geschichte werde vortragen 
können. Es werde natürlich, wie der Vorredner gesagt habe, dazu eine gewisse Geschick- 
lichkeit gehören, dafs man den Stoff kürzer, mit Unterscheidung der ausführlicher zu be- 
handelnden Partien, behandle u. s. w., aber dem stehe doch gegenüber, dafs die Philologie 
sich als ein Teil der grofsen Geschichtswissenschaft erweise; wir hätten an unseren An- 
stalten doch eine grofse Zahl von Lehrern, die davon ausgingen, dafs sie, wenn sie Caesar, 
Horaz u. s. w. dozierten, Geschichte betrieben. 

Direktor Poppelreuter: Dann könne man es auch dahin ergänzen, dafs die, die volle 
Fakultas für alte Geschichte hätten, sie auch für alte Sprachen hätten. 

Professor Didolff-Köln: Er stimme Professor Moldenhauer vollkommen zu. Man 
könnte sagen, dafs diejenigen, die volle Fakultas für die alten Sprachen hätten, gegebenen- 
falls mit dem Unterricht der alten Geschichte betraut werden könnten. 

Direktor T hörne*: Was er sage, wolle er nur bemerken, weil der Redner gesagt habe, 
die These würde der Versammlung vorgelegt, und er wolle sie dort vertreten. Würde man 
einem die Fakultas in Latein und Griechisch geben und er genüge nicht in der Geschichte, 
würde man ihm die volle Fakultas versagen. 

Direktor Wehrmann- Kreuznach: Wenn mit der vollen Fakultas in den alten Sprachen 
die in der alten Geschichte verbunden wäre, dann wäre die Konsequenz die, dafs die volle 
Fakultas im Deutschen und in den neuen Sprachen die in der neueren Geschichte in sich 
schlösse. Wir müfsten den Unterschied scharf durchführen, den der Redner durchgeführt habe, 
und sagen, dafs, wenn einer Deutsch und die neuen Sprachen studiere, wie der Redner das 
von den alten Sprachen verlange, er auch im stände sein werde, neue Geschichte zu lehren. 

Der Vorsitzende: Er könne dem Vorredner sagen, dafs er das, was derselbe gesagt 
habe, auch in seinem Bericht berühre; aber er wage allerdings nicht, die von dem Vor- 
redner angeregte Frage sofort in bejahendem Sinne zu entscheiden. 



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128 E. Oehley: Bericht über die 85. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 

Direktor Scheibe: Er wage es, den Worten des Direktors Wehrmann entgegenzutreten. 
Er freue sich, dafs der Vorsitzende mit der weiten, vielumfassenden Kenntnis es hier ein- 
mal wieder gründlich betont habe, dafs die Kenntnis der alten Geschichte sehr nötig sei 
für allen Geschichtsunterricht, wie wir ihn auf der Schule betreiben sollten. Er möchte 
sich durchaus dafür erklären, dafs der Redner recht habe, wenn er sage, die volle Fakultas 
in den alten Sprachen schliefse von selbst die Fakultas für alte Geschichte in sich. Er 
frage Professor Moldenhauer, welcher Examinator auf den Universitäten die volle Fakultas 
in den alten Sprachen gebe, ohne sich überzeugt zu haben, dafs der Prüfling in vollem 
Umfang Bescheid wisse in der alten Geschichte. 

Direktor Schweikert-M.-Gladbach: Er sei der Meinung, dafs der sprachliche und 
geschichtliche Unterricht in einer Hand liege; ferner, dafs der Altphilologe auch in der 
Geschichte tüchtig sei und dafs nur ein solcher das Zeugnis bekomme. 

Der Vorsitzende: An diesem Punkte wolle er stehen bleiben; er denke, dafs er mit 
wertvollem Material ausgestattet sei. Über die weiteren Thesen hoffe er im nächsten Jahre 
umgekehrt unserer Versammlung Bericht erstatten zu können, wie sie in Nürnberg von den 
versammelten Historikern aufgefafst und behandelt worden seien. 

Dritter Punkt der Tagesordnung 

Es folgt ein Vortrag von Oberlehrer Siebourg- Krefeld über seine Studienreise nach 
Italien. Da dieser Vortrag in diesen Blättern vollständig abgedruckt worden ist*), glauben 
wir nur bemerken zu sollen, dafs er bei der Versammlung die dankbarste Anerkennung 
fand und den Wunsch rege machte, dafs den Verhandlungen häufiger als geschieht ein so 
erfrischendes Element zugeführt werden möge. 

Professor Hermes-Mörs: Er richte an die vorgesetzte Behörde die Bitte, daran denken 
zu wollen, dafs es, wie für den Neuphilologen England und Frankreich, so für den Alt- 
philologen im höchsten Grade wünschenswert sei, Italien und Griechenland kennen zu 
lernen; deshalb möchte die Regierung die bisher sehr karg bemessenen Mittel zu solchen 
Studienreisen in gröfserer Fülle spenden und den Lehrern das Studieren der Antike auf 
deren eigenem Boden zum Nutzen der Schule ermöglichen. 

Ein gemeinsames Mahl und am Abend die gewohnte Vereinigung ergänzte die An- 
regungen der Versammlung. 



•) Jahrg. 1898 Heft 8 S. 416 ff. 



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JAHRGANG 1899. ZWEITE ABTEILUNG. DRITTES HEFT 



LERNEN UND LEBEN AUF DEN HUMANISTENSCHULEN 
IM SPIEGEL DER LATEINISCHEN SCHÜLERDIALOGE 

Von Aloys Bömer 

Wenn Gustav Freytag in seinen Bildern aus der deutschen Vergangenheit 
das Schülerleben zu Beginn des 16. Jahrhunderts lebendig veranschaulichen 
will, läfst er den weit in der Welt umhergekommenen Thomas Platter die 
merkwürdigsten der von ihm in seiner Selbstbiographie verzeichneten Erleb- 
nisse erzählen, und wo Ludwig Geiger in seiner Darstellung von Renaissance 
und Humanismus über die Schulen in Deutschland handelt, giebt er einen 
längeren Auszug aus dem Wanderbüchlein des Johannes Butzbach, der gleich- 
falls manche Stadt und manche Schule gesehen hatte, bevor er in den sicheren 
Hafen der Klostermauern einlief. Obschon wir die abenteuerlichen Fahrten dieser 
beiden Humanistenschüler wohl keineswegs mehr als typisch anzusehen haben 
für das Erziehungswesen der damaligen Zeit, wohnt ihren frisch aus dem eigenen 
Leben gegriffenen Erzählungen gleichwohl ein ganz besonderer Wert und Reiz 
inne gegenüber Schulordnungen, Schulgesetzen und anderen derartigen Schrift- 
stücken theoretischer Natur, auf welche wir in vielen Fällen allein angewiesen 
sind, um uns ein Bild zu machen von den Lehranstalten früherer Zeiten. Für 
die Humanistenschulen aber sind wir in der glücklichen Lage, dazu auch noch 
aus einer anderen in ähnlicher Weise wie die Wanderberichte die wirklichen Zu- 
stände widerspiegelnden Quelle schöpfen zu können, nämlich aus den zahlreichen 
Sammlungen lateinischer Schülerdialoge, welche die Periode der wiederbelebten 
klassischen Studien gezeitigt hat. Zwar sind es nicht thatsächlich von den 
Knaben geführte und aus litterarischem Interesse aufgezeichnete Unterhaltungen, 
sondern von Lehrern zu didaktischen Zwecken verfafste Schriften, Übungsbücher 
der lateinischen Sprache, bestimmt, den Schülern als Muster für ihre in diesem 
fremden Idiome zu haltenden Gespräche zu dienen, aber die Lehrer haben sich 
so glücklich in den Knabenton herabgestimmt und die kleinen Genrebilder 
aus dem Schülerleben mit solcher Naturwahrheit gezeichnet, dafs wir über die 
Betrachtung derselben völlig vergessen, dafs wir künstliche Erzeugnisse vor 
uns haben. Die Verfasser haben beispielsweise nicht nur Musterknaben vor- 
geführt mit Betrachtungen über die Vorzüglichkeit der Schule und die Tüchtig- 
keit der Lehrer, sondern ohne Bedenken auch Taugenichtse erzählen lassen von 
allen möglichen dummen Streichen, die sie schon ausgeführt hatten oder noch 
im Schilde führten. Wenn mit solchen ungeratenen Schülern brave zusammen- 
gebracht wurden, welche jene von der Ungehörigkeit ihres Treibens überzeugten, 

Neue Jahrbücher. 1899. H 9 



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130 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

so war damit den Regeln der praktischen Pädagogik genügt; im übrigen war 
man keineswegs daran gebunden, nur Knaben sprechend einzuführen, sondern 
man konnte diese auch vor ihren Lehrern oder Eltern erscheinen und Lob oder 
Tadel in entsprechender Weise entgegennehmen lassen. In wohlberechnetem 
Streben nach Mannigfaltigkeit haben die Autoren zuweilen auch den Kreis des 
Schülerlebens ganz verlassen und allgemein interessierende Themata des täg- 
lichen Verkehrs oder jeweilig brennende Zeit- und Streitfragen behandelt. Aus- 
führungen solcher Art, welche an sich von gröfstem kulturgeschichtlichen Werte 
sind, kommen für unsere Untersuchung nicht in Betracht; hier soll vielmehr 
lediglich das in den verschiedenen Dialogsammlungen aufgespeicherte, bisher 
wenig beachtete und zum Teil fast gänzlich imbekannte Material zur Ermitte- 
lung der Schulzustände unter sachlichen Gesichtspunkten vereinigt und für 
einen künftigen Darsteller des humanistischen Erziehungswesens bequem ver- 
wendbar gemacht werden. 1 ) Wenn der Leser des öfteren Seiten des Schul- 
lebens behandelt findet, über welche ihn seine sonstigen Quellen im Ungewissen 
lassen, wenn ihm ein neuer Einblik ermöglicht wird in den Geist, der unter 
den Zöglingen der Humanistenschulen geherrscht hat, wird der Hauptzweck 
dieser Arbeit erfüllt sein. 

Zunächst einige Worte über die Geschichte der Schülerdialoge. Sie waren 
nicht etwa eine völlig neue Schöpfung des Humanismus, sondern die Humanisten 
haben nur die Methode, von welcher sie im Mittelalter vereinzelte Ansätze vor- 
fanden, als für ihre Zwecke besonders geeignet erkannt und mit einem dieser 
Erkenntnis entsprechenden Eifer gepflegt und sich nutzbar gemacht. Für ihre 
Schulen ist bekanntlich gerade das den mittelalterlichen gegenüber charakte- 
ristisch, dafs nicht mehr Jahre lang ermüdende und abschreckende Theorie mit 
allen möglichen Regeln und Ausnahmen der lateinischen Grammatik getrieben, 
sondern nur in möglichster Kürze die Quintessenz derselben vorgenommen und 
dafür frühzeitig zur Lektüre guter Klassiker und zu praktischer Übung der 
Sprache geschritten wird. Der praktischen Anleitung zum Sprechen waren aber 
eben die Schülerdialoge zu dienen bestimmt. Dafs man in unseren Schulen, 
nachdem im Laufe der Jahrhunderte immer mehr von ihr abgewichen war, beim 
Unterrichte in den fremden Umgangssprachen zur Methode der Humanisten 
zurückgekehrt ist und nach Anordnung der neuen Lehrpläne wieder frühzeitig 



') An anderer Stelle habe ich aus sämtlichen hergehörigen Dialogsammlungen kurze 
Auszüge gegeben und bei jedem Werke Nachrichten über seine Entstehung und das Leben 
seines Verfassers, sowie ein Verzeichnis aller mir bei meinen ausgedehnten Nachforschungen 
bekannt gewordenen Ausgaben mit Vermerk der Bibliotheken, welche ein Exemplar be- 
sitzen, vorausgeschickt. Auf diese Schrift möge hier ein für allemal verwiesen sein. Mit 
dem ersten Teile derselben sind vor einiger Zeit die 'Texte und Forschungen' der Gesell- 
schaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte eröffnet worden (Die lateinischen 
Schülergespräche der Humanisten. Auszüge mit Einleitungen, Anmerkungen und Namen- 
und Sachregister. Quellen für die Schul- und Universitätsgeschichte des 16. und 16. Jahr- 
hunderts. 1. Teil. Vom Manuale scholarium bis Hegendorffinus c. 1480—1520. Berlin, 
J. Harrwitz Nachf. 1897). Der zweite druckfertig vorliegende Teil wird voraussichtlich 
noch in diesem Jahre folgen. 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 131 

mit den Schülern 'Sprechen (Frage und Antwort) im Anschlufs an Gelesenes und 
Vorkommnisse des täglichen Lebens* übt, ist vielleicht das beste Zeugnis für 
die Zweckmäfsigkeit der von den Humanisten vorgenommenen Reform im Be- 
triebe der damaligen universellen Umgangssprache. 

Das älteste dem Humanismus angehörige Gesprächbuch ist das um 1480 
verfafste, über damalige Universitätsverhältnisse sich verbreitende, unsere Trivial- 
schulen aber nicht berührende 'Manuale scholarium'. Sein Verfasser ist 
nicht bekannt. Man hat dafür Paulus Niavis, eig. Paul Schneevogel, aus- 
gegeben, jedoch mit Unrecht, denn dieser praktische Schulmann, der um das 
Jahr 1486 die Schule zu Chemnitz auf humanistische Bahnen leitete, hat nur 
eine neue Ausgabe des Buches veranstaltet. Wohl aber rühren als selbständige 
Schöpfungen nicht weniger als fünf andere Dialogsammlungen von ihm her, 
welche ihm den Ehrennamen des Vaters solcher Übungsbücher unter den 
Humanisten sichern. Eine von diesen Sammlungen kommt für uns nicht in 
Betracht, da sie für die Novizen eines Klosters bestimmt ist, die vier anderen 
aber gehören zu den wertvollsten Arbeiten auf unserem Gebiete. Sie führen 
die Titel: 

1) Dialogus parvulis scholaribus ad latinum idioma perutilissimus oder 
Latinum idioma pro parvulis editum, c. 1486 entstanden 1 ), 

2) Latinum idioma pro scholaribus adhuc particularia frequentantibus, bald 
nach Nr. 1 verfafst und mit Nr. 3 und der Manuale- Ausgabe zu einem Sammel- 
werke unter dem Titel Latina idiomata vereinigt 2 ), 

3) Thesaurus eloquentiae, 

4) Dialogus, in quo litterarum studiosus cum beano quarumvis prae- 
ceptionum imperito loquitur. 8 ) 

Niavis ahmten in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts zunächst die 
beiden Schlesier Andreas Huendern und Laurentius Corvinus nach. 
Das Latinum idioma des ersteren erschien 1501 4 ), das des letzteren 1503. 5 ) 
Corvinus war seit 1499 an der St. Elisabeth-Schule zu Breslau als Lehrer 
thätig, Huenderns Wirkungsort zu ermitteln ist mir einstweilen nicht gelungen. 
Um die Wende des Jahrhunderts erschien auch als Anhang zu einer Hymnen- 
und Sequenzenausgabe von Hermann Torrentinus ein vereinzelter Dialog, bei 
welchem dem lateinischen Texte eine deutsche Übersetzung gegenübersteht: 
Collocutiones duorum puerorum de rebus puerilibus ad invicem 
loquentium. 6 ) Eine Übertragung in die Muttersprache, durch welche die 
Gespräche an Brauchbarkeit für die Schüler nur noch gewinnen konnten, fügte 



*) 17 datierte und 15 undatierte Ausgaben. Erste datierte: Basel 1489 (Br. Mus. London, 
H. u. St. B. München, IL B. Strafsburg). 

') 1 datierte und 3 undatierte Ausgaben. Datierte: Leipzig, Cachelofen 1494 (U. B. 
Breslau, K. B. Dresden, ü. B. Göttingen, Br. Mus. London, H. B. Wien). 

*) 4 Ausgaben ohne Jahr, von denen eine (U. B. Leipzig) bei Hain fehlt. 

«) Olmütz, Baumgarten 1501 (U. B. Breslau). 

Ä ) 33 Ausgaben. Erste: Breslau, Baumgarten 1503 (U. B. Leipzig). 

•) Ausgabe ohne Ort und Jahr (K. B. Haag). 



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132 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

auch der Münsterische Humanist Johannes Murmellius den Phrasen bei, 
welche er im 2. Kapitel seiner vielgebrauchten Pappa puerorum (1513) ver- 
einigte. 1 ) Einen ganz bedeutenden formellen Fortschritt, namentlich den ersten 
der genannten Werke gegenüber, bezeichnet das Gesprachbuch des Desiderius 
Erasmus, welches als kleine Phrasensammlung (Familiarium colloquiorum 
formulae) wider Willen des Autors von einem Bekannten 1518 veröffentlicht, 
nach zahlreichen Umarbeitungen und Erweiterungen im Jahre 1533 als eine 
umfangreiche Sammlung von Dialogen vorlag, die an Feinheit, Frische und 
Lebendigkeit der Darstellung seitdem nicht wieder erreicht worden sind (seit 
1526: Familiarium colloquiorum opus). 2 ) Während die Vorgänger des Erasmus 
nur hier und da das Gebiet des Schullebens verlassen haben, bilden bei diesem 
die eigentlichen Schülergespräche nur noch einen kleinen Bestandteil des grofsen 
Werkes. Dagegen kehrt Petrus Mosellanus, bekannt als Professor der grie- 
chischen Sprache an der Leipziger Hochschule, in seinen unter Anteilnahme 
von Johannes Poliander, dem Rektor der Thomasschule, verfafsten Paedologia 
(wohl 1517) 8 ) mit Vorliebe wieder zum Universitäts- und Schulwesen zurück, 
desgleichen auch sein jüngerer Leipziger Kollege Christophorus Hegen- 
dorffinus in den durch die Paedologia angeregten und stark beeinflufsten 
Dialogi pueriles (1520). 4 ) Eine Mittelstellung zwischen Erasmus und Mosel- 
lanus nimmt der Flamländer Hadrianus Barland us ein, dessen Dialogi ad 
profligandam e scholis barbariem utilissimi 1524 erschienen. 5 ) Der Hesse 
Hermannus Schottennius, welcher um 1525, als er seine Confabulationes 
tironum litterariorum 6 ) veröffentlichte, Lehrer in Köln war, pflegt wieder die 
einfacheren, natürlicheren Formen des Schülergespräches. Noch weiter als er 
gingen in dieser Beziehung der humanistische Reformator der Sebaldusschule 
in Nürnberg, Sebaldus Hey den, und sein Nachfolger Jacob us Zovitius, 
Rektor zu Breda und Hertzogenbusch. Die Werke beider, von denen das 
erstere Formulae puerilium colloquiorum (1528) 7 ), das letztere Coiloquia 8 ) 
betitelt ist, führen wieder eine deutsche Übersetzung neben dem lateinischen 
Texte. Von den Dialogi des wenig bekannten Jonas Philologus (vor 



l ) 40 Ausgaben. Erste: Köln, Quentel 1513 (H. B. Wolfenbüttel). 

*) Über 500 Ausgaben, darunter Übersetzungen ins Deutsche, Englische, Französische, 
Holländische und Italienische. Erste Ausgabe der Formeln : Basel, Froben 1518 (H. u. St . B 
München), erste des vollendeten Werkes ebendaselbst 1683 (U. B. Freiburg, U. B. Gent, 
U. B. Strafsburg, K. B. Stuttgart). 

*) 64 Ausgaben. Erste erhaltene datierte: Leipzig, Lotter 1518 (St. B. Augsburg, 
ü. B. Breslau). 

4 ) 2 Ausgaben von 1520: Leipzig, Schumann (K. B. Berlin, ü. B. Erlangen, U. B. Jena, 
H. B. Wien) und Nürnberg, Peipus (H. B. Gotha, H. u. St. B. München, U. B. Strafsburg). 

ö ) 17 Ausgaben. Erste: Löwen, Martinus Alostensis 1524 (ü. B. Gent, ü. ß. Greifswald), 
spätere Drucke mit Zusätzen. 

6 ) 27 Ausgaben. Erste: Augsburg, Ruff 1525 (ü. B. München). 

*) 40 Ausgaben. Erste: Strafsburg, Beck 1528 (B. des Germ. Mus. Nürnberg). 

*) Erste Ausgabe wohl verschollen; verbesserter Druck: Antwerpen, Silvius 1670 im An- 
schlufs an Heydens Werk (U. B. Göttingen). 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 133 

1529) *) schildert der wichtigste Schulverhältnisse von Deventer, wo der Ver- 
fasser wohl auch studiert hat. Einen neuen Schritt in der künstlerischen 
Manier des Erasmus that der Spanier Ludovicus Vives in seiner Latinae 
linguae exercitatio (abgeschlossen 1538). *) Die Dialogi des Neifser Rektors 
Nicolaus Winmannus (1544) 3 ) sind mehr eine Anleitung zur guten Sitte, 
als ein Übungsbuch zum praktischen Gebrauche. Eine ethische Tendenz ver- 
folgt auch Martinus Duncanus, Pfarrer und Schulmeister zu Wormer, in der 
Praetextata latine loquendi ratio (1552). 4 ) Die letzte grofse Schöpfung des 
Humanismus auf unserem Gebiete sind die Colloquia scholastica des greisen 
Genfer Rektors Mathurinus Corderius (1564) 5 ), unter dessen Händen die 
Schülergespräche noch einmal in ihrer alten und natürlichen Gestalt wieder- 
auflebten. 

Diese kurzen Angaben mögen genügen, um zu zeigen, welcher Zeit unsere 
verschiedenen Quellen angehören und von welchen Orten sie uns erzählen; denn 
die Natur der Sache brachte es mit sich, dafs die Verfasser ihren Aufzeich- 
nungen zunächst die Verhältnisse der Schulen zu Grunde legten, an welchen 
sie lehrten — und die meisten von ihnen sind ja Schulmeister — oder welche 
sie aus sonstigen Erfahrungen, etwa von ihrer eigenen Schülerzeit her, kannten. 
Sehen wir nunmehr zu, was für ein Bild wir aus den Dialogen von den Schul- 
zuständen der damaligen Zejt gewinnen, und zwar zunächst von den Einrich- 
tungen der Schulen im engeren Sinne: vom Lernen, und dann vom Verhalten 
der Zöglinge aufserhalb der Schule, vom Leben. Schritt für Schritt soll dabei 
auf die jedesmalige Quelle verwiesen und hier zuvor einmal ausdrücklich betont 
werden, dafs nach Zeit und Ort vielfache Veränderungen in den verschiedenen 
Einrichtungen vorgenommen worden sind und demgemäfs gröfste Vorsicht ge- 
boten ist im Verallgemeinern von Zuständen, die man an einer einzelnen Anstalt 
oder in einem einzelnen Jahre angetroffen hat. 

Wollte ein Knabe in eine Schule aufgenommen werden, so hatte er sich 
beim Rektor derselben zu melden und sein Anliegen vorzubringen. Die kleinen 
Kandidaten, deren uns namentlich bei Niavis und Huendern eine ganze Anzahl 
begegnet, nennen Namen, Geburtsort und, falls sie schon auf einer anderen Schule 
gewesen sind, den Grund ihres Wechseins. Dafs die meisten über den letzten 
Punkt Auskunft zu geben haben, ist ein Beweis dafür, dafs sich die Wander- 
lust der fahrenden Scholaren des Mittelalters bis in die Zeit des Humanismus 
hinein fortgeerbt hat, wenngleich solche Beispiele der Unstetigkeit, wie sie 



*) 7 Ausgaben. Erste mir bekannte: Mainz, Schöffer 1529 (U. B. Breslau, U. B. Freiburg). 

*) 103 Ausgaben. Originalausgabe, Paris 1539, wohl verschollen, noch aus demselben 
Jahre Drucke von Basel, Winter (St. B. Augsburg, K. B. Erfurt, U. B. Freiburg, U. B. Jena, 
ü. B. Königsberg, K. B. Stuttgart, H. B. Wolfenbüttel, U. B. Würzburg) und von Lyon, 
J. et F. Frellcei (L. B. Cassel). 

*) Ausgabe: Breslau 1544 (St. B. Breslau, ü. B. Breslau). 

4 ) 2 Ausgaben. Erste: Antwerpen, Latius (1552) (K. B. Antwerpen, U. B. Löwen, H. u. 
St. B. München). 

6 ) 106 Ausgaben. Erste von H. Stephanus 1564 (U. B. Jena). 



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134 A. Bömer: Die Humaüistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

Thomas Platter und Johannes Butzbach in ihren oben erwähnten Selbst- 
biographien geben, doch damals jedenfalls schon zu den Ausnahmen gehört 
haben. Wenn bei Niavis (II 2) ein Schüler den Lehrer um Entlassung bittet 
und als Grund angiebt, er habe gehört, dafs es für einen Knaben von Vorteil 
sei, sich in der Welt umzusehen und verschiedene Schulen kennen zu lernen, 
warnt der Lehrer ausdrücklich vor dieser Übeln Gewohnheit, die einem soliden 
Studium in keiner Weise förderlich sei, möchten auch manche für dieselbe ein- 
treten. Stand der Aufnahme eines Knaben nichts im Wege, so machte der 
Rektor ihn auf seine wichtigsten Pflichten aufmerksam, und er hatte Folgsam- 
keit in allen Dingen zu versprechen. Der Eintritt fand in der Regel am 
Tage des hl. Gregorius, des Patrons der Studierenden, statt (Schott. 74). Für 
die übrigen Schüler war dieser Aufnahmetag ein Festtag. Martin erzählt bei 
Schottennius (42) seinem Freunde Nikolaus voller Freude, dafs bei ihm im 
Hause ein Knabe wohnte, der sich in die Schule aufnehmen lassen wollte und 
ihnen durch Zahlen des ^introitus* einen freien Nachmittag verschaffen würde. 
Für die Aufgenommenen, welche am Orte fremd waren, bestand die erste Sorge 
darin, sich ein passendes Unterkommen zu verschaffen. Ein solches konnten 
sie entweder beim Rektor oder seinen Gehilfen in der Schule oder auch bei 
anderen Leuten in der Stadt finden. Die Bürger müssen zeitweilig kein be- 
sonderes Verlangen nach ihnen gehabt haben, denn Niavis (a. a. 0.) läfst einen 
Ankömmling aufmerksam darauf machen, dafs er sich ja seinen Wirtsleuten 
gegenüber recht ordentlich betragen möchte, da dieselben augenblicklich einen 
gewissen Widerwillen gegen die Schüler hätten und geneigter wären, sie vor 
die Thüre zu setzen als aufzunehmen. Näheres über die Wohnungsverhält- 
nisse später. 

Über die Lehrkräfte finden sich abermals bei Niavis vereinzelte be- 
merkenswerte Notizen. An der Spitze der Schule stand der Rektor, der, wie 
auch schon im Mittelalter, für eine bestimmte Zeit, meist für ein Jahr, vom 
Pfarrer oder vom Stadtrate, je nach dem Charakter der Anstalt, gemietet 
wurde. Gefiel er nicht, so wurde er nach Ablauf seiner Frist einfach nicht 
wieder angenommen, falls er nicht so gescheit war wie Niavis, der in Chemnitz, 
als er bemerkte, dafs er Widersacher im Stadtrate hatte, sich überhaupt nicht 
wieder zur Wahl stellte, um seinen Feinden keinen Triumph über sich zu ver- 
gönnen. Konnexionen thaten auch damals schon bei Erlangung der Ämter das 
Ihrige. In Beherzigung dieses Umstandes erscheint bei Niavis (III 7) ein Be- 
werber um das Rektorat bei einer einflufsreichen Persönlichkeit des Ortes und 
bittet, ein gutes Wort für ihn einzulegen. Er ist aus Meifsen, hat die Uni- 
versität Leipzig besucht und dort das Baccalaureat erlangt. Zuletzt ist er 
Gehilfe bei einem Rektor gewesen. Nachdem der Gönner sich vergewissert, 
dafs er auch im Gesänge genügend ausgebildet sei, rät er ihm, am folgenden 
Tage im Kapitel sein Anliegen *erecta fronte et liberali voce* vorzutragen, dann 
könne er seiner Fürsprache sicher sein. An einer anderen Stelle bei Niavis 
(III 10 u. 11) bedankt sich ein neu angenommener Rektor in einer feierlichen 
Antrittsrede beim Pfarrer und den weisen Männern vom Stadtrate — beide 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 135 

nennt er seine Herren — für seine Anstellung und gelobt ihnen Gehorsam in 
allen Dingen. Dann hält er eine noch längere Ansprache an seine Schüler, 
gemahnt sie an ihre Pflichten und erklärt, dafs er sich in üblicher Weise für 
seinen Unterricht Gehilfen (collaterales) auserlesen werde. Einen tüchtigen 
Baccalaureus habe er sich bereits gedungen, dem die Schüler denselben Gehor- 
sam schuldig wären, wie ihm selbst. Der Baccalaureus erhält die Befugnis 
'legendi, exercendi officium praeceptionemque resumendi, corrigere, utcunque 
libuerit, canendi munus . . . prospiciendique chori solemnitatem' und als Symbole 
seiner Gewalt eine Rute und einen Stab. Den Chorgesang der Knaben bei den 
gottesdienstlichen Handlungen, dessen Leitung hier dem Baccalaureus über- 
tragen wird, dirigierte sonst gewöhnlich ein besonderer Gehilfe, der Kantor, 
der übrigens nach Bedarf auch am Sprachunterrichte teilnahm. Wir hören 
z. B. einen Kantor 'in parte Donath examinieren (Niav. I 4). Aufserdem pflegten 
auch die älteren Schüler als Vorsteher einzelner Abteilungen (loca) — daher 
wohl ihr Name locati — den Rektor bei seiner Arbeit zu unterstützen. 

Von den Gegenständen des Unterrichts wird verhältnismäfsig nur wenig 
gesprochen. Am wichtigsten sind wieder die Nachrichten bei Niavis, weil seine 
Wirksamkeit in Chemnitz gerade in die Zeit fällt, da der Humanismus in 
Deutschland mit der hergebrachten mittelalterlichen Lehrmethode in den Schulen 
um die Herrschaft zu ringen begann. Im Mittelpunkte des Unterrichts blieb 
die lateinische Sprache stehen. Als Kriterium für den Sieg der neuen Rich- 
tung pflegt man mit Recht die Abschaffung des Doctrinale von Alexander 
de Villa Dei anzusehen, der bekannten in 2645 leoninischen Hexametern ab- 
gefafsten Grammatik, welche seit ihrer Veröffentlichung im Jahre 1199 fast 
drei Jahrhunderte lang die Schulen der civilisierten Welt als Hauptlehrbuch 
der lateinischen Sprache nach Absolvierung der Ars minor des Donat beherrscht 
hat. D. Reichling giebt in der Einleitung zu seiner neuen vorzüglichen Aus- 
gabe des Werkes (Mon. Germ. Paed. XII) eine Geschichte desselben, in deren 
Verlauf der von Italien begonnene Kampf der Humanisten gegen das Produkt 
der Scholastik das gröfste Interesse beansprucht. Seine umfangreichen Unter- 
suchungen haben Reichling zu dem Resultate geführt, dafs unter den Uni- 
versitäten des damaligen Deutschlands zuerst Wien (1492), unter den Partikular- 
schulen zuerst die Domschule zu Münster, und zwar unter dem Einflüsse des 
Murmellius in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts, den Bruch vollzogen 
haben. Dieses Ergebnis werfen die Nachrichten bei Niavis, wenigstens was 
den zweiten Teil angeht, völlig über den Haufen. Niavis hat bereits am 
Schlüsse der achtziger Jahre des 15. Jahrhunderts, also um die Zeit, als der 
alte Hegius gegen gewisse Kommentare des Doctrinale zu eifern begann, mit 
dem ganzen Werke aufgeräumt. Nachdem er schon in der Vorrede zu seiner 
ersten Dialogsammlung vor den Ratsherren von Chemnitz offen ausgesprochen 
hat, dafs die Knaben bisher viel zu lange mit der Erlernung der Casus und 
Tempora hingehalten worden wären, benutzt er später in den Gesprächen selbst 
jede Gelegenheit, um die mittelalterlichen Lehrbücher dem Spotte preiszugeben 
und eine praktische Unterrichtsmethode verfechten zu lassen. Im 9. Kapitel des 



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136 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

Thesaurus beweist z. B. ein humanistisch gebildeter Baccalaureus einem nach 
scholastischem Brauche angelernten Locatus, dafs die Modi significandi (die 
bekannte philosophische Grammatik des 13. Jahrhunderts), Eberhardus (der 
Verfasser des 12 Jahre nach dem Doctrinale erschienenen Graecismus) und 
Alexanders e compilatio' die Knaben noch dümmer machten als sie gewesen. 
Im 19. Dialoge desselben Werkes empfiehlt derselbe Baccalaureus angelegent- 
lichst eine aus Italien eingeführte Grammatik, aus welcher die Schüler kurz 
die Grundzüge der Sprache erlernten, um dann gleich die Klassikerlektüre zu 
beginnen. Am empfindlichsten hat Niavis die Vertreter der alten Richtung in 
seinem *Dialogus, in quo litterarum studiosus cum beano quarumvis prae- 
ceptionum imperito loquitur* gegeifselt, indem er ihnen bei Verfechtung ihres 
Unterrichtsprinzips das haarsträubendste lateinische Kauderwälsch in den Mund 
legt, während er seinen Sprecher, den Baccalaureus Florinus, die Sprache 
beherrschen läfst, so gut es ihm sein eigenes Können nur gestattete. Im 
3. Dialoge des genannten Büchleins beschreibt der unglückselige Locatus 
Scaninder seine Lehrthätigkeit mit den Worten: Trimo oportet iuvenes mihi 
supra dicere, tunc ego legi registrum et absentes corrigo et tunc, quando hoc 
est finis, ego audio in partem Donati et scribo illud parvum latinum; tunc 
quando mihi supra dicunt, ego mitto eos domi.' Als ihn Florinus darauf nach 
mehrfacher Wechselrede erbärmlich abführt, weifs er zu seiner Entschuldigung 
nichts zu sagen, als: c Haec est unum simplex schola; putas, quod sit in alta 
schola, in quo tu studisti?' Der traurige Held des ersten Gespräches, der 
Bacchant Scoribal, hat zwei Knaben, denen er seine Weisheit mitteilt. Diese 
sogenannten c Schützen', deren armseliges Los uns aus Platters und Butzbachs 
Erzählungen zur Genüge bekannt ist, erbetteln für ihn den Unterhalt, und 
dafür bringt er ihnen die Casus und Tempora bei, natürlich im Anschlüsse 
an Alexander, über dessen erstem Teile er selbst *nicht lange', d. h. nur 
15 Jahre gesessen hat. Nach dem Unterrichte geht er mit biederen Genossen 
zum Biere zu Kuntz Knoblach. *Ille libenter propinat bonum cerevisiam, et 
quando modicum bibimus, tunc venit femina et portat nobis caseum et panem, 
et quando bibimus per totum diem, tunc unus vix pertzechavit quatuor denarios.' 
Wenns zur Vesper läutet, mufs er zur Kirche, und *quando vesperae sunt ex', 
gehts wieder ins Wirtshaus, und wenn der Abend kommt, zum Rocken. Dann 
beginnt erst das rechte Vergnügen. 'Quando famulae domus exlaboraverunt, 
et tunc in nocte vadunt ad unum domum et solent nere, hoc vocant: ad colum. 
Et veniunt tunc socii ad causerias suas et accipiunt ad brachias et dant sibi 
os et palpant ad mamillam. Hoc facit uni ita bene, quod tu non credis. Facitis 
hoc etiam in magna schola vestra?' — Natürlich sind hier die Farben recht 
dick und absichtlich von Niavis aufgetragen, aber die Stellen beweisen doch, 
wie energisch er dem alten Schlendrian auf den Leib gegangen ist und seine 
Reform vertreten hat. Von dem Unterrichtsplan seiner eigenen Schule läfst 
er im 3. Kapitel der zweiten Dialogsammlung in zwei verschiedenen Fassungen 
erzählen. Das erste Mal überredet der Schüler Esculus den Albinus, welcher 
von Nürnberg kommt — Esculus macht bei dieser Gelegenheit eine spöttische 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 137 

Bemerkung über die bekannte Schlauheit der Nürnberger Schüler — und auf 
dem Wege nach der damals weitberühmten Zwickauer Schule ist, bei ihnen in 
Chemnitz zu bleiben. Sie lernten hier zuerst die Deklination und läsen dann 
neben einigen dialektischen Traktaten des Petrus Hispanus und dem Kommentar 
des Scotus zu den Praedicabilia des Porphyrius den Laelius von Cicero. Nach 
der Vesper aber studierten sie aus dem Latinum idioma, dem Übungsbuche 
ihres Lehrers. In der zweiten Fassung hat Albinus wegen der Pest die Schule 
zu Halle verlassen, die er nicht genug rühmen kann. Der Lehrer habe ihnen 
dort die Dialektik des Petrus Hispanus von Anfang bis zu Ende c sole clarius' 
erklart, sodann *parvulum philosophiae naturalis* und in der Grammatik die 
'Modi significandi' und einen c moralis autor pro declinatione* (Cato). Diesem 
Programme gegenüber, das sich noch gänzlich in den mittelalterlichen Tra- 
ditionen bewegt, preist Esculus diesmal ausdrücklich die Humanitätsstudien, 
die c ars, quae docet epistolarem rationem et bene et decore loqui', die bei ihnen 
am Orte blühte. Sie läsen nämlich den Laelius Ciceros, des Vaters der Bered- 
samkeit, erhielten Unterricht im Briefschreiben — auch für diesen Zweck hat 
Niavis praktische Handbücher geschaffen — und übten an der Hand eines 
Schriftchens, das ihr Lehrer Latinum idioma nenne, lateinische Unterhaltung. 
Als Albinus das Wort Humanitätsstudien hört, preist er den Tag glücklich, 
der ihn hergeführt, denn er hätte schon viele Länder durchwandert und ver- 
geblich nach dem Studium gesucht, das er hier gefunden. 

Im Vergleich zu diesen Nachrichten bei Niavis haben die gelegentlichen 
Bemerkungen über den Sprachunterricht in den Dialogbüchern der späteren 
Zeit, nachdem der Humanismus schon überall siegreich durchgedrungen war 
und der Schulunterricht an seinen verschiedenen Heimstätten einheitlicher ge- 
staltet zu werden begonhen hatte, nur untergeordnete Bedeutung. Aus diesen 
späteren Jahren liegen auch in Schulordnungen u. s. w. Urkunden vor, die ein 
genaueres Bild von den Unterrichtsplänen an den einzelnen Orten zu geben 
vermögen. Es sei deshalb hier nur kurz erwähnt, dafs Mosellanus (9) und 
Hegendorffinus (10) von Leipziger Schulen erzählen lassen — damals war zum 
lateinischen Unterricht natürlich schon der griechische hinzugetreten, und zwar 
wurden die Grundzüge beider Sprachen nach Quintilians Vorschrift zusammen 
gelehrt — , Jonas Philologus (3) von der Deventer, Duncanus (46) von der 
Wormer und Corderius wiederholt von seiner Genfer. Beachtung verdienen ein 
paar Notizen über Aufführungen klassischer Dramen bei Barlandus (6/7 und 
Zusätze von 1527, 1). Im Jahre 1506 ist die Hecuba des Euripides in latei- 
nischer Übersetzung des Erasmus zu Löwen im Gymnasium Standonicum von den 
Schülern aufgeführt worden. 1524 hat, ebenfalls zu Löwen, eine öffentliche Dar- 
stellung der Hecyra des Terenz stattgefunden. Wenn Barlandus sich veranlafst 
sieht, die Aufführung dieser antiken Stücke als ein vorzügliches Mittel nicht nur 
zur Begeisterung der Jugend für das Studium, sondern auch zur Anfeuerung der 
Tugend und Verabscheuung des Lasters zu preisen, so ist das ein Beweis dafür, 
dafs in Löwen ebensowenig Widersacher solcher Darstellungen gefehlt haben wie 
an anderen Orten. Wo vom lateinischen Unterrichte die Rede ist, möge gleich 



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138 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

bemerkt werden, dafs die Einübung der Casus und Tempora den Schülern oft 
furchtbare Schläge gekostet hat. Diese Tradition war uralt, jedenfalls schon 
älter, als der ^schlaglustige' Orbilius im alten Rom. Aus dem Mittelalter sind 
Dutzende von Beispielen für die Prügellust der Lehrer auf uns gekommen, und 
dafs auch die humanistische Reform, welcher es zu einem besonderen Lobe 
gereicht, eine freundlichere Methode des Unterrichts erstrebt zu haben, nicht 
auf einmal alle Mifsbräuche beseitigt hat, beweist der Umstand, dafs auch bei 
Niavis noch, obwohl er ausdrücklich eine humane Behandlung verteidigen läfst 
(IQ 19), in den Dialogen ganz unbarmherzig darauf losgeschlagen wird. Da 
hören wir, um nur ein Beispiel anzuführen, dafs ein Locatus den Schüler 
Rudolf bei der Erklärung des Donat in einer Stunde nicht weniger als sechs- 
mal derartig geprügelt hat, dafs vom Rücken bis auf den Knöchel kein heiles 
Fleckchen mehr zu sehen gewesen ist (IQ 19). Ein ähnliches Liedlein können 
viele von den Knaben singen. Übrigens beschränkten sich die Schläge natür- 
lich nicht auf die Grammatikstunde. Diese war nur ganz besonders ver- 
hängnisvoll. Ein Kantor haut nach einem verunglückten Chorgesang vor 
Wut seinen Stock auf den Schülern entzwei, bei welcher Gelegenheit Petrus 
de Franckendorff einen Höcker auf dem Kopfe, Nikolaus, der Sohn des Richters, 
einen geschwollenen Rücken davonträgt (II 5). Ausdrücklich betont wird, dafs 
es strenge verboten sei, den Eltern Anzeige von den Mifshandlungen zu machen 
(I 4). Gänzlich zu entbehren ist die körperliche Züchtigung beim Unterrichte 
der Kleinen in den meisten Fällen nicht, und deshalb hat auch der Humanismus 
sie nicht völlig aufgegeben. Noch bei Erasmus (Euntes in ludum litt.) klagt 
ein Schüler, dafs der Lehrer, falls er seine Lektion nicht könne, seine *nates* 
nicht mehr schone, als wenn sie von Leder wären, und als sich bei Barlandus (2) 
bei einem Spaziergange ein Knabe darüber wundert, dafs sein Lehrer nicht 
ordentlich mehr gehen könne, macht sein Freund die sehr bezeichnende Be- 
merkung, dafs ein alter Schulmeister mehr Kraft in den Händen habe als in 
den Beinen. 

Eine besondere Menge von Schlägen setzten auch die grofsen Strafgerichte 
ab, von denen wir bei Niavis (I 6) Zeuge sind. Einmal oder vielleicht noch 
öfter in der Woche — bei Mosellanus (16) ist der Freitag der Unglückstag — 
wurde nämlich vom Lehrer und seinen Gehilfen zu Gericht gesessen über die 
Unarten der Schüler aufserhalb des Unterrichts. Als ein grofses Verbrechen 
galt bei den Humanisten bekanntlich der Gebrauch der Muttersprache. Es 
wurden eigene Wächter unter den Knaben ausgewählt, die streng darauf zu 
achten hatten, dafs ihre Mitschüler überall, selbst bei den Spielen und Er- 
holungen, sich der lateinischen Sprache bedienten. Wer in der Muttersprache 
redete, machte sich des Barbarismus, wer ein schlechtes Latein sprach, des 
Soloecismus schuldig (Murm. 44; Zov. 4). Die mit dem Aufpasseramte be- 
trauten Schüler hiefsen c Corycäer' — der Name ist von den Seeräubern herüber- 
genommen, Erasmus hat ihn in seinen Adagien (I 2, 44) ausführlich erklärt — 
(Mos. 16; Hegend. 2; Schott. 20; Heyd. 10; Dune. 1 u. 2) oder 'Observatores' 
(Viv. 8; Cord, wiederholt) oder c Monitores' (Phil. 3). Corderius wählte diese 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 139 

jedesmal für einen Monat aus, er läfst einmal (III 6) einen Rektor eine grofse 
Ansprache an die Auserwählten über ihren Beruf halten. Dafs dieses Denunzianten- 
wesen den Schülern gründlich verhafst war, können wir ihnen nicht verargen, 
ja wir empfinden sogar im stillen eine kleine Freude mit ihnen, wenn es ihnen 
einmal gelungen ist, den Spion zu überlisten. Bei Vives (8) haben sich ein paar 
Knaben, während sie studieren sollten, über Stadtneuigkeiten unterhalten, da 
bemerken sie auf einmal in allernächster Nähe den Observator, stellen sich 
gleich, als hätten sie ein wissenschaftliches Gespräch geführt, und befragen 
den Aufpasser über eine schwierige Vergilstelle, worauf dieser, ihren Fleifs 
lobend, die gewünschte Auskunft aber, wohl aus gutem Grunde, nicht er- 
teilend, von dannen geht. Bei Duncanus (2) sind die Schüler in einer ähn- 
lichen Situation nicht so gewitzigt. Sie versichern auch, eine gelehrte Dis- 
putation gehabt zu haben, wissen aber, als der Corycäer nach dem Thema 
fragt, nichts zu antworten. Knaben also, welche bei solchen Vergehen ertappt 
waren oder bei irgend welchen anderen Unarten, etwa wenn der eine dem 
anderen das Buch fortgeschoben, mit dem dieser seinen Platz in der Schule 
hatte belegen wollen (Niav. I 3 u. 4; Heyd. 20), wenn er ihm die Schuhe besudelt 
( c calceo8 comminxit' Murm. 47), die Bücher bespuckt (Murm. 48), das Tinten- 
fafs umgegossen (Niav. I 6) u. s. w., hatten sich bei den Strafgerichten, wie sie 
Niavis an der angeführten Stelle beschreibt, zu verantworten. Hier stand 
immer ein Knabe, der sogenannte Custos, mit der Rute bereit, um sogleich 
die Urteile auszuführen. Diese lauten meistens sehr lakonisch, z. B. 'Custos, 
flecte eum!' oder c Custos, ut assis viminibusP Beim Prügeln giebt es noch 
wieder nach der Gröfse des Verbrechens besondere Abstufungen. Das eine Mal 
werden alte, das andere Mal frische Ruten verwendet, hier wird ein Sünder 
nur ein wenig, dort c ad medium usque dorsi' entkleidet. Huendern (4) läfst 
das Custodenamt jede Woche und zwar am Samstag nach der Vesper zu- 
sammen mit den sonstigen kleinen Geschäften, z. B. der Wache über die 
Gesangbücher, unter die Knaben verteilen. Neben dem Verwalter der Rute 
werden noch zwei Knaben ausgewählt, welche die Strafwerkzeuge zu prä- 
parieren haben. 

Aufser den Sprachen bildeten Lesen, Schreiben und Singen zunächst noch 
die einzigen Unterrichtsgegenstände der Humanistenschulen, erst später wurden 
auch Rechnen, Geschichte, Geographie u. s. w. in ihren Lehrbereich hineingezogen. 

Vom Lesen und Schreiben, das auch wieder nur als eine notwendige 
Vorübung zum Erlernen der Sprache angesehen wurde, hören wir bei Vives 
(5 u. 10), freilich sind die Schüler, welche er uns vorführt, wie es scheint 
keine kleinen Knaben, die eben in die Schule kommen, sondern ältere, die 
sich privatim in den genannten Künsten unterrichten lassen wollen. Der Lese- 
schüler mufs die A-B-C- Tafel in die linke Hand nehmen und den Griffel in 
die rechte. Der Lehrer nennt einen Buchstaben, diesen hat er auf der Tafel 
zu zeigen und dann genau so nachzusprechen, wie der Unterweiser es ihm vor- 
gemacht hat. Die praktischen Übungen werden von theoretischen Auseinander- 
setzungen über den Charakter der verschiedenen Buchstaben, ihre Einteilung 



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140 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

in Vokale und Konsonanten u. s. w. begleitet. — Der Schreibunterricht beginnt 
mit kurzen Bemerkungen über die Entwickelung der Schrift von den ältesten 
Zeiten an. Dann folgen praktische Unterweisungen über das Anspitzen der 
Feder und ihr Halten beim Schreiben. Will man schnell schreiben, so fafst 
man sie nur mit dem Daumen und dem Zeigefinger, nach Sitte der Italiener, 
sonst, namentlich wenn die Züge kräftiger werden sollen, nimmt man noch 
den Mittelfinger dazu. Bezüglich der Tinte billigt der Lehrer nur bei den 
tragbaren Tintenfässern das Hineintauchen eines Schwämmchens, bei den fest- 
stehenden sei ein solches nicht vonnöten und füglich, da leicht Fasern an der 
Feder haften blieben, zu widerraten. Wenn die Tinte trocken geworden war, 
mufs es unter den Knaben eine verbreitete Unsitte gewesen sein, Urin hinein 
zu lassen, denn nicht nur bei Vives empfiehlt ein Schüler dieses Mittel als 
probat, sondern auch bei Erasmus, wo von der Vorbereitung zum Schreiben 
die Rede ist. An Papier wird für den gewöhnlichen Gebrauch Briefpapier 
empfohlen, das in bester Qualität aus Italien und in schlechterer auch aus 
Frankreich, das Buch zu c. 8 Pfennigen, eingeführt werde. Ein oder das andere 
Stück Löschpapier gäbe es dazu noch gratis. Zur Übung iin Schreiben giebt 
der Lehrer zunächst das A-B-C auf, dann silbenweise abgeteilte Wörter und 
endlich einen ganzen Satz. Nachdem die Knaben fünf- oder sechsmal die be- 
treffende Vorschrift nachgeschrieben haben, zeigen sie dem Lehrer ihre Arbeit, 
und dieser macht sie auf die Mängel aufmerksam, z. B., um nur eins hervorzuheben, 
dafs sie alle Buchstaben miteinander verbunden hätten, was nur bei den ge- 
schwänzten a, l und u und denen mit einem Striche f und t, jedoch nicht bei 
den gerundeten p und o erlaubt sei. Nach der Korrektur giebt es eine neue 
Vorschrift. — Unwesentliche Ergänzungen zu diesem zusammenhängenden Unter- 
richte bei Vives bilden die zahlreichen zerstreuten Notizen bei Corderius, der 
die Gesprächsthemata über Tinte, Feder und Papier bis zum Überdrusse 
variiert. Beachtenswerter sind ein paar Stellen bei Zovitius (3), wenn sich 
z. B. Cornelius darüber verwundert, dafs Andreas 'teutonicam scriptionem = 
duyts schrift' oder c litteras senatorias = schepen brieven' lesen kann. Für 
die neuen c ductiles litteras = treckletteren' schwärmen beide nicht, Cornelius 
erscheinen sie c labyrinthiacae'. 

Den Gesang leitete, wo ein solcher angestellt war, der Kantor. Gesungen 
wurde bei den gottesdienstlichen Handlungen. Wenns viele Festtage gab, 
namentlich in der Weihnachtszeit, häuften sich die Singpflichten so, dafs die 
Knaben mit Schrecken an die Kirche dachten (Mos. 10 u. 24; Hegend. 4). Zeugen 
einer verunglückten Gesangprobe sind wir bei Corvinus (7): Ein Kantor, der 
bisher immer ein einziges abgedroschenes Lied hat singen lassen, das an- 
gefangen den Leuten zum Gespötte zu dienen, übt auf Befehl und in Gegen- 
wart des Rektors mit den Schülern ein paar neue Antiphonen und Responsorien 
ein. Mopsus soll Tenor singen, Euryalus Diskant, Amyntas Bafs. Die andern 
haben zu schweigen. Amyntas hat eine lange Pause, die hält er aber nicht 
ein, dazu brummt er so rauh in den Bart, dafs ihn kein Mensch verstehen 
kann. Für ihn mufs Davus singen, während an Mopsus Stelle Corydon treten 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 141 

solL Doch der singt, als wenn er unter den Ziegen grofs geworden wäre, auf 
der Stelle mufs er Dametas Platz machen. Dametas kennt aber das Lied 
überhaupt nicht, er hat eine Zeit lang in der Schule gefehlt. Auch Meliboeus 
vermag nicht auszuhelfen. Da reifst dem Kantor die Geduld, und er schickt 
den Kustos ab, dafs er für einen Obolus frische saftige Ruten hole. Sobald 
diese da sind, mufs der Kustos den ersten der Schlingel zwischen die Beine 
nehmen und solange festhalten, bis der Kantor seine Wut an ihm gekühlt 
hat. Erst die Dazwischenkunft eines Fremden macht der furchtbaren Prügelei 
ein Ende. Der Gesang, um dessentwillen der oben schon erwähnte Kantor 
(Niav. II 5) so auf die Knaben losgeschlagen hat, mufs übrigens ebenso jämmer- 
lich gewesen sein, denn unter dem Volke — dieses Mal handelte es sich also 
nicht um eine blofse Probe — hat sich, wie es an der betreffenden Stelle 
heifst, ein unwilliges Gemurmel erhoben. 

(SchluTs folgt.) 



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ÖRAMMATICI MILITANTES 1 ) 

Von Armin Dittmar 

Ein Buch über den Unterricht in den alten Sprachen aus Paul Cauers 
Feder und Oskar Jäger gewidmet, ist von vornherein der Aufmerksamkeit aller 
Lehrer dieser Sprachen sicher. Auch über die allgemeine Tendenz eines solchen 
Buches kann kein Zweifel sein, zumal wenn schon der Titel Grammatica 
Militans in seiner durchsichtigen Beziehung zur Ecclesia Militans die Ver- 
mutung nahelegt, dafs wir nicht in einen Kampf gegen die Grammatik hinein- 
geführt werden, sondern dafs es sich um eine energische Verteidigung dieser 
Wissenschaft handelt. 

In der That, auch Cauers Buch ist eine begeisterte Rede Pro Domo, auch 
Cauer kämpft, Gelehrter und Schulmann zugleich, mit scharfer Klinge für seine 
Ideale, jede Blöfse des Gegners ausspähend und jeden Vorteil der eigenen 
Stellung ausnützend. Man merkt es dem gelehrten Herrn Verfasser an, dafs 
er bei den Soldaten manches gelernt hat, vor allem auch die Kunst, nie den 
guten Humor zu verlieren. Es thut einem wohl, dafs es gegenüber dem viel- 
fach in unseren Kreisen herrschenden Pessimismus doch noch Männer giebt, 
welche die Ansicht vertreten, dafs das Sterbestündlein der Studia humaniora 
noch keineswegs geschlagen hat, dafs vielmehr der Unterricht in den alten 
Sprachen nach wie vor, ja mehr noch als gegenwärtig, einen breiten Raum in 
der Jugenderziehung einnehmen mufs. 

Das Ziel des Buches aber ist zu zeigen, dafs es die Grammatik ver- 
dient, aus ihrer niedrigen Magdsstellung, zu der sie in neuerer Zeit degradiert 
worden ist, wieder emporgehoben und als selbständiges Glied in die Reihe der 
übrigen Unterrichtszweige aufgenommen zu werden, dafs der grammatische 
Unterricht eine wichtige Mission innerhalb des geistigen Lebens unserer Zeit 
zu erfüllen hat, nämlich zur Kräftigung und Klärung, zur tieferen und feineren 



') 1) Grammatica militans. Erfahrungen und Wünsche im Gebiet des lateinischen und 
griechischen Unterrichts. Von Paul Cauer. Berlin. Weidmannsche Buchhandlung. 1898. 
2) Lateinische Schulgrammatik. Bearbeitet von J. H. Schmalz, Gymnasialdirektor in Rastatt, 
und C* Wagener, Gymnasiallehrer in Bremen. Ausgabe B. Vierte Auflage. Bielefeld und 
Leipzig. Verlag von Velhagen und Klasing. 1898. 3) Aufgaben zur Einübung der latei- 
nischen Syntax von Ernst Schwabe, Oberlehrer an der Fürsten- und Landesschule zu St. Afra, 
Meifsen. Heft 1. Systematisch geordneter Teil. Heft 2. Freie Aufgaben. Leipzig. Druck 
und Verlag von B. G. Teubner. 1896. 4) Stilistische Übungen der lateinischen Sprache 
von Ernst Berger. Achte Auflage, neu bearbeitet von Professor Dr. H. J. Müller, Direktor 
des Luisenstädtischen Gymnasiums zu Berlin. Berlin. Weidmannsche Buchhandlung. 1898. 



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A. Dittmar: Grammatici Militantes 143 

Bildung des Geistes zu dienen. Wenn aber dieses Ziel erreicht werden soll, 
so mufs der grammatische Unterricht vertieft werden, und zwar vor allem mit 
Hilfe der Ergebnisse der modernen Sprachwissenschaft. 

Weit holt der Verfasser aus, vorsichtig klärt er das Gelände auf. Zunächst 
hält er eine Musterung über das grammatische Handwerkszeug, d. h. über die 
grammatischen termini technici. Schon hierbei zeigt sich der im ganzen Buche 
vorwaltende gesunde Konservativismus, der das bewährte Alte beizubehalten 
und zu vertiefen strebt, ungestümen Neuerungen aber abhold ist. So wird 
z. B. die vielfach herrschende Neigung bekämpft (siehe die Deeckische Schul- 
grammatik!), die grammatischen Termini zu verdeutschen, das vielgescholtene 
Cum inversum dagegen wird mit Geschick verteidigt, die BegriflFe Logisches 
Subjekt und Prädikativ werden geklärt, die Ausdrücke Effiziertes und Affiziertes 
Objekt sowie Wortstock empfohlen. 

Ein lebhaftes Vorpostengefecht entspinnt sich in den nächsten Abschnitten, 
wo der Verfasser mit Humor und Satire ein paar Schlagworten der modernen 
Pädagogik zu Leibe geht. Er warnt zunächst vor den Gefahren einer allzu 
mechanischen Anwendung des induktiven Lehrverfahrens und zeigt, dafs auch 
die Deduktion ihr Recht hat. Wer bei der Induktion nicht vorsichtig zu 
Werke geht, gleicht jenem Engländer, der mit der Überzeugung nach Hause 
reiste, dafs es in Heidelberg immer regne, weil er es zweimal so gefunden 
hatte. Wer die Deduktion ganz beiseite läfst, verkennt den Heifshunger des 
Sextaners, der raubt dem Knaben die Genugthuung, gelegentlich einen herz- 
haften logischen Schlufs durch den Erfolg bestätigt zu sehen. Wie die Deduk- 
tion so wird von den Neueren auch die Synthese als unpädagogisch über Bord 
geworfen. Cauer hingegen warnt mit Recht nachdrücklich davor, die Sprache 
immer nur von einer Seite zu betrachten, vielmehr soll das Bewufstsein nie 
verloren gehen, dafs es hier zwei Pole giebt, die auf Schritt und Tritt den 
Unterricht begleiten, der Lehrer soll ebensogern einmal in der Erklärung 
eines Textes synthetisch, wie in der Grammatikstunde analytisch verfahren. 
Geradezu schädlich aber ist es, einem Quartaner den Accusativus cum infini- 
tivo oder den Ablativus absolutus analytisch zu erklären. Hier mufs nach wie 
vor vom Deutschen ausgegangen und die Konstruktion zunächst nach Zählen 
geübt werden, wie die Griffe auf dem Kasernenhof. 

Das Gebiet der wissenschaftlichen Grammatik betreten wir in den nächsten 
Abschnitten. In dem Kapitel Tsychologie und Logik' zeigt der Verfasser, 
welch reichen Gewinn der grammatische Unterricht aus einer stärkeren Be- 
tonung des psychologischen Moments zu ziehen vermag. Denn obwohl mit 
einem gewissen Recht die lateinische Syntax geradezu als angewandte Logik 
bezeichnet werden kann, so geht doch hier nicht alles wie bei der Mathematik 
Null für Null auf, sondern oft liegt — und dies wird an verschiedenen Bei- 
spielen verdeutlicht — gerade in den Vorstellungen, die beim Reden und 
Schreiben im Hintergrunde ruhen, das eigentlich Entscheidende, und darum ist 
oft psychologische Auffassung und lebendiges Nachempfinden notwendig. Gerade 
hier könnte sich die Schule vielfach die Ergebnisse der wissenschaftlichen 



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144 A. Dittmar: Grammatici Militantes 

Grammatik zu nutze machen, wenn der lateinische Unterricht — welch 
schreiender Gegensatz! — nicht immer durch äufsere Rücksichten eingeengt 
und verkürzt würde. 

Die Ergebnisse der sogenannten historischen Grammatik sind dagegen, 
wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, mit grofser Vorsicht zu verwenden. 
Denn im allgemeinen sind die Wege, welche die Sprache gegangen ist und die 
Forschung ihr nun nachgeht, viel zu verschlungen, als dafs man versuchen 
könnte, die Gedanken unreifer Knaben durch dieses ganze Labyrinth hindurch- 
zuführen. Insbesondere ist vor einem übermäfsigen Operieren mit vorgriechi- 
schen Suffixen und Wurzeln zu warnen. Anderseits kann die Vergleichung 
zwischen Homerischem und Attischem Griechisch zu mancher fruchtbaren Er- 
kenntnis führen. Das Wesen und Wachsen der Sprache wird dem Schüler 
nirgends besser anschaulich als in dem scheinbar regellosen Gemisch der Laut- 
und Wortformen bei Homer. In der Homerischen Syntax aber lernt der 
Schüler die einfacheren und ursprünglicheren Denkformen kennen, aus denen 
die geläufigen Konstruktionsweisen der Literatursprachen entstanden sind. 
Auch die falsche Analogie, ebenfalls ein Kind der neueren wissenschaftlichen 
Betrachtungsweise der Sprache, ist oft mit Nutzen als Erklärungsmittel zu 
verwenden. 

So hat sich der Verfasser nach allen Seiten hin seine Stellung gesichert, 
und wohlvorbereitet sind wir für den zweiten, den besonderen* Teil des Buches. 
Wir verstehen es ohne weiteres, wenn Cauer im nächsten Abschnitt davor 
warnt, die Kasuslehre in der Schule wissenschaftlich zu behandeln. Sie stellt 
zu hohe Anforderungen an den Schüler, ohne dafs dabei viel herauskommt. 
Vielfach kann man durch eine einfache, aus der Sache selbst geschöpfte, auch 
dem Schüler verständliche Überlegung zeigen, wie ein Sprachgebrauch ent- 
standen ist. Den lateinischen Accusativus Graecus z. B. wird man nicht er- 
klären, indem man die verschiedenen Quellen verfolgt und aufdeckt, aus denen 
der griechische Sprachgebrauch geflossen ist. Die verschiedenen Gebrauchs- 
weisen des Gerundivums lassen sich leicht erläutern, wenn man bei Erklärung 
des Satzes Epistula est mihi scribenda von der Übersetzung ausgeht: Der Brief 
ist ein mir zu schreibender. 

Auch in dem Abschnitt über die Tempora ist Cauer konservativ. Die 
Lattmannsche Lehre vom absoluten Gebrauche des Plusquamperfektum und 
Futurum exactum hat ihn — wie ich glaube mit Recht — nicht überzeugt, 
ebenso nicht die Ansichten Hoffmanns über die Bedeutung des Konjunktivs 
und Indikativs. Ferner verwirft Cauer die allgemein übliche Lehre — und 
dabei spricht er mir aus der Seele — wonach das Imperfektum die Wieder- 
holung oder Dauer in der Vergangenheit bedeutet. Auch den Ansichten Mutz- 
bauers, dem er im allgemeinen beistimmt, kann er sich in einigen wichtigen 
Punkten, z. B. in der Erklärung des gnomischen Aoristes, nicht anschliefsen. 

Bei der Besprechung der Modi vertritt Cauer die Ansicht, der ich freilich 
nicht beistimmen kann, dafs im Lateinischen das Verständnis des Konjunktivs 
in Nebensätzen keine grofse Mühe mache. Er erklärt darum nur einige 



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A. Dittmar: Grammatici Militantes 145 

Schwierigkeiten der Modi in den lateinischen Hauptsätzen und giebt dann eine 
übersichtliche schulmäfsige Behandlung der Modi in griechischen Haupt- und 
Nebensätzen, mit Ausnahme der Bedingungssätze, deren Besprechung einem 
späteren Abschnitt vorbehalten bleibt. Näher wird auf das Verhältnis zwischen 
Parataxe und Hypotaxe im nächsten Kapitel eingegangen. Auf Grund der 
Lehre, dafs sich alle Unterordnung aus der Beiordnung entwickelt hat, zeigt 
Cauer an zahlreichen Beispielen, wie sich der untergeordnete Satz noch 
häufig eine gewisse innere Selbständigkeit bewahrt hat. Die wichtigste und 
interessanteste Gruppe aller Nebensätze, die Bedingungssätze, enthält ein be- 
sonderes, das letzte Kapitel, wo Cauer die Quellen aufzeigt, aus denen die ver- 
schiedenen Arten dieser Sätze geflossen sind. 

Dies ist in kurzen Zügen der reiche Inhalt des Buches. Rechnen wir 
noch die Frische und Wärme des Tons, die Klarheit und Eleganz des Aus- 
drucks, die vornehme und ruhige Art der Polemik, die Selbständigkeit und den 
Freimut gegenüber Autoritäten und Behörden, die wohlthuende pietas gegen- 
über den eigenen Lehrern, so kommt als Resultat das Urteil heraus, dafs die 
Lektüre des Buches für jeden Freund des klassischen Altertums genufs- und 
lehrreich sein wird. 

Dafs bei einem so vielseitigen Inhalt auch häufig der Widerspruch gereizt 
wird, leuchtet ein. Vor allem ein Bedenken zu äufsern kann ich mich nicht 
enthalten, ein Bedenken, das jedenfalls auch von vielen andern praktischen 
Schulmännern geteilt werden wird. Mir will es nämlich scheinen, als ob Cauer 
nicht genügend die Thatsache würdigte, dafs noch sehr vieles in der wissen- 
schaftlichen Grammatik, in der Tempus- und Moduslehre zumal, unklar ist, als 
ob er vielfach eine Erklärung gäbe oder annähme, deren Richtigkeit keines- 
wegs über allem Zweifel erhaben ist. In der Tempus- und Moduslehre herrscht 
gerade heutzutage ein lebhafter Kampf, dessen Ende noch gar nicht ab- 
zusehen ist. Die dicken Abhandlungen und Bücher von Blase, Eimer, Haie, 
Hoffmann, Lattmann, Lübbert, Morris u. s. w. zeigen zur Genüge, wie wenig 
noch allgemeine Übereinstimmung über die einfachsten Dinge herrscht. Ja, es 
läfst sich leicht nachweisen, dafs selbst manches von dem wenigen, was heute 
als unanfechtbar gilt und was auch Cauer als unanfechtbar annimmt, einer 
genaueren Prüfung nicht standhalten kann. Es kann also leicht vorkommen, 
meine ich, dafs bei einem wissenschaftlichen Betrieb der Grammatik im 
Cauerschen Sinne der Ordinarius von Sekunda vielfach eine andere Ansicht 
den Schülern gegenüber ausspricht als der von Prima, dafs also eine ziemliche 
Verwirrung in den Köpfen der Schüler entsteht. 

Das erste, was uns not thut, ist, dafs wir uns aus unserer Sicherheit auf- 
rütteln, dafs wir uns von der Vorstellung frei machen, als ob in der Grammatik 
der alten Sprachen alles fest und sicher wäre. 

So lange noch die Meinung herrscht, dafs das Präsens ein ^Tempus* sei, 
dafs das Plusquamperfektum in dem Satze Cum domum intrasset, animadvertit 
die Vorzeitigkeit ausdrücke, dafs der Infinitivus Futuri nach den Verben des 
Versprechens, Hoffens und Drohens weiter nichts als die Zukunft bezeichen, 

Nene Jahrbücher. 1899. II 10 



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146 A. Dittmar: Grammatici Militantes 

dafs der Konjunktiv in den Temporalsätzen ein Zeichen der inneren Abhängig- 
keit, einer inneren Beziehung zum regierenden Satze sei, so lange noch der 
reale, potentiale und irreale Fall so erklärt werden, wie es in den Grammatiken 
geschieht und wie es auch Cauer thut, so lange die Lehre gilt, dafs nach 
Multi sunt im Relativsatze der Indikativ deswegen stehen könne, weil im 
Hauptsatz ein bestimmtes Subjekt stehe, und dafs in dem Satze Me miserum 
qui haec non viderim der Konjunktiv den Grund bedeute, so lange noch an 
eine c Entwickelung' der Modi in der Zeit zwischen Plautus und Terenz ge- 
glaubt und die Attractio modorum als die unfehlbare, wunderbare Panacee an- 
gesehen wird, — so lange wollen und müssen wir unsere Schüler mit einer 
Erklärung' dieser und noch vieler anderer sprachlichen Erscheinungen ver- 
schonen. Wir müssen sie vielmehr darauf aufmerksam machen, dafs in unseren 
Grammatiken zwar die Regeln an sich richtig sind (oft genug ist freilich 
auch dies nicht der Fall), dafs aber das, was zur Erklärung der Regel hinzu- 
gefügt wird, sehr oft unrichtig oder wenigstens nicht allgemein anerkannt ist. 
Wir müssen ihnen z. B. sagen: Nach sunt qui steht im allgemeinen der Kon- 
junktiv, manchmal jedoch auch der Indikativ; der Grund für diesen Wechsel 
ist gegenwärtig noch nicht bekannt. Oder: Ihr habt die Worte Als er hörte 
zu übersetzen mit Cum audivisset, wenn ihr aber bei Cicero einmal lest Cum 
audiret, so ist das keine ^unklassische' Ausdrucksweise, sondern wir sind heute 
noch nicht in der Lage, den Grund dafür anzugeben. Und so in vielen Fällen. 

Dies Verfahren scheint zwar zunächst niederschlagend zu sein für Lehrer 
und Schüler; aber es hat doch auch seine grofsen Vorzüge. Wir sind vor 
allem im edelsten Sinne wahrhaft geblieben, indem wir nicht etwas zu wissen 
vorgeben, was wir thatsächlich nicht wissen. Wir brauchen ferner nicht fort- 
während die Schriftsteller in den Augen der Schüler dadurch herabzusetzen, 
dafs wir eine bisher noch nicht erklärte Konstruktion als unklassisch kenn- 
zeichnen. Was in dieser Hinsicht in unseren Kommentaren gefehlt wird, ist 
wenig erfreulich. Der Schüler bekommt aber auch einen gröfseren Respekt 
vor der Sprachwissenschaft. Denn er wird bald merken, dafs die Grammatik 
eine echte Wissenschaft ist, insofern hier nicht alles tot und starr, sondern im 
Gegenteil alles in Bewegung und im Flufs ist. 

Hier bin ich nun wieder in erfreulicher Übereinstimmung mit Cauer. Denn 
auch er spricht im letzten Abschnitt davon, dafs die Thatsache, dafs heute auf 
vielen Gebieten der klassischen Altertumswissenschaft alte Anschauungen haben 
neueren weichen müssen, nicht ein Nachteil, sondern ein Vorteil für die Schule 
ist; dafs unsere Wissenschaft gerade auf ihrer gegenwärtigen Stufe vorzüglich 
geeignet ist, dafs an ihr ein Geschlecht sich bilde, dem auch die Wirklich- 
keit statt gesicherter Verhältnisse einen Reichtum an Fragen bietet, die der 
Lösung harren. 

Unter den heutigen Verhältnissen mufs also das echt wissenschaftliche 
Ignoramus in der Schule eine gröfsere Rolle spielen als bisher, wir müssen 
uns bescheiden, zum Zweck der Einprägung der sprachlichen Thatsachen 
unsere Schulgrammatiken durch übersichtliche Darstellung, durch zweckmäfsige 



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A. Dittmar: Grammatici Militantes 147 

Gruppierung u. s. w. recht praktisch einzurichten. Cauer selbst hat dies sehr 
gut an verschiedenen Beispielen gezeigt, z. B. an der Darbietung des Accusativus 
cum infinitivo, des Ablativus absolutus, der Modi in den griechischen Haupt- 
und Nebensätzen. 

Ein Muster aber in dieser pädagogischen Hinsicht ist die Lateinische 
Schulgrammatik von Schmalz und Wagener (Ausgabe B). Sie liegt bereits 
in vierter Auflage vor und hat schon dadurch den Beweis ihrer Tüchtigkeit 
erbracht. Schon die übersichtliche Anordnung der Paradigmata, der Vokabeln 
und Redewendungen in Formenlehre und Syntax, welche durch Anwendung ver- 
schiedener Typen ausgezeichnet unterstützt wird, sticht vorteilhaft von anderen 
Grammatiken ab. Überall zeigt sich ein erfreulicher konservativer Sinn: Die 
Termini sind die allgemein üblichen, wir finden noch nach Vätersitte gereimte 
Genusregeln, die zweite Deklination ist noch die zweite und die dritte Kon- 
jugation die dritte, in der Syntax kommt immer erst hübsch die Regel, dann die 
Beispiele. Auch die Reichhaltigkeit des Stoffes verdient Anerkennung, man wird 
nicht viel vermissen, weder in der Formenlehre noch in der Syntax. Dafs 
freilich tantum abest hat weichen müssen, ist bedauerlich. Der Wortlaut der 
Regeln ist klar und dem Verständnis des Schülers angemessen, die Beispiele 
reichlich und meist Schriftstellern entlehnt. Dafs die Grammatik auch durch 
und durch wissenschaftlich ist, bedarf bei dem guten Klange der Namen der 
Herausgeber kaum der Erwähnung. Aber diese Wissenschaftlichkeit drängt 
sich nirgends hervor, sie ist, ich möchte sagen, immanent, man fühlt mehr, als 
dafs man es sähe, wie jede Regel von Männern niedergeschrieben ist, welche 
die Litteratur durchaus beherrschen und welche wissen, was dem Schüler 
frommt. So hören wir nichts von Grundbedeutungen der Kasus und Modi, 
auch Vergleichungen mit den übrigen italischen Dialekten oder mit dem 
Griechischen fehlen. Selbst in den hübschen Anhängen zur Formenlehre (Über- 
sicht über die Bildung der Kasus, über die Bildung der Präsens-, Perfekt- und 
Supinstämme und Wortbildungslehre) begnügen sich die Verfasser mit lateini- 
schem Sprachgut. Könnte übrigens nicht als vierter Anhang ein kurzer Abrifs 
der Geschichte der lateinischen Sprache sowie ein paar Worte über das Oskische 
und Umbrische folgen? 

Wenn Cauer gelegentlich gegen die Darstellung des Ablativs den Vorwurf 
allzugrofser Kompliziertheit erhebt, so ist zu entgegnen, dafs in Untertertia 
getrost der 'schattenhafte Begriff des Sociativus' wegfallen kann; bei späteren 
zusammenfassenden Wiederholungen auf der Oberstufe wird er schon seine 
Dienste thun. In der Tempus- und Moduslehre ist zu billigen, dafs die 
indirekten Fragen und die Relativsätze vor den eigentlichen Konjunktional- 
sätzen behandelt werden, und vor allem, dafs vielfach keine Erklärung gegeben 
wird, wo es noch keine giebt. So wird § 322 einfach konstatiert, dafs auf 
die Verba des Affekts sowohl ein Quod-Satz als auch ein Accusativus cum 
infinitivo folgen kann. § 315 heifst es: * Jedoch sagt man immer repudiavit 
hoc, cum diceret, adderet mit den Worten, dem Zusätze.' Von den Konsekutiv- 
sätzen hat der Schüler § 302 nur zu lernen, dafs sie im Konjunktiv stehen. 

10* 



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148 A. Dittmar: Grammatici Militantes 

Auch die Haiesche Hypothese über den Konjunktiv in Relativ- und Cum-Sätzen 
hat glücklicherweise keinen Einflufs auf die Darstellung ausgeübt. 

Nicht vermag ich es jedoch zu billigen, dafs die Lehre von der bezogenen 
und selbständigen Zeitgebung, von der Kongruenz und Koincidenz der Sätze 
aufgenommen worden ist. Ich kann nicht finden, dafs das Präsens nach Dum 
erklärt ist, wenn es heifst: Nach dum tritt immer selbständige Zeitgebung 
ein. Auch sonst hätte wohl noch öfter jene Entsagung in dem oben an- 
gedeuteten Sinne geübt werden sollen. So in der Lehre von den Relativsätzen, 
wo die Erklärung des Indikativs nach Sunt, qui unrichtig ist. Auch die An- 
gabe, dafs der Konjunktiv nach dum, donec, quoad, antequam und priusquam 
nur final oder potential sei, stimmt nicht, ebensowenig wie die Bemerkung, 
dafs Cum causale nur den Erkenntnisgrund einführe. Unzureichend ist es, 
wenn gesagt wird, dafs durch den Konjunktiv nach Cum historicum die Hand- 
lung des Nebensatzes in engste, gewissermafsen ursächliche Beziehung zu der 
des Hauptsatzes gesetzt wird. In diesen und anderen Fällen wäre ein Non 
liquet am Platze gewesen. 

Zur Grammatik gehört das Übungsbuch. Unter der grofsen Zahl der in 
den letzten Jahren erschienenen ragen hervor die Aufgaben zur Einübung 
der lateinischen Syntax von Ernst Schwabe. 

Auch Schwabe stellt hohe Anforderungen an Lehrer und Schüler; auch er 
ist ein echter Grammaticus Militans. Er verlangt rüstige Arbeit und von der 
modernen Verzärtelung will er nichts wissen. Es wird gewifs manchem 
Sekundaner sauer werden, sein Schiff lein durch die mancherlei Klippen und 
Riffe ungefährdet hindurch zu lenken. Zu schwer jedoch sind die Aufgaben 
nicht, wenigstens nicht für unsere sächsischen Verhältnisse. Zudem steht es 
ja jedem Lehrer frei, durch entsprechende Hilfen seine Schüler vorm Straucheln 
zu behüten. 

Besondere Anerkennung verdient das gleich von den ersten Stücken an 
hervortretende Streben, die Schüler an Bildung von lateinischen Perioden zu 
gewöhnen. Ich erblicke hierin einen Hauptvorzug dieser Aufgaben. Auch die 
phraseologischen Verba spielen mit vollem Rechte eine wichtige Rolle. Grofser 
Wert wird — was ebenfalls sehr zu billigen ist — auf die Übersetzung von 
Fremdwörtern gelegt. Von hübschen Wendungen und Übersetzungen erwähne 
ich z. B.: Um Gottes Willen! = Di meliora! mit klingendem Spiel = tubis 
sonantibus, alles stehen und liegen lassen = omnia negligere, bei uns zu 
Hause = nostras, Quintilian in seiner 'Rednerschule'. Überhaupt verwendet 
der Verfasser grofse Sorgfalt auf den Ausdruck, er ist mit Erfolg bestrebt, 
ein möglichst gutes Deutsch zu bieten. Aber vielleicht könnte bei einer 
wünschenswerten zweiten Auflage gerade in diesem Punkte noch etwas mehr 
gethan werden. Über den jedes 'welcher' und 'derselbe' verpönenden Wust- 
mannianismus läfst sich allenfalls noch streiten, aber von einer 'steilen 
Aufgabe', von 'Ehrgeiz um die höchsten Würden', von einer 'dort befind- 
lichen Rhonebrücke' darf man doch wohl nicht reden. Wendungen wie 'Was 
nun für ein Lärm plötzlich entstand, läfst sich kaum beschreiben', welche 



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A. Dittmar: Grammatici Militantes 149 

mit Recht sehr häufig sind, könnten wohl noch öfter in der Form gegeben 
werden: 'Der Lärm, der plötzlich entstand, läfst sich kaum beschreiben/ Das 
Latein, das bei der Übersetzung des Schülers herauskommt, ist gut. Indes 
könnte wohl auch hier manches gebessert werden. In dem Satze z. B.: 'Denn 
ein jeder von den Germanen verteidigte sein Leben so, dafs er, selbst wenn er 
schon am Boden lag, noch kämpfte' wird der Sekundaner kaum wissen, dafs 
er iacere in den Konjunktiv zu setzen. (Ahnlich S. 59 Satz 1.) Auch wäre 
bei dem Satze: r Gerade damals hatte sich aufserdem das grofse Unglück er- 
eignet, dafs der heilige Stier umgebracht war* ein Hinweis notwendig, dafs im 
Nebensatz ut mit coni. impf, zu stehen hat. 

Dafs alle Regeln zu ihrem Rechte kommen, dafür sorgt schon die An- 
ordnung der Aufgaben. Im ersten Hefte nämlich gehen jedesmal den zusammen- 
hängenden Übungsstücken, welche den Löwenanteil erhalten haben, eine be- 
trächtliche Anzahl Einzelsätze voraus, in denen auch seltenere Konstruktionen 
genügend geübt werden. Gröfsere Beachtung hätten vielleicht verdient: cum 
identicum, si quis est qui mit Konj., eo magis quod, nedum, tanquam si und 
quasi, fortis et qui mit Konj., das Exemplum fictum. 

Der Inhalt der Übungsstücke ist dem Verständnis der Sekundaner durchaus 
angemessen. Der Verfasser hütet sich, seichte und flache Moral zu predigen 
oder gelehrte und verstiegene Abhandlungen zu bieten. Nicht nur die Er- 
innerung an Nepos und Ovid, Cäsar und Xenophon wird aufgefrischt, sondern 
vieles ist auch Schriftstellern entnommen, die dem Schüler wenig oder nicht 
bekannt sind, z. B. Älian, Plutarch, Joh. Stobaeus, Hygin, Quintilian, Gellius. 
Auch Schriftsteller des Mittelalters fehlen nicht, wie z. B. Eginhard und 
Widukind, Erasmus und Melanchthon. Stücke aus der griechischen und 
römischen Heldensage wechseln ab mit angemessenen philosophischen Betrach- 
tungen, längere geschichtliche Erzählungen mit kurzen Anekdoten, die Brief- 
form wird ebensowenig vernachlässigt <— sogar ein Brief Bismarcks findet 
sich — wie die Volks- und Gerichtsrede. Das zweite Heft, welches nur 
zusammenhängende Stücke enthält, ist nach sachlichen Gesichtspunkten ge- 
ordnet: der gröfste Teil besteht in chronologisch geordneten Darstellungen aus 
der alten Geschichte, dann folgt Biographisches, Geographisches, Kultur- 
historisches und Philosophisches. Auch Mittelalter und neuere Geschichte sind 
in einigen Abschnitten vertreten. Den Schlufs bilden einige Stücke, in denen 
Gelegenheit zum Versemachen gegeben wird. 

So ist der Inhalt vorzüglich geeignet, den Gesichtskreis des Schülers zu 
erweitern, sein Wissen zu vertiefen, seinen Geist zu veredeln, seinem Gemüt 
und seiner Phantasie gesunde und kräftige Nahrung zu geben. 

Während die Schwabischen Aufgaben mehr die eigentliche Grammatik be- 
tonen, dient das Buch, dem zum Schlufs noch einige Worte gewidmet sein 
mögen, durchaus der Einübung der sogenannten Stilistik. 

Es sind dies die bekannten Stilistischen Übungen der Lateinischen 
Sprache von Berger, neubearbeitet von H. J. Müller. Das Buch bedarf 
kaum einer Empfehlung, da es bereits in achter Auflage vorliegt und der 



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150 A. Dittmar: Grammatici Militantes 

Bearbeiter zumal zu den wackersten Streitern der Grammatica militans gehört. 
Der Inhalt des Buches erhebt sich weit über die üblichen stilistischen Anhänge 
in unseren Grammatiken, ohne doch des Guten zu viel zu bieten. 

Immerhin möge es erlaubt sein, einige bescheidene Wünsche auszusprechen. 
Bei Abfassung einer Stilistik mufs man sich vor allen Dingen klar darüber 
sein, ob man vom Lateinischen oder vom Deutschen ausgehen soll. Die neueste 
Pädagogik läfst natürlich auch hier nur das analytische Verfahren zu. Mit 
Unrecht, wie mir scheint. Wenn einmal stilistische Übungen angestellt werden 
— und sie sind durchaus notwendig — so mufs grundsätzlich vom Deutschen 
ausgegangen werden. Denn bei diesen Übungen kommt es weniger darauf an, 
dem Schüler zu zeigen, wie er aus dem Lateinischen übersetzen soll, als viel- 
mehr ihm klar zu machen, wie er beim Übersetzen ins Lateinische vorzugehen 
hat. Was Romani miserunt legatos oder Dementis est heifst, weifs schon der 
Quintaner, ebenso ist es nicht falsch, wenn er die Worte Numa, qui Romulo 
successit übersetzt: 'Numa, welcher auf Romulus folgte', oder Vereor ne hoc 
non verum sit 'ich fürchte, dafs dies nicht wahr ist.' Der Sekundaner hin- 
gegen soll lernen, dafs es in dem Satze: 'Rom schickte Gesandte* nicht Roma, 
in dem Satze: 'Numa, der Nachfolger des Romulus* nicht successor und in 
dem Satze: 'Dies ist schwerlich wahr' nicht difficilis nehmen darf. 

In der That befolgt auch Müller, konservativ wie er ist, im allgemeinen 
diesen Grundsatz. Aber ich meine, wenn einmal das Prinzip anerkannt ist, so 
darf auch nicht ohne Not davon abgewichen werden. So gehört meines Er- 
achtens das Hendiadyoin zur Lehre vom Adjektivum. Denn fides ac religio 
kann ich ganz gut übersetzen: 'Treue und Gewissenhaftigkeit', aber 'die gewissen- 
hafte Treue* nicht mit fides religiosa. Wendungen wie vas argenteum, Miltiades 
Atheniensis gehören zur Lehre von den Präpositionen, soleo aliquid facere zum 
Abschnitt über die Adverbia, fortissime pugnare zum Substantivum. Ein 
solches Verfahren ist nicht nur wissenschaftlich — insofern die möglichst 
strenge Durchführung eines Grundsatzes ein Zeichen echter Wissenschaftlich- 
keit ist — sondern es hat auch seine praktischen Vorteile: Man findet sich 
leichter zurecht, zumal wenn kein besonderes Inhaltsverzeichnis beigegeben ist. 

Noch brauchbarer würde dar Buch werden, wenn die ziemlich umfang- 
reichen Regel- und Beispielkomplexe in kleinere Abschnitte zerlegt würden. 
Die ersten Beispiele über die Substantiva (S. 13) kann ich erst übersetzen 
lassen, wenn zwanzig zum Teil recht lange Paragraphen durchgenommen sind! 
Nach einer solchen Zerlegung könnten auch die Übersetzungshilfen wegfallen 
oder wenigstens eingeschränkt werden. Häufig sind nämlich die Ausdrücke, 
in denen die Regel steckt, durch gesperrten Druck hervorgehoben worden. 
Diese Hilfen sollten höchstens in den zusammenhängenden Aufgaben gelegent- 
lich einmal und vielleicht dann und wann in den späteren Abschnitten, wenn 
auf eine frühere Regel zurückgegriffen wird, angewendet werden. 



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ZUR PÄDAGOGISCHEN PSYCHOLOGIE UND PHYSIOLOGIE 1 ) 

Von Franz Fauth 

Von dem zweiten Bande der Schiller-Ziehenschen Sammlung besprechen 
wir heute die drei ersten Hefte: 

Erstes Heft. Dr. Ferdinand Kern si es, Arbeitshygiene der Schale auf Grund von Er- 

müdungsme88ungen . 
Zweites Heft. Dr. G. Cordes, Psychologische Analyse der Thatsache der Selbsteniehung. 
Drittes Heft. Dr. Oskar Altenburg, Die Kunst des psychologischen Beobachtens. 

I 

Kemsies will durch seine Untersuchungen beitragen zur Lösung der alten 
Streitfrage, ob der Unterricht an unseren öffentlichen Lehranstalten hygienischen 
Arbeitsgesetzen entspreche und die Tragfähigkeit des jugendlichen Geistes ge- 
bührend berücksichtige, oder ob die heranwachsende Generation durch Über- 
lastung und Überhastung an Leib und Seele geschadigt werde. Die von ihm 
angestellten Versuche haben zum Gegenstand Qualität und Quantität von 
Rechenleistungen, Arbeitsgeschwindigkeit sowie Muskelleistung zu 
verschiedenen Zeitlagen bei einer Anzahl von Volks- und Realschülern. 

Versuche 1 
Zweck dieser Versuche war die Feststellung der Qualitätsänderung, welche 
ein kurzes Arbeitsstück bei einer bestimmten Arbeitsgeschwindigkeit in ver- 
schiedenen Zeitlagen des Schulvormittags erfährt. Eine dem methodischen 
Unterrichtsverfahren nachgebildete Versuchsanordnung wird sowohl die Arbeits- 
menge als die Arbeitsgeschwindigkeit auf ein Optimum beschränken und aus- 
schliefslich die Qualität von Arbeitsstücken gleicher Art und gleichen Umfangs 
bei hinreichender Belastung in verschiedenen Schulstunden beobachten. Auf 
diese Weise wird der Arbeitsgang der Schule durch das Experiment nicht 
wesentlich alteriert, wenn schon der Arbeitsgegenstand wechselt. Die Ver- 
suche, deren Zweck den Schülern nicht bekannt gegeben wurde, wurden in 
der 4. Klasse einer sechsklassigen Volksschule zu Berlin angestellt, das Durch- 
schnittsalter der Knaben war 10% Jahre. Zum Versuch erwiesen sich Rechen- 
stücke geeigneter als Diktate. Die Rechenaufgaben wurden aus dem Klassen- 



*) H. Schiller und Th. Ziehen. Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiet der 
pädagogischen Psychologie und Physiologie. Berlin, Verlag von Reuther und Reichard. 1898. 



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152 F. Fauth: Zur pädagogischen Psychologie und Physiologie 

pensum für Kopfrechnen gewählt, stellten also eine starke Belastung dar. Das 
Arbeitsstück enthielt 12 gemischte Exempel aus dem Zahlenkreis 1 — 1000, 
die Abwechselung war nach dem Verfahren einer Lehrstunde gedacht. Die 
ablaufenden psychischen Prozesse bei deu Schülern waren folgende: 1. Auf- 
nahme der vorgesprochenen Zahlen ins Gedächtnis. 2. Geistiges Erfassen der 
Zahlen. 3. Rechenakt. (Diese drei Prozesse sind zum Teil simultan.) 4. Fest- 
halten des Resultats. 5. Motorischer Akt des Niederschreibens. 6. Ausruhen, 
teilweise gestört durch die Nachbilder der vorangegangenen Prozesse. Die 
Rechenstücke wurden mitten in die verschiedenen Lehrstunden gerückt; die 
einzelne Versuchsdauer betrug 12 Minuten, für jede Einzelaufgabe wurde 
1 Minute Arbeitszeit angesetzt. Innerhalb jeder Aufgabe folgten aufeinander: 
1. Vorsprechen derselben durch den Lehrer. 2. Zweimaliges Nachsprechen 
durch die Schüler im Chor. Für diese beiden Thätigkeiten waren 10 Sekunden 
nötig. 3. Lösung. Durchschnittlich etwa 20 Sekunden. 4. Niederschrift der 
Resultate. 5. Arbeitspause. Genau nach 60 resp. 75 u. 8. w. Sekunden geschah 
die Nennung des folgenden Exempels. 

Ergebnisse. Die Ergebnisse zeigen mit vorrückender Zeitlage ansteigende 
Fehlerprozente. Die Klassendurchschnitte zeigen verschiedene gute Übereinstim- 
mungen mit Beobachtungen der Lehrpraxis, welche sich auch weiterhin bestätigen: 

1. Die erste Schulstunde stellt die günstigste Arbeitszeit des Tages vor; 
die letzte liefert durchschnittlich die schwächsten Leistungen. 

2. Der erste und zweite Wochentag zeichnen sich vor den andern durch 
ein anderes Arbeitsgesetz aus; der am Sonntag erworbene Vorrat an geistiger 
Frische und Widerstandskraft hat eine Arbeitsanregung und Aufbesserung des 
Arbeitswertes am Montag und Dienstag zur Folge. Der ungeeignetste Arbeits- 
tag ist der Sonnabend. 

3. Aufserordentliche Anstrengung in einer Lehrstunde macht sich in den 
folgenden ungünstig bemerkbar. 

4. Langsames Arbeiten bedingt bessere Arbeitsqualität. 

Die Versuche ergeben ferner, dafs es unter den Schülern Arbeitstypen 
giebt. Bei einem Typus zeigt sich die Tendenz, mit vorrückender Zeitlage 
besser zu arbeiten. Einen zweiten Typus bilden die Schüler, bei denen eine 
Arbeitsanregung nicht stattfindet, deren Leistungsfähigkeit morgens am gröfsten 
ist und dann merklich abnimmt. Ein dritter Typus wird repräsentiert durch 
solche Knaben, deren Leistungen an einer bestimmten Stelle des Vormittags ihr 
Maximum erreichen, vorher steigen, nachher fallen. Dem verschiedenen Arbeits- 
verhalten der Versuchspersonen liegen vermutlich verschiedene physiologische 
Zustände zu Grunde. 

Über die Zeit, in welcher die Arbeitspausen am besten eintreten, sagen 
die Versuche folgendes: 

Um 10 Uhr, d. h. also nach zweistündigem Unterricht, hat % der Klasse 
die beste Leistung erreicht, l / z arbeitet sich weiter herauf, Y 3 erleidet eine 
Depression, welche einem zweiten Optimum voraufgeht. Also ist an dieser 
Stelle die lange Pause gerechtfertigt. 



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F. Fauth: Zur pädagogischen Psychologie und Physiologie 153 

Um 11 Uhr steht das Verhältnis anders, es haben % unserer Schülerzahl 
das Optimum überschritten, die andern haben das Optimum noch nicht erreicht 
oder nähern sich der zweiten besten Leistung. Die Chancen für eine gute 
Leistung sind jetzt bei einer Klassenhälfte vorhanden. Auch zu dieser Zeit 
dürfte eine längere Pause sich wertvoll erweisen. 

Um 12 Uhr haben % der Schüler die beste Leistung hinter sich, nur % 
ist noch im stände, bessere Arbeitswerte zu erzielen. Deshalb wäre hier eine 
noch längere Pause an ihrem Platze; besser wäre es wohl, den Unterricht ab- 
zubrechen, da die noch zu erwartenden Resultate nur gering sind. 

In sämtlichen Arbeitstypen bemerken wir einen Steilabfall der Qualität 
nach jedem Optimum. 

In Betreff der Übung bemerkt Kemsies, man sei vielleicht berechtigt, den 
Schlufs zu ziehen, dafs leicht ermüdbare Schüler nur geringe Übungsfähigkeit 
besitzen, während ausdauernde sehr übungsfähig sind. Was die Dispositio 
betrifft, so ergab sich, dafs die Leistungen davon sehr beeinflufst werden. Die 
Disposition ist an einzelnen Tagen verschieden. 

Die Diskussion der Ergebnisse lehrt, dafs die Beantwortung der Über 
bürdungsfrage von der Beobachtung der individuellen Arbeitsverhältnisse unserer 
Schüler ausgehen mufs; es giebt Arbeitstypen, auf welche im gegenwärtigen 
Lehrverfahren nicht genügend Rücksicht genommen wird. Der Überbürdung 
fallen in erster Linie diejenigen Schüler anheim, welche ihr Arbeitsoptimum in 
den ersten Stunden einbüfsen und in den späteren Zeitlagen eine starke geistige 
Ermüdung in der Herabminderung des Arbeitswertes erkennen lassen. 

Versuche 2 
Es wurden Versuche gemacht, welche die Arbeitsgeschwindigkeit in 
verschiedenen Zeitlagen und ihr Verhältnis zur Arbeitsqualität betreffen. Das 
Ergebnis war, dafs gröfste Arbeitsgeschwindigkeit und beste Arbeitsqualität 
nicht immer zusammenfallen, dafs langsames Arbeiten bessere Arbeitswerte zur 
Folge hat und der Arbeitszuwachs mit dem Arbeitsfortschritt nicht zusammenfällt. 

Versuche 3 
(Ergographenmessungen) 

Diese Versuche knüpfen an die bekannten Untersuchungen Mossos über 
Muskelermüdung unter dem Einflufs geistiger Arbeit an. Mossos Apparat, der 
Ergograph, ermöglicht es, die jeweilige physiologische Leistungsfähigkeit eines 
Individuums festzustellen, indem er die mechanische Arbeit einer bestimmten 
Muskelgruppe bis zu ihrer totalen Erschöpfung direkt aufzeichnet. Der Apparat 
zerfällt in zwei Teile, in den Fixierapparat, welcher die Hand unbeweglich fest- 
hält, und den Registrierapparat, welcher die periodischen Kontraktionen des 
sich frei bewegenden und belasteten Mittelfingers auf einem rotierenden berufsten 
Cylinder graphisch angiebt. Die so entstehende Linie heifst Ermüdungskurve, 
sie ist für jede Person charakteristisch, d. h. in ausgeruhtem Zustande bei einem 
gewissen Gewichte und demselben Rhythmus entsteht die gleiche Linie. Wenn 



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154 F. Fauth: Zur pädagogischen Psychologie und Physiologie 

die Person durch vorangegangene Arbeit mehr oder weniger er- 
müdet ist, so verändert sich die Kurve. Nach Kemsies' Ansicht können 
Einwürfe gegen die Anwendung des Ergographen nicht das Prinzip, sondern 
nur die Empfindlichkeit desselben zur Messung der Ermüdung treffen. Kemsies 
hat an sich und an Schülern Versuche mit dem Ergographen, der neuerdings 
verbessert ist, gemacht und teilt die Ergebnisse mit. Dabei stellte sich auch 
heraus, dafs die Muskeldepression nach langer Arbeit sich durch die stärkste 
Willensanstrengung nicht verdecken läfst. 

Ergebnisse. Die muskuläre Ermüdung. Einer dem psychologischen 
und physiologischen Zustande der Versuchsperson angemessenen geistigen Arbeit 
folgt zunächst eine Vermehrung der muskulären Leistung (Anregung), bei längerer 
Fortführung der Arbeit entsteht eine Depression; einer relativ gröfseren An- 
strengung folgt schon nach kurzer Zeit die muskuläre Minderleistung. Wenn 
man an verschiedenen Versuchspersonen zu verschiedenen Tagen und Zeitlagen 
die Wirkung derselben Disciplin prüft, so stellt sich trotz des Wechsels der 
physiologischen Bedingungen ein bestimmter Ermüdungswert des betreffenden 
Faches heraus. Es liefse sich durch Berücksichtigung dieses Wertes der 
Lektionsplan so einrichten, dafs das Aufeinanderfolgen zweier anstrengenden 
Unterrichtsstunden (Mathematik und Turnen) vermieden wird und ein gewisser 
Ausgleich (Mathematik und Deutsch) stattfinden kann. Ermüdungswerte kommen 
nach den Versuchen zu: dem Turnen, Mathematik, Französisch, Erholungswerte 
dem Deutschen, der Religion, den naturwissenschaftlichen Fächern. Die sub- 
jektive Ermüdung. Das subjektive Gefühl der Ermüdung stimmte nach den 
Versuchen nicht immer mit dem objektiven Befund überein. Doch ist es für 
die Leistung der arbeitenden Person nicht ohne Einflufs. Aber die Meinung, 
dafs die Stimmung, welche der Unterricht erzeugt, und das Interesse, welches 
die Schüler den Gegenständen entgegenbringen, geeignet seien, der objektiven 
Ermüdung Einhalt zu thun, ist nicht haltbar. 

Die Überbürdung. 'Ein Kriterium der Überbürdung kann in der an- 
dauernden Muskeldepression gefunden werden. Dieser Ermüdungszustand zeigt 
sich, sobald der Organismus durch Mangel an Schlaf, Nahrung, hinreichender 
Bewegung im Freien, durch Überarbeitung oder krankhafte Störungen in einen 
Schwächezustand gerät, aus welchem er dann Tage lang, ja eine Woche hin- 
durch nicht herauskommt. Wird z. B. die Herabminderung der Muskelleistung 
am Tagesschlufs durch den Nachtschlaf nicht mehr ausgeglichen, so treten am 
folgenden Tage als natürliche Folge der Schulanstrengung noch tiefere Werte 
auf, deren Beseitigung erst durch besondere Mafsnahmen möglich ist. Oft 
bleiben solche Depressionen scheinbar unberücksichtigt, sie verschwinden wieder 
nach kräftiger Ernährung, vermehrtem Schlaf, geringerer Arbeitsleistung oder 
völliger Arbeitseinstellung, wobei die Jugend noch durch ihre grofse Elasticität 
unterstützt wird. Ob sich jedoch durch wiederholte starke und anhaltende 
Hemmungen vitaler Prozesse nicht dauernde Nachteile für die physische und 
psychische Entwicklung ergeben, ist eine Frage, welche man bejahen möchte. 
Der Schule müssen die meisten tiefen Werte zur Last gelegt werden; ohne ihr 



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F. Fauth: Zur pädagogischen Psychologie und Physiologie 155 

Zuthun würden viele Depressionen nicht stattfinden.' Nachdem K. eine ganze 
Anzahl von Messungsbeispielen mitgeteilt hat, schliefst er, dafs die Frage der 
zeitweiligen Überbürdung der Schüler unserer höheren Lehranstalten im 
bejahenden Sinne beantwortet werden kann. 

Schlufs 

Nachdem K. nochmals darauf hingewiesen, dafs die angestellten Versuche 
in unzweideutiger Weise ergaben, dafs die Belastung bald einen Schwäche- 
zustand des Geistes und des Körpers herbeiführt, dafs die Produktivität sinkt, 
die Arbeitsfrische und Arbeitsfreudigkeit verloren geht u. s. w., fafst er die 
wichtigsten Ergebnisse also zusammen: 

Die besten Arbeitstage der Woche sind der Montag und Dienstag, 
sowie jeder erste und zweite Tag nach einem Ruhetag, sie eignen sich infolge- 
dessen zur Vornahme von Prüfungsarbeiten. Die am Sonntag erworbene körper- 
liche und geistige Frische hält vielfach nur bis Dienstag nachmittags an. 
Deshalb dürfte sich empfehlen, den Mittwoch oder Donnerstag an höheren 
Schulen stark zu entlasten, eventuell zuweilen einen Ruhetag einzurichten. 

Die beste Arbeitszeit des Schultages sind die beiden ersten Schul- 
stunden, in denen die Mehrzahl der Schüler ihr Arbeitsoptimum besitzt; nur 
am Montag dürften die dritte und vierte Stunde bessere Arbeitswerte ergeben. 
Der dreistündige Nachmittagsunterricht der höheren Lehranstalten wirkt überaus 
anstrengend und müfste auf Montag verlegt werden. 

Pausen von längerer Dauer sind nach zweistündigem Unterricht sowie 
nach jeder folgenden Stunde einzurichten. 

Ferien üben einen kräftigende Wirkung aus, deren Folgen jedoch kaum 
länger als vier Wochen nachweisbar sind; auch aus diesem Grunde erscheint 
öftere Einschiebung von Ruhetagen in die Arbeitszeit wünschenswert. 

Der Lektionsplan hat die einzelnen Lektionen nach ihrem Ermüdungs- 
wert so zu gruppieren, dafs ein gewisser Ausgleich beginnender Ermüdung 
herbeigeführt wird. 

In späteren Zeitlagen kann durch verlangsamtes Arbeiten die Arbeits- 
qualität gehalten werden. 

Die Stundenzahl des Schultages soll ohne Not für Kinder von 10 — 12 
Jahren nicht 4 Stunden überschreiten, für 12 — 14jährige dürften 5 Stunden 
Maximum sein. 

Auf leicht ermüdbare Bänder kann im Unterricht weitgehende Rück- 
sicht genommen werden. 

Als weitere geeignete Arbeitsbedingungen erscheinen nach den 
Messungen: kräftige Ernährung, hinreichender Schlaf, Bäder und Spaziergänge. 

Zu der dankenswerten Arbeit Kemsies' müssen wir dieselbe Bemerkung 
machen wie zu allen ähnlichen Berichten von Messungsversuchen. Die Verhält- 
nisse des Schullebens sind nicht dieselben wie die bei Messungen, die Schlüsse 
von diesen auf jenes müssen mit Vorsicht aufgenommen werden. K. hat daher 
recht, wenn er verlangt, dafs seine Thesen durch Unterrichtsversuche ver- 



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156 F. Fauth: Zur pädagogischen Psychologie und Physiologie 

schiedener Art geprüft werden. Aber wenn auch da nicht allzuviel Neues 
herauskommen wird, und sich vielfach nur das bestätigen wird, was die Lehrer 
durch induktive Beobachtung selbst im Schulleben erfahren haben, so ist es 
doch dankenswert, dafs K auf die Wichtigkeit der Arbeitshygiene der Schule 
nochmals ausdrücklich hingewiesen hat. 

II 

Zuerst beantwortet Cordes die Frage, ob eine wissenschaftlich verfahrende 
Selbstbeobachtung psychischer Zustände, wie sie die Selbsterziehung fordere, 
möglich sei. Die moderne, experimentell verfahrende Psychologie ist einer 
solchen Selbstbeobachtung nicht günstig gestimmt. Und doch behauptet C, 
dafs die Selbstbeobachtung als eine selbständige psychologische Erkenntnis- 
quelle unentbehrlich sei. 'Thatsachenkomplexe, wie der der Selbsterziehung, 
lassen sich überhaupt experimentell nicht untersuchen, und die «Völkerpsycho- 
logie», die als Ergänzung der experimentellen Psychologie Geltung gefunden 
hat, kann hier nie zu Resultaten kommen/ C. ordnet dann die Selbstbeobach- 
tung in drei grofse Gruppen. In der ersten Gruppe wird Antwort gesucht auf 
die Frage: Welches ist die richtige begriffliche Bestimmung eines konkreten 
psychischen Erlebnisses? Eine zweite Gruppe von Selbstbeobachtungen erfolgt 
in Beantwortung von Fragen, welche sich auf das Zusammensein oder die 
Succession oder ein anderweitiges Verhältnis zweier oder mehrerer psychischer 
Thatsachen beziehen, die gerade verfliefsen oder eben erst verflossen sind. Die 
Selbstbeobachtungen der letzten Gruppe erfolgen zur Beantwortung von Fragen 
nach Erlebnissen, die der weiteren Vergangenheit angehören. Diesen drei 
Gruppen ist gemeinsam die Abhängigkeit von vorgebildeten psychologischen 
Begriffen und die Gefährdung durch unberechtigt sich aufdrängende Phantasie- 
bilder. Gegen beide Mängel giebt es nur ein Mittel: den immer wiederholten 
Vorsatz, nur das thatsächlich Beobachtete als Material für Untersuchungen 
zu benutzen. 

C. giebt nun eine Übersicht über den zur Bearbeitung stehenden 
Thatbestand. Unter 'Erziehung* versteht er die Thätigkeit eines Menschen, 
des Erziehers, welche eine nachhaltige Beeinflussung eines anderen Menschen, 
des Zöglings, in der Art zum Zweck hat, dafs die psychischen Vorgänge und 
die ihnen entsprechenden äufseren Handlungen des letzteren einem dem Erzieher 
vorschwebenden Ideale entsprechen. Bei der Selbsterziehung gehen die Gescheh- 
nisse von uns selbst aus und beziehen sich auf uns selbst, und sie haben die 
Beeinflussung von psychischen Vorgängen unseres Ichs zum Ziel. C. unter- 
scheidet dann die psychischen Voraussetzungen der Selbsterziehung und die 
Thätigkeit der Selbsterziehung selbst. 

1. Die psychischen Voraussetzungen der Selbsterziehung 
Er gruppiert unter diesem Gesichtspunkt die psychischen Thatsachen so: 
1. Vorstellungen von der vorläufigen Eigenart eines psychischen Geschehens. 
Dahin gehören die Erinnerungs Vorstellungen, die Vorstellung der Eigenart 



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F. Fauth: Zur pädagogischen Psychologie und Physiologie 157 

unseres psychischen Geschehens und der Ichbegriff. Besonders wichtig ist die 
psychische Disposition in uns, die aber nicht beobachtbar ist. 'Jedem Indi- 
viduum eignet in jedem Augenblicke seines Lebens eine persönliche Dis- 
position zu eigenartigen psychischen Vorgängen, die ein Produkt ist 
aus ererbter Anlage und erworbener Qualifikation.' 2. Vorstellungen anderer 
höher gewerteter Artungen des psychischen Geschehens. Selbsterziehung hat 
nach C. nur da statt, wo aufser den Vorstellungen von der persönlichen 
psychischen Eigenart noch Vorstellungen eines anderen höher gewerteten 
psychischen Geschehens vorhanden sind. Beide werden ihrem Wert nach mit- 
einander verglichen. Dabei soll sich wertvoll nicht mit angenehm decken, und 
das Wertgefühl soll verknüpft sein nicht mit einfachen Empfindungen, sondern 
mit Vorstellungen oder Begriffen und Urteilen, die sich auf Handlungen be- 
ziehen. Am intensivsten und klarsten kommt unser Wertgefühl zum Bewufst- 
sein bei der Vorstellung derjenigen Handlungen, welche wir als gut oder böse 
charakterisieren. Das ganze Gebiet solcher Handlungen nennen wir das sitt- 
liche. 3. Die dritte psychische Voraussetzung der Selbsterziehung ist der 
Wille zur Selbsterziehung. Das, was C. hier im Auge hat, ist unabhängig 
von den verschiedenen Theorien des Willens. Motive des Wollens nimmt er 
an, auch dafs der Vorgang sowohl Gefühle wie Vorstellungen enthält, da er 
als typische Motivation des Willens zur Selbsterziehung das Differenzurteil 
der Vergleichung zweier sittlich gewerteter Vorstellungsgegenstände annimmt. 
Ferner nimmt C. die Wollung als Wollvorgang an, der unter Aktivitäts- und 
Freiheitsgefühlen verläuft. 

2. Die Vorgänge der Selbsterziehung selbst 
'Es ist Selbsterziehung als Beeinflussung der eigenen psychischen Vor- 
gänge und der ihnen entsprechenden äufseren Handlungen gefafst, und im 
Laufe der Untersuchung hat sich dies näher dahin bestimmt, dafs unsere 
phsychischen Dispositionen als die Verursacher der einzelnen Vorgänge das 
Objekt der selbsterzieherischen Thätigkeit sind; dafs diese selbsterzieherische 
Thätigkeit dahin geht, die persönlichen Dispositionen so zu gestalten, dafs die 
Einzelgeschehnisse dieser höchsten sittlichen Wertung entsprechen. , C. unter- 
sucht nun die Selbsterziehung in Bezug auf intellektuelle, auf emotionale Vor- 
gänge und in Bezug auf das Wollen. 

1. Selbsterziehung in Bezug. auf intellektuelle Vorgänge. Die Aufgabe ist 
hier zuerst Bildung sachgemäfser Vorstellungen durch wiederholte Prüfung der 
konstant wiederkehrenden Vorstellungen. Wichtig ist die Bildung der Begriffe, 
sowohl derer, in welchen Gleichheitsmomente verschmolzen sind, sowie derer, 
welche Teile einer Gesamtvorstellung waren und durch ein bestimmtes Wort 
erinnerbar gemacht wurden. Hier dürfen wir bei der Selbsterziehung uns an 
der Wortbezeichnung des allgemeinen Begriffes nicht genügen lassen und uns auch 
nicht über die scharfe Auffassung des Einzelfalles hinwegsetzen. Bei der Selbst- 
erziehung zum richtigen Urteile ist das Haupterfordernis möglichst eindringende 
Beobachtung der realen Beziehungen der Objekte unserer Vorstellungen. 



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158 F- Fauth: Zur pädagogischen Psychologie und Physiologie 

Auch die ^persönliche Gefühlsbetonung , der Begriffe unterliegt der willkür- 
lichen selbsterzieherischen Einwirkung. 'Hier scheinen die sittlichende Macht 
der Religion, die erzieherische Bedeutung der Erinnerung an die Eltern und 
sonstige verehrte Personen, der Hauptnutzen der Beschäftigung mit vater- 
ländischer Geschichte und Heimatskunde und der sittliche Wert guter künst- 
lerischer Darstellung von menschlicher Arbeit und menschlichem Kampf in 
Wort und Bild ihren Grund zu haben.' Auch in Betreff der Wahl der Worte 
bei Beurteilungen kann eine selbsterzieherische Thätigkeit stattfinden. Zu- 
sammenfassende Werturteile nennt C. Maximen. Auch bei der Bildung dieser 
Maximen findet eine Selbsterziehung statt. 'Die Bedeutung der Maximen für 
das praktische Handeln ist vergleichbar mit der von Begriffen und allgemeinen 
Sätzen für wissenschaftliche Arbeiten.' 

2. Selbsterziehung in Bezug auf emotionale Vorgänge, wobei die Gefühla 
besonders in den Blickpunkt des Bewufstseins treten, und deren Willens- 
motivationskraft gerade in dem eigenartigen Charakter der in ihnen vor- 
kommenden Gefühlselemente und deren Verbindungen zu beruhen scheint. 
Diese Vorgänge können die Selbsterziehung fordern oder hemmen. Aufgabe 
der Selbsterziehung ist da, die störenden Dispositionen unschädlich zu machen, 
die fördernden zu mehren und zu stärken. Die hier in Rede stehenden Ge- 
fühle gehören den sinnlichen an, dem Gemeingefühl und den Affekten. 

3. Selbsterziehung in Bezug auf das Wollen. 'Durch die auf intellektuelle 
und emotionale Vorgänge gehende Selbsterziehung werden, falls sie erfolgreich 
ist, Dispositionen ausgebildet, die für jeden späteren Willensakt durch Schaffung 
und Gestaltung von Motiven mitbestimmend sind. Somit hat alle bisher er- 
wähnte Selbsterziehung Beziehung auf das Wollen. Es ist die Frage, ob es 
aufserdem noch Selbsterziehung giebt, die unter Absehung von der Ausbildung 
von Motivdispositionen auf eigentliche Wollensdispositionen geht.' Die*populäre 
Meinung glaubt es, die Psychologie verhält sich skeptisch. Doch C. glaubt, 
in der populären Argumentation stecke etwas Wahres. 'Der einzelne Willens- 
akt stellt sich uns nicht als psychologisch notwendiges Resultat des Zusammen- 
treffens von Motiven dar, auch nicht, wenn wir fest im Auge behalten, dafs die 
Motive nicht «fremde Kräfte», sondern Bestandteile unseres Geschehens sind. 
Sein Ausfall scheint vielmehr, wenn nicht von noch anderen, doch davon ab- 
hängig zu sein, a) wie das Subjekt auf Motive überhaupt zu reagieren pflegt, 
ob schnell oder langsam, b) wie grofs die Energie des Willens beim Subjekt 
im allgemeinen ist, und c) von der (willkürlichen) Einstellung der Aufmerk- 
samkeit/ In allen diesen drei Bedingungen des einzelnen Willensaktes liegen 
eigentliche Willensdispositionen vor, erreichbar für planmäfsige Selbsterziehung. 

'Das Resultat ist nicht umfangreich, aber inhaltsreich. In der Selbst- 
erziehung in Bezug auf das Wollen handelt es sich um Regulierung der natür- 
lichen Schnelligkeit der Wollensvorgänge und ihrer Energie im allgemeinen 
und um Einstellung der Aufmerksamkeit. Durch Übung und Gewöhnung er- 
wachsen die entsprechenden Dispositionen/ 

Das Büchlein von Cordes ist sehr abstrakt geschrieben; obwohl man seinem 



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F. Pauth: Zur pädagogischen Psychologie und Physiologie 159 

Inhalt zustimmen mufs, wird es doch daher wenig anregend wirken. Zu 
praktischen Zwecken hätte es rascher auf den letzten Teil, der die Vorgänge 
der Selbsterziehung selbst behandelt, losgehen und ohne Besorgnis für den 
systematischen Zusammenhang eine Reihe von Beispielen aus dem Leben 
bringen müssen. Anschaulichkeit hat hier mehr Wert als Zusammenhang. 
Die Anwendung auf die Schule fehlt leider ganz. Und dennoch müssen wir 
C. für seine schwierige Arbeit danken, denn er pflügt dieses Feld zuerst, und 
auf diesem Feld können noch schöne Früchte wachsen. Wir wünschen, dafs 
er durch eine Darlegung, wie sich seine gewonnenen Grundgedanken im Leben 
und in der Schule verwerten lassen, diese Früchte selbst ernte. 

III 
1. Altenburg sucht die Leser seines geistvoll und frisch geschriebenen 
Büchleins in sehr geschickter Weise auf deduktivem Wege von dem Wert der 
Aufgabe, die er sich gestellt hat, zu überzeugen. Er zeigt, wie schwer es doch 
ist, Begabung, Gedächtniskraft, Urteilsfähigkeit, Interesse, Aufmerksamkeit, 
Arbeit, das Verhalten im Examen bei unseren Schülern objektiv und richtig 
zu beurteilen, wie vor allem ein tieferes Ergründen der verschiedenen Indivi- 
dualitäten nötig sei. Er sagt am Schlüsse seines sehr zum Nachdenken anregen- 
den ersten Abschnittes, der das gewöhnliche Verhalten der Praktiker 
unter den Pädagogen charakterisiert: *Aus allen bisherigen Besprechungen 
geht, denke ich, das eine deutlich hervor, wie wir in der Praxis vor ungezählten 
Mengen psychologischer Probleme stehen; wir brauchen nicht erst darnach zu 
suchen. Es ist wie mit dem Gelde, das auf der Strafse liegt; aber es gehört 
einer dazu, der es findet. Und es weifs der psychologisch gestimmte Erzieher, 
wie er nur zuzugreifen braucht, um Erscheinungen, Fragen, Probleme in Hülle 
und Fülle zu finden, welche ihm keine praktische Fertigkeit allein, keine 
praktische Erfahrung allein zu lösen und zu entwirren vermag. Wir stehen 
alle Tage, ja in jeder Minute unserer der Schule gewidmeten Arbeit umgeben 
von psychologischen Erscheinungen, sie stellen uns immer wieder vor neue 
Rätsel. Ich gestehe, man wird immer ernster, je tiefer man psychologisch 
sehen lernt, man wird viel ruhiger, zurückhaltender im Urteil, weniger ab-* 
sprechend; denn je mehr man begreifen lernt, desto mehr lernt man geduldig 
nachgehen, nachfühlen, auch verzeihen. Aber ich gestehe, man wird in seinem 
Erzieherberufe auch fröhlicher, weil man immer mehr zu der Erkenntnis kommt, 
dafs auch in der geistigen Entwickelung nicht Laune und Willkür herrscht, 
nicht springendes Ungefähr, nicht Plötzlichkeit und Zufall, sondern Gesetz, 
Ordnung und Planmäfsigkeit. , 

2. Psychologische Bestimmtheiten als Mitgift von Landschaft, 
Grofs- und Kleinstadt, Haus und Gesellschaft 

In diesem Abschnitt weist Altenburg darauf hin, wie Landschaft, Grofs- 
und Kleinstadt, Haus und Gesellschaft bei den Schülern ganz bestimmte psycho- 
logische Eigenschaften hervorrufen; das zeigt sich bei der Landschaft in Sitte, 



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160 F. Fauth: Zur pädagogischen Psychologie und Physiologie 

Sprache, Volkstum, in der Beweglichkeit oder im Phlegma, in der Zurück- 
haltung oder im Vertrauen, in der Wirkung auf das Ohr, im Thätigkeitstrieb 
und der Unterdrückung desselben. Auch die Schüler der Grofsstadt und der 
Kleinstadt zeigen sich verschieden. Da wird es klar, wie viel die Anschauung, 
d. h. die klare Anschauung thut, zu der die Schüler oft erst gezwungen werden 
müssen. Die Grofsstädter sind leicht abgestumpft, die Kleinstädter eng in 
ihrem Gesichtskreis, aber gierig nach Neuem, zuweilen auch dürftiger im 
Sprachvorrat. Der Geist des Hauses und der Familie ist besonders wichtig 
für die psychologische Bestimmtheit zur Arbeit, schlimm ist es, wenn das 
Haus die Arbeit nicht ehrt, die Kinder dort nicht an geregelte Arbeit gewöhnt 
werden. Auch die Zerstreutheit der Schüler hat oft ihre Ursache im Leben 
des Hauses. Ein Grund des Widerstreites zwischen Schule und Haus liegt 
auch oft im gesellschaftlichen Ton des Hauses, der zur Oberflächlichkeit führt. 
Besonders verhängnisvoll ist es überhaupt, wenn die Einheit des erzieherischen 
Willens zwischen Haus und Schule fehlt, was zuletzt zu sittlichen Verkehrt- 
heiten führt. 

3. Psychologische Bestimmtheiten als Folge vorübergehender oder 

dauernder körperlicher Gebrechen 

In diesem sehr anziehend geschriebenen und durch viele Beispiele aus dem 
Schulleben veranschaulichten Abschnitte schildert Altenburg, wie die Fähig- 
keiten der Schüler psychologisch bestimmt werden durch körperliche oder 
durch körperlich-geistige Gebrechen. So führt er vor die Schwächen des 
Gesichts und Gehörs, die tief in das geistige Leben eingreifenden Folgen von 
Wucherungen in Nase und Hals, die psychologischen Wirkungen langer und 
häufiger Kinderkrankheiten, die geistige Bestimmtheit, die sich zeigt unter dem 
Einflufs derjenigen pathologischen Zustände, welche man früher schlechtweg als 
Skrophulose zu bezeichnen pflegte, die so weit verbreitete und so folgenreiche 
Blutarmut und Nervosität mit den charakteristischen Erscheinungen der Zer- 
streutheit und Zerfahrenheit, dann die Abnormitäten im Geistesleben gewisser 
Knaben, welche diese eigentlich ungeeignet für den Besuch öffentlicher Schulen 
erscheinen lassen, dann die Folgen körperlichen Wachstums, die vorübergehenden 
Anomalien der geistigen Entwickelung. Alle diese Erscheinungen zwingen zu 
sorgfältiger und andauernder individueller psychologischer Beobachtung und 
Behandlung. 

4. Psychologische Bestimmtheiten unter der Einwirkung des Unter- 

richts und der Lehrordnung 

Die Schule weifs den grofsen Wert der Arbeit sehr zu schätzen, und die 
neuere Pädagogik will mit ihren Untersuchungen weniger die Arbeit der Schüler 
kürzen helfen, sie will vielmehr Fingerzeige für eine zweckmässige Einrichtung 
der Schularbeit geben. Die fortgesetzte Thätigkeit der Schule hat einen wohl- 
thuenden Einflufs auf die äufseren sichtbaren Formen der Individualität der 
Schüler, sie durchgeistigt dieselben. Dafs die Schüler nicht stets die volle 



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P. Fauth: Zur pädagogischen Psychologie und Physiologie 1G1 

Reife für die Klasse haben, in der sie sitzen, ist Thatsache, dafs dieses psycho- 
logisch auf die Fähigkeiten einwirkt, ist natürlich. So und durch die Ein- 
wirkung unrichtig verfahrender, ungeschickter Lehrer entstehen schädliche 
Hemmungen des Selbstvertrauens, die hochgradig werden können, ferner die 
Scheu den Mund aufzuthun und die Verstocktheit, die Energielosigkeit, der 
Dilettantismus, der sich auf nicht zur Schule Gehöriges stürzt, das Lachen 
der Schüler. Reizloser, abwechselungsloser Unterricht erzeugt Ermüdung und 
geistige Abspannung. Die Halbheiten des Unterrichts erzeugen bei den Schülern 
das Gefühl der Unfähigkeit. Der Unterricht, der das richtige Sehen und Hören 
der Schüler zu wenig bei seiner Methode berücksichtigt, mufs natürlich auch 
allerhand Fehler erzeugen. A. bringt hier eine ganze Fülle von Beispielen. 
Dann prüft er die Examenarbeit psychologisch auf ihren Wert oder Unwert 
für die Gesamtbildung, er zeigt, wie der psychologische Habitus der Prüflinge 
von der Natur der gesamten Unterrichtseinteilung abhängt. Er berücksichtigt 
dabei besonders die Thätigkeit des Gedächtnisses. Sein Wort: Vereinzelung 
der Vorstellungen bedeutet den Tod des geistigen Lebens' trifft den Nagel auf 
den Kopf. Auch die erziehliche Wirkung der äufseren Organisation des Schul- 
lebens wird mit Recht gewürdigt. 

Im Schlufswort spricht A. die Überzeugung aus, dafs uns die päda- 
gogische Psychologie die Handhabe gebe, nicht nur zu ergründen, wie sich das 
Allgemeingültige der Schularbeit in jeder einzelnen Individualität abspiegelt, 
sondern auch, um jeder Individualität in ihrer Weise beizukommen. 

Aus dem Titel von A.s Schrift: r Die Kunst des psychologischen Beobachtens' 
sehen wir, dafs A. nicht eine systematische pädagogische Psychologie geben 
wollte, die uns zeigt, wie man es in jedem einzelnen Falle machen müsse, 
sondern dafs er glaubt, die Vorbedingung zu jeder psychologisch arbeitenden 
pädagogischen Thätigkeit sei die Kunst des psychologischen Beobachtens. Von 
diesem Standpuiikt aus beurteilend halten wir das lebendige, anregende und 
die Theorie stets mit der Schulerfahrung verbindende Schriftchen Altenburgs 
für eine Perle in der Schiller-Ziehenschen Sammlung. Jeder denkende Erzieher 
und Lehrer wird das Büchlein mit Genufs lesen. Doch auch dem Laienpublikum 
wird man es nicht ohne» Erfolg in die Hand geben. 



Neue Jahrbücher. 1899. II 11 



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EIN HERDERBUCH ALS SCHULAUSGABE 

Von Karl Landmann 

Ein Überblick über die landläufigen Schulausgaben deutscher Klassiker 
läfst uns neben der reichen Fülle mehr oder weniger geschickt appretierter 
Reproduktionen doch auch hier und da eine recht empfindliche Lücke wahr- 
nehmen. Dafs Lessing und Goethe und Schiller den Löwenanteil an jenen 
Sammlungen haben, ist ebenso selbstverständlich wie die minimale Vertretung 
Wielands, der kaum eine andere als historische Bedeutung für die Schule 
haben kann. Bleiben also von den sechs Grofsmeistern der zweiten klassischen 
Litteraturperiode noch Klopstock und Herder. — Auch für Klopstock wird 
heute nicht mehr das Wort gelten, dafs er lieber gelesen als gelobt sein wollte, 
es müfste denn gerade sein, dafs das Gymnasium auch nach der neuesten Lehr- 
ordnung noch ein besonderes Gewicht darauf zu legen hätte, die Horazischen 
Odenformen auch an einem deutschen Dichter zu üben. Für den 'Messias' 
aber, den ich wenigstens in zweien jener Sammlungen finde, mögen jene Aus- 
gaben wohl genügen. Anders bei Herder, der so sehr an der Spitze der auch 
über das gegenwärtige Jahrhundert hinausragenden Litteratur steht, dafs ihm 
auch fQr die Schule der gebührende Ehrenplatz angewiesen werden und erhalten 
bleiben sollte. Aber auch hier mache ich in dem halben Dutzend der mir vor- 
liegenden Verzeichnisse eine Wahrnehmung, die ein bedenkliches Streiflicht auf 
die in unserer Schullektüre herrschende Tradition werfen dürfte. Das von 
Herder in seinem letzten Lebensjahre nach einer französischen Quelle gedichtete 
Romanzenepos, jene Dichtung, auf die dasselbe Wort Anwendung findet, das 
Herder im Journal seiner Reise im Jahre 1769 über Corneilles Cid sagt: 
'Corneilles Cid ist spanisch, seine Helden noch spanischer, seine Sprache in 
den ersten Stücken noch spanischer' — Herders Cid also finde ich viermal 
ediert: in zwei Sammlungen neben je zwei Bändchen Prosa, in der dritten 
neben einem Bändchen ausgewählter Dichtungen, in der vierten als einzige 
Probe Herderschen Geistes. Was aber diesem Geiste seine treibende Kraft 
in dem grofsen Gärungsprozesse des achtzehnten Jahrhunderts verleiht: seine 
führende Stellung in der Sturm- und Drangperiode, das ist in keiner dieser 
Ausgaben zu genügendem Ausdruck gebracht. 

Dieser Sachlage gegenüber begrüfsen wir mit Genugthuung und Freude das 
neueste Heft (Nr. 30) der Sammlung, die uns schon so viel des Guten gebracht 
hat, der Veit Valentinschen: 'Herderbuch. Reisejournal — Shakespeare — 
Ossian — Volkslieder. In Auswahl. Herausgegeben von J. Loeber, 



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K. Landmann : Ein Herderbuch als Schulausgabe 163 

Professor am Königlichen Gymnasium zu Marburg. Leipzig, Dresden, 
Berlin. L. Ehlermann. 1898.' — Das Heft enthält auf seinen 92 Seiten 
77 Seiten Text. Die übrigen 15 Seiten verteilen sich auf einen Abrifs von 
Herders Leben in den Jahren, in die aufser seinen ersten bahnbrechenden 
Schriften: Fragmente über die neuere deutsche Litteratur und Kritische 
Wälder die auf dem Titel genannten Stücke fallen, und die zum Verständ- 
nisse dieser Stücke notwendigen Vorbemerkungen: diese beiden Zuthaten des 
Herausgebers in räumlich ziemlich gleichen Teilen. Vorausgeschickt ist eine 
Inhaltsangabe und eine Zeittafel über die wichtigsten litterarhistorischen Er- 
scheinungen von 1759 bis 1784, dem Jahre, in dem Herders bedeutendstes 
Werk, die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, zu er- 
scheinen begann. 

Nach diesen einleitenden Bemerkungen über die äufsere Anlage des Heftes 
fühle ich mich gedrungen, etwas näher auf seinen Inhalt einzugehen, indem 
ich mich zunächst dem Texte zuwende. Die Bezeichnung des Titels *In 
Auswahl' betrifft vor allem das Reisejournal. Dasselbe füllt in der Ausgabe 
von Suphan (Bd. IV S. 345 — 486) 142 Seiten, die in unserer Schulausgabe auf 
24% Seiten zusammengezogen sind, eine Kompression, die sich leicht begreifen 
läfst, wenn wir erwägen, dafs allein 46 jener 142 Seiten durch einen Unter- 
richtsplan in Anspruch genommen sind, den Herder für seine in Riga zu er- 
richtende Schule, eine Realschule in nuce, entwarf, und der allerdings für den 
organisierenden Pädagogen der Gegenwart recht viel des Interessanten, für die 
Primaner unserer höheren Schulen dagegen sehr wenig Anziehungskraft haben 
dürfte. Jedenfalls giebt die hier getroffene Auswahl eine auch für weitere 
Kreise der Gebildeten vollständig ausreichende Zusammenfassung der Schrift, 
die R. Haym (I 317) mit Recht 'das aufklärendste Dokument für die innere 
Geschichte des Herderschen Geistes' nennt. Für die Schule hat der Heraus- 
geber dieses Reisejournal noch besonders dadurch nutzbar gemacht, dafs er den 
Stoff in Abschnitte eingeteilt und diese durch Überschriften inhaltlich charakte- 
risiert hat. So entstand das Schema, das ich hier mitzuteilen mich nicht ent- 
halten kann: 1. Abschied von Riga. 2. Inwiefern er seilten Aufenthalt in Riga 
besser hätte benutzen können. 3. Gedanken und Hoffnungen beim Beginne der 
Fahrt. 4. Der Philosoph auf dem Schiffe. 5. Das Leben auf dem Schiffe. 
6. Die Lust zu fabulieren wird auf dem Schiffe geweckt. 7. Herder will Refor- 
mator Livlands werden. 8. Herder will durch Schrift Lehrer der Menschheit 
werden. 9. Die Litteratur Frankreichs unter Ludwig XIV. 10. Was kann der 
Deutsche aus Frankreichs Litteratur lernen? 11. Was Kopenhagen für Herder 
hätte sein können. 12. Was Frankreich für Herder sein soll. 13. Selbst- 
charakteristik. — Eine weitere stoffliche Einteilung wird unten zur Sprache 
kommen. Was aber bezüglich der Wiedergabe des Textes schon hier lobend 
erwähnt werden darf, das ist die Hervorhebung besonders wichtiger Stellen 
durch den Druck. So wird man z. B. auf S. 10 aus dem gesperrt gedruckten 
Satze: 'Ich wäre nicht ein Tintenfafs von gelehrter Schriftstellern, nicht ein 
Wörterbuch von Künsten und Wissenschaften geworden, die ich nicht gesehen 

11* 



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164 K. Landmann: Ein Herderbuch als Schulausgabe 

habe und nicht verstehe; ich wäre nicht ein Repositorium voll Papiere und 
Bücher geworden, das nur in die Bücherstube gehört', sofort das 'tinten- 
klecksende Säculum' heraustönen hören, das zwölf Jahre später die Weltfahrt 
antreten sollte, aus der es selbst die 'Moderne' unserer Tage noch als will- 
kommenes altes Erbgut gerettet hat. 

Das zweite und das dritte Stück unserer Auswahl, die Aufsätze über 
Shakespeare und Ossian, sind dem Buche Von deutscher Art und Kunst (Ausg. 
Suphan, Bd. V S. 159 — 257) entnommen. Sie bezeichnen den grofsen Wende- 
punkt in Herders geistiger Entwicklung, die Abwendung von dem französischen 
und die durch Shakespeare vermittelte Zuwendung zum deutschen Ideal, eine 
Wandlung, die durch den Einflufs Herders auf den um fünf Jahre jüngeren 
Goethe in Strafsburg von so eminenter Bedeutung für die Litteratur und das 
gesamte Geistesleben des deutschen Volkes geworden ist. Der Aufsatz über 
Shakespeare ist unverkürzt, der über Ossian mit Auslassung von 26 Seiten auf- 
genommen worden. Beide zusammen nehmen 41 Seiten der Schulausgabe in 
Anspruch. Eine Einteilung des Stoffes in besondere, durch Überschriften be- 
zeichnete Abschnitte schien dem Herausgeber hier nicht geboten, da die Hand 
des Verfassers selbst den Gang der Untersuchung durch geeignete Einschnitte 
im Druck genügend markiert hatte. Die Hervorhebung einzelner Stellen durch 
den Druck ist hier fast durchweg in Übereinstimmung mit dem Text der Aus- 
gabe geschehen, so dafs die Herstellung einer Einheitlichkeit des Textes des 
Reisejournals mit dem dieser beiden Stücke hier nochmals anerkennend erwähnt 
werden darf. 

Am wenigsten konnte das Streben nach Vollständigkeit bei der Auswahl 
der Volkslieder entscheiden, die in der Suphanschen Ausgabe mit den vorauf- 
gehenden Untersuchungen den ganzen fünfundzwanzigsten Band füllen. Die 
auf 12 Seiten zum Abdruck gelangten 11 Lieder sind mit Geschick ausgewählt, 
um die verschiedenen Volksstämme und zugleich auch verschiedene Gattungen 
des Volksgesanges zu repräsentieren, wozu übrigens auch schon in dem Aufsatz 
über Ossian eine erkleckliche Reihe belehrender Beispiele gegeben war. 

AVir betrachten Nunmehr die weitere Arbeit des Herausgebers, die eigene 
Zuthat zu dem ausgewählten Texte. Und hier haben wir zuvörderst eine nicht 
immer in Schulausgaben begegnende weise Beschränkung in dem Lebens- 
abrifs des behandelten Dichters zu rühmen: nichts von dem allen Wissenskram 
der Welt durchwühlenden Am#nuensis des Predigers Trescho in Mohrungen; 
nichts von dem durch einen russischen Regimentschirurgus nach Königsberg 
geretteten Studiosus der Medizin und — der Theologie; nicht einmal etwas, 
was doch ganz besonders zur Erwähnung hätte reizen können, von Herder als 
Hörer Kants. 'Den 22. November 1764 hatte Herder (1744—1803) Königs- 
berg verlassen, um eine Lehrerstelle an der Domschule zu Riga anzutreten. 
Von seinem Freunde Hamann (1730 — 1788), der ihm die Poesie als die Mutter- 
sprache der Völker gedeutet und das Verständnis für Shakespeare eröffnet hatte, 
war er dorthin empfohlen worden.' So beginnt S. 1 der Bericht über Herders 
amtliche Thätigkeit in Riga, worauf (S. 2/3) der über seine schriftstellerische 



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E. Landmann: Ein Herderbuch als Schulansgabe 165 

Thätigkeit an demselben Orte folgt und (S. 3/4) der über die Verhältnisse, 
welche Herder bewogen, Riga zu verlassen: diese vier Seiten als Einleitung 
zum Reisejournal, das den Schüler der Gegenwart ganz unvermerkt mit dem 
Pädagogen und Dichter vor 130 Jahren über Helsingör an den Küsten Jütlands, 
Hollands und Englands vorbei nach Painboeuf und Nantes und von da nach 
Paris wandern läfst, von wo aus ihn die Fortsetzung der Biographie (S. 33/34) 
auf dem Rückweg über Hamburg (Zusammentreffen mit Lessing und Claudius) 
nach Eutin, von da mit seinem hochgeborenen Zögling nach Strafsburg und 
wiederum nordwärts nach Bückeburg führt, woselbst die Sammlung c Von 
deutscher Art und Kunst' entsteht, die hier die Einleitung zum zweiten und 
dritten Stück unserer Ausgabe bildet, worauf endlich (S. 80/81) das Leben 
Herders bis zur Herausgabe der Volkslieder (1778 — 79) weitergeführt wird: 
überall nur das zum Verständnis der Auswahl Notwendige, dies aber in einer 
Fassung dargeboten, die ein klares Bild von den ersten fünfzehn Jahren der ihre 
Schwingen entfaltenden Genieperiode der deutschen Litteratur zu geben vermag. 

Mehr noch als bei der Herstellung des Textes und dem Entwurf einer 
Lebensskizze hat der Herausgeber bei den Vorbemerkungen Gelegenheit 
gehabt, sich als haushälterisch arbeitenden Pädagogen zu erweisen. Sie be- 
stehen teils in kurzen literarhistorischen Einleitungen zu den in Auswahl 
nachfolgenden Schriften, teils (unter dem Vordruck 'Sachliches') in Notizen 
über die darin angeführten Personen und Thatsachen, die einer Erklärung be- 
dürftig erschienen. Gerade hier aber habe ich neben dem bis daher gerne 
ausgesprochenen Lobe doch auch manche Ausstellungen zu verzeichnen, zu 
deren gewissenhafter Darlegung mich die Hoffnung auf eine recht bald nötig 
werdende zweite Auflage treibt; gerade hier sehe ich mich als angehender 
Siebziger veranlafst, für die Söhne des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu 
plädieren, da diese nicht gerne suchen, was bereitliegen sollte. 

Es ist gewifs nichts gegen die auch in andern Ausgaben unserer Samm- 
lung angewandte Einrichtung zu sagen, wonach der Text am Rande mit fort- 
laufender Zählung gewisser Absätze versehen ist, denen jene sachlichen Er- 
klärungen entsprechen sollen. Der Schüler soll, so ist es gedacht, sich diese 
Notizen für einen oder mehrere dieser Absätze genau ansehen, dann diese Ab- 
sätze lesen, sodann weiteren Vorrat an Präparation holen und weiter lesen 
u. s. w. u. s. w. Da wäre nun, angesichts des Petitdrucks dieses 'Sachlichen', 
eine recht deutlich hervortretende Bezeichnung dieser Zahlen geboten, sei es 
durch starken Fettdruck, sei es durch eckige Klammern, oder auf sonst eine 
augenfällige Art. Das ist aber hier keineswegs der Fall, und, was noch viel 
schlimmer ist, die Übereinstimmung der Zahlen am Rande des Textes mit 
denen der Vorbemerkungen ist durchaus nicht überall zuverlässig. So stehen 
z. B. in den Vorbemerkungen zu dem Aufsatz über Ossian (S. 58 f.) die Zahlen 
6 und 7 für 5 und 6; für die durch den Text gebotenen Zahlen 7, 8, 9 steht 
eine verlorene 9; für 11 steht 12, und die Zahl 13 der Vorbemerkungen ist 
mit den nachfolgenden Erklärungen ganz überflüssig gesetzt, da, wie es scheint, 
die Stelle der Suphanschen Ausgabe S. 202 Z. 4 v. o. bis S. 203 Z. 4 v. u. 



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166 E. Landmann: Ein Herderbuch als Schulausgabe 

während des Druckes auf Verlangen des nach Kürzungen lechzenden Verlegers 
gestrichen werden mufste, während jene anderthalb Zeilen des vorhergehenden 
Bogens ruhig stehen blieben. 

Wenn ich nun auch, wie soeben angedeutet, dergleichen Unzukömmlich- 
keiten von den Schultern des Herausgebers abzuwälzen geneigt bin, so bleibt 
doch noch eine nicht unbeträchtliche Anzahl anderer Notamina übrig, die ich 
nun in der Folge der Seitenzahlen zur Besprechung bringen will. — S. 5 Z. 11 
ist statt 'vierwöchentlichen' doch wohl 'vier wöchigen' zu lesen, vielleicht auch 
in der ersten Zeile des zweiten Absatzes 'Gährungsprozefs' durch Tilgung des h 
zu korrigieren. S. 7 Z. 9 vermisse ich die erklärende Notiz über Beaumelle, 
wie auch Ninon de Lenclos ihren Platz erst nach Moliere haben sollte. Z. 14 
fehlt vor J. Ludolf die Ziffer 7. Warum die Absätze 12, 13, 14 des Textes 
übersprungen sind, erklärt sich vielleicht aus der Weglassung von S. 360, 8 
bis 362, 14 der Ausgabe, mufs aber in den Vorbemerkungen zu Verwirrung 
führen, da hier die Bezeichnung 14 mit der nachfolgenden Erklärung ganz un- 
verständlich ist. Auch die Auslassung Porsters unter den zu Absatz 16 er- 
klärten Namen erscheint mir nicht gerechtfertigt. — S. 8 wünschte ich zu 
Absatz 22 anstatt der Erklärung * Wille, Kupferstecher bei Giefsen, geb. 1715* 
die Fassung M. G. Wille, berühmter Kupferstecher, 1715 in einer Mühle am 
Dünsberg bei Giefsen geboren', wozu vielleicht noch die Bemerkung zugefügt 
werden könnte, dafs dieser leider seinem Vaterlande untreu gewordene, aber als 
Führer Herders durch die Kunstschätze von Paris auch für uns sehr wichtig 
gewordene Künstler in der Kunstgeschichte noch über den viel bekannteren 
Chodowiecki gestellt wird (s. das Verzeichnis seiner Blätter: Nagler, Künstler- 
Lexikon XXI 466 — 496). Aufserdem würde ich am Schlufs der Vorbemerkungen 
auf dieser Seite gerne eine Angabe über Thomas auf Daguesseau und 'meine 
Freundin' (S. 32 Z. 12 und 11 v. u.) sehen, letzteres um so mehr, als diesem 
Worte auch nach dem moralischen Gradmesser unserer Primaner eine Bedeu- 
tung beigelegt zu werden pflegt, die es in diesem Falle durchaus nicht hat 
(vgl. Haym, I 76 f.). — In dem Texte des Reisejournals habe ich aufser dem 
schon erwähnten Sprung von 11 auf 15 nur noch den Druckfehler 'Lieb- 
habereien' (S. 32 Z. 11) zu verzeichnen. — Die hier wie in den folgenden 
Stücken in eckige Klammern gesetzten kürzeren Erklärungen (vgl. S. 26 Z. 15: 
Scharwerksarbeit [Fronarbeit]) sind durchaus zu billigen. 

Auch über die Vorbemerkungen zu dem Aufsatz über Shakespeare sind 
einige Auseinandersetzungen mit dem Herausgeber geboten. — Die Notizen mit 
dem Vordruck 8 gehören zu dem mit 9 bezeichneten Absatz, während eine 
zweite 9 am Rande des Textes als zweite Verschiebung bezeichnet werden 
mufs. — Die Schreibung Spinös a hätte wenigstens mit einem Worte als un- 
übliche gekennzeichnet werden sollen. Die unter 10 stehende Namensform 
Waberton steht in Widerspruch zu der im Text (S. 55 Z. 3) gebrauchten, wie 
auch der Shakesspeare am Ende des ersten Absatzes 9 nicht gerade als eine 
Zierde unseres Buches zu betrachten ist. — Mit dem 'britischen Sophokles* 
(55, 6/7) habe ich mich leichter befreundet als mit dem 'brit tischen Welt- 



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E. Landmann: Ein Herderbuch als Schulausgabe 167 

reisenden' auf S. 7 Z. 19. — Der letzten Note dieser Vorbemerkungen wünschte 
ich eine Fassung, die etwas weniger geeignet wäre, die Feder des Primaners 
zu einer mutwilligen Illustration herauszufordern. 

Aufser der Zahlenverschiebung in den Vorbemerkungen zu dem Aufsatz 
über Ossian, die der Ausgangspunkt zu unserer kritischen Beleuchtung gewesen 
ist, habe ich auch hier noch einige Einzelheiten zur Sprache zu bringen. — 
Zu 'Sachliches' 1 vermisse ich eine Bemerkung über die 'Zauberase' (S. 60 
Z. 10). Denn wenn auch der Mythologiekundige alsbald herausfindet, dafs 
damit jene nordische Göttin Gefjon gemeint ist, der die Entstehung des 
Mälarsees zu verdanken sein soll, so wäre eine kurze Andeutung hierüber 
doch nicht überflüssig gewesen. — Zu 3 ist der Druckfehler Garrilasso statt 
des im Texte stehenden richtigen Garcilasso zu beachten. — Im Texte selbst 
ist S. 61 Z. 10 (gleich nach Garcilasso) die Schreibung 'Serenade' statt der in 
der Ausgabe stehenden mindestens auffallend, so dafs hier vielleicht auch eine 
Andeutung über die französische und italienische Form des Wortes wohl an- 
gebracht wäre. — S. 65 Z. 15 v. u. wäre die Schreibung Rhapsodieen (vgl. z. B. 
Akademieen S. 54 Z. 8 v. u.) vorzuziehen. Dafs aber S. 72 Z. 19 sich 'Metha- 
physik' einschleichen konnte, ist ebenso bedauerlich wie — um auch das vierte 
Stück nach dieser Seite hin hiermit zu erledigen — der Druckfehler 'Befiel' 
auf S. 91 (Ein Spruch, Z. 1). — Sachlich hätte zu S. 72 Z. 9 noch bemerkt 
werden dürfen, dafs die 'einmal angeführten' Worte in der Stelle der Ausgabe 
stehen, die in der Schulausgabe S. 59 vor Absatz 1 ausgelassen ist. 

Ich bin durchaus nicht abgeneigt zu glauben, dafs sich beim Gebrauch 
des Buches in der Klasse nicht noch einige andere Berichtigungen und Ver- 
besserungen als notwendig oder wünschenswert herausstellen dürften. Das alles 
aber könnte mich nicht bestimmen, die von vornherein ausgesprochene Ansicht 
über die VortrefFlichkeit dieser Schulausgabe zurückzunehmen. Ja, ich würde 
dem Herausgeber raten, mit der zweiten, verbesserten Auflage des Herderbuches 
zugleich einen zweiten Teil vorzubereiten, der eine ebensogute Auswahl aus 
den Schriften 'Vom Geist der ebräischen Poesie' und den 'Ideen zur Philo- 
sophie der Geschichte der Menschheit' enthielte. Die deutsche Schule hätte 
gewifs alle Ursache, ihm für eine solche Bereicherung der deutschen Schul- 
ausgaben dankbar zu sein. 



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ANZEIGEN UND MITTEILUNGEN 



AUS DEM MITTELRHEINISCHEN 
HUMANISTENKREISE 

Mainz und der damit enge zusammen- 
hängende benachbarte Rheingau war mit 
Ausgang des 15. Jahrhunderts ein Lieblings- 
sitz des aufblühenden Humanismus. Die 
reichen Stifte und Klöster zu Mainz und 
im Rheingau bildeten vielfach geradezu 
kleine Akademien wissenschaftlich gebildeter 
Männer, welche sich mit Sammlung älterer 
Handschriften und der Wiegendrucke, der 
Vereinigung zu Bibliotheken und Nutzbar- 
machung dieser litterarischen Schätze be- 
schäftigten. Einen starken Rückhalt bot 
bei diesem Streben die aufblühende Mainzer 
Hochschule und die am Rhein tonführende 
Hochschule zu Heidelberg. Das dort Ge- 
lernte liefs sich zu Hause praktisch ins 
Leben umsetzen. Die Klöster, insbesondere 
die ues Benediktinerordens, strebten zu Mainz 
und im Rheingau danach, es ihrem Vorbild, 
dem Abt Trithemius von Sponheim, auf 
wissenschaftlichem Gebiet sowie mit Sammeln 
von Bücherschätzen nachzuthun. Namentlich 
erreichten die infolge der Einführung der 
Bursfelder Reformation sehr aufblühenden 
Abteien St. Johann oder Johannisberg im 
Rheingau sowie St. Jacob bei Mainz hierin 
wirklich Grofsartiges und brachten es zu 
•einer wissenschaftlichen Blüte von leider 
kurzer Dauer. l ) Mit Vorliebe wandten 
sich die damaligen mittelrheinischen Huma- 
nisten der lateinischen Dichtkunst zu, aber 
auch römische Altertumskunde, Geschichts- 
forschung und die Herausgabe älterer Hand- 
schriften ward eifrig betrieben. Mainz er- 
freute sich damals einer der ersten deutschen 
Geschieh tsprofessuren an einer Hochschule. 
Ihr Stifter war Ivo Wittig. *) Zu Mainz er- 



*) Jacobsberg ward ein zweites Bursfeld 
am Rhein in Bezug auf Zucht und Wissen- 
schaftlichkeit. Vgl. Katholik 1898 H Heft 2 
S. 101. 

*) Über Wittig (1473 — 1607) vgl. Roth 
im Katholik 1898 H S. 106 f. 



langten Theoderich Gresmund der Jüngere *), 
Jacob Merstetter, Wolfgang Trefler, Hebelin 
von Heimbach, Jacob von Mainz, Hermann 
Aengler oder Piscator, für den Rheingau 
Peter und Johann Sorbillo sowie Johann 
Curvello durch ihre litterarischen Erzeugnisse 
einen guten Ruf. Über das Wirken dieser 
Männer ist ein bescheidenes und sehr zer- 
streutes Material vorhanden. Dasselbe hier 
zu vereinigen und für einige dieser Männer 
biographisch zu verarbeiten, soll Zweck dieser 
Studie sein, und diese Mitteilungen sollen einer 
Geschichte des Mainzer und mittelrheinischen 
Humanismus in etwas vorarbeiten. Durch 
die Beleuchtung der in sich verwandten Be- 
strebungen dieser rheinischen Humanisten 
dürfte auch die Geschichte des Humanismus 
an sich gewinnen. 

I. Peter Sorbillo, Hermann Piscator 

Peter Sorbillo oder Schlarp *) entstammte 
einem angesehenen Geschlecht zu Geisen- 
heim a. Rh. Dasselbe kommt in vielfacher 
Verzweigung urkundlich vor. 8 ) Nach Sitte 

*) Das Leben und Wirken Gresmunds ist 
zu weitläufig, um hier Stelle zu finden. 
Eine Gesamtleistung über dessen Leben und 
Schriften fehlt immer noch. 

*) Nicht Schlarff, wie Widmann im Rhenus 
III S. 2 ohne allen urkundlichen Anhaltspunkt 
schreibt. Nur die Formen Schlarp, Schlarpp, 
Schlarpff und Schlapff kommen urkundlich vor. 

*) Zu den im histor. Jahrb. der Goerresges. 
1886 S.203 genannten Mitgliedern der Familie 
kommen als seitdem aufgefunden noch: Brun 
Schlarpp, 1481 Dienstmann des Erzstiftes 
Mainz unter Kurfürst Diether. Gudenus, 
Codex IV S. 465. — (v. Stramberg) Rheini- 
scher Antiquarius H. Abt. X S. 694. — Roth, 
Geschichte von Geisenheim S. 27. 1501 28. De- 
zember Johannes Schlarpp, Schöffe zu Geisen- 
heim. Ebd. S. 29. 1636 Michel Schlarp, 
Schöffe zu Geisenheim. Ebd. S. 44. 1546 
derselbe als Schultheifs. Ebd. S. 45. 1551 
derselbe als Oberschultheifs. Ebd. S. 159. 
Anton Schlarp ex Geisenheim, 1496 22. No- 
vember Baccalaureus der Theologie. Knodt, 
Hist. universitatis Mogunt. S. 44. 



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Anzeigen und Mitteilungen 



169 



der Zeit ward der Name Schlarp nach der 
Etymologie schlürfen (sorbere) in Sorbillo 
latinisiert. Unter der lateinischen Bezeich- 
nung ist Schlarp gemeinhin bekannt. Urheber 
dieser Umwandlung ist Peter Sorbillo jedoch 
keineswegs, denn bereits 1505 ward ein 
Johann Sorbillo zu Freiburg i. B. in die 
Matrikel der Hochschule eingeschrieben. *) 
Für Peter Sorbillo lag, nachdem er sich 
dazu entschlossen, Benediktiner zu werden, 
die Aufnahme in dem benachbarten Johannis- 
berg nahe, denn Geisenheim und die Abtei 
Johannisberg liegen dicht beisammen. Wann 
Sorbillo in Johannisberg eintrat, entzieht sich 
unserer Kenntnis; unter Abt Gerhard erhielt 
er die damals übliche gelehrte Kloster- 
bildung *) und bezog als jedenfalls befähigter 
Kopf auf Kosten seiner Abtei die Heidel- 
berger Hochschule, wo er am 17. März 1506 
als Petrus Sorbillo de Geysenem in die 
Stammrolle eingeschrieben ward. 8 ) Wir 
dürfen vermuten, dafs Sorbillo zu Heidel- 
berg theologische und humanistische Studien 
betrieb. Das dort Gelernte praktisch zu 
verwerten bot sich alsbald Gelegenheit. 

Wie zu Johannisberg, blühte auch in dem 
Benediktinerkloster St. Jacob oder Jacobs- 
berg bei Mainz der Humanismus. Damals 
lebte dort Hermann Fischer oder Aengler 
(Engeler), latinisiert Piscator, welche Be- 
zeichnung in der Litteratur gang und gäbe 
ist. Es wird angegeben, dafs er ein Schwabe 
von Geburt gewesen sei 4 ), aber auch Mainz 
wird als Beine Heimat bezeichnet. Er legte 
im Jahre 1501 Profefs zu St. Jacob ab, wurde 
dort 1505 Priester 5 ) und war möglicherweise 
ein Verwandter jenes Fridericus Piscator, an 
den Ulrich von Hütten einen Brief richtete. 6 ) 
Ob Piscator studierte und wo er etwa seine 
humanistische Bildung erhielt, ist unbekannt. 
Die Heidelberger Matrikel enthält seinen 



l ) Siehe unten unter Johann Sorbillo. 

*) Der Anonymus de origine et abbatibus 
S. Johannis in Rhingavia verlegt Sorbillos 
Leben und Wirkungskreis unter Abt Gerhard 
(1487—1496). Vgl. Roth, Geschichtsquellen 
aus Nassau I 3 S. 97. 

*) XVI kalendas Aprilis. Toepke, Heidel- 
berger Matrikel I S. 468. 

*) Severus Ms. im Pfarrarchiv zu Geisen- 
heim. Vgl. auch die folgende Anmerkung. 

6 ) Die Historia sancti Iacobi maioris 
apostoli in monte specioso prope Moguntiam 
Hs. der Mainzer Stadtbibliothek (folio) S. 425 
sagt: 6 April (obiit) Hermannus Engeler, 
Angeler sive Piscator Mogonus anno 1601 
die . . . (Lücke) prof. et 1505 die ... (Lücke) 
sacerdos. Hier erscheint Mainz als Geburtsort. 

•) Münch, Opera Hutteni m S. 166—158. 



Namen nicht. War er Schwabe von Geburt, 
so kann er in Süddeutschland studiert haben 
und dann nach Mainz gelangt sein. Piscator 
hatte sich im Geist des Humanismus auf 
römische Altertümer und deren Etymologie 
verlegt und war hierin Gesinnungsgenosse 
Sorbillos. Beide kannten -diese ihre gegen- 
seitige Neigung. Beide Abteien standen in 
nahem Verhältnis, schon die Ordensregel 
brachte dieses mit sich, nicht weniger die That- 
sache, dafs Jacobsberg das Visitationsrecht 
über Johannisberg ausübte. Die persönliche 
Bekanntschaft beider Männer läfst sich bei 
so vielen Berührungspunkten und der nahen 
Lage beider Klöster bestimmt voraussetzen. 
Sorbillo schrieb an Piscator einen Brief über 
den Ursprung der Stadt Mainz und behandelte 
darin namentlich die Herleitung des Namens 
dieser Römerstadt. l ) Der Brief begann mit 
den Worten: Devoto studiosoque fratri Her- 
manno Piscatori divi patris Benedicti monacho 
professo in monasterio S. Iacobi extra muros 
MoguntinenBes u. s. w. *) und schlofs: ad deum 
devotionis promoveto. 8 ) Auf diesen Brief 
antwortete Piscator in einem weitläufigen 
Schreiben mit dem Anfang: Divertissimo ac 
multarum historiarum peritissimo Petro Sor- 
billo monacho in monte S. Ioannis professo 
u.s. w. Ego te frater humanissime u. s. w. 
und dem Schlüsse : in civitate sancti maiestas, 
honor u. s. w. *) Die Geschichtsforscher 
Serarius, Legipontius, Joannis, Würdtwein, 
Reuter und Bodmann kannten diese beiden 
Briefe. Nach Reuter 5 ) befand sich eine 
Handschrift derselben in der Wiener Hof- 
bibliothek. Diese Angabe ist richtig, denn 
noch besitzt diese Bibliothek die einzige 
vorhandene Handschrift der Briefe. Wie 
dieselbe nach Wien gelangte und woher 
sie stammte, entzieht sich unserer Kenntnis. 
Eine zweite Handschrift befand sich in der 
Abtei Johannisberg im Rheingau 6 ), woher 



l ) Während der Anonymus in Roth, Ge- 
schichtsquellen I 3 S. 97 die Schrift Epistola 
de Moguntinae civitatis initio betitelt, heifst 
es in der Wiener Handschrift: De origine 
nominis Moguntiae. Letztere Bezeichnung 
entspricht mehr dem Inhalt des Briefes. 

*) Serario-Joannis, Rerum Mogunt. I S. 175. 

*) Tabulae codicum ms. V S. 319, 8996 
(Hist. prof. 244). Ch. XVI 183 f. 5 b — 8* Hs. 
der Wiener Hofbibl. Petrus Sorbillo id est 
Schlarp, epistola ad Hermannum Piscatorem 
de origine nominis Moguntiae. 

4 ) Serario-Joannis a. a. O. I S. 175. Vgl. 
Roth, Geschichtsquellen I 3 S. 97. 

6 ) AlbanBgulden S. 44. Schaab, Gesch. von 
Mainz I S. 67. Chmel, Wiener Hss. I S. 703. 

6 ) Roth, Geschichtsquellen I 3 S. 97. 



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170 



Anzeigen und Mitteilungen 



ja einer der Briefe ausgegangen. Eine Ab- 
schrift sah Prof. Bodmann. *) Möglicherweise 
entstammte diese der zu Grunde gegangenen 
und nur noch in Resten vorhandenen Biblio- 
thek des Johannisbergs. *) Vielleicht ist die 
Wiener Handschrift die des Jacobsbergs 
und lag dem Verfasser der Historia sancti 
Iacobi vor. 8 ) Einige Stellen teilte auch 
Serarius in seiner Geschichte von Mainz mit. 
Daraus läfst sich das Ganze beurteilen. *) 
Bei Piscator nimmt das Thema eine andere 
als von Sorbillo vorgezeichnete Wendung. 
Er geht zwar auf Sorbillos Anfragen und 
Ansichten ein, handelt aber auch de ortu, 
primaeva origine, incremento, variis devasta- 
tionibus urbis Moguntinae, sicut et de mona- 
steriis. S. s. Jacobi Mog. ft ) Daher auch der 
räumliche Unterschied beider Briefe. Sor- 
billos Arbeit nimmt in der Wiener Hand- 
schrift den Raum von Blatt 5 Rückseite bis 
Blatt 8 Vorderseite, die des Piscator Blatt 8 
Vorderseite bis Blatt 144 Rückseite ein. 6 ) 
Beide entnahmen ihre Angaben entweder 
älteren Quellen oder bildeten ihre Namens- 
deutungen selbst. Das letztere ist das Wahr- 
scheinlichere. Dem Sorbillo scheint weniger 
Material zu Gebote gestanden zu haben. 
Von Piscators Arbeit läfst sich wenig- 
stens sagen, dafs er sich in den Mainzer 
Geschichtsquellen fleifsig umgesehen hatte. 
Nach dem Zeugnis Bodmanns soll Piscator 
aus einer ungedruckten Handschrift der 
Mainzer Karthause: De triplici excidio urbis 
Mog. geschöpft haben. 7 ) Sorbillo leitet den 
Namen Moguntia von Magoz, Japhets Sohn, 
ab, erwähnt aber auch die Ableitung von 
den Magiern, welche Trebeta, der Begründer 
der Stadt Trier, von dort vertrieb, oder von 
dem Trojaner Moguncius, welcher mit Franco, 
dem Gründer Würzburgs, an den Rhein kam 
und Mainz angelegt habe. 8 ) Letztere Ansicht 
zieht Sorbillo als die beste Deutung vor. In 
einem Brief oder vielmehr einer Abhandlung 
widerspricht Piscator diesem und will auf 



l ) Rheingauer Altertümer S. 210 Anm. f. 

*) Über die Johannisberger Bibliothek vgl. 
Roth, Gesch. der k. Landesbibliothek zu Wies- 
baden S. 25. 

■) Hs. zu Mainz Stadtbibl. S. 33. 

4 ) Serario-Joannis a. a. 0. S. 38. 39. 126. 
Vgl. auch S. 7. 

6 ) Bodmann a. a. 0. S. 127 Anm. f. In 
der Historia sancti Iacobi, Hs. S. 425 heifst 
es : Incremento et variis devastationibus urbis 
Moguntinae, sicut et de vicissitudinibus 
coenobii S. Iacobi. 

•) Tabulae codicum ms. V S. 319. 

7 ) Rheingauer Altertümer S. 127 Anm. f. 

8 ) Serario-Joannis a. a. 0. I S. 40. 



Autorität des Mönchs Sigehard die zweite 
Ableitung von den Magiern gelten lassen. 
Er erwähnt aber auch, andere leiteten den 
Namen Moguntia vom Flusse Mogonus, Mogus 
oder Moenus und dem Bache Cia oder Scia, 
dem Zeybach, ab. *) Und damit traf er wohl 
das Richtige. Den Namen des sogenannten 
Eichelsteins bei Mainz führt Sorbillo auf die 
eichelartige Gestaltung des Denkmals zurück. 
Piscator läfst auch diese Deutung keineswegs 
gelten und betont, der Stein sei nicht wie 
eine Eichel gestaltet gewesen, sondern habe 
eine dreikantige Form gehabt. Auch berief 
er sich für das Drususdenkmal auf das 
Druseloch oder den Drusilacus. Bei Piscator 
fehlen meistenteils die Quellenangaben, bei 
Sorbillo, wie es scheint, immer. Als Meinungs- 
austausch ist der Briefwechsel heute vom 
Stande der Altertumskunde belanglos, aber 
als erster Versuch etymologischer Deutung 
von römischen Bezeichnungen und für die 
Benutzung damaliger Quellen interessant. 
Wir sehen ferner daraus, wie tief damals die 
Worterklärung stand, wenn wir auch zugeben 
müssen, dafs manche von Sorbillo und Piscator 
vertretene Ansicht noch nicht durch Besseres 
ersetzt ist. Manche Nachricht über jetzt zer- 
störte oder abhanden gekommene römische 
Denkmäler in und um Mainz bilden eine 
wertvolle Beigabe des gelehrten Wort- 
streites. *) An solchen Angaben ist nament- 
lich Piscators Abhandlung reich; ihr weit- 
schichtiger Inhalt erhebt sich aber keineswegs 
über den Brief Sorbillos, dem mehr Nüchtern- 
heit und Verweilen beim Thema eigen ist, 
während das Schreiben Piscators ein ge- 
wisses Prangen mit Kenntnissen und die 
Sucht zu belehren kennzeichnet, wodurch 
dasselbe keineswegs gewonnen haben dürfte. 
Aufser diesem Brief Sorbillos als be- 
kanntem ältesten Versuch, der Urgeschichte 
von Mainz gerecht zu werden, besitzen wir 
von Sorbillo ein lateinisches Gedicht auf 
den heil. Pantaleon. Dasselbe ist wie der 
Briefwechsel mit Piscator ungedruckt und 
umfafst in der Handschrift zwei Seiten. Das 



*) Ebd. I S. 40. Verwandte Ansichten 
stehen in einer Hs. der Mainzer Karthause, 
die später im Kloster Eberbach sich befand 
und nun Eigentum des Vereins für Nass. 
Altertumskunde zu Wiesbaden ist Diese 
Hs. hat den Titel: De prima fundatione 
civitatis, ex historia seu legenda S. Aurei et 
lustine, Blatt 48 — 65. Vgl. Joannis a. a. 0. 
H S. 15. Roth, Geschichtsquellen I 3 S. X. 
Annalen des Vereins für Nass. Altertumsk. 
IV S. 229. 

*) Bodmann a. a. 0. S. 210. 



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Anzeigen und Mitteilungen 



171 



Abfassungsjahr ist 1514. *) Die Bibliothek 
des Sir Thomas Philipps zu Cheltenham be-* 
safs dieses geistige Erzeugnis Sorbillos in 
einem aus St. Jacob bei Mainz stammen- 
den und von dem Mönch und Bibliothekar 
dieser Abtei Wolfgang Tref ler geschriebenen 
Sammelband. *) Wo die Handschrift sich 
jetzt befindet, ist mir unbekannt. Auch 
Trefler war Humanist und Geschichts- 
forscher. *) Dieser Umstand, wie auch die 
Beachtung, die er dem Gedicht Sorbillos 
als Teil seiner Sammelhandschrift schenkte, 
setzen persönliche Beziehungen beider Männer 
voraus. Nach einer allerdings unverbürgten 
Nachricht des Benediktiners Legipontius 
standen beide in Briefwechsel. 4 ) 

Schwer dagegen verträgt sich mit Sor- 
billo die Angabe, dafs ein Mönch Peter 
Slarp zu Johannisberg im Namen des Spon- 
heimer Konvents zu dessen Gunsten für den 
Prior des Jacobsbergs ein Schmähschreiben 
gegen den Sponheimer Abt Johann Tri- 
themius verfafst habe 6 ), während eine 
andere Quelle sagt, Trithemius und Peter 
Schlarp hätten in brieflichem Verkehr ge- 
standen. Will man nicht annehmen, dafs 
ein zweiter Peter Sorbillo oder vielmehr 



x ) Archiv der Gesellsch. f. alt. deutsche 
Geschichtsk. II S. 242. In den Forschungen z. 
deutsch. Gesch. XX S. 66 steht als Abfassungs- 
jahr durch Druckfehler 1534. Das Gedicht führt 
die Überschrift: Petri Sorbillonis monachi 
S. Ioannis in Rhingawia de 8. Pantaleone m. 
carmen elegant, de anno 1514. Diese Arbeit 
hat sich aufser in der Cheltenhamer Hs., welche 
aus dem Mainzer Kloster St. Jacob stammt, 
noch nirgends anderswo gefunden. 

*) Archiv a. a. 0. H S. 242. 

*) Über Trefler handeln Archiv für Frank- 
furts Gesch. u. Kunst N. F. V S. 372 f., wo- 
selbst weitere Litteraturangaben. Forsch, 
z. deutsch. Gesch. XX S. 39 f. Hist. polit. 
Blätter LXXXXIX S. 925 und Roth im Ka- 
tholik 1898 H S. 347. 

*) Forschungen a. a. 0. XX S. 40. 

6 ) Trithemii epistolae, Hagenau 1536, 
Blatt 199. Der Mönch heifst hier Slarp. 
Vgl. Silbernagl, Johannes Trithemius, 2. Aufl. 
S. 111, wo der Name Peter Slarpion lautet. 
Das Ereignis gehört zum Jahr 1506. Eigen- 
tümlicherweise wird Sorbillo im gleichen 
Jahr zu Heidelberg immatrikuliert, war also 
zu Johannisberg schwerlich anwesend, um 
in die Sponheimer Angelegenheiten einzu- 

f reifen. Trefler, der begeisterte Verteidiger 
rithems, dürfte auch schwerlich ein Gedicht 
eines Mannes der Aufbewahrung für wert 
gehalten und mit demselben in Briefwechsel 
gestanden haben, der sich einen solchen 
Verrat an der Sache des Benediktinerklosters 
Sponheim erlaubt hätte. 



Schlarp in der Abtei Johannisberg weilte, 
der dann obigen Brief geschrieben hätte, 
während der Altertumsfreund dieses Namens 
auch der Freund des Trithemius gewesen, 
oder beide Männer aus Freunden Feinde ge- 
worden wären, so bleibt nur die Möglichkeit 
die eine oder andere Angabe zu bezweifeln 
übrig. Es wäre doch sonderbar, wenn zwei 
gleichnamige Männer zur nämlichen Zeit 
eine Abtei beherbergt hätte. Ebensowenig 
sind Teile eines Briefwechsels beider Männer 
zum Vorschein gekommen. 

Der Literaturhistoriker Johann Butzbach 
schreibt dem Sorbillo weitere Gedichte und 
eine Rede an den Kardinal Raimund (Peraudi) 
für die Abtei Eberbach im Rheingau zu. l ) 
Diese Arbeiten sind unbekannt oder verloren. 
Sorbillos Beziehungen zu Butzbach sind hoch- 
interessant. Butzbach arbeitete eine Zeit 
lang als Klosterschneider zu Johannisberg. 
Er hatte früher den Studien obgelegen, nach 
und nach kam die alte Lust zum Studieren 
wieder über ihn. Die jüngeren Brüder zu 
Johannisberg redeten ihm zu, sich nach 
Deventer zu begeben. Dort lehrte Alexander 
Hegius. Butzbach gab diesem Rat nach, er 
erzählt, ein älterer Mönch Peter Schlarp*), 
ein sehr strebsamer und gelehrter Herr, habe 
ihm einen Empfehlungsbrief an Alexander 
Hegius in Deventer übergeben. Damit reiste 
Butzbach ab, obgleich der Abt 8 ) Einwand 
hiergegen erhob und am Erfolg zweifelte. 
Sorbillo war in der Nacht von Butzbach ge- 
weckt worden. In aller Eile fertigte dieser den 
lateinischen Empfehlungsbrief an. Obgleich 
dieser ohne ersten Entwurf geschrieben war, 
war sein Stil derart trefflich, dafs ihn Hegius 
drei- bis viermal las und sich nicht genug 
über die Geistesgaben des Verfassers wundern 
konnte. Nach dem Schreiben war Butzbach 
plötzlich auf dem Johannisberg aufgebrochen. 
Deshalb war das Schreiben von Sorbillo — 
wir setzen voraus infolge eines gegebenen 
Versprechens — in der Nacht erledigt worden. 
Die Abreise war zudem längere Zeit vor- 
bereitet, aber trotzdem plötzlich erfolgt. 
Sorbillo hatte nämlich an Butzbachs Eltern 
nach Wittenberg einen deutschen Brief ge- 
schrieben, worauf dieselben auf ihres Sohnes 
Plan, zu studieren, bereitwillig eingingen. 



*) Kardinal Raimund weilte 1503 am 
Rhein. Vgl. über denselben J. Schneider, 
Die politische und kirchliche Wirksamkeit 
des Legaten Raimund Peraudi, 1882. 

*) Demnach hiefs Sorbillo im Kloster 
noch Schlarp. 

*) Johannes de Segen, 1496 — 1615 Abt 
von Johannisberg. 



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172 



Anzeigen und Mitteilungen 



Ale Butzbach diese Einwilligung in Händen 
hatte, hielt ihn nichts mehr auf dem Johannis- 
berg zurück. 1 ) Sorbillos Empfehlung an 
Hegius half Butzbach über den Mangel an 
Kenntnissen hinweg. Butzbach fand Auf- 
nahme in des Hegius Schule, der aber bald 
darauf 27. Dezember 1498 starb. Butzbach 
blieb in dessen Schule, erledigte durch 
grofsen Fleifs in zwei Jahren das Pensum 
und kam 1499 in die Abtei Laach des 
Benediktinerordens. *) Auf diese Weise be- 
förderte Sorbillo ein Talent auf die gelehrte 
Laufbahn und verhalf dem Benediktiner- 
orden zu einem Mitglied, das jedenfalls zu 
des Ordens Ehre und Ansehen wirkte. 
Butzbach vergafs den von Sorbillo ihm ge- 
leisteten Dienst nicht, in seinen Ausdrücken 
über Sorbillo herrscht Ehrerbietung und 
Dankbarkeit. Ob wir aus dem Schreiben 
des Sorbillo an Hegius auf Bekanntschaft 
beider Männer schliefsen dürfen, bleibt 
zweifelhaft. Sorbillo dürfte im Jahr 1624 
zu Johannisberg gestorben sein. Als er 1498 
den Brief an Hegius schrieb, gehörte er 
bereits zu den ältesten Mönchen. Sein 
Freund Hermann Piscator überlebte ihn, da 
derselbe erst am 6. April 1526 aus dem 
Leben schied. 8 ) 

Erachten wir auch die dichterischen Er- 
zeugnisse Sorbillos für wertlos und lassen 
dessen andere Arbeiten 4 ) als unbekannt im 
Druck keine nähere Würdigung zu, so ge- 
bührt Sorbillo doch eine ehrenvolle Stellung 
als ältestem Freund rheinischer Altertums- 
kunde wie auch als Förderer des Butzbach. 

H. Johann Sorbillo 

Derselbe stammte ebenfalls aus Geisen- 
heim und war entweder ein Bruder oder 



*) Chronica eines fahrenden Schülers oder 
Wanderbüchlein des Johannes Butzbach, 
herausg. von J. Becker, Regensburg 1869, 
S. 181. Die Darstellung Widmanns im Rhenus 
HI S. 5 ist falsch. 

*) Wegeier, Das Kloster Laach S. 102. 

*) Historia sancti Iacobi, Hs. zu Mainz, 
S. 426. Über Engeler vgl. noch Archiv f. 
Frankfurts Gesch. u. Kunst N. F. V S. 370 f. 
Rhenus HI S. 19 f. Forschungen z. deutschen 
Gesch. XX S. 40. Bodmann, Rheingauer Alter- 
tümer S. 210 Anm. f. Hist. Jahrb. d. Goerresges. 
1886 S. 214. Roth, Geschichtsquellen I 3 S. 97, 
Mitteilungen an die Mitglieder des Vereins 
für Frankfurter Gesch. V S. 666. 

4 ) Bemerkt sei hier, dafs Sorbillo nicht 
Verfasser einer Chronik des Johannisbergs 
ist. Vgl. Korrespondenzblatt d. Gesamtvereins 
1882 S. 92. Eine ältere Johannisberger Chronik 
existiert jedoch unter den Papieren des Pfarrers 
SeveruB. 



doch ein Verwandter des Peter Sorbillo. Er 
ward 1505 in die Stammrolle der Hochschule 
zu Freiburg eingetragen. x ) Von dieser Stadt 
wandte er sich nach Heidelberg, wo er am 
7. Juli 1506 als Johannes Schlarp de Gyssen- 
ham dioc. Mogunt. in die Matrikel ein- 
geschrieben wurde.*) Sorbillo hatte zu un- 
bekannter Zeit Beziehungen zu Johann Geiler 
von Kaisersberg, dem berühmten Strafsburger 
Münsterprediger. Als derselbe am 10. März 
1610 starb, erschien auf dessen Tod eine 
Schrift: In Iohannis Kaiserspergii theologi 
doctrina vitaque probatissimi primi Argenti- 
nensis ecclesie predicatoris mortem planctus 
et lamentatdo cum aliquali vite sue de- 
scriptione et quorundam epitaphiis. Oppen- 
heim 1510. Quarto. 8 ) Diese Schrift enthält 
ein Epigramm des Johann Sorbillo auf 
Geiler von Kaisersberg. Dafs der Johann 
Sorbillo von Freiburg und Heidelberg und 
der Epigrammatist die nämliche Person 
ist, liegt nahe. 4 ) Welche Stellung derselbe 
im Leben bekleidete, ist noch nicht bekannt 
geworden. Zur Auseinanderhaltung gegen 
Peter Sorbillo und dieses dichterischen Er- 
zeugnisses wegen verdient er aber immerhin 
eine Erwähnung als rheinischer Humanist. 

EI. Jacob Merstetter 

Merstetter stammte aus Ehingen in 
Württemberg und dürfte um 1468 bis 1470 
geboren sein, da er am 26. April 1488 zu 
Heidelberg in die Stammrolle der Hochschule 
eingeschrieben und am 13. Januar 1490 zum 
Baccalaureus art. viae mod. ernannt ward. 8 ) 
Möglicherweise war er auch früher geboren 
und studierte erst als Geistlicher. Von 
Heidelberg dürfte er nach 1490 Pfarrer von 

*) (Riegger), Amoenitates Friburgenses 
literariae, Ulm 1775, I S. 54 f. Addenda. 
Ioannes Sorbillo ex Geisenheim Mogunt. 
dioec. 1606. Alb. acad. inscriptus legitur. 
Eine Tagesangabe fehlt. 

*) Septima die mensis Iulii. Toepke, 
Heidelberger Matrikel I S. 460. 

•) Beiheft zum Centralblatt f. Bibl. ed. 
Hartwig IV S. 7. Daselbst weitere Litteratur- 
angaben. 

2 Bemerkt sei jedoch, dafs bei Toepke, 
elberger Matrikel I S. 469, ein Johannes 
Sorbillo Moguntinensis die Iovis 14. Kalendas 
Iulii als in die Matrikel eingeschrieben be- 
zeichnet ist. Zweimal, am 18. Juni und 
7. Juli, dürfte der Geisenheimer Sorbillo 
doch nicht eingeschrieben worden sein. 
Der Moguntinensis ist demnach ein anderer 
Johann Sorbillo. 

5 ) Toepke a. a. 0. S. 390: Iacobus Meer- 
stetter (!) de Ehingen Constanc. dioc. XXVI. 
Aprilis. 



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173 



St. Emmeran zu Mainz geworden sein. Diese 
Stellung bekleidete er 1497 noch. l ) Kurfürst 
Diether von Mainz hatte eine Pfründe im 
Aschaffenburger Stift dem Lehrer des geist- 
lichen Rechts an der Mainzer Hochschule 
als Lektoralpfründe zugewiesen.*) Seit dem 
lö. September 1483 hatte Johann Bertram 
von Naumburg diese Pfründe innegehabt 
Sein Nachfolger im Amt eines Lehrers des 
geistlichen Hechts zu Mainz und damit In- 
haber der Aschaffenburger Lektoralpfründe 
ward Magister Jacob Merstetter *) ; er wurde 
hierin am 11. August 1510 als Licentiat der 
Theologie vom Kurfürsten Uriel von Mainz 
bestätigt. 4 ) Diese Professur hatte Merstetter 
bis 1512 inne, und er scheint direkt vom 
Pfarramt diese Stellung angetreten zu haben, 
wäre somit von 1490 bis 1510 Emmerans- 
pfarrer gewesen. Am 26. April 1612 ward 
Licentiat Nicolaus Fink sein Nachfolger in 
der Professur. 6 ) Merstetter ward auch Stifts- 
herr von St. Moriz zu Mainz und unter dem 
Rektorat des Johann Bertram Dekan der 
theologischen Fakultät an der Mainzer Hoch- 
schule. Das Jahr dieser Ernennungen steht 
nicht fest. 6 ) Als Universitätsprofessor bezog 
Merstetter 50 Gulden Gehalt in zwei Hälften, 
am 1. April und 1. Oktober, jährlich. 7 ) Ob 
sein Rücktritt oder Tod das Ende der Stel- 
lung veranlasste, wissen wir nicht. Mög- 
licherweise starb Merstetter zu Mainz. Er 
war nach eigener Angabe Schüler des Jacob 
Wimpfeling gewesen. Er bewahrte ihm 
als Lehrer stets treue Anhänglichkeit und 
lieferte Beiträge in dessen Schriften. 8 ) Zu 



*) Severus, Parrochiae Moguntinae S. 76. 

«) Knodt, Hist. univ. Mog. S. 43. Petzholdt, 
Neuer Anzeiger 1878 S. 260. 

*) Archiv des Hi9t. Vereins für Unter- 
franken u. s. w. XXVI S. 259. Diether selbst 
war der erste, welcher die Pfründe bezog. 
Merstetter war ihr dritter Inhaber. 

*) Knodt a. a. 0. S. 43. 

6 ) Über Fink vgl. Katholik 1898 H S. 243. 

6 ) Rektor war übrigens Bertram 1487. Vgl. 
Katholik 1898 H S. 243. 

^ Das ältere Statutenbuch der Mainzer 
Hochschule sagt Blatt 31: Decretorum pro- 
fessori debetur apud Achaffenburgenses pre- 
benda et canonicatus, dant 50 fl. ad rationem 
24 alb., quorum pars media cedit prima 
Aprilis, reliqua prima Octobris. Hs. der 
Mainzer Stadtbibliothek. 

*) Vgl. Soliloquium Wimphelingii pro 
pace chnstianorum et pro Helveciis, ut re- 
cipiscant. Quarto. Blatt 15 Rückseite ein 
Epigramma panegyricon Iacobi Merstetter 
Ehingensis in Solüoquium dulcissimi cogno- 
minis praeceptorisque sui Iacobi Wympfel. 
Vgl. Centralbl. f. Bibl. V (1888) S. 476. Der 



Mainz dürfte Merstetter in den Druckereien 
des Peter Friedberg und Johann Schoeffer 
des Amtes eines Korrektors gewaltet haben. *) 
Er erfreute sich zu Mainz grofser Beliebt- 
heit bei der Partei des strenge gesinnten 
Klerus wie auch bei den Gelehrten. Er war 
auch der Liebling des Kurfürsten Uriel von 
Mainz. Als Lehrer des geistlichen Rechts 
mag er manches Talent beim Studium ge- 
fördert haben. Zu seinen Schülern zählte 
auch Johann Hebelin von Heimbach, der 
Verfasser einer noch ungedruckten Arbeit 
über Mainzer Geschichte. 1 ) Hebelin war, 
wie sein Lehrer Merstetter, Stiftsherr von 
St. Moriz zu Mainz. Das gab Gelegenheit 
zum Verkehr. Hebelin widmete demselben 
sein genanntes Geschichtswerk mit den 
Worten: Iacobo Merstettir Ehingano . . . 
philosopho excellentissimo . . . q . . . acutis- 
simo, preceptori suo collendissimo (!) Iohannes 
Hebelinus de Heymbach eiusdem professionis 
. . . eiusdem . . . canonibus divi Mauritii 
Moguntinensis. S. P. D. 8 ) Das Widmungs- 
schreiben Hebelins an Merstetter ist vom 
1. März 1500. 4 ) 

Der Humanist Johann Rack oder Rhagius 
aus Sommerfeld, daher Aesticampianus, war 
zu Rom vom Papst zum Dichter gekrönt 
worden. Er besuchte hierauf die gröfseren 
Städte Deutschlands, stattete namentlich den 
Hochschulen Besuche ab und kam auch nach 
Mainz. Dort verkehrte er angeblich als Pro- 
fessor der Hochschule 6 ) mit den angesehen - 

bei Johann Schoeffer 1503 erschienene Mer- 
curius Trismegistus soll ebenfalls Verse von 
Merstetter enthalten. Vgl. Zeitschrift des 
Vereins f. rhein. Gesch. zu Mainz HI S. 19. 
Über den Druck vgl Roth, Buchdrucker- 
familie Schöffer S. 15. 

') Er leitete den Druck der 1499 bei 
Peter Friedberg erschienenen Oratio. Dar- 
über unten. Über den Druck Zeitschrift 
a. a. 0. HI S. 18 f., wo aber Schoeffer zum 
Drucker gemacht wird, während es Fried- 
berg war. Vgl. Centralblatt a. a. 0. IV (1887) 
S. 401. 

*) Vgl. Böhmer, Fontes rerum German. 
HI S. XLIV. Forschungen z. d. Gesch. XX 
S. 53 f. Roth, Geschichtsquellen I 1 S. X f. 
Anm. Archiv, f. Frankfurts Gesch. u. Kunst 
N. F. V S. 364 f. 

») Forschungen a. a. 0. XX S. 54. 

4 ) Ebd. S. 64. 

5 ) Kurfürst Berthold von Mainz bewog 
1501 den Rhagius, Lehrer zu Mainz zu 
werden. Vgl. WeifB, Berthold von Henne- 
berg S. 43. Katholik 1898 H S. 101. Von 
Rhagius' Professur zu Mainz schweigen jedoch 
die Universitätsakten, auch Knodt erwähnt 
ihn in den Hist. univ. Mogunt. nicht als 
Lehrer, 



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174 



Anzeigen und Mitteilungen 



sten Kreisen und lernte auch den Merstetter 
kennen. *) Als Rhagius 1507 zu Leipzig seine 
Epigrammata herausgab*), widmete er diese 
dem Kurfürsten Jacob von Mainz. Die Samm- 
lung enthält Gedichte auf den Domkustos 
Wilhelm von Hohenstein, die Kurfürsten 
Berthold und Jacob von Mainz, den Dom- 
probst Pfalzgrafen Georg, den Domdekan 
und späteren Kurfürsten Uriel (von Gem- 
mingen), den Domscholater Adolf Rau, den 
Siegelbewahrer Ivo Wittig, den Stiftsherrn 
Georg Behem an der Liebfrauenkirche. Eins 
der längsten Gedichte ist an Merstetter ge- 
richtet. Es heifst darin: 

Culte musarum celebris Iacobe 
Cura, Phoebeis Heliconis undis 
Lote, iucundos catus et venustos 
Condere versus u. s. w. 

Rhagius rühmt im Verlauf der 29 Strophen 
des Gedichtes Merstetters Rechtschaffenheit 
und Verdienste als Seelsorger sowie dessen 
Ansehen bei Hoch und Niedrig zu Mainz mit 
den Worten: 

Te colit magnae venerandus urbis 
Pontifez, castus pariter sacerdos, 
Vulgus et celsa procerum et diserta 
Turba virorum. 8 ) 

Rhagius teilte dem Merstetter auch brieflich 
sein Vorhaben, nach Frankfurt a. 0. über- 
zusiedeln, mit und besprach die ihm be- 
kannten Mainzer Verhältnisse. 4 ) Jedenfalls 
trug das an Merstetter gerichtete Gedicht 
zum Bekanntwerden des Mannes in weiteren 
Kreisen bei und ist beachtenswert als An- 
erkennung desselben als Dichter. 

Mit seinem früheren Lehrer Wimpfeling 
blieb Merstetter noch in steter Verbindung. 
Als 1499 das Jubeljahr der Heidelberger 
Hochschule gefeiert werden sollte, rüstete 



l ) Hebelin von Heimbach nennt den Mer- 
stetter aus Ehingen, Dichter und Theologen, 
den Schüler des St. Christofspfarrers und 
Mainzer Professoren Florentius Diel (1479 
bis 1518), neben Nicolaus Durckhammer aus 
Bingen, Stiftsherrn von St. Peter zu Mainz 
und Pfarrer zu Eltville, Heinrich Kesse aus 
Cöln, Binger Pfarrer und Professor der Theo- 
logie zu Mainz, sowie Rulinus aus Minzen- 
berg. Vgl. Katholik 1898 H S. 238 f. Dem- 
nach hatte Merstetter auch noch zu Mainz 
Vorlesungen Diels besucht. Severus, Par- 
rochiae S. 180 f. 

*) Ein Exemplar bewahrt die Münchener 
Hofblibiothek. 

*) Zeitschrift des Vereins f. rhein. Gesch. 
zu Mainz m S. 19 f. 

*) Archiv f. Litteiaturgesch. ed. Schnorr 
v. Carolsfeld XIV (1886) S. 344. 



Wimpfeling eine Festschrift und wufste 
solche, welche der Hochschule früher an- 
gehört hatten, zur Mitarbeiterschaft zu 
veranlassen. Die Schrift erschien 1499 im 
Verlag des Peter Friedberg zu Mainz ohne 
Orts- und Jahresangabe in Quarto auf 
22 Blättern. *) Dieselbe ist dem Andenken 
des Marsilius von Inghen, des ersten Rektors 
der Heidelberger Hochschule, gewidmet.*) 
Ihr Titel lautet: Ad illustrissimum Bavarie 
ducem Philippum comitem Rheni Palatinum 
et ad nobilissimos filios epistola. Oratio 
continens dictiones, clausulas et elegantias 
oratorias cum signis distinctis. Epigrammata 
in divum Marsilium inceptorem plantato- 
remque Gymnasii Heidelbergensis. Marailii 
quisquis depromit carmine laudem, stent 
sibi pro meritis premia digna suis. Vivat 
ter centum post Nestor vixerat annos Ely- 
sium repetens post sua ferta nemus. ■) Diese 
Schrift zerfällt in mehrere Teile. Auf den 
wiedergegebenen Titel folgt die Einleitung 
Wimpfelings als Herausgebers der Schrift, 
gerichtet an den Pfalzgrafen Philipp. Eine 
Zeitangabe fehlt. Dann kommt die Oratio 
continens dictiones, clausulas et elegantias 
oratorias als Arbeit des Marsilius von Inghen. 
Damit endigt Wimpfelings Anteil an der 
Schrift, wenn man ihm die Herausgabe der 
Schrift des Inghen noch zuweisen will, was 
zu bezweifeln kein Grund vorliegt. Nun 
griff als Mitherausgeber Merstetter zur Feder 
und lieferte als Baccalaureus der heil. Schrift 
eine Anrede an den geneigten Leser, worin 
er eine Anzahl von Dichtern einlud, den 
Marsilius von Inghen ebenfalls dichterisch 
zu feiern. *) Er wies darauf hin, viele dieser 
Dichter seien noch jung an Jahren und in 
der Kunst ungeübt. Als ersten dichterischen 
Beitrag lieferte er selbst ein Epigramm in 
Sapphischer Strophe. Dann folgen die Epi- 
gramme selbst und hierauf die von dem Pro- 
fessor der heil. Schrift, dem Magister Nicolaus 
Prowin, in der Heiliggeistkirche zu Heidel- 
berg auf Inghen gehaltene Leichenpredigt 6 ), 
hierauf die dem Johann Gensfleisch genannt 



») Zeitschrift a. a. 0. m S. 18 f. Centralblati 
a. a. 0. IV (1887) S. 401, woselbst weitere 
Litteraturancttben. Vgl. ebd. V S. 474. Thor- 
becke, Gesch. der Universität Heidelberg I 
(1886) S. 8 Anm. 19. 

*) Inghen starb 20. August 1396. 

■) Centralblatt a. a. 0. IV S. 401. Fischer, 
Typographische Seltenheiten I S. 22 f., der 
bereite Friedberg als Drucker erkannte. 

*) Vgl. Zeitschrift a. a. 0. HI S. 20 f. 
Centralblatt a. a. 0. IV S. 401. 

6 ) Zeitschrift a. a. 0. m S. 21. 



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175 



Gutenberg, dem Erfinder der Typographie, 
gesetzte Grabinschrift des Adam Gelthus und 
ein Epigramm auf denselben von Wimpfe- 
ling. l ) Die ganze Anlage der Schrift spricht 
dem Wimpfeling die Herausgabe, dem Mer- 
stetter nur die Mitarbeit zu. Die Ansicht, 
dafs Merstetter das Ganze redigierte und 
herausgab, ist jedenfalls verwerflich 1 ), in- 
dem für eine solche Annahme keinerlei 
Gründe vorhanden sind. Merstetter befand 
sich 1499 längst zu Mainz und leitete nur 
den Druck bei Peter Friedberg als Korrektor 
oder Redactor des Manuskripts. Dafs er zu 
vielen der Epigrammatisten der Schrift in 
näheren Beziehungen von Heidelberg her 
stand 8 ), ist annehmbar, ob er aber gerade 
alle Epigramme veranlasste und nicht auch 
hier Wimpfeling thätig eingriff, bleibt doch 
fraglich. Von Merstetter befindet sich noch 
ein Disthycon Iacobi Merstetter ehingii in eam 
ipsam politissimam orationem in Wimpfe- 
lings Schrift: Pro concordia dialecticorum. 4 ) 
Andere dichterische Erzeugnisse Merstetters 
stehen in den Schriften Wimpfelings: De 
hymnorum et sequentiarum autoribus, und 
in dessen Soliloquium. Das Todesjahr Mer- 
stetters ist unbekannt. 6 ) 

IV. jQhann Hebelin von Heimbach 

Nach einer unverbürgten Angabe stammte 
Hebelin aus einem der Dörfer dieses Namens 
dem rheinischen Lorch gegenüber, die als 
Ober- und Niederheimbach bekannt sind und 
zum Mainzer Erzbistum gehörten. Unnötig 
ist die Annahme, dafs Hebelin aus dem un- 
bedeutenden Dörfchen Heimbach bei Langen- 
schwalbach (Nassau) stammte. 6 ) Hebelin 
wäre dann der Familienname gewesen. 7 ) 



») Ebd. S. 21. v.d. Linde, Gutenberg S. 78 f. 

*) Zeitschrift a. a. 0. S. 20. Centralblatt 
a. a. 0. V S. 474. Zeitschr. f. vergl. Litteratur- 
gesch. ed. M. Koch N. F. IV (1891) S. 248. 

*) Centralblatt a. a. 0. IV S. 402 Anm. 
Vgl. Zeitschrift a. a. 0. m S. 20 f. 

4 ) Centralblatt a. a. 0. V S. 475. 

*) Nachfolger Merstetters als Pfarrer an 
St. Emmeran zu Mainz ward Jodocus Seibach 
legum licentiatus, welcher 1628 Dekan von 
St. Peter zu Mainz wurde. Vgl. Joannis, 
Her. Mogunt. H S. 499. — Über Merstetter 
handeln Zeitschrift des Vereins f. rhein. 
Gesch. zu Mainz IH S. 19 f. Knodt, Hist. 
univ. Mogunt. S. 43. Severus, Parrochiae 
S. 76. Katholik 1898 H S. 239. 

•) Forschungen z. d. G. XX S. 63. 

*) Die Führung zweier Vornamen Johann 
und Hebelin war zu Hebelins Zeit allerdings 
wenig gebräuchlich und würde diese An- 
nahme nur unterstützen. 



Diesem gegenüber giebt Würdtwein 1 ) an, 
Hebelin stamme aus Frankfurt a. M. und 
zähle zu dem Patriziergeschlecht der Heim- 
bach. *) Da Hebelin auch Vorname ist, 
scheint diese Angabe das Richtigere zu 
sein. Hebelin war 1478 geboren. 6 ) Seine 
Studien machte er zu Mainz. 4 ) Er ward 
Stiftsherr zu St. Moriz in Mainz und ver- 
legte sich auf das Studium der Geschichte der 
Stadt Mainz. Im Jahr 1600 lieferte er eine 
derartige Arbeit, vielmehr eine Materialien- 
sammlung hierüber. Dieselbe bewahrt die 
Würzburger Universitätsbibliothek als Hs. 
Nr. 187 in Selbstschrift Hebelins. Die Arbeit 
beginnt mit der Urgeschichte von Mainz, 
ohne sich näher damit zu befassen, bespricht 
die Stifte, die Kirchen, Kircheneinrichtungen, 
es folgt ein Verzeichnis der Bischöfe und 
Erzbischöfe von Mainz, das von Bonifazius an 
an Ausführlichkeit zunimmt. Bei Rhabanus 
Maurus fehlt nicht die Aufzählung der 
Schriften desselben. Es reihen sich an In- 
scriptiones ecclesiae S. Albani auf den 
Blättern 136, 148 und 149. Einiges über alte 
Grabsteine zu St. Alban steht Blatt 136. Auf 
Blatt 166 finden wir Angaben über die heil. 
Hildegardis und deren Schriften sowie einen 
Brief des Erzbischofs Arnold von Mainz an 
dieselbe mit deren Antwort. 6 ) Am Ende be- 
findet sich eine Aufzählung der benutzten 
Autoren in sehr verblafster Schrift. Hebelins 
Hand ist sehr unleserliche Kurrentschrift, wie 
solche die Notare für Entwürfe gebrauchten, 
und an vielen Stellen unentzifferbar. Der Titel 
ist mit Tinte von Hebelin selbst verschmiert 
und unkenntlich gemacht. Nebenan steht: 
Hie auetor delevit nomen suum motu proprio, 
ut non arguatur de ignorancia, quia in XXII. 
suo aetatis anno sequentia collegit, post 
hec alia vidit et errorem suum fatetur. ) 

x ) Würdtwein, Moguntia literata. Hs. der 
Frankfurter Stadtbibliothek. Die Angaben 
sind dort sehr dürftig. 

*) Es gab zu Frankfurt a. M. ein Ge- 
schlecht von Heimbach genannt Schönwetter. 
Vgl. Archiv f. Frankfurts Gesch. u. Kunst 
N. F. IV (1869) S. 232. 

8 ) Hebelin verfafste seine Arbeit 1500 im 
Alter von 22 Jahren, was als Geburtszeit 
1478 ergiebt. 

*) Hebelins Angaben weisen auf Mainz 
hin, auch nennt er den Merstetter seinen 
Lehrer. Hebelin kannte auch den Florentius 
Diel, Professor und Christofspfarrer zu Mainz. 
Vgl. Katholik 1898 H S. 238. 

6 ) Roth, GeschichtBquellen I 3 S. X Anm. 
Archiv f. Frankfurts Gesch. u. Kunst N. F. V 
S. 364 f. Forschungen z. d. G. XX S. 63 f. 
Vgl. auch oben unter Merstetter. 

6 ) Forschungen a. a. 0. XX S. 64. 



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Diese Bemerkung spricht für Hebelins Be- 
scheidenheit und kennzeichnet die Arbeit als 
Jugendversuch auf dem Gebiet der Mainzer 
Geschichte. 

Hebelin dürfte frühestens 1509 Dekan des 
St. Morizstifts geworden sein, da er am 
18. Januar 1509 in einer Streitsache mit dem 
clerus secundarius der Stadt Mainz als Dekan 
des Stifts vorkommt. l ) Nach anderer An- 
gabe wurde er bereits 1507 Dekan und wurde 
in dieser Stellung sowie als magister artium 
und Stiftsherr am Liebfrauenstiffc ad gradus 
zu Mainz im Jahr 1507 Rektor der Mainzer 
Hochschule nach dem Tode des Ivo Wittig. *) 
Am 31. August 1510 erscheint Hebelin wie- 
derum als Dekan in einer Streitsache wegen 
zwei Gulden Abgabe an den clerus secundarius 
zu Mainz und ward zur Entrichtung dieses 
Betrages angehalten. 8 ) Hebelin starb im 
Januar 1515 als Dekan seines Stifts. 4 ) 

Sein Mainzer Geschichtswerk kennzeichnet 
ihn als einen belesenen Mann. Er kannte 
die GeBchichtswerke des Eusebius, Martin 
von Troppau, Sebastian Brant, Blondus, Vin- 



*) Protokolle des Mainzer clerus secun- 
darius. Hs. der Mainzer Seminarbibliothek, 
Folio, S. 11 f. 

*) Knodt, Hist. univ. S. 11. 

*) Protokolle a. a. 0. S. 87 f. 

4 ) Gudenus, Codex UI S. 944: Decessori 
succedens supremum vitae diem explevit m. 
Ian. 1515. 



centius Belluacensis, Otto Frisingensis, Petrus 
de Vineis und Jacob Wimpfeling, die Vita 
s. Godehardi und einige Mainzer Lokalquellen. 
Im Jahr 1607 schrieb Gheverdes aus Köln 
Hebelins Arbeit ab und erweiterte dieselbe. 
Dessen Handschrift besitzt die Darmstädter 
Hof bibliothek. *) Hebelins Arbeit war dem 
Mainzer Forscher Hei wich und dem Pfarrer 
Severus bekannt. Letzterer teilte ein Stück 
derselben mit.*) 

Zu den mittelrheinischen Humanisten ge- 
hören noch Wolfgang Trefler 8 ), Johann Cur- 
vello 4 ), Mönche zu Jacobsberg und Johannis- 
berg, Johann Huttich 8 ) und Nicolaus Carbach •), 
die ich an anderer Stelle bereits behandelt 
habe. 



*) Forschungen z. d. G. XX S. 64 f. 

*) Severus, Parrochiae S. 180 f. Katholik 
1898 H S. 239 Anm. 2. Ich habe diese Stelle 
in der Würzburger Hs. wiedergefunden. Dem- 
nach befand sich Hebelins Arbeit noch vor 
1768 zu Mainz, wo sie Pfarrer Severus für 
seine Parrochiae benutzte. Katholik 1898 
H S. 289 Anm. 2. — Helwich schrieb die 
Grabinschriften von St. Alban aus Hebelins 
Arbeit ab: Ex codice vetusto, kannte aber 
den Urheber der Arbeit nicht. 

•) Katholik 1898 U S. 347—352. 

A ) Annalen des Hist. Vereins f. d. Nieder- 
rhein LXH (1896) S. 209 f. 

5 ) Euphorion ed. Sauer IV (1897) S. 772 f. 

6 ) Katholik 1898 H S. 362—868. 



Wiesbaden. 



F. W. E. Roth. 



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JAHRGANG 1899. ZWEITE lABTEILÜNG. VIERTES HEFT 



DIE ENTWICKELUNG DER GRIECHISCHEN AUFKLÄRUNG 
BIS AUF SOKRATES 1 ) 

Von Wilhelm Nestle 

Mehrfach weisen griechische Schriftsteller auf die Thatsache hin, dafs 
Hellas sich einer besonders günstigen Mischung der kliraatologischen Gegen- 
satze erfreue, und Hippokrates, der Begründer der wissenschaftlichen Medizin 
und der Volkerpsychologie, als solcher ein Vorläufer Montesquieus, nimmt 
keinen Anstand, die körperliche und geistige Überlegenheit der Europäer über 
die Asiaten aus dieser Ursache abzuleiten: ein Urteil, dem um so mehr Be- 
deutung zukommt, als der, welcher es fällte, nicht ein Stubengelehrter war, 
sondern seine Erfahrung auf eine Fülle von Beobachtungen gründete, die er 
in den wichtigsten Teilen der damals bekannten Welt vom Nilthal bis Süd- 
rufsland angestellt hatte. 8 ) Jedenfalls weist der hellenische Geist eine aufser- 
ordentlich günstige Vereinigung der verschiedenen psychischen Fähigkeiten des 
Menschen auf, deren harmonisches Verhältnis ihn zu seinem Vorteil von dem 
anderer ebenfalls hochbegabter Völker des Altertums, wie Inder, Ägypter, 
Israeliten und Römer unterscheidet, bei denen teils ausschweifende Phantasie, 
teils religiöse Beschauung, teils praktisch -nüchterner Sinn allzu einseitig sich 
geltend gemacht haben. Die Griechen haben sich eine Religion geschaffen, in 
der Gemüt und Phantasie mit verstandesmäfsiger Klarheit eine Verbindung 
eingegangen haben, wie sie sich ähnlich wohl nur in der germanischen Mytho- 
logie wiederfindet. Und wenn man gesagt hat, es sei eine That germanischen 
Geistes, dafs der Deutsche in der Götterdämmerung seine Götter zur Ver- 
nichtung verurteile und dadurch das Bedürfnis nach einer höheren Wahrheit 
bekunde 8 ), so wird diese Leistung durch das Streben des hellenischen Geistes, 
durch die bunte Götterwelt hindurch zu einem hinter ihr liegenden einheit- 
lichen Grund alles Seins zu gelangen, noch übertroffen. Entsprechend der 
vorhin gekennzeichneten Doppelnatur des hellenischen Geistes ist der Weg, 
auf dem sich dieses Streben bewegt, ein zweifacher. Sobald man angefangen 

*) Aus einer Schulrede, gehalten am Geburtsfest S. M. des Königs Wilhelm IL von 
Württemberg, 26. Febr. 1899, im Gymnasium in Ulm. 

*) Hippokrates kbqI &iqmv u. s. w. 19. 31. Herodot III 106. Eurip. Fr. 981. Med. 824 ff. 
Plato Phaedrus 54 S. 270 C. Soph. öd. Col. 668 ff., besonders 694 ff. Isokrates VH 74. Vgl. 
Pöhlmann, Hellenische Anschauungen über den Zusammenhang von Natur und Geschichte. 
Erlanger Habilitationsschrift. Leipzig, Hirzel 1879, S. 12 ff. 

*) F. Dahn, Bausteine. Nach andern wäre die Götterdämmerung von der christlichen 
Vorstellung des Weltgerichts beeinflufst. — Vgl. Zielinski, N. Jahrb. 1899, S. 85. 
Neue Jahrbücher. 1899. II 12 



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178 W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 

hatte, sich bei der alten Naturreligion nicht mehr zu beruhigen, suchte man 
teils Befriedigung des Gemütes in einer tiefsinnigen und phantasievollen Mystik, 
wie sie die orphischen Lehren boten, teils begann man in ebenso kühner als 
kindlicher Weise die Bahn wissenschaftlicher Aufklarung zu beschreiten un<^ 
so dem Verstände Genüge zu thun. Beide Richtungen dieser geistigen Ent- 
wickelung sind für die Folgezeit von eminenter Wichtigkeit geworden; ja man 
kann sagen: sie haben heute noch nicht aufgehört zu wirken. Zahlreiche Vor- 
stellungen jener orphischen Konventikel, namentlich über die Ausgestaltung des 
Lebens im Jenseits, über höllische Strafen und himmlische Seligkeit, sind in 
den christlichen Vorstellungskreis übergegangen, wie die vor wenigen Jahren 
aus dem unerschöpflichen Schatzhaus Ägyptens ans Licht getretene Petrus- 
apokalypse aufs deutlichste zeigt. 1 ) Und die wissenschaftliche Aufklarung der 
Griechen hat der monotheistischen christlichen Religion den Weg bereitet, so 
dafs mancher der altchristlichen Apologeten nach dem Vorgang der bekannten 
Rede des Paulus in Athen mit seinen christlichen Lehren an griechische Ge- 
danken anknüpfte, ja mitunter seine schärfsten Waffen zur Bekämpfung des 
Polytheismus aus der Rüstkammer der aufgeklarten Hellenen holte: so vor 
allen Clemens von Alexandria, dem wir eben deswegen eine Menge von Bruch- 
stücken solcher griechischer Denker verdanken. Und selbst als das Christen- 
tum über den Hellenismus triumphierte, e lebte vieles, allzu vieles von der 
Weisheit seines Greisenalters weiter in den spekulativen Ausgestaltungen des 
Christenglaubens'. 8 ) Weitaus das gröfsere Verdienst der griechischen Auf- 
klärung ist es aber, dafs sie für alle Zeiten und für die ganze Welt den Grund 
zu systematischer wissenschaftlicher Forschung gelegt hat, freilich damit auch 
zu dem Zwiespalt, der noch heute jedem denkenden Gebildeten zu schaffen 
macht, dem Zwiespalt zwischen Glauben und Wissen. Zwar schien es im 
Mittelalter noch einmal, als sei die Einheit beider wiederhergestellt: hatte sich 
doch die Kirche zugleich mit dem Anspruch auf die Vorschrift des Glaubens 
auch des Privilegiums der Bildung bemächtigt. Aber auf die Dauer hatte dies 
keinen Bestand. Die Renaissance nahm im Bunde mit der Reformation die 
gewaltsam abgerissene Entwickelung wieder auf, in der wir jetzt noch begriffen 
sind. Die Anfänge nun jener bedeutsamen Bewegung der griechischen Auf- 
klärung, bis ins fünfte Jahrhundert v. Chr., gedenke ich hier in Kürze zu 
verfolgen. 

Es sind im wesentlichen drei Gebiete, auf denen sich die Aufklärung 
hei den Griechen vollzieht: das religiös -philosophische, das naturwissenschaft- 
liche und das historisch -politische. Da diese aber vielfach ineinander über- 
greifen, so ziehe ich eine in der Hauptsache chronologische Betrachtungsweise 
vor. Die Wiege der griechischen und damit auch der europäischen Kultur 
bilden die kleinasiatischen Kolonien: dort ist das ritterliche Epos, dort die 



*) A. Dieterich, Nekyia. Leipzig 1893. 

*) Rohde, Psyche * 690. Hatch, Griechentum und Christentum. Deutsch von E. Preuschen. 
Freiburg i. Br. 1892. 



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W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 179 

Lyrik, dort die Naturphilosophie, dort endlich die Geographie und Geschicht- 
schreibung entstanden. Nur das Drama ist, übrigens nicht ohne Einwirkung 
aus dem Osten, im europäischen Mutterlande erblüht. Die ersten schüchternen 
Ansätze einer religiös -philosophischen Aufklärung zeigen sich, so paradox das 
klingen mag, schon im Homerischen Epos. Man hat früher sehr viel von 
Homerischer Naivetät gesprochen und kein Geringerer als Schiller hat in seiner 
Abhandlung e Über naive und sentimentalische Dichtung' auf Homer als eines 
der treffendsten Beispiele für die erstere Gattung hingewiesen, die eben des- 
halb, weil sie Natur ist, die Natur nicht bewufst empfindet und sucht. 1 ) Diese 
ästhetische Auffassung hat ganz gewifs ihre Berechtigung. Aber überschätzt 
wurde damals diese Naivetät Homers doch, schon darum, weil man noch gar 
keine Vorstellung von dem einige Jahrhunderte umfassenden Zeitraum hatte, 
über den sich die epische Produktion erstreckt: sind doch erst in dem Jahre, 
da Schiller jenen Aufsatz schrieb (1795), Fr. Aug. Wolfs Trolegomena in 
Homerum' erschienen. Es ist ferner bezeichnend, dafs schon Nägelsbach eine 
^Homerische Theologie' schreiben konnte, und in neuester Zeit haben Schliemanns 
Funde den Wahn, als stünde man mit der Homerischen Poesie am Anfang 
einer Kulturentwickelung, für immer zerstört und zu ihrem Teil dem Worte 
Herodots wieder zu seinem relativen Recht verholfen, dafs Homer und Hesiod 
den Griechen ihre Theogonie gemacht haben. 8 ) Zwar haben die Homerischen 
Dichter sich mit ihren religiösen Vorstellungen gewifs im wesentlichen an den 
Volksglauben angeschlossen. Aber angesichts der Unmenge von Lokalkulten 
mufsten sie eine gewisse Auswahl treffen, deren Ergebnis der in Zeus kulmi- 
nierende olympische Götterstaat war. Indessen damit war es nicht genug: 
auch über den Göttern, selbst über Zeus, waltet noch eine höhere absolute 
Macht, das Schicksal, ein Begriff, der, wie seine Benennungen zeigen, gewifs 
nichts Ursprüngliches ist, sondern in dem wir e eine erste dämmerhafte Ahnung 
der Gesetzmäfsigkeit alles Geschehens' 8 ) erkennen. Das Wort, dafs e Vielherr- 
schaft nicht gut ist, sondern Einer Herr sein soll', das in der Ilias in Be- 
ziehung auf menschliche Verhältnisse ausgesprochen wird 4 ), findet hier schon 
eine noch zaghafte Anwendung auf das Göttliche, wie denn auch später 
Aristoteles in der Metaphysik seine Auseinandersetzung über den Gottesbegriff 
damit beschliefst. ) Doch kaum ist der Begriff gewonnen, so bereitet seine 
Anwendung auch schon Schwierigkeiten: das menschliche Handeln aus eigenem 
Entschlufs widerspricht der Idee einer unbeschränkten göttlichen Macht, und 
mit einem neuen Worte, ^Hypermoron', das den Widerstand gegen das Schicksal 
bezeichnet, glaubt man das Problem der Willensfreiheit, die Frage nach dem 
Ursprung des Bösen und des Übels, das es nach sich zieht, gelöst zu haben. 6 ) — 



') Vgl. auch M. Schneidewin, die Homerische Naivetät. Hameln 1878. 
*) Herodot II 63. 

*) Gomperz, Griechische Denker I S. 24. Lehrs, Zeus und die Moira. Aufsätze aus 
dem Altertum* S. 220. 

4 ) B 204. ») Aristoteles, Metaphysik XI 10. 
•) a 82 ff.; vgl. Ps. Plato H. Alkib. 6 S. 142 D. 

12* 



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180 W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 

Eine starke und offenbar bewufste Emancipation von einer tief eingewurzelten, 
das ganze Altertum beherrschenden Volksvorstellung begegnet uns bei den 
Homerischen Dichtern in ihren Anschauungen vom Leben nach dem Tode. 
Von jenem furchtbaren Glauben, dafs die Seelen der Abgeschiedenen auch noch 
auf das diesseitige Leben einen Einflufs ausüben und dafs man deswegen durch 
allerlei Beschwörungen und Opfer ihre schädliche Einwirkung bannen und ihre 
Gunst sich erwerben müsse, jenem Glauben, dem auch das Wort e de mortuis 
nil nisi bene' seinen Ursprung verdankt, von ihm finden wir im Homerischen 
Epos nur noch vereinzelte Rudimente. Er ist vielmehr durch die Anschauung 
ersetzt, dafs mit der Bestattung des Leichnams die Seele in den Hades ein- 
geht, von dem es keine Rückkehr zur Oberwelt giebt. Vielleicht steht damit 
die Ersetzung der Sitte des Begrabens durch diejenige der Verbrennung der 
Leiche, die wir bei Homer ausschlief slich vorfinden, im Zusammenhang. 1 ) 
Endlich aber finden wir in den Homerischen Gedichten da und dort zwar noch 
nicht eine ausgesprochene Polemik gegen die Volksreligion, aber doch gering- 
schätzige Äufserungen über einzelne ihrer Elemente. Eine solche vernehmen 
wir in der Ilias aus Hektors Mund, der auf die Warnung des Polydamas, er 
möge ein ungünstiges Vogelzeichen beachten, entgegnet: 

Ich achte sie nicht, noch kümmert mich Solches, 
Ob sie rechtshin fliegen zum Tagesglanz und zur Sonne, 
Oder auch links dorthin zum nächtlichen Dunkel gewendet. 
Nein, des erhabenen Zeus Ratschlufs vertrauen wir lieber, 
Der die Sterblichen all' und unsterbliche Götter beherrschet. 
Ein Wahrzeichen nur gilt, das Vaterland zu erretten. 2 ) 

Allerdings wird hier das Vogelzeichen in Gegensatz zu einer ausdrücklich 
durch Iris von Zeus überbrachten Botschaft gesetzt; aber während nach dem 
gewöhnlichen Glauben auch die Vogelzeichen von Zeus kommen, wird hier der 
Glaube an diese als etwas nicht nur Gleichgültiges, sondern geradezu Ver- 
kehrtes und Irreführendes hingestellt. Ganz ähnlich äufsert sich in der Odyssee 
der freilich als frech geschilderte Freier Eurymachos über die Bedeutung des 
Vogelflugs und Telemach über die Weissagung überhaupt. 3 ) Und auch an 
die Götter selbst wagen sich die Homerischen Dichter. Allbekannt ist 
jenes Lied des phäakischen Sängers Demodokos von dem durch Hephästos 
entdeckten Liebesbund des Ares und der Aphrodite, das man unmöglich 
noch als Naivetät auffassen kann, sondern in dem man eine Ironisierung 
der Menschlichkeiten der griechischen Götter erkennen mufs. 4 ) Das ist nun 
zwar ein späteres Einschiebsel, stammt aber eben doch noch aus der Zeit, 
da die epische Dichtung noch im Flusse war, also spätestens aus der ersten 
Hälfte des sechsten Jahrhunderts. Auch in einer Erzählung der Odyssee 
glaube ich nicht mehr einen naiv gläubigen, sondern einen schalkhaften Dichter 
zu hören: ich meine die Scene, wo Helios sich bei Zeus beklagt, dafs die 
Gefährten des Odysseus die heiligen Rinder auf der Insel Thrinakia geschlachtet 

*) Rohde, Psyche S. 26. *) M 238 ff.; Botschaft der Iris A 186 ff. 
s ) ß 177 ff. a 415 f. 4 ) # 266 ff. 



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W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 181 

haben, und droht, wofern ihm nicht Genugthuung werde, in den Hades hinab- 
zutauchen und hinfort den Unterirdischen zu leuchten, bis ihn Zeus beruhigt 
und bittet, dafs er auch künftig den unsterblichen Göttern und den sterblichen 
Menschen scheinen möge. 1 ) Neben diesen mannigfachen positiven Zeugnissen 
mag auch noch ein testimonium ex silentio für die verhältnismäfsige Frei- 
geistigkeit der Homerischen Dichter angeführt werden. Man weifs, was bei 
primitiven Völkern der e Medizin mann* bedeutet, und es ist darum ganz gewifs 
nicht zufällig, wenn wir in einem so umfangreichen Gedichte wie die Ilias, wo 
so häufig von Verwundungen die Rede ist, auch nicht einen einzigen Fall 
finden, in dem eine Heilung durch irgend welche Zaubermittel, Besprechungen 
u. dgl. herbeizuführen versucht würde. 8 ) 

Aus dem uns nur in geringen Resten erhaltenen * Epischen Cyclus' soll 
nur eine Stelle der dem Stasinus zugeschriebenen 'Kypria' angeführt werden, 
in der gesagt wird, dafs Zeus den Trojanischen Krieg habe entbrennen lassen, 
um die Erde vor Übervölkerung zu bewahren. 8 ) 

Unter ganz andern Verhältnissen als das ritterliche Epos in Kleinasien 
ist im bäuerlichen Böotien die Dichtung des Hesiod erwachsen. Herrscht dort 
Kampfeslust und Lebensfreude, so lastet hier eine düstere Stimmung auf den 
Seelen der Menschen. Hesiod will auch mit seinen Gesängen nicht unter- 
halten und erfreuen, er mag nicht fabulieren, nicht *Lügen erzählen' 4 ), sondern 
er will die Wahrheit sagen, belehren und bessern. Daher bringt er mit seiner 
'Theogonie' System in den Wirrwarr der griechischen Götter und zugleich 
fängt er an zu spekulieren, indem er die Vorstellungen vom Chaos, vom welt- 
bildenden Eros, von Eris, dem Prinzip des Streites u. dgl. einführt. So ist 
seine Theogonie oft nahe daran, sich in eine Kosmogonie zu verwandeln. Und 
der berühmte Mythus von den vier oder fünf Weltaltern 5 ), was ist er anders 
als eine primitive und sehr pessimistische Geschichtsphilosophie? Dafs der 
Dichter trotz seiner Frömmigkeit dem Volksglauben und -brauch mit einer 
gewissen Freiheit gegenübersteht, zeigt ein Bruchstück der *Melampodie', in dem 
es heilst, dafs kein menschlicher Seher den Willen des Zeus erkunden könne. 6 ) 

Das Epos wurde von der Lyrik abgelöst. Es liegt in deren Wesen, dafs 
sie es mehr mit der Aussprache von Gefühlen als mit verstandesmäfsigen Er- 
kenntnissen zu thun hat. Wo die Dichter auf allgemein Menschliches zu 
sprechen kommen, macht sich ein tiefes Gefühl der Hinfälligkeit alles. Irdischen 
geltend: die Menschen sind wie die Blumen des Feldes, die, kaum erblüht, an 
den Strahlen der Sonne verwelken. 7 ) Solche Betrachtungen führen geradezu zu 



*) ii 874 ff. 

*) Dagegen findet sich in der gegenüber den adeligen Kreisen der Ilias schon etwas 
bürgerlich angehauchten Odyssee einmal eine iicaoidrJT 467. Hochschätzung der Ärzte : vi 514; 
q 383 f. Daremberg, La me'decine entre Homere et Hippocrate, Revue arche*ologique 1869. 

*) Fr. 1. Kinkel, Ep. Gr. Fr. S. 26. 

*) Theog. 27 f. gegen t 203 gerichtet. 

*) Erga 109 ff. •) Fr. 187 Kinkel = 197 Rzach. 

^ Mimnermus Fr. 2, 1 ff. Lyr. Gr. ed. Bergk-Hiller-Crusius 4 1897 S. 31. 



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182 W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 

einer pessimistischen Auffassung des Lebens, die überhaupt in dem griechischen 
Denken tief eingewurzelt ist 1 ), und aus der Spruchdichtung des Theognis 
tönt uns zum erstenmal das schwermütige, später so oft wiederholte Wort 
entgegen: 'Nicht geboren sein ist das Beste und, einmal geboren, so früh wie 
möglich in die Pforten des Hades einzugehen.' *) Der Dichter verzweifelt an 
der Gerechtigkeit des Weltlaufs und dessen offenbare Unbilligkeit stellt ihm 
Frömmigkeit und Sittlichkeit in Frage. Im Grunde stammt alles Übel von 
den Göttern, die den Menschen nicht einmal den Weg, ihnen zu gefallen, ge- 
zeigt haben. So ist das einzige, was den Menschen bleibt, die Hoffnung und 
die ihnen von den Göttern verliehene Vernunft. 8 ) Ahnlich wie Theognis 
denken Mimnermos, Simonides von Keos und sein Neffe Bakchylides, 
von dessen Liedern uns jüngst der Boden Ägyptens eine ansehnliche Zahl 
wieder geschenkt hat. 4 ) Von einer bestimmten Stellungnahme zur Volks- 
religion ist bei diesen Dichtern keine Rede. Die bekannte Änderung, die 
Stesichoros in seiner Palinodie an der Helenasage anbrachte, dafs nämlich 
der troische Krieg um ein von den Göttern geschaffenes Scheinbild der Helena 
entbrannt sei, während die wirkliche Helena nie nach Ilion gekommen sei, 
steht unter religiösem Einflufs. 6 ) Und wenn Solon einmal sagt, dafs 'die 
Dichter vieles erlügen', so werden wir hierin mehr eine Abneigung des 
nüchternen Staatsmannes, der zwar selbst Verse machte und für den öffent- 
lichen Vortrag der Homerischen Gedichte Sorge trug, dagegen die Aufführung 
der Tragödien des Thespis verbot, gegen gewisse Erzeugnisse einer phantasie- 
vollen Kunst als religiöse Polemik erblicken dürfen. Doch glaubt er aller- 
dings auch nicht an die Mantik. 6 ) Bei Pindar schliefslich kann man wohl das 
Streben nach einer Versittlichung der Religion wahrnehmen, und er nimmt 
z. B. an der Sage vom Mahle des Tantalos ernstlichen Anstofs 7 ); aber er steht 
mehr unter orphisch-mystischem als rationalistischem Einflufs 8 ), und die Summe 
seiner Lebensweisheit ist im Grunde dieselbe wie die der meisten Lyriker: 
c Gegen das Schicksal ist aller Kampf vergeblich; darum bescheide dich bei 
deinem MenschenloseM 9 ) 

Während es im griechischen Dichterwald von allen Zweigen schallte von 
den Gestaden und Inseln des Ägäischen Meeres bis zu den entlegenen west- 
lichen Pflanzstädten in Unteritalien und Sizilien, entsprofste an den gesegneten 
Küsten Kleinasiens dem Boden des hellenischen Geisteslebens ein neuer kräftiger 
Stamm, die ionische Naturphilosophie. Die reiche See- und Handelsstadt 



l ) Rohde, Der griechische Roman S. 205 A. 4. — Baumstark, der Pessimismus in der 
griechischen Lyrik. Heidelberg 1898. 

*) Theogn. 426 ff. Bakchyl. Fr. 2. Soph. öd. Col. 1224 ff. Eur. Bell. Fr. 286; ine. 908. 

3) Theogn. 731 ff. 743 ff. 133 ff. 1136 ff.; Vernunft (yv&pq) 896 f. 1171 f. Über die 
damalige Bedeutung des Worts s. Gomperz, Apologie der Heilkunst (Sitz.-Ber. der Wien. 
Ak. 120, 1890) S. 6 ff. 

4 ) Ed. Blafs. Leipzig, Teubner 1898. 6 ) Stesichoros Fr. 11. Herodot VI 61. 
«) Solon Fr. 26. 12, 66 f. *) Pindar Ol. I 28 ff. 46 ff. 

8 ) Pindar. Fr. 97. 98. 102. •) Pindar Ol. V 24. Pyth. IH 61. Isthm. IV 17; Fr. 33. 134. 



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W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 183 

Milet war es, wo ihre ersten Vertreter nach einem einheitlichen Grundstoffe 
alles Bestehenden forschten und so sich in kindlichem Wagemut ein Problem 
stellten, dessen Lösung die moderne Chemie als eine Aufgabe der Zukunft be- 
trachtet. Aufserdem erregte insbesondere auch die Sternenwelt die Aufmerksam- 
keit jener Forscher. Der 28. Mai des Jahres 585 v. Chr. ist ein denkwürdiger 
Tag nicht nur in der politischen, sondern auch in der geistigen Geschichte 
der Menschheit. Damals waren die Heere der Meder und Lydier im Begriff, 
nach fünfjährigen Kämpfen am Halys die Entscheidungsschlacht zu schlagen, 
als plötzlich die Sonne anfing sich zu verfinstern und die beiden Völker, durch 
dieses vermeintliche Wunder erschreckt, die Waffen niederlegten und einen 
Vertrag schlössen, welcher den Bestand des Lydischen Reichs noch um einige 
Jahrzehnte verlängerte. Diese Sonnenfinsternis hatte Thaies von Milet 
seinen Landsleuten auf dieses Jahr vorausgesagt oder nach anderm Berichte 
wenigstens ihr Eintreten natürlich erklärt. 1 ) Beides ist nur verständlich unter 
der Annahme, dafs Thaies aus der babylonischen Wissenschaft, mit der er in 
Sardes bekannt werden mochte, astronomische Kenntnisse entlehnte, welche 
diejenigen seiner Volksgenossen bei weitem übertrafen. Dorther wird er auch 
die Witterungsprognosen entnommen haben, die ihn in den Stand setzten, eine 
ungewöhnlich reiche Olivenernte vorauszusehen und durch Pachtung zahlreicher 
Ölpressen zu seinem Vorteil auszubeuten. Endlich verwies er seine Seefahrt 
und Handel treibenden Mitbürger auf den kleinen Bären als auf das Sternbild, 
welches den reinen Norden am genauesten bezeichnet. 2 ) Der wenig jüngere 
Landsmann des Thaies, Anaximander, hielt zwar die Erde noch für einen 
tamburinförmigen im Räume schwebenden Körper, war aber der erste, der eine 
Himmelskugel und eine Erdkarte zur Demonstration der astronomischen und 
geographischen Verhältnisse anfertigte. Er suchte ferner die Entstehung der 
Himmelskörper durch Abschleuderung von einer grofsen Feuermasse zu er- 
klären, und auf der Erde selbst machte er die Beobachtung, dafs das Meer an 
zahlreichen Stellen zurückgewichen sei und ursprünglich eine viel gröfsere 
Fläche bedeckt haben müsse. Auch an das von Dubois-Reymond unter die 
'WelträtseF gerechnete Problem der Entstehung der Organismen wagte er sich 
schon, und seinem freilich noch sehr rohen Lösungsversuche liegt eine Ahnung 
der Darwinschen Descendenztheorie zu Grunde: er liefs nämlich die ersten 
Tiere aus dem Meeresschlamm hervorgehen und sah in diesen Wassertieren, 
die sich beim Übergang auf das Land mit der Zeit veränderten, die Vorfahren 
der Landtiere. — Auf dem Gebiete der Astronomie bedeutet Pythagoras von 
Samos einen gewaltigen Fortschritt, der nach weiten Reisen in Kroton in 
Unteritalien eine Schule gründete. Er lehrte die Kugelgestalt der Erde, der 
Sonne, des Mondes und der Planeten, und wenn er auch noch am geozentrischen 
Standpunkt festhielt, so hob seine Lehre doch die bisher angenommene Sonder- 



*) Herod. I 74. Plut. de plac. phil. II 24, 1. 

*) So Gomperz, Griech. Denker I S. 39 f., der auch S. 37 f. schon auf Anfänge physischer 
Spekulation bei Homer hinweist: H 99; 3 201. 246. 



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184 W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 

Stellung der Erde im Weltall auf: sie war jetzt ein Stern unter Sternen ge- 
worden. Und so waren es denn auch Angehörige der Pythagoreischen Schule, 
besonders Philolaos im fünften Jahrhundert, welche die Scheinbarkeit der 
Ruhelage der Erde erkannten und deren Bewegung zwar zunächst noch nicht 
um die Sonne, sondern um ein Centralfeuer, um das alle Himmelskörper kreisen 
sollten, lehrten. Aber auch hier blieb man nicht stehen. Ekphantos von 
Syrakus lehrte die Achsendrehung der Erde. Heraklides Ponticus, ein 
Schüler des Plato und Aristoteles, erkannte die zeitweilige Erdnahe der Planeten 
Merkur und Venus und damit die Unrichtigkeit der bisherigen Annahme, dafs 
diese sich in konzentrischen Kreisen um die Erde bewegten; vielmehr drang 
er weiter zu der Erkenntnis, dafs dieselben um die Sonne kreisten. Den 
letzten Schritt that endlich Aristarch von Samos (um 280 v. Chr.), der 
Kopernikus des Altertums, welcher in der Sonne den Mittelpunkt unseres 
Weltsystems und auch die Bewegung der Erde um dieselbe erkannte. 1 ) Damit 
war die alte geocentrische Weltanschauung durch die heliocentrische ersetzt, 
freilich um verhältnismäfsig bald unter religiösen Einflüssen wieder von dem 
alten Irrtum verdrängt zu werden, so dafs die Bahn der wissenschaftlichen 
Entwickelung im Beginn der Neuzeit noch einmal durchmessen werden mufste. 
Es ist bekannt, welcher Widerstand dabei zu überwinden war. *Was an 
Kopernikus und Galilei hängt, sagt ein vor wenigen Jahren verstorbener ge- 
lehrter Theologe, weifs jeder nachdenkende Mensch. Die ganze kirchliche 
Mythologie ist hinfällig, wenn die Erde aus einem im Mittelpunkt des Weltalls 
stehenden Körper zu einem um eine Nebensonne kreisenden, höchstens mittel- 
grofsen Planeten wird. Um das gesamte orthodoxe System, nicht um die 
jüdische Sage von Josuas Sonne handelte es sich, als die Kirche das «e pur si 
muove> zu hören bekam/ 2 ) Ahnlich war es auch im Altertum, und nicht um- 
sonst standen im fünften Jahrhundert die ^Meteorologen' im Ruf der Ketzerei. 
Sind es doch gerade die astronomischen Erscheinungen, die immer und überall 
eine mächtige Anregung zur Bildung von Göttervorstellungen gaben. Wenn 
man nun selbst noch nichts weiter erkannt hatte, als dafs, wie Anaxagoras 
unter dem Eindruck des Meteoritenfalls bei Ägospotamoi (467) sagte, die Sonne 
eine feurige Masse sei 8 ), so war es eben nicht mehr Helios, der in stiller 
Majestät seinen goldenen Wagen am Himmelsbogen hinlenkte, und es war 
nicht mehr denkbar, dafs er aus Entrüstung über einen menschlichen Frevel, 
wie den des Thyestes an seinem Bruder Atreus, auf seiner Bahn umlenkte. Der 
Gedanke der Gesetzmäfsigkeit war unvermeidlich, wie ihn Heraklit noch halb 
mythologisch ausdrückt: 'Die Sonne wird ihre Bahn nicht überschreiten; wenn 
doch, so werden die Erinyen, die Helferinnen der Dike, sie zu finden wissen/ 4 ) 



*) Dafs er dabei die Sonne für nur siebenmal gröfser hielt als die Erde, ist philo- 
sophisch gleichgültig. 

*) P. de Lagarde, Deutsche Schriften 8 S. 49. 

*) Diog. L. H 10. Hippol. bei Diels Dok. Gr. S. 562, 14. Xen. Mem. IV 7, 6. Plato 
Ap. 14, S. 26 D. 

4 ) Herakl. Fr. 29 (Byw.). 



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W. Nestle: Die Entwicklung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 185 

Ja, man zog aus solchen Erkenntnissen den für den religiösen Glauben 
noch viel gefährlicheren Schlufs, dafs e die schreckenden Sagen für den Dienst 
der Götter Gewinn seien'. 1 ) 

Wir haben damit dem Gange der Entwicklung etwas vorgegriffen und 
kehren jetzt in die zweite Hälfte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. zurück. 
Durch die ihrerseits vom Orient beeinflufsten orphischen Lehren hatte sich im 
Laufe des siebenten Jahrhunderts ein eigentümlicher halb mythologischer, halb 
philosophischer Pantheismus ausgebildet, wie ihn z. B. Pherekydes von 
Syros vertritt. Der oberste Gott, Zeus, hatte sein Herrschaftsgebiet immer 
weiter ausgedehnt und allmählich die übrigen Götter entbehrlich gemacht. Zu- 
gleich hielt der Begriff der Sünde seinen Einzug in die griechische Welt und 
wurde alsbald auch auf die Handlungen der Götter angewandt. So kam es, 
dafs nunmehr der Anthropomorphismus der griechischen Götter nicht sowohl 
vom intellektuellen als vom sittlichen Standpunkt aus bekämpft wurde. Hier 
setzte Xenophanes von Kolophon ein, der in einem fast hundertjährigen 
Leben alle griechischen Lande als Rhapsode durchzogen und nach der Unter- 
werfung Ioniens durch die Perser (545) im unteritalischen Elea eine neue 
Heimat gefunden hat. Mit rücksichtsloser Schärfe bekämpfte er in seinem 
Lehrgedicht die anthropomorphistischen Volksgötter: * Alles, was bei den 
Menschen für Schimpf und Schande gilt, haben Homer und Hesiod den Göttern 
aufgebürdet und eine Menge frevelhafter Handlungen von ihnen erzählt: Dieb- 
stahl, Ehebruch und gegenseitigen Betrug/ Das kommt daher, dafs die 
Menschen sich die Götter nach ihrem Bilde vorstellen, dafs sie glauben, sie 
würden wie sie geboren und hätten dieselbe Empfindung, Sprache und Gestalt. 
Aber wenn die Rinder oder Pferde oder Löwen Hände hätten und damit 
Bilder anfertigen könnten wie die Menschen, so würden sie alle ihre Götter 
in der Gestalt darstellen, die sie selber haben. 2 ) Schillers Gedanke, c in seinen 
Göttern malet sich der Mensch' 8 ), ist hier von dem alten griechischen Weisen 
vorweggenommen. In Wirklichkeit giebt es nur Einen Gott, der weder an 
Gestalt noch in seinem geistigen Wesen den Sterblichen gleicht, der ganz sieht, 
ganz denkt, ganz hört und mühelos mit seiner Geistesmacht das All bewegt. 
Die Gottheit ist bedürfnislos und von einer Herrschaft der Götter übereinander 
ist keine Rede. Was aber das Merkwürdigste ist: trotz der Bestimmtheit, mit 
der der Philosoph gegen den Polytheismus auftritt und mit der er auch selber 
seine Aussagen über das höchste Wesen macht, ist er sich doch demütig be- 
wufst, dafs der menschliche Geist niemals ausreicht, um eine vollständige Er- 
kenntnis des Transcendenten zu erlangen: 



l ) Eurip. El. 743 f. 

*) Xenoph. Fr. 7. 6. 6 Mullach = 16. 17. 30 Lyr. Gr. ed. Bergk-Hiller-Crusius 4 (1897). 
In Fr. 30 achreibt Crusius iadijrd t für ai6ftr\oiv Mull. Vgl. auch noch die Elegie (Lyr. 
Gr. Fr. 1, 21 f.), wo Titanen, Giganten und Kentauren als nXdoyAxxa tä>v TtQotiQoov be- 
zeichnet werden. 

•) Schiller, Antrittsrede f Was heilst und zu welchem Ende studiert man Universal- 
geschichte?' 



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186 W. Nestle: Die Entwicklung der griechischen Aufklärung biß auf Sokrates 

Deutliches hat noch niemand erkannt, noch wird mans erkennen 
Über die Götter und über das Weltall, was ich da sage; 
Und ob sich einer auch dünkte, Vollkommenes drüber zu reden, 
Weifs er es selbst doch nicht; nur Glauben kann es hier geben. 

Aber er ist auch weit entfernt, darum auf alle Erkenntnis zu verzichten, und 
proklamiert vielmehr die zuversichtliche Überzeugung von einem Fortschritt 
der Wissenschaft: e Nicht alles haben die Götter von Anfang den Sterblichen 
gezeigt; sondern forschend finden sie mit der Zeit das Bessere/ 1 ) Darum 
hatte Xenophanes auch für die ihn umgebende Welt ein offenes Auge. Die 
Geologie zählt ihn zu ihren ältesten Jüngern: so viel wir wissen, hat er zuerst 
aus dem Vorkommen fossiler Tier- und Pflanzenreste, die er in den Tertiär- 
schichten der Steinbrüche von Syrakus und der Insel Malta fand, weitreichende 
Schlüsse auf die Veränderung der Erdoberfläche gezogen. 8 ) Bei einem Manne, 
dessen ganzes Leben und Streben in geistigen Interessen aufging, kann es auch 
nicht wundernehmen, wenn er eine instinktive heftige Abneigung gegen die 
physischen Kraftmenschen, die Athleten, hatte, die an den öffentlichen National- 
festen auftraten und im Falle ihres Sieges von ihren Landsleuten hoch gefeiert 
wurden; tönte doch die Leyer eines Pindar und Bakchylides zu ihrem Preise. 
Er hat damit zu einer Bewegung den Anstofs gegeben, die mit einer voll- 
ständigen Umgestaltung des griechischen Bildungsideales endigte: an die Stelle 
der fast ausschliefslich auf die Gymnastik begründeten dorischen Scgezr] trat 
die ionisch-attische xakoxaya&la, welche eine umfassende geistige Ausbildung 
zur Voraussetzung hatte. 8 ) 

Xenophanes hatte mit seiner Verkündigung an das Nationalheiligtum der 
Griechen, an Homer, gerührt, den man nicht mit Unrecht die Bibel der Hellenen 
genannt hat. Aber er wird an Schärfe der Polemik noch überboten von 
Heraklit aus Ephesus, den die Alten wegen des oft rätselhaften Tiefsinns 
seiner Sprüche 'den Dunkeln' nannten, der aber eben in der genannten Hin- 
sicht an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig liefs. Homer, so meinte er, 
hätte es verdient, von den nationalen Festen vertrieben und hinausgepeitscht 
zu werden und nicht minder Archilochos. Es ist noch eine seiner gemäfsigtsten 
Aufserungen, wenn er sagt, dafs Vielwisserei den Geist nicht bilde; sonst hätte 
sie auch den Hesiod weise gemacht. Die Dichter sind ihm Erfinder und Ver- 



*) Xenoph. Fr. 1. 2. 3. 14. 16. 16 Mullach = 12. 13. 14. 19. 26. 28 Lyr. Gr. — Plut. 
Hom. 4. Diels Dox. Gr. S. 680, 14. 

*) Gomperz, Gr. D. I S. 142. Die Annahme von Freudenthal und Gomperz, die nur 
auf dem Gebrauch des Plurals &soi beruht, dafs X. neben seinem Allwesen auch Einzel- 
götter anerkannt habe, hat Zeller, Phil. d. Gr. 6 I S. 630 f. A. 3 m. E. glänzend widerlegt. 
Vgl. auch Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften I S. 190 f. Übelzunehmen wäre 
es ihm freilich nicht: hat doch auch Wellhausen seine Weltanschauung als f Polytheismus 
und Monotheismus zugleich' bezeichnet. Schaff -Jackson, Encyklopedia of living divines. 
New-York 1887 S. 233. 

*) Nach Ath. X S. 413 C folgt Euripides in Fr. 282 seines Autolykos dem Xenophanes 
in der Geringschätzung der Gymnastik. Vgl. auch v. Wilamowitz-MöUendorf, Bakchylides 
(Berlin 1898) S. 14 f. 



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W. Nestle: Die Entwicklung der griechischen Aufklärung biß auf Sokrates 187 

künder von Lügen. Und von dem Volk, das ihren Liedern lauscht, sagt er: 
e Was ist denn dieser Leute Sinn und Verstand? Da laufen sie den Sängern 
nach und lassen sich von ihnen, deren es eine Menge giebt, belehren, ohne zu 
wissen, dafs es viele schlechte, aber nur wenige gute Menschen giebt. Denn 
die Edeln erwählen Eines statt alles andern, unvergänglichen Menschenruhm; 
die Menge aber mästet sich wie das Vieh/ Ganz verächtlich erscheint dem 
Philosophen das Volk auch in seiner Ausübung des Kultus: er nimmt heftigen 
Anstofs an der öffentlichen Prozession zu Ehren des Dionysos, die ihm unsitt- 
lich erscheint. Über die Verehrung der kunstvollen Götterbilder, die den Stolz 
so mancher Städte und bekanntlich nicht zum wenigsten auch von Ephesus 
bildeten, sagt er: 'Da beten sie zu diesen Bildern, wie wenn jemand mit den 
Häusern schwatzte, ohne einen Begriff davon zu haben, was Götter und Heroen 
sind.' Und in den schärfsten Ausdrücken eifert er gegen die Sühnopfer, die 
nach seiner Ansicht den schuldbefleckten Menschen nicht zu reinigen vermögen, 
wie denn überhaupt ein Opfer nur dann einen Sinn hat, wenn es aus wirklich 
reiner und frommer Gesinnung dargebracht wird. e Da reinigen sie sich', ruft 
er aus, 'indem sie sich mit Blut beflecken, wie wenn jemand, der in Kot ge- 
treten ist, sich mit Kot abwaschen würde.' Sie gleichen Schweinen, die sich 
im Schmutze wälzen und Vögeln, die sich im Staube baden. 1 ) 'Eins aber ist 
Weisheit, den Geist zu verstehen, vermöge dessen alles durch alles gelenkt 
wird. Er will mit dem Namen des Zeus benannt werden und will es nicht/ 
Damit lehnt Heraklit jede anthropomorphische Vorstellung von dem obersten 
Wesen ab, schlägt aber zugleich 'eine etymologisierende Brücke zwischen Volks- 
glauben und Weltweisheit.' 8 ) 

Und solche Worte verhallten nicht ungehört in den engen Wänden der 
Gelehrtenstube. Obwohl Heraklit ein viel zu aristokratischer Geist war, um 
auf den von ihm tief verachteten Pöbel wirken zu wollen, so hat doch er und 
Xenophanes, Pythagoras und Anaxagoras lebhaft auf den Sizilischen Komiker 
Epicharmos (um 475) eingewirkt, der es nicht verschmähte, die neuen Lehren 
von der Bühne aus unter die Menge zu bringen, und der seinen Zuhörern den 
bezeichnenden Rat gab: 'Sei nüchtern und lerne zweifeln; das ist das Mark 
des Geistes.' 8 ) 

Es konnte nicht fehlen, dafs die heftigen Angriffe auf die überlieferte 
Religion Entgegnungen hervorriefen; und so erstand, noch ehe das sechste 

*) Fr. 19 und 65. Gomperz, Zu Heraklits Lehre (Sitz.-Ber. d. Wiener Ak. d. Wiss. 
philos. bist. Kl. 113, 1886, S. 1004 f. Griech. Denker I S. 63). Mit der Annahme von 
Gomperz, dafs H. an eine Mehrheit von Göttern geglaubt habe (a. a. 0. S. 1010) kann ich 
nicht übereinstimmen: Fr. 20 und 126 (Byw.) beweisen dafür gar nichts; Fr. 67 und 123 
reden nur von Seelendämonen. Zeller, Phil. d. Gr. I S. 712 f. 

«) Heraklit Fr. 119. 16. 14. 118. 111. 127. 126. 128. 129. 130. 63 (Bywater). 

*) Epicharm 266 (Mullach). Vgl. 213 ff. mit Xenoph. Fr. 6; 263 f. mit Anaxag. Fr. 17; 
213 ff. mit Heraklit Fr. 4. 2. 6. 91; 189 ff. mit Herakl. Fr. 41. 42. Im übrigen s. Zeller, 
Phil. d. Gr. B I S. 496 ff. Gegen Wilamowitz (Herakles I S. 29 A. 64), dem jetzt auch Kaibel 
(Com. Gr. Fr. I 1899 S. 133 ff.) folgt, verteidigt Rohde (Psyche S. 651 A. 1) die Echtheit der 
Bruchstücke. 



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188 W. Nestle: Die Entwickelang der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 

Jahrhundert zu Ende ging, der so heftig bestrittenen Autorität Homers ein 
Verteidiger in der Person des Theagenes von Rhegion, der sie durch das 
Heilmittel allegorischer Deutung seiner Erzählungen zu retten suchte. Der 
Götterkampf im 20. Buch der Ilias, der besonderen Anstoß erregt hatte, wurde 
als Kampf der einander feindlichen Elemente in der Natur gedeutet, eine 
Methode, deren Grundprinzip später die Cyniker und von diesen die Stoiker 
übernahmen. Ganz toll betrieb diese allegorisierende Apologetik im fünften 
Jahrhundert Metrodoros von Lampsakos, der den Agamemnon mit dem Äther, 
Achilles mit der Sonne, Hektor mit dem Mond, Paris und Helena mit der Luft 
und der Erde, ja Demeter, Dionysos und Apollo sogar mit Teilen des Körpers, 
nemlich der Leber, Milz und Galle gleichsetzte. Es ist dies dasselbe Verfahren, 
wie es uns später bei dem jüdisch-griechischen Religionsphilosophen Philo von 
Alexandria entgegentritt, 'der in dem Garten Eden die göttliche Weisheit, in 
den von ihm ausgehenden vier Strömen die vier Kardinaltugenden, in Altar 
und Tabernakel die intelligibeln Erkenntnisobjekte erblickt hat und der- 
gleichen mehr'. 1 ) 

Aber die Zeit schritt über solche reaktionäre Versuche schonungslos hin- 
weg. Die rationalistische Weltbetrachtung griff immer weiter um sich und 
bemächtigte sich auch der eben in der Entstehung begriffenen geographischen 
und historischen Forschung. 2 ) Hekatäos von Milet begann seine 'Genealogien' 
mit folgenden Worten: e So spricht Hekatäos von Milet: ich schreibe das 
Folgende, wie es mir wahr erscheint; denn die Sagen der Hellenen sind, wie 
mir scheint, vielfach lächerlich/ Freilich entspricht der Inhalt der Schriften 
des weitgereisten Verfassers, soweit wir ihn aus den dürftigen Fragmenten 
und den Entlehnungen Herodots aus seiner Periegese (besonders in dessen 
2. und 4. Buche) uns vergegenwärtigen können, nicht ganz den Erwartungen, 
die jene selbstbewußte Einleitung in uns zu erregen geeignet ist. Denn es ist 
ein ziemlich dürftiger Rationalismus, der uns hier geboten wird. Wenn von 
Herakles erzählt wurde, dafs er den Kerberos aus dem Hades heraufgeholt 
habe, so findet dies bei Hekatäos keinen Glauben; vielmehr war das von 
Herakles überwundene Untier eine Schlange, die am Vorgebirge Tänarum 
hauste und die man wegen ihres tötlichen Bisses den 'Hund des Hades* nannte. 
Ebenso erschien es ihm unglaubhaft, dafs Herakles die Rinder des Geryones 
aus Erytheia in dem fernen Iberien nach Mykenä getrieben haben sollte. Er 
erkennt diese Gegend in einem Landstrich bei Ambrakia, dessen rötliche Erde 
ihm den Namen gegeben. Ein andermal spricht er von dem Atoler Oineus, 
dem angeblichen Erfinder des Weinbaus. Dabei erkennt er nicht, dafs der 
Personenname Oineus von oinos (Wein) abgeleitet ist, sondern sieht umgekehrt 
in dem Namen einen Beweis für die Wahrheit der Legende, indem er bemerkt, 

J ) Gomperz, Gr. D. I S. 304 ff. Zielinski, N. Jahrb. 18D9 S. 90 A. 2. Zeller, Phil. d. 
Gr. 6 S. 1019 A. 4. 

*) Von Herodoros aus Heraklea am Pontus, den Plutarch (Thes. 26) mit Pherekydes 
und Hellanikos zusammenstellt, wissen wir zu wenig, um uns ein Bild von ihm zu machen. 
Aristot. hist. an. VI 5; IX 12. 



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W. Nestle: Die Entwicklung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 189 

dafs die alten Griechen die Weinstöcke oinai genannt hätten. An der von 
Stesichoros begonnenen Umbildung der Helenasage arbeitet er weiter, indem er 
sie zu Ägypten in Beziehung setzt. Interessanter ist die von Herodot ihm 
entlehnte Erzählung, dafs König Psammetich von Ägypten zwei neugeborene 
Kinder von einigen durch das Ausschneiden der Zunge stumm gemachten 
Frauen habe aufziehen lassen, um zu erkunden, in welcher Sprache die Kinder 
von sich aus zuerst reden würden, und damit die Frage zu entscheiden, ob der 
Anspruch der Ägypter, das älteste Volk der Welt zu sein, begründet sei. Der 
Versuch habe aber ergeben, dafs das erste Wort, das die Kinder sprachen, 
bekos, nicht ägyptisch, sondern phrygisch gewesen sei und in dieser Sprache 
'Brot* bedeutet habe. Unter den von Herodot aufgeführten drei Erklärungen 
der Nilschwelle in Ägypten geht die erste, welche sie von der Einwirkung 
der Etesien herleitete, auf Thaies, die dritte, die in ihr eine Wirkung der 
Schneeschmelze in den Gebirgen sah, wo der Nil entspringe, auf Anaxagoras, 
die zweite, die sie aus dem Eindringen des die Erde umfliefsenden Ozeans in 
das Flufsbett erklärte, auf Hekatäos zurück. So bescheiden diese Ansätze zu 
einer vernunftmäfsigen Weltbetrachtung sind, so waren sie doch der Ausflufs 
einer Freigeistigkeit, vermöge deren Hekatäos sich nicht scheute, bei der Vor- 
beratung des ionischen Aufstandes im Jahr 500 den versammelten Fürsten der 
hellenischen Städte in Kleinasien den Rat zu geben, wofern sie die Erhebung 
gegen das mächtige Perserreich wagen wollten, sich wenigstens zuvor des 
reichen Tempelschatzes des Apollo von Branchidä bei Milet zu versichern, 
damit das Unternehmen finanziell gesichert sei, ein Rat, dessen Nichtbefolgung 
schwere Folgen nach sich zog, für uns zugleich bemerkenswert als erstes Bei- 
spiel des Gedankens an eine Säkularisierung religiösen Eigentums, das uns in 
der alten Geschichte begegnet. 1 ) 

Die Folgen der siegreichen Perserkriege zeigten sich nicht nur im politischen, 
sondern auch im geistigen Leben Griechenlands. Der Angriff der Orientalen 
war im gleichen Jahre (480) bei Salamis im Osten und bei Himera im Westen 
zurückgewiesen worden. Und wenn auch eine politische Einigung der helleni- 
schen Welt nicht erzielt wurde, so war doch das ägäische Meer durch die Los- 
trennung der Küstenlandschaften Kleinasiens und der Inseln von Persien 
griechisch geworden, und im Mutterlande begann die neu aufstrebende athenische 
Seemacht die spartanische Landmacht zu überflügeln. Es zeigte sich binnen 
kurzem die Überlegenheit des beweglichen und vielseitigen ionischen Geistes 
über das im Konservativismus erstarrende Dorertum, und Athen wurde nach 
der Gründung des delischen Seebundes nicht nur die politisch mächtigste Stadt 
Griechenlands, sondern auf fast ein Jahrtausend c die allgemeine Bildungsschule' 



*) Hekatäos Fr. 332. 341. 346. 349 (Müller Fr. H. Gr. I). Herodot H 2, besonders 
gegen Ende «EXlriveg öh Uyovoi», was auf Hekatäos geht; H 19 ff. (Nilschwelle); II 112 ff. 
(Helenasage), v. Gutschmid im Philologus X 1865 S. 626 ff. — Diels, Herodot und Hekataios 
im Hermes XXH 1887 S. 411 ff. — G. Grote, Geschichte Griechenlands (deutsche Ausgabe, 
Berlin 1880) I S. 270 f. — Säkularisierung der Branchidenschätze Herod. V 36. 



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190 W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 

von Hellas, ja der antiken Welt überhaupt. 1 ) Dort fanden sich von jetzt an 
aus allen Teilen der griechischen Welt die geistig hervorragenden Männer zu- 
sammen und dort entstand nun auch eine neue Gattung der Dichtung, das 
Drama, besonders die Tragödie. In Athen war es auch und nicht in Olympia, 
wo der Geschichtschreiber der Freiheitskriege Teile seines Werkes öffentlich 
vorlas, ehe er nach seinen weiten Wanderungen, die ihn aus der Halikar- 
nassischen Vaterstadt nach Kyrene und Ägypten, nach Babylonien und Skythien 
geführt hatten, mit einem nach Grofsgriechenland abgehenden Kolonistenzug 
sich in Thurii eine neue Heimat suchte. Herodot zeigt sich in seiner ganzen 
Eigenart als einen Menschen, der an der Grenze zweier Zeitalter steht. Mit 
seinem Herzen hängt er in aufrichtiger Fömmigkeit an den religiösen Über- 
lieferungen der Väter, aber sein Verstand kann sich dem kritischen Geist der 
Gegenwart nicht verschliefsen und, obwohl er noch im ionischen Dialekte 
schreibt, ist doch *die Periodenzirkelei der gleichzeitigen Sophistik' nicht ganz 
spurlos an ihm vorübergegangen. Er zeigt ein sichtliches Bestreben, das Über- 
natürliche aus der Überlieferung möglichst zu eliminieren. Die Entstehung 
der Peneiosschlucht in Thessalien, die der Volksglaube dem Poseidon zuschrieb, 
führt er auf ein Erdbeben zurück, wie er sich denn überhaupt über die Ver- 
änderungen der Erdoberfläche Gedanken gemacht und z. B. die Entstehung des 
Nildeltas auf Grund seiner Erkundigungen in Ägypten in ganz richtiger Weise 
erklärt hat. Dagegen lehnt er die Sage von der angeblich schwimmenden Nil- 
insel Chemmis mit Entschiedenheit ab. Den Bestand der Erde schätzte er auf 
20000 Jahre. Charakteristisch ist die Art und Weise, wie er sich die Gründungs- 
legende des -Zeusorakels in Dodona und des Ammonorakels in Libyen zurecht- 
legt. Zwei schwarze Tauben, so hiefs es, seien aus dem ägyptischen Theben 
aufgeflogen, hätten sich an den beiden Orten auf Bäumen niedergelassen und 
mit menschlicher Stimme die Gründung der Heiligtümer befohlen. Dieses 
Wunder ist nun nach seiner Ansicht schlechterdings unmöglich. In Wirklich- 
keit wurden zwei Thebanische Priesterinnen von Phöniziern aus Ägypten ent- 
führt und in Libyen und Dodona als Sklavinnen verkauft. Da man ihre 
fremde Sprache nicht verstand und sie Laute wie Vögel von sich zu geben 
schienen, nannte man sie Teleiaden' d. h. Tauben. Daraus entstand die obige 
Sage, und schwarz mufsten die Tauben sein wegen der dunkeln Hautfarbe der 
Fremden. Als sie dann die Landessprache kennen gelernt hatten, stifteten sie 
die Orakel. In ähnlich rationalistischer Weise behandelt er die Sagen von Io, 
Europa und Medea, und bei der Helenasage folgt er dem Stesichoros und 
Hekatäos. Seine berühmte, übrigens keineswegs ihm specifisch eigene Lehre 
vom Neid der Götter hängt zusammen mit der Vorstellung von einem Kreis- 
lauf alles Geschehens in der Welt, der überall das Zuviel wieder auf das ge- 
hörige Mafs reduziert, einer Vorstellung, die auf den Ideenkreis des Heraklit 
hinzuweisen scheint. 2 ) — Dieser Rationalismus des Herodot in der Mythen- 

*) %oivbv TtaidsvtrJQiov n&eiv &v&Q<$o7ioig. Theod. XTTT 27. 

*) Über Herodot vgl. Diels a. a. O. — E. Meyer, Herodot und lonier im Philologus XLVHI 
(N. F. II) 1889 S. 268 ff. — Gomperz, Gr. D. I S. 208 ff. — Herod. VII 129 (Peneiosschlucht); 



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W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 191 

deutung ist im Grunde schon ganz derselbe , den wir in dem wohl im Beginn 
des vierten Jahrhunderts in Kleinasien entstandenen Büchlein des Paläphatos 
über 'unglaubliche Geschichten' antreffen, der uns z. B. erzählt (cap. 3), Aktäon 
sei keineswegs von Artemis in einen Hirsch verwandelt und von seiner Meute 
zerrissen worden, sondern er sei ein Mann gewesen, der sich durch über- 
mäfsige Liebhaberei für den Jagdsport finanziell ruiniert habe, und so habe es 
dann geheifsen: c Armer Aktäon, der du von deinen eigenen Hunden aufgezehrt 
wurdest V 1 ) 

Von Anfang an standen bei den Griechen Philosophie und Naturwissen- 
schaft im engsten Zusammenhang, und dieser blieb auch im fünften Jahr- 
hundert bis auf Sokrates im grofsen ganzen noch gewahrt. Anaxagoras, der 
zuerst in seinem Nus ein geistiges Princip in die Lehre von der Weltentstehung 
einführte, so dafs dieser Geist aus dem Chaos den Kosmos herstellte, interessierte 
sich auch lebhaft für die Einzelheiten des Naturlebens. Eine höchst anschau- 
liche Scene schildert uns Plutarch, die uns in das Haus des Perikles versetzt, 
in dem der Weise aus Klazomenae mit andern geistig bedeutenden Männern 
und Frauen der Zeit als gern gesehener Gast verkehrte. Eines Tages brachte 
ein Landmann dem Perikles einen Widder vom Felde, der seltsamerweise 
nur ein einziges Hörn hatte. Ein Seher namens Lampon und Anaxagoras 
waren dabei zugegen. Der erstere wufste sogleich Bescheid über das * Wunder': 
die Einhörnigkeit des Tieres zeigte an, dafs der politische Rivale des Perikles, 
Thukydides, des Melesias Sohn, diesem bald unterliegen und Perikles das Feld 
allein behaupten werde. Anaxagoras aber öffnete den Schädel des Widders 
und erklärte die Abnormität aus der mangelhaften Beschaffenheit des Gehirns. 
Plutarch als akademischer Vermittelungstheologe erspart uns dazu die wohl- 
weise Bemerkung nicht: es könnten ganz wohl beide recht gehabt haben, 
Anaxagoras, der die physische Ursache, und Lampon, der die tiefere Bedeutung 
der merkwürdigen Erscheinung erkannt habe. 8 ) Anaxagoras hat auch die 
Kiemenatmung der Fische zuerst entdeckt. — Im Westen der griechischen Welt 
stellt sich in Empedokles von Agrigent eine eigentümliche Vereinigung von 
Arzt, Weihepriester, Redner und Politiker dar. Auch er hat die Naturwissen- 
schaften wesentlich gefordert: seine freilich sehr unzulängliche Lehre von den 
vier Elementen hat Jahrhunderte lang die Naturwissenschaft beherrscht. Ferner 
suchte er das Problem der Zweckmäfsigkeit in der organischen Welt so zu 
losen, dafs er, ähnlich wie Anaximander, eine anfängliche Entstehung monströser 

II 11 f. (Nildelta, 20000 Jahre); II 156 (Nilinsel Chemmis); II 64 ff. (Gründung von Dodona); 
I 2 (Io und Europa); II 118 ff. (Helena). — <p&6vog &emv: I 32; HI 40; VII 10 und 46, 
wozu vgl. I 5 und 207 (xvxXos t&v äv^garnffiov n^r\y{ULx<ov) mit Heraklit Fr. 70 und 87 
(Bywater), Fr. 69 und 63 (Schuster). Eurip. Ino Fr. 415, 3 ff Herakles 739. Elektra 1156. 

x ) Palaephatus ksqI icnicxmv bei Westermann, Mythographi S. 268 ff. Vgl. darüber 
Vitelli, I manoscritti di Palefato. Studi Italiani di filologia classica vol. I S. 241 ff. — 
P. Wipprecht, Quaestiones Palaephateae. Leipzig 1892. — J. Schrader, Palaephatea. 
Berliner Abhandlungen zur klass. Alt.-Wiss. I 1. Berlin 1894. — Diese drei Schriften be- 
sprochen von E. Schwartz in der Berliner Philologischen Wochenschrift 1894 S. 1676 ff. 

*) Plut. Per. 6. 



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192 W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 

Wesen annahm, von denen immer nur die tauglichsten sich erhalten konnten, 
so dafs eine fortschreitende Vervollkommnung stattfand. Endlich ist er mit 
seinem Ausspruch: *Eines ist Haar und Laub und dichtes Gefieder der Vögel* 
ein ^Vorläufer Goethes auf dem Gebiet der vergleichenden Morphologie' ge- 
worden. 1 ) Dabei lehrte er eine Art Hylozoismus, durch den zwar eine Mehr- 
heit von Götterexistenzen nicht ausgeschlossen, aber deren menschenähnliche 
Gestalt bestritten wurde. — Leukippos und Demokritos bezeichnen mit 
ihrer Atomenlehre und streng durchgeführten mechanischen Welterklärung 
wiederum einen erheblichen Fortschritt in der exakten Naturwissenschaft. 
Demokrits auf weiten Reisen erworbene Gelehrsamkeit umfafst ebenso die 
kleinsten Vorgänge in der Natur wie die grofsen Probleme der Astronomie, 
hinsichtlich deren er mit der Aufstellung der Frage, ob unsere Erde die einzige 
Wohnstätte lebender Wesen sei, und der Annahme einer unendlich grofsen 
Zahl von Weltsystemen, die teils im Entstehen, teils im Vergehen begriffen 
seien, den Ergebnissen der modernen Forschung sich in überraschender Weise 
nähert. Ein viel untergeordneterer Geist war Diogenes von Apollonia, der 
die Lehre des Anaxagoras vom Nus mit der Stofflehre des Anaximenes zu ver- 
einigen suchte in der Art, dafs ihm der Äther als das materielle und zugleich 
geistige Prinzip der Welt erschien. Er erklärte daher auch die Menschenseele 
für einen Teil dieser ätherischen Substanz, die mit dem Tode des Individuums 
wieder in das All zurückströmt. Welcher Popularität sich diese Lehre erfreute, 
sieht man nicht nur daran, dafs Euripides in seinen Dramen sie wiederholt 
seinen Personen in den Mund legt und Aristophanes in den * Wolken' sie ver- 
spottet, sondern dafs sie selbst in die offizielle Grabschrift der im Jahre 432 
vor Potidäa gefallenen Athener übergegangen ist. 2 ) Eben Diogenes ist ein 
deutliches Beispiel dafür, wie die Fortschritte der Naturwissenschaften auch 
auf die praktische Medizin einwirkten. Schon Alkmäon von Kroton, ein 
jüngerer Zeitgenosse und Anhänger des Pythagoras, hatte im Gehirn das 
geistige Centralorgan des Menschen erkannt und den Sinneswahrnehmungen 
eine eingehende Untersuchung gewidmet. Er war der erste, der einen quali- 
tativen Unterschied zwischen Menschen und Tieren statuierte, indem er den 
letzteren nur Empfindung, den Menschen allein Denkkraft zuschrieb. Im unter- 
italischen Kroton, im afrikanischen Kyrene, im kleinasiatischen Knidos und auf 
der benachbarten Insel Kos wurde die medizinische Wissenschaft eifrig be- 
trieben. Den Arzt Demokedes von Kroton finden wir bald im Dienst der 
Stadt Athen, bald in dem von Ägina, bald bei dem Tyrannen Polykrates 
von Samos, wobei er Jahresgehalte von 8200, 10000, 16400 Drachmen 
bezieht. Durch einen von der Zunft vorgeschriebenen Eid verpflichteten sich 
die Ärzte zur gewissenhaften Ausübung ihres Berufs, und von der Gesinnung, 
die in ihren Kreisen herrschte, zeugt das schöne Wort: c wo es nicht an 
Menschenliebe fehlt, wird es auch an der Berufsliebe nicht fehlen. , Den 

») Empedokles 216 f. (Mull.). Gomperz, Gr. D. I S. 196 f. 

*) Rohde, Psyche S. 650 A. 1. Eur. Hik. 631 ff. und 1139 f. Phoen. 808 ff.; Fr. 971 
und 839. Aristoph. Wölk. 228 ff. C. I. A. I 442. 



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W. Nestle y Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 193 

grofsten Namen erwarb sich unter den Jüngern des Asklepios, an dessen 
Heiligtümer, z. B. in Epidauros, sich ausgedehnte Kuranstalten anzuschließen 
pflegten, Hippokrates von Kos (geb. 460), unter dessen Namen uns eine um- 
fassende Schriftensammlung erhalten ist. Obwohl darunter nur eine einzige, 
'Über Luft, Wasser, Lage' mit einiger Sicherheit auf ihn selbst als Verfasser 
zurückgeführt werden kann, so ist er doch der geistige Vater aller, die jeden- 
falls zum Teil noch dem fünften Jahrhundert angehören. 1 ) Von besonderem 
Interesse gerade in ihrem Verhältnis zur Aufklärungsbewegung ist die Schrift 
'Über die heilige Krankheit', worunter verschiedene Arten von Geisteskrank- 
heiten, Epilepsie, Verfolgungswahn, Tobsucht zusammengefafst werden. Die 
Tendenz des Verfassers ist dabei, zu zeigen, dafs solche Geisteskrankheiten 
nicht mehr und nicht weniger 'heilig' seien als andere, dafs sie vielmehr ihre 
durchaus natürlichen Ursachen in Erkrankungen des Gehirns hätten, dafs man 
ihnen durch eine verständige Behandlungs weise, namentlich durch rationelle 
Diät, und ja nicht durch religiöse Besprechungen u. dgl. beizukommen suchen 
müsse und dafs man die damit behafteten Personen in keiner Weise als be- 
sonders vom Zorn der Götter betroffen betrachten dürfe. Es ist interessant, 
den Einflufs dieser Theorien auf die Litteratur, besonders das Drama, zu 
beobachten. Aschylus in seiner 'Orestie' und im ' Prometheus' (Io) und 
Sophokles in seinem 'Ajax' stehen noch durchaus auf dem religiösen Stand- 
punkt: Ajax giebt sich den Tod, wie er ausdrücklich sagt, weil er in seinem 
Wahnsinn ein Zeichen der Feindschaft der Götter erblickt. Euripides dagegen 
folgt der neuen wissenschaftlichen Auffassung: im c Orestes' und in der 
bäurischen Iphigenie', in den *Bakchen' (Agaue) und im c Herakles' schildert 
er uns die physischen und psychischen Symptome des Wahnsinns mit der 
peinlichen Genauigkeit eines Psychiaters: der bei Aschylus von den Erinyen 
verfolgte Orestes wird bei ihm nicht etwa von Gewissensbissen gequält — wie 
sollte er das auch, hat doch Apollo ihm den Muttermord befohlen! — sondern 
er ist ein an Verfolgungswahn leidender Geisteskranker, der Hallucinationen 
hat und dem Elektra schwesterliche Pflege angedeihen läfst, eine der ersten 
pathologischen Figuren auf der griechischen Bühne. Darum endigt aber auch 
sein 'Herakles' nicht wie der 'Ajax' des Sophokles mit dem Selbstmord des 
Helden; obwohl er in seinem Tobsuchtsanfall Gattin und Söhne erschlagen hat 
und, wieder zum Bewufstsein gekommen, im Gemüte' tief gebrochen ist, ringt 
er sich doch zu dem Entschlüsse durch 'ich trags zu leben', wobei ihm die 
Freundschaft des Theseus liebreich die Hand reicht. 2 ) — Stark von Heraklit 
beeinflufst zeigt sich die Schrift 'Über die Diät'. 8 ) — Endlich erwähne ich 



*) Gomperz, Gr. D. I 119 ff. 224 ff. Theophr. d. sens. 26 bei Diels Dox. S. 506. Fredrich, 
Hippokratische Untersuchungen. Heft 16 der Philologischen Untersuchungen, herausg. von 
Kiefsling und v. Wilamowitz-Möllendorf. 189S. 

*) IleQl IsQtfg vovaov 1 ff. Ermerins, Hipp. Vol. H S. 51 ff. — H. Harries, Tragici Graeci 
qua arte usi eint in describenda insania. Dias, inaug. Kiel 1891. — v. Wilamowitz, 
Herakles 1 I S. 130. 

*) Weygoldt, Die ps.-Hippokr. Schrift icsqI 8iaLxr\s in Fleckeisens Jahrb. 1882 S. 161 ff. 
Neue Jahrbücher. 1899. U 13 



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194 W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung big auf Sokrates 

noch die ganz eigenartige Schrift c Von der Kunst' oder wie man sie nach 
ihrem Inhalt auch genannt hat c Die Apologie der Heilkunst '. Sie setzt sich 
mit den Vorurteilen auseinander, die noch immer in weiten Kreisen der ärzt- 
lichen Kunst gegenüber bestehen, und sucht dieselben auf Grund einer ein- 
dringenden und tiefgründigen Erörterung zu widerlegen. Es ist ursprünglich 
nicht eine zur Lektüre verfafste Schrift, sondern ein Vortrag, ohne Zweifel die 
Rede eines Sophisten aus den letzten Jahrzehnten des fünften Jahrhunderts, 
und ein namhafter Gelehrter glaubte sogar mit Aufwendung von vielem Scharf- 
sinn den Protagoras als ihren Verfasser erweisen zu können. 1 ) 

Damit sind wir schon in die Zeit des peloponnesischen Krieges, also in 
das letzte Drittel des fünften Jahrhunderts eingetreten. Es ist merkwürdig, 
welch reges geistiges Leben trotz des Krieges und aller seiner Begleit- 
erscheinungen, wie der furchtbaren Pest, die von 430 an drei Jahre lang Athen 
verheerte und es seines gröfsten Staatsmannes beraubte, zu jener Zeit in 
Griechenland herrscht. Und diese geistige Bewegung ist für die Weltgeschichte 
von viel grösserer Wichtigkeit als die äufseren Einzelheiten des grofsen Krieges. 
Denn wenn auch durch denselben die Macht Athens gebrochen wurde, so dafs 
sie ihre alte Höhe niemals wieder erreichte, so blieb diese Stadt nichtsdesto- 
weniger sowohl wälyend des Krieges als nachher das Herz von Griechenland. Ja 
gerade eine mit dem Krieg aufs engste zusammenhängende politische Sendung 
war es, die einen der berühmtesten sogenannten Sophisten, Gorgias von 
Leontini, im Sommer 427 nach Athen führte. Seine mit allen Mitteln der 
Rhetorik ausgefeilten Prunkreden bildeten das Entzücken der Athener nicht 
minder als der Bewohner anderer griechischer Städte, in denen er sich hören 
liefs, und nicht weniger als das Volk an den Festen zu Olympia und Delphi 
wufste er auch Fürsten wie Iason von Pherä in Thessalien zu bezaubern. 
Der Schlamm des Alpheios hat uns die Inschrift des Sockels einer ihm in 
Olympia errichteten Statue erhalten, in der es heifst: 'Keiner der Sterblichen 
hat eine schönere Kunst ersonnen, um die Seele für die Leistungen der Männer- 
tugend zu stählen.' 2 ) In diesen Worten haben wir das Wesen der Sophistik 
kurz und bündig ausgedrückt. Sie will eine Kunst sein und keine Wissen- 
schaft; denn dieser gegenüber verhält sie sich, wenigstens soweit sie Philosophie 
ist, im wesentlichen skeptisch. Ihr Ziel ist, die &qstij zu lehren, d. h. die 
praktische Tüchtigkeit im öffentlichen Leben. Und das Hauptmittel, die hiefur 
notwendige geistige Gewandtheit im Denken und Reden zu erzielen, bildet die 
Rhetorik. Gorgias selbst hat sich in seinem fast hundertjährigen Leben dieser 
Thätigkeit mit ungeheurem Erfolg gewidmet; aber auf den Fortschritt der 
Wissenschaft konnte er wegen seines absoluten Skepticismus, den man mit 
Recht Nihilismus genannt hat, unmöglich einwirken, leugnete er doch die 

*) Gomperz, Die Apologie der Heilkunst in den Sitzungsber. der Wiener Ak. Philos. 
hißt. Klasse 120 1890, IX S. 1—196. 

*) Kaibel, Epigr. Gr. S. 584. Gomperz, Gr. D. I S. 381. Die unter seinem Namen er- 
haltenen Reden f Lob der Helena' und f Palamedes' halt Blafs (Antiph. Or. et Fr. 2 praef. XVIII) 
für echt. Anders Gomperz, Gr. D. S. 383. 



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W. Nestle: Die Entwickeluiig der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 195 

Existenz des angeblich Seienden, die Möglichkeit seiner Erkenntnis sowie die 
Möglichkeit der Mitteilung dieser Erkenntnis an andere, wenn es eine solche 
gäbe. — An geistiger Bedeutung überragte ihn jedenfalls Protagoras von 
Abdera, den wir schon zur Zeit des Perikles in Athen finden und der im 
Hause des Euripides eine seiner Hauptschriften, c Über die Götter', vorgelesen 
haben soll, welche mit den Worten begann: *Von den Göttern kann ich nichts 
wissen, weder dafs sie sind noch dafs sie nicht sind. Denn vieles macht es 
unmöglich, hierüber etwas zu wissen: die Dunkelheit der Sache und die Kürze 
des menschlichen Lebens.' Protagoras war also auch Skeptiker mindestens 
hinsichtlich des Transcendenten. Und er war überhaupt in der Erkenntnis- 
theorie Subjektivist: TDer Mensch ist das Mafs aller Dinge, derer welche sind, 
dafs sie sind, und derer, welche nicht sind, dafs sie nicht sind/ Mit einer 
einzigen Ausnahme hat das ganze Altertum, Plato und Aristoteles an der Spitze, 
denen der ganze Zusammenhang, in dem dieses Bruchstück stand, noch vorlag, 
diesen Satz in individualistischem und nicht in generellem Sinne gefafst. 1 ) Er 
stand in derjenigen Schrift des Protagoras, welche den aggressiven, auf die 
Übungen in der Palästra hinweisenden Titel c Die Niederboxer' führte. Für 
seine Auflösung der objektiven Begriffe spricht auch der Satz, dafs es von 
jedem Gegenstand zwei einander entgegengesetzte Betrachtungsweisen gebe, und 
der weitere, dafs es daher Aufgabe des guten Redners sei, auch der schwächeren 
Sache durch seine Darstellungskunst zum Siege zu verhelfen. 2 ) So ist denn 
auch das Feld seiner Thätigkeit nicht die Welt als Erkenntnisobjekt, sondern 
die Sprache als Mittel des Gedankenausdrucks. In seinem Buch *Über die 
Sprachrichtigkeit' hat er den Grund zu einer systematischen Darstellung der 
Formenlehre und Syntax gelegt. Dabei hat er die rhetorische Dialektik aus- 
gebildet, nicht die Fragedialektik in kurzer Rede und Antwort, deren sich 
Sokrates bediente, sondern die Kunst der Widerlegung des Gegners in langer 
Rede, nachdem man diesen selbst sich hatte aussprechen lassen. Die zahl- 
reichen Redewettkämpfe in den Dramen des Euripides können uns hievon ein 
Bild geben. 3 ) Auch mit der Theorie des Rechts scheint er sich gelegentlich 
befafst und dabei hinsichtlich des Strafzwecks die Sühnetheorie abgelehnt und 
die Lehre von der Abschreckung durch die Strafe mit Entschiedenheit vertreten 



') Gomperz hat in der * Apologie der Heilkunst ' 8. 26 ff. (s. S. 194 A. 1) und Griech. 
Denker I S. 361 ff. mit Berufung auf Hermias, Irris. gent. phil. 9 bei Diels Dox. Gr. S. 653 
die gegenteilige Auffassung in sehr bestechender Weise verfochten. Aber auch er mufs 
(Ap. S. 176. Gr. D. S. 366) wie Peipers (Erkenntnistheorie Piatos S. 48), Halbfafs (Die Be- 
richte des Plato und Aristoteles über Protagoras in Fleckeisens Jahrb. -Suppl. XIII 1884 
S. 209 f.) und Laas (Neuere Untersuchungen über Protagoras in Vierteljahrsschr. f. wiss. 
Philos. Vlil 1884 S. 485) zugeben dafs die Ausdrucksweiße des Prot, die individualistische 
Deutung nahelegte. Vortrefflich Zeller, Phil. d. Gr. 8 I S. 1096 ff. 

*) Protagoras Fr. 1. 2. 6. 6 (Mull). Die beiden Hauptschriften 1) 7tsQl &e&v und 
2) ksqI tov Svros oder ^ &lri&ua oder ol nataßdXXovteg: f Niederboxer' ; Ribbeck, Euripides 
und seine Zeit S. 11. 

8 ) ciiuXXai Uycov z. B. Eur. Med. 546. Hik. 428. Or. 491. Hekabe 1129 ff. Heraklid 134 ff. 
Troad. 914 ff. Antiope Fr. 183 ff. 

13* 



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196 W. Nestle: Die Entwicklung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 

zu haben. 1 ) — Der dritte unter den grofsen Sophisten ist Prodikos von Keos, 
der auf dem Gebiet der Sprachlehre der Begründer der Synonymik wurde und 
in seiner Weltanschauung zuerst unter den Griechen einem philosophisch 
formulierten Pessimismus huldigt. Nach seiner Ansicht giebt es mehr Übel 
als Gutes in der Welt und man sollte den Menschen bei seinem Eintritt ins 
Leben mit Klageliedern empfangen und dagegen bei seinem Abscheiden aus 
demselben glücklich preisen. Nichtsdestoweniger forderte er weder zu asketischer 
Weltflucht noch zum rauschenden Genüsse des Augenblicks auf, sondern suchte 
das Leid des Lebens durch tüchtige Arbeit zu überwinden. Selbst von schwäch- 
licher Konstitution, erwählte er sich die Kraftgestalt des Herakles zu seinem 
Ideal, und die ganze Welt kennt den schönen von ihm ersonnenen Mythos von 
Herakles am Scheideweg. Seinem Vaterland hat er zahlreiche politische Dienste 
geleistet. In die Ethik hat er den wichtigen Begriff der Adiaphora eingeführt, 
den von ihm die Kyniker und von diesen die Stoiker übernommen haben. 
Religiös galt er als verdächtig. Eines Tags hielt er im Gymnasium Lykeion 
eine Rede über den Reichtum, worin er den Gedanken ausführte, dafs materieller 
Besitz an sich weder gut noch schlecht sei, sondern das eine oder andere 
erst durch die Anwendung werde, die man von ihm mache. Ein vorlautes 
Bürschchen, so wird erzählt, ^suchte ihn nun in den verfänglichen Widerspruch 
zu verwickeln, dafs, wenn es bei allen Gütern auf die Tugend ankomme, die 
Tugend aber erlernt werden könne, das Gebet überflüssig sei'. Noch ehe 
Prodikos antworten konnte, wurde er von dem Gymnasiarchen aus dem Lokal 
gewiesen, weil er sich mit den jungen Leuten über ungehörige Dinge unter- 
halte. 2 ) — Als vierten im Bunde nennt man gewöhnlich Hippias von Elis, 
einen Mann, der das positive Wissen seiner Zeit in erstaunlichem Mafs in sich 
vereinigt und seinerseits erweitert hat: Astronomie, Geometrie und Arithmetik, 
Phonetik, Rhythmik und Musiklehre, Theorie der Plastik und Malerei, Sagen- 
und Völkerkunde, Chronologie und Mnemonik: dies alles beherrschte er und 
aufserdem war er noch als epischer, tragischer, epigrammatischer und dithy- 
rambischer Dichter thätig. Er ist also einer der ersten, der den Namen eines 
Polyhistors verdient, eine Erscheinung so vielseitig, wie sie uns in der Renaissance 
zuweilen wieder begegnen, z. B. in Lionardo da Vinci. 

Noch manche Sterne zweiter Gröfse wie Thrasymachos und Kallikles, 
Diagoras von Melos, Antiphon und Kritias, der bekannte Oligarch und Schüler 
des Sokrates, wären zu nennen. Allen diesen Männern ist es gemeinsam, dafs 
sie mit skeptischem Sinn an alle Überlieferung, an die religiösen, politischen, 
sozialen, ethischen und ästhetischen Meinungen herantreten und die Frage auf- 
werfen: wie ist das alles, die gesamte sogenannte Kultur, geworden, und ist 
der Anspruch auf Geltung, den sie erhebt, berechtigt? Dabei stellen sie 
alle bestehenden Einrichtungen und Gebräuche vor die Frage, ob sie durch 

*) Plut. Per. 36. Plato Protag. S. 324 B. Gomperz, Gr. D. I S. 358 f. 

*) Auf Prodikos bezieht sich die Theodicee in den Hik. des Eur. 195 ff. und Kresphont 
Fr. 449. Die Anekdote bei Ps. Plato, Eryxias S. 397. Vgl. Welcker, Prodikos von Keos, 
Kl. Sehr. II S. 625. 



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W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 197 

Natur oder Satzung ((pvöei oder Möei) geworden seien, ein Gegensatz, den 
wir zum erstenmal bei dem Philosophen Archelaos, einem Schüler des 
Anaxagoras, vorfinden. 1 ) Entschieden wird die Frage, ungeachtet der bei ein- 
zelnen auftretenden Skepsis, vor dem Richterstuhle der Vernunft (tvveöig), zu 
der Aristophanes einmal den von ihm als Vertreter der aufklärerischen Richtung 
eingeführten Euripides als zu seiner Göttin beten lafst. 2 ) Dabei bedienten sie 
sich der rhetorischen Kunst zur Popularisierung ihrer Ideen, und so drang die 
Aufklarung jetzt erst in weitere Kreise des Volkes ein. Freilich hatte auch 
dies seine Grenzen, da die hohen Honorare, die die Sophisten verlangten — 
Protagoras liefs sich 100 Minen = 7000 Mk. für einen Lehrkursus bezahlen 
— es nur reichen Leuten ermöglichten, ihre Bildung bei ihnen zu holen. Doch 
hielten sie auch einzelne Vorträge mit billigerem Eintrittspreis. 8 ) — Die 
Religion, gegen welche sich die Sophisten durchweg ablehnend verhalten, 
wird entweder als eine primitive Naturerklärung der noch nicht zur wirklichen 
Erkenntnis gelangten Menschen oder geradezu als eine Erfindung zum Zwecke 
der Volkserziehung bezeichnet. Im ersteren Sinn sprach sich Prodikos 4 ), im 
zweiten Kritias in seinem c Sisyphos' 5 ) aus. Man nahm einen tierischen Ur- 
zustand des Menschen an, aus dem er sich allmählich zu höheren Stufen ent- 
wickelte. An den Beginn dieser Entwickelung setzte man die artikulierte 
Rede, welche die einen als etwas von Natur Gewordenes betrachteten, während 
andere in der Sprache ein konventionelles Produkt sahen. Jene Theorie vertrat 
zuerst Heraklit und im fünften Jahrhundert sein aus Piatos Dialog bekannter 
Schüler Kratylos, diese höchst wahrscheinlich Demokrit, Protagoras u. a. Weiter 
fragte man nach der Entstehung des Staats und des öffentlichen Rechts, und 
hier tritt uns wie im Zeitalter der modernen Aufklärung die Lehre vom 
Gesellschaftsvertrag entgegen. Der Kampf gegen die wilden Tiere veranlafste 
nach Protagoras die Menschen zu geselligem Leben, das weiterhin zur Städte- 
und Staatengründung führte. 6 ) Denn auch gegeneinander mufsten die Menschen 
sich schützen und — so läfst Plato den Glaukon sagen — c da sie einander 
Unrecht thun und voneinander Unrecht leiden und so beides zu kosten be- 
kommen, so scheint es denen, die nicht das erstere wählen und das letztere 
meiden können, nützlich, eine Übereinkunft zu schliefsen (fcvv&dG&cci)'. 7 ) — Bei 
der Frage nach der Entstehung des Rechts wird der konventionellen Satzung 
das Naturrecht entgegengestellt, und aus dieser Quelle entspringen nun zwei 
einander polar entgegengesetzte Gedankenreihen. Die Vertreter der einen 
Richtung, wie Hippias und der schon dem vierten Jahrhundert angehörige 
Alkidamas 8 ), proklamieren den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen. Es 



f ) Gomperz, Gr. D. I S. 323. *) Aristoph., Frösche 893. 
■) Plato Krat. 1 S. 384 B. Axiochos 4 S. 366 B. Welcker, Prodikos S. 412 ff. 
4 ) Gomperz, Gr. D. I S. 346. 

ß ) Kritias, Sisyphos Fr. 1 bei Nauck, Trag. Gr. Fr. * S. 771. Vgl. auch Moschion Fr. 6 
(viertes Jahrhundert): ib. S. 816 f. 

6 ) Plato, Protag. S. 322. *) Plato, Politeia II 2 S. 368 E. 

8 ) Alkidamas, MeBS. Fr. 1 bei Schol. zu Aristot. Rhet. I 13, 2. Orat. Att. II 164. 



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198 W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 

liegt auf der Hand, dafs dies zur Bestreitung der Rechte der bevorzugten 
Stände, besonders des Adels, und zur Forderung der Sklavenemancipation 
sowie zur Leugnung des bisher allgemein anerkannten Wertunterschieds 
zwischen Hellenen und Barbaren, zum Kosmopolitismus fuhren mufste: 

Der ganze Äther steht dem Flug des Adlers frei, 
Die ganze Welt ist Vaterland dem edlen Mann. 1 ) 

Und auch auf den Besitz wurde der Grundsatz der Gleichheit angewendet: 
Phaleas von Chalcedon verlangte in der zweiten Hälfte des fünften Jahr- 
hunderts die Ausgleichung der Vermögensunterschiede und die Ver- 
staatlichung der gesamten gewerblichen Arbeit. Etwas gemäßigter wünschte 
Hippodamos von Milet unter Zugrundelegung der Einteilung des Volks in 
die drei Stände der Gewerbetreibenden, Ackerbauer und Krieger die Verstaat- 
lichung von Grund und Boden zu zwei Dritteln; nur ein Drittel sollte Privat- 
eigentum bleiben.*) — Die zweite Richtung, die ebenfalls vom Begriff des 
Naturrechts ausging und deren Hauptvertreter ein Thrasymachos und 
Eallikles waren, verkündigte im diametralen Gegensatz zu den erwähnten 
Theorien das Recht des Stärkeren und nahm für das Kraftgenie des *TTber- 
menschen* Partei. Ein anschauliches Charakterbild eines praktischen Vertreters 
dieser Moral des rücksichtslosen Egoismus entwirft Xenophon in seiner Anabasis, 
indem er uns Menon, einen der Feldherrn der 10000 Griechen, als einen Mann 
schildert, der sich über alle bürgerliche Moral und Frömmigkeit hinwegsetzte 
und jeden, der dies nicht that, als einen Schwächling und Dummkopf be- 
trachtete. 8 ) In dem einzigen uns erhaltenen Satyrspiele, dem ^Kyklops', läfst 
sich Euripides die Gelegenheit nicht entgehen, diese Moral zügelloser Genufs- 
sucht und Selbstsucht zu persiflieren. 4 ) 

Man sieht, wie die neue Aufklärung an allem Bestehenden rüttelte, und, 
was das Schlimmste war, die Vertreter dieser Umsturzpartei behaupteten nicht 
nur, selbst das Privilegium der Bildung zu besitzen, sondern warfen sich auch 
noch zu Erziehern der Jugend auf. Kein Wunder, dafs es dem gutgesinnten 
konservativen athenischen Bürger angst und bange wurde, wenn etwa der junge 
Sohn aus der Schule des Sophisten nach Hause kam und den Vater mit den 
dort aufgeschnappten noch unvergorenen neuen Ideen traktierte. Und doch 
begreift man auch wieder die Leidenschaft, mit der die Vertreter der neuen 
Richtung gegen manche altgeheiligte Einrichtung polemisierten, wie z. B. gegen 
die Mantik, wenn man bedenkt, dafs die Seher der verhängnisvollen sizilischen 
Expedition einen glänzenden Erfolg verheifsen hatten, und dafs es die Propheten 
des frommen Nikias waren, durch deren Aberglauben die letzte Rettung der 
athenischen Flotte aus dem Hafen von Syrakus unmöglich gemacht wurde. 5 ) 



*) Eur. Fr. 1047; vgl. Fr. 777 und 902. 
*) Gomperz, Gr. D. I S. 329 f. ■) Xen. An. II 6, 21 ff. 

*) Eur. Kykl. 316 ff. W. Schmid, Kritisches und Exegetisches zu Eur. Eyklops im 
Philologus 1896 S. 57 f. 

•) Thukyd. VII 50; VHI 1. Vgl. auch Eur. Hei. 744 ff. (aufgeführt 412). 



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W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 199 

Trotzdem hielt ein grofser Teil des Volkes zäh am Alten fest, und es ist 
natürlich; dafs es an Opposition gegen die neue Aufklarung nicht fehlte. Ich 
denke dahei nicht sowohl an den Kampf des Sokrates mit seiner Begriffs- 
philosophie und Ethik gegen die nihilistischen Tendenzen in der Sophistik; 
denn trotz allem hat er viel mit ihr Verwandtes, und Aristophanes hat zwar 
viel Einzelnes mit Unrecht von andern auf Sokrates übertragen, aber instinktiv 
richtig gehandelt, wenn er ihn geradezu als den Typus der Aufklärung hin- 
stellte. Auch der Spott der Komödie, so bissig er war, war doch in der 
Hauptsache harmlos. Viel ernster war die politische Opposition. Schon 
Perikles hatte seinen Freund Anaxagoras nicht vor der Einleitung eines 
Prozesses wegen Gottlosigkeit schützen können, und der Philosoph entzog sich 
nur durch schleunige Abreise aus Athen der Verurteilung. Als Protagoras 
sein Buch über die Götter im Hause des Euripides vorlas, 'empfand ein 
schneidiger Reiteroffizier, der reiche, oligarchisch gesinnte Pythodoros, dessen 
Statue unlängst in Eleusis wiedergefunden wurde, das Bedürfnis, die Gesell- 
schaft zu retten'. Auch er wurde unter Anklage gestellt, seine Schriften öffent- 
lich verbrannt, und er mufste Athen verlassen, wobei er auf der Fahrt nach 
Sizilien durch Schiffbruch den Tod gefunden haben soll. Nicht besser erging 
es dem * Atheisten' Diagoras von Melos, der ebenfalls wegen Asebie verurteilt 
und auf dessen Kopf ein Preis von einem Talent gesetzt wurde. Dafs die demo- 
kratische Restaurationsherrschaft nach dem Sturze der sogenannten 30 Tyrannen 
an der Wende des fünften zum vierten Jahrhundert dem Sokrates den Schier- 
lingsbecher reichte, ist allbekannt. So gefährlich war es, 'nicht an die Götter 
zu glauben, an die der Staat glaubte' und mit den neuen Lehren 'die Jugend 
zu verführen'. 1 ) Trotz dieser Verfolgung schritt die Aufklärung sieghaft 
ihren Gang weiter: in den von Sokrates ausgehenden Schulen und ihren 
Weiterbildungen hat sie die Welt erobert, und schon am Ausgang des fünften 
Jahrhunderts hatte sie mit Ausnahme der Aristophanischen Komödie die ganze 
Litteratur für sich gewonnen. Die griechische Prosa hat sie zwar nicht be- 
gründet, aber mächtig gefordert, und vermöge ihrer praktischen Ziele hat sie 
die Entstehung einer ausgedehnten Fachschriftstellerei hervorgerufen: von 
der edlen Kochkunst an, welche in einem gewissen Mithaikos ihren ersten 
litterarischen Bearbeiter fand, bis zur geistvollen politischen Monographie, wie 
uns eine solche z. B. in der fälschlich dem Xenophon zugeschriebenen Schrift 
vom Staate der Athener vorliegt, erfährt jedes Gebiet seine theoretische Be- 
handlung: die Fechtkunst und die Taktik, die Landwirtschaft, die Pferdezucht 
und der Jagdsport, die Malerei, Architektur und Skulptur, die Technik des 
Bühnenwesens und die Musik nicht minder als die Litteratur geschiente, als 
deren erste Vertreter Damastes und Glaukos von Rhegion erscheinen. Auch 
Geographie und Geschichte nehmen einen neuen Aufschwung: man schreibt 
Memoiren und Reisebilder und wendet insbesondere auch dem Ausland sein 



l ) Anaxagoras: Plut. Per. 32. Protagoras: Gomperz, Gr. D. I S. 353. 471. Diagoras: 
Diodor XITT 6. Sokrates: Xen. Mem. I 1,1. — In der Komödie verspottete schon Kratinos 
in seinen Tanoptai' den 'Atheisten' Hippo. Gomperz, Gr. D. I S. 303. 



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200 W. Nestie: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 

Interesse zu; Xanthus verfafst eine lydische, Charon von Lampsakus und 
Dionysius von Milet eine persische Geschichte. 1 ) Den Höhepunkt auf dem 
Gebiet der politischen Geschichtschreibung bezeichnet freilich Thukydides als 
Darsteller der zeitgenössischen griechischen Geschichte. Mit seiner durchaus 
pragmatisch-politischen Auffassung der Ereignisse, mit seinem nüchtern klaren, 
von allen religiösen Vorurteilen freien Sinn bezeichnet er einen grofsen Fort- 
schritt über Herodot hinaus, wie er in formaler Hinsicht zugleich der Be- 
gründer der attischen Prosa geworden ist. Wenn ihn die Überlieferung zu 
einem Jünger des Anaxagoras macht, so hat sie jedenfalls insofern Recht, als 
sein Werk nach Form und Inhalt die griechische Aufklärung zur Voraussetzung 
hat. Es mag nur auf das eine hingewiesen werden, dafs in der gewaltigen 
Leichenrede 2 ), die er den Perikles zu Ehren der im ersten Jahr des Peloponne- 
sischen Krieges gefallenen Athener halten läfst, jede Anspielung auf die Ge- 
stalten der Volksreligion vermieden und dabei die von bornierten Leuten noch 
vielfach bestrittene Nützlichkeit wissenschaftlicher und künstlerischer Thatig- 
keit als ein Vorzug Athens vor allen andern griechischen Städten gepriesen 
wird. *Wir pflegen das Schöne mit mäfsigem Aufwand und die Wissenschaft 
ohne Weichlichkeit': so spricht bei Thukydides mit Stolz der athenische Staats- 
mann, der Freund eines Anaxagoras, Phidias und Euripides. 

Der letztere Name veranlafst uns, auch noch mit einigen wenigen Worten 
des Verhältnisses zu gedenken, das die jüngste Dichtungsgattung, die Tragödie, 
zu der Aufklärungsbewegung einnimmt. Es ist eine schöne litterarische 
Legende, dafs der ruhmreichste Tag der griechischen Geschichte, der Tag von 
Salamis, auch die drei Koryphäen der Tragödie auf eben dieser Insel zu- 
sammengeführt habe: Aschylos, so heilst es, habe in der Schlacht mitgekämpft, 
der 16jährige blühend schöne Sophokles den Siegesreigen der Epheben an- 
geführt, und Euripides sei an diesem Tag von seiner nach Salamis geflüchteten 
Mutter geboren worden. Jedenfalls ist damit das Zeitverhältnis der drei 
Dichter im allgemeinen richtig gekennzeichnet; unrichtig aber wäre es, daraus 
auf eine von Aschylos bis Euripides gleichmäfsig fortschreitende Annäherung 
an die Aufklärungsbewegung zu schliefsen. Aschylos hat ungefähr eine ähn- 
liche Weltauffassung wie Pindar, nur dafs er sich unter orphischen Einflüssen 
noch mehr einem religiösen Pantheismus nähert: 

Zeus ist der Äther, Erde Zeus und Himmel Zeus. 
Zeus ist das alles und was noch darüber ist. 8 ) 

Dafs aber die Wirksamkeit dieses Allgottes in der Welt weise und gerecht 
ist, dafs den Frevler unnachsichtlich seine Strafe ereilt und der Gerechte seinen 
Lohn empfängt, das ist für Aschylos eine heilige, unantastbare Wahrheit. Und 
wenn er sich auch über das Problem von Schicksal und Schuld, von Freiheit 
und Notwendigkeit Gedanken macht, wenn er auch wie Pindar eine Versitt- 
lichung der Gottesvorstellung anstrebt, so gerät er dabei doch nie weder in 

l ) Gomperz, Gr. D. I S. 310 f. 396 ff. *) Thuk. H 36 ff., besonders 40. 
*) Aschylos, Heliaden Fr. 70. 



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W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 201 

einen inneren noch äufseren Konflikt; der Friede seiner Seele bleibt ungestört, 
und er fohlt sich in keinem Gegensatz zum Volksbewufstsein. — Das letztere 
gilt, fast in noch höherem Grade, von Sophokles. Ästhetisch betrachtet ver- 
dienen seine Tragödien um ihrer geschlossenen Harmonie willen unstreitig die 
Palme unter den Werken der drei grofsen Dichter. * Friedselig ist er hier, 
friedselig dort', sagt Aristophanes mit Recht von ihm nach seinem Tode. 1 ) Er 
ist eine durch und durch religiöse Natur, so sehr, dafs ihm die Befolgung 
einer religiösen Sitte oder Vorschrift überall an erster Stelle steht. Dies be- 
weist Antigone, die mit der vollsten Sympathie des Dichters die Staatsgesetze 
übertritt, um der religiösen Pflicht zu genügen, und dies beweist noch deut- 
licher ein Bruchstück seines c Thye8tes , , welches lautet: 

Niemand ist weise, aufser wer die Götter ehrt. 
Und wenn des Rechtes Boden zu verlassen dir 
Ein Gott befiehlt, muM du im Blick auf ihn es thun. 
Denn nichts ist böse, was uns je ein Gott gebeut 2 ) 

Gewifs, es liegt eine tiefe Wahrheit darin, dafs Sophokles die ewigen c un- 
geschriebenen Gesetze* über das konventionelle menschliche Recht stellt. 8 ) Aber 
wir haben Grund, anzunehmen, dafs des Dichters Meinung die ist: 'Was dir 
die Götter befehlen, das thue unbesehen; du hast kein Recht zu fragen, ob das 
sittlich oder unsittlich sei; weil es von den Göttern kommt, ist es sittlich.' 
Dann steht die überlieferte Religion über dem Sittengesetz, und so aufgefafst 
bildet das Wort des Sophokles den direkten Gegensatz zu einem berühmten 
Verse des Euripides: 

Wenn Götter etwas Böses thun, sind's Götter nicht. 4 ) 

Und in der That: es läfst sich kaum ein gröfserer Gegensatz denken, als der 
zwischen der Persönlichkeit und der Lebensauffassung dieser beiden Männer, 
und dieser Unterschied prägte sich schon in ihrem Äufseren aus. Man ver- 
gleiche die Lateranische Sophoklesstatue mit der Neapeler Büste des Euripides: 
zwar Hoheit des Geistes steht auf beider Stirne geschrieben. Aber dort sehen 

X einen Mann, der selbstbewufst, frei, ruhig und heiter über die Welt hin- 
ut; die Wogen des Lebens schlagen zu seinem sicheren Standort nicht 
empor. Hier blickt uns ein gefurchtes, nachdenkliches, sorgenvolles Antlitz 
an, dessen Mund zu sprechen scheint: 'Wer erfreute sich des Lebens, Der in 
seine Tiefen blickt?' Euripides ist eine Kampfhatur; und so hat er sich denn 
auch tapferen Mutes an die Spitze der Aufklärungsbewegung gestellt, dem 
Hafs der Feinde und dem Spott der Komödiendichter trotzend, der ihn noch 
bis übers Grab hinüber verfolgte. Man kann wohl sagen, dafs sich alle 
Strahlen der Aufklärung in seiner Person wie in einem Brennpunkte sammeln. 
Und zwar ist es eine durchaus schiefe Auffassung, ihn lediglich als einen 

*) Aristoph. Frösche 82. 

*) Sophokl. Thyest. Fr. 226: statt hv-&s6g schreibt Beynen: %s-fteovg. Nauck, Tr. Gr. 
Fr. ■ S. 184. 

*) Sophokl. Antigone 464 f. 4 ) Eurip. Beller. Fr. 292, 7, 



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202 W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 

Jünger der zeitgenossischen Sophistik anzusehen. Er war vielmehr Philosoph 
und hat sich ebensowenig gescheut, auf der Bühne, von der er zu seinem 
Volke sprach, die Verirrungen der neuen Richtung, z. B. den Mifsbrauch der 
Rhetorik vor Gericht und in Volksversammlungen durch gewissenlose Redner, 
mit scharfen Worten zu geifseln, als alles, was ihm im öffentlichen, besonders 
im religiösen Leben als unwahr erschien, schonungslos zu bekämpfen. Es ist 
staunenswert, mit welchem Freimut dieser Mann an geheiligter Statte, im 
Theater des Dionysos, die griechischen Götter zum Tode verurteilt hat Es 
ist hier nicht der Ort, diese Polemik sowie seine positiven philosophischen 
Lehren genauer darzulegen. Nur darauf soll hingewiesen werden, dafs Euripides, 
da er doch die alten mythischen Stoffe als Grundlagen seiner Dramen bei- 
behielt, durch den Gegensatz, in dem diese religiösen Vorstellungen zu seiner 
Gedankenwelt standen, unvermeidlich in einen inneren und äufseren Zwiespalt 
geraten mufste; in einen inneren: denn seine Gedanken deckten sich nicht mit 
den Ideen der von ihm behandelten Mythen; und in einen äufseren: denn seine 
Heroen verwandelten sich unter seinen Händen in Menschen, wie seine Zeit- 
genossen waren. Er hat, wie man treffend gesagt hat 1 ), die Menschen seiner 
Zeit und nicht zum wenigsten sich selbst auf die Bühne gebracht, ohne doch 
den Schritt von der heroischen zur bürgerlichen Tragödie zu thun, und so 
bildet sein mitunter auch pathologisches Drama den Übergang zum bürger- 
lichen Lustspiel des Menander. Er hat zu seinen Lebzeiten wenig Anerkennung 
gefunden: nur vier Siege und einen fünften mit hinterlassenen Dramen hat er 
errungen, obwohl er 88 Stücke oder 22 Tetralogien verfafst hat. 2 ) Dafür 
hatte er die Genugthuung, unter seinen Zuschauern stets den Sokrates zu 
haben, der sonst das Theater mied. 8 ) Die fortgesetzte Verkennung und die 
unerquicklichen politischen Zustände Athens nach der mifslungenen sizilischen 
Expedition mögen ihn bewogen haben, einer Einladung des Macedonischen 
Königs Archelaos zu folgen, an dessen Hof er die zwei letzten Jahre seines 
Lebens verbrachte. Er traf dort eine Reihe bedeutender Männer: seinen Lands- 
mann Agathon, der mit seiner Tragödie c Die Blume* neue Bahnen ein- 
geschlagen hatte, Timotheos von Milet, den Reformator der Musik, cten 
Epiker Choirilos von Samos, den Maler Zeuxis von Heraklea und ver- 
mutlich auch den damals in der Verbannung lebenden Geschichtschreiber 
Thukydides. Letzterer soll, als Euripides im Jahr 405 in Macedonien ge- 
storben war, auch seine Grabschrift verfafst haben. 4 ) Im Leben verkannt, ge- 
hört er zu jenen, wie jüngst von Cicero gesagt wurde, c im eminenten Sinne 
des Worts kulturellen Persönlichkeiten, deren eigentliche Biographie erst mit 



x ) Fr. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik 8 S. 78 ff. 

*) v. Wilamowitz-Möllendorf, Analecta Euripidea S. 172 ff. 

") Älian, var. hist. II 13. 

4 ) Agathon : Ael. var. hist. XXU 4. Schol. zu Aristoph. Frösche 83. Timotheos : Apophthegm. 
Arch. S. 177. Choirilos Suidas s. v. Zeuxis: Ael. var. hist. XTV 17. Die Anwesenheit des 
Thukydides am Hof des Archelaos ist nicht sicher, aber wahrscheinlich: v. Wilamowitz, 
Herakles l I S. 16 A. 26. Vita 36 ff. 



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W. Nestle: Die Entwickelung der griechischen Aufklärung bis auf Sokrates 203 

ihrem Todestage beginnt' 1 ), und es ist wahr, was ein neuerer Geschichtschreiber 
über ihn urteilt: dafs *aufser Homer kein zweiter griechischer Dichter eine so 
tiefgreifende Wirkung auf die Nachwelt geübt hat'. 2 ) Ja, niemals ist ein Wort 
von der Geschichte so Lügen gestraft worden, wie das kurzsichtige Urteil des 
Aristophanes, dafs mit Euripides auch seine Poesie gestorben sei. 8 ) Diesen 
Ruhm verdankt er eben dem Gedankengehalt seiner Dramen, dem Umstand, 
dafs er der Dichter der griechischen Aufklarung, c der Philosoph der Bühne', 
wie das Altertum ihn nannte, gewesen ist. 4 ) Im Leben aber half ihm über 
alles Leid und über alle dichterischen Mifserfolge jene Befriedigung hinweg, 
welche die ernste und eindringliche Beschäftigung mit der Wissenschaft jedem, 
der sich ihr widmet, gewährt. Das hat er ausgesprochen in den schönen 
Worten, bei deren Abfassung ihm wohl das Bild des Anaxagoras vorschwebte: 

Glücklich der Mann, der Kunde der Wissenschaft 

Durfte erlernen. 

Niemals wird nach der Mitbürger Unheil 

Noch nach verwerflicher That er trachten; 

Sondern er schaut der ew*gen Natur nie 

Alternde Ordnung: wie sie geworden, 

Woher und wozu. 

Solch einen Mann wird nie ein Gedanke 

An Werke des Unrechts beschleichen. 6 ) 

An diese Worte hat vermutlich auch der römische Dichter zur Zeit des 
Augustus gedacht, als er den Vers schrieb, der in bündigster Kürze das Ziel 
und den Erfolg aller wissenschaftlichen Aufklärung zusammenfafst: 
Felix qui potuit rerum cognoscere causas. 6 ) 

l ) Zielinski, Cicero im Wandel der Jahrhunderte S. 1. 

*) Beloch, Griech. Geschichte I S. 676. Ion bei Bergk, Lyr. Gr. 4 (1897) S. 127 Nr. 5. 

») Aristoph. Frösche 868 f. 

*) 6 «nwjvMcds tpiUooyog z. B. Ath. IV S. 158 E und oft. 

*) Eur. Fr. 910: v. 7 folge ich der Konjektur v. Wilamowitzens fösv für Zicq. Über 
die Bedeutung von Icxoqiri vgl. Gomperz, Apologie der Heilkunst S. 96. Die Beziehung auf 
Anaxagoras vermutete Valckenaer, Diatribe in Euripidis perditorum dramatum reliquias S. 26. 

«) Vergil, Georg. II 490. 



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LERNEN UND LEBEN AUF DEN HUMANISTENSCHULEN 
IM SPIEGEL DER LATEINISCHEN SCHÜLERDIALOGE 

Von Aloys Bömer 
(Schlufs) 

Noch um vieles reichhaltiger als die bisher mitgeteilten Notizen über das 
Lernen ist das Material der Dialoge, welches über das Leben und Treiben 
der Knaben unterrichtet. 

Dafs die Schüler, deren Eltern nicht am Orte wohnten, entweder beim 
Lehrer und seinen Gehilfen in den ^Bursen' oder bei den Bürgern Unter- 
kommen finden konnten, wurde schon erwähnt. Die Wohnungen der ersteren 
müssen am begehrtesten gewesen sein, da die Ankömmlinge häufig die Aus- 
kunft erhalten, dafs die Bursen schon besetzt seien. Über die Höhe des 
Logisgeldes, des sogenannten locarium (Mos. 7), findet sich bei Murmellius (25) 
folgende Bemerkung eines Knaben, der in Münster bei einem Schuster in 
St. Lambert Wohnung erhalten hat: Trater meus et ego in sex menses duo- 
decim solidis luculentum cubiculum conduximus = Myn broer und ick hebben 
voer eyn half jaer ein luchtige kamer om twelift schillinc gehuyrt/ Früher 
war es üblich, dafs die Knaben neben dem Kostgeld auch noch eine Abgabe 
für Licht und Holz entrichteten (Niav. I 2). Später erliefsen manche Bürger 
diesen Tribut, dafür mufsten die Schüler aber jeden Tag in der Kirche das 
Salve singen (Hegend. 4). Es gab auch völlig freies Quartier, wenn die 
Einwohner sich zu kleinen Dienstleistungen, sei es zu häuslichen Arbeiten 
(Mos. 7; Phil. 9) oder zur Nachhilfe beim Studium jüngerer Söhne der Familie 
(Schott. 19) verpflichteten. Wenn Wirte kostenlos Logis gewährten, haben sie 
dafür wohl auf andere Weise ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen gesucht, 
denn es heifst bei Murmellius (25 c ): 'Caupones gratis locant domus suas ad- 
venis, sed eo carius cibant = Die wirt lyhen ire huser vergebens den gesten, 
genen inen aber dest turer zu essen/ Die Knaben, welche beim Lehrer wohnten, 
mufsten abwechselnd den Boden der Klassenzimmer und der Schlafstuben rein- 
fegen (Hegend. 8; Dune. 26). Die Bursen wurden abends zur bestimmten Stunde 
geschlossen, im Winter um 9, im Sommer um 10 Uhr, und es durfte alsdann 
keinem, selbst dem Lehrer nicht mehr geöffnet werden (Bari. 17). Über- 
tretungen wurden strenge bestraft. 

Das Aufstehen am Morgen war für manche Schüler eine sauere Pille 
Wenn wir bedenken, dafs die Schulstunden damals in der Regel schon um 
6 Uhr begannen (Schott. 21) und also sehr frühzeitig das Bett verlassen werden 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 205 

mufste, werden wir diese Trägheit ein wenig verzeihlicher finden. Das Wecken 
besorgte in der Schule entweder einer von den Gehilfen des Rektors oder einer 
von den Knaben (Cord. II 54), in den Privathäusern gewöhnlich die Magd. 
Reichere Eltern konnten sich für ihre Söhnchen auch einen eigenen Haus- 
lehrer leisten, einen paedagogus, der in der Regel aus den älteren Schülern 
der Anstalt genommen wurde (Niav. I 1; Cord. II 44 u. 54). Solche Pädagogen 
überwachten das Ankleiden ihrer Zöglinge, geleiteten sie zur Kirche und Schule, 
halfen ihnen bei ihren Arbeiten nach und hatten aufserdem noch die nicht 
immer leichte Aufgabe, ihnen den nötigen ^chlifP beizubringen. Eine Unter- 
weisung in letztgenannter Beziehung, aus welcher einige Proben mitgeteilt zu 
werden verdienen, hat uns Erasmus in seinem Dialoge *Monitoria paedagogica' 
aufgezeichnet. Es handelt sich um eine Unterredung des Pädagogen mit dem 
seiner Erziehung anvertrauten Knaben. Der Pädagoge beginnt: c Du scheinst 
mir nicht einer aula, sondern einer caula entsprossen zu sein, so ungeschlachte 
Sitten legst Du an den Tag. Einem feinen Knaben geziemt ein feines Be- 
tragen. So oft Dich einer anredet, dem Du Ehrerbietung schuldig bist, stelle 
Dich gerade hin und entblöfse Dein Haupt! Der Blick sei freundlich und be- 
scheiden, die Augen sittsam und immer auf den gerichtet, der mit Dir spricht, 
die Füfse geschlossen, die Hände ruhig. Ja nicht gewackelt mit den Schien- 
beinen und nicht gestikuliert mit der Hand! Auch nicht auf die Lippen ge- 
bissen, auf dem Kopfe gekratzt oder in der Nase gestochert! . . . Wenn Du zu 
antworten hast, thue es kurz und gut, füge zuweilen den Titel dessen ein, mit 
dem Du redest, und beuge auch hin und wieder das eine Knie, namentlich am 
Schlüsse Deiner Antwort! Entferne Dich auch nicht, ohne vorher um Er- 
laubnis gefragt zu haben oder ohne zum Fortgehen aufgefordert zu sein! Beim 
Sprechen überstürze Dich nicht, aber stocke auch nicht und brumme nicht 
in den Bart, sondern rede laut und deutlich! Wenn Dir ein Älterer, eine 
Magistratsperson, ein Priester, ein Gelehrter oder irgend ein angesehener Mann 
begegnet, vergifs nicht den Hut abzunehmen und lafs es Dich nicht verdriefsen, 
das Knie zu beugen! Dasselbe thu J , wenn Du an einer Kirche oder einem 
Bilde des Gekreuzigten vorbeikommst !' u. s. w. Vor dem Pädagogen hatten die 
Knaben, wie wir aus unserem Gespräche ersehen, an dessen Schlufs der Schüler 
Folgsamkeit in allen Dingen gelobt, einigen Respekt, den armen Mädchen aber, 
welche beim Anziehen behilflich sein sollten, mögen Taugenichtse oftmals einen 
warmen Kopf gemacht haben. Die Beatrix bei Vives (1) mufs übrigens auch 
eine wunderbare Alte gewesen sein. Sie läfst sich alle Unarten gefallen, nur 
häuslich darf man sie nicht nennen. Das Ankleiden ihrer beiden Zöglinge 
beaufsichtigt sie mit einer solchen Sorgfalt und giebt bei jedem Kleidungs- 
stücke, das angelegt wird, so viele Unterweisungen, dafs den Kleinen die Geduld 
vergeht. Einen Versuch derselben, ihr wegzulaufen, vereitelt sie mit der ihr 
eigenen Energie; sie ruht nicht eher, bis die Knaben sich gründlich gewaschen 
und das Morgengebet verrichtet haben. Als dann aber nochmals gute Er- 
mahnungen kommen sollen, läfst Emanuel sich zu der Drohung hinreifsen, sie 
möge sich zum Teufel scheren oder er würfe ihr die Stiefel an den Kopf und 



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206 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

risse ihr den Schleier ab. Ein anderer Bube führt die Magd, welche ihn 
wecken soll, erst noch mit Vorliebe an der Nase herum. Wenn sie kommt 
und ihn anruft, stellt er sich, als wäre er noch im tiefsten Schlafe und als 
hörte er nichts. Wenn sie dann immer lauter ruft, hebt er endlich langsam 
den Kopf, richtet sich im Bette auf, wirft die Brustbinde über die Schultern 
und thut, als wolle er aufstehen. Sobald aber die Weckerin in gutem Glauben 
weggegangen, wirft er sich schleunigst wieder ins Bett und schlaft noch eine 
gehörige Zeit, bis sie zum zweitenmale kommt. Vermutlich hat sie sich aber 
nicht allzu oft auf solche Weise hintergehen lassen (Cord. III 40). — 

Allzu fürstlich werden die Schlafstellen für die fremden Knaben in der 
Regel nicht gewesen sein. Dafs sie aber auf der Erde hätten liegen müssen 
und im Sommer gar auf dem Kirchhofe in der Streu wie die Schweine, was 
Platter von Breslau erzählt, davon erfahren wir in unseren Dialogen nichts. 
Über Kälte und Ungeziefer wird freilich auch beständig geklagt (Niav. II 7; 
Mos. 35; Bari. 1527, 3; Schott. 28; Dune. 58). Zur Vertreibung der Kälte 
empfiehlt ein Knabe dem andern, das Bett *anhelitu corporis' warm zu machen, 
für welchen Zweck der Genufs von Rüben ganz vorzügliche Dienste leiste 
(Schott. 12). Ein Schüler pflegt Stiefel und Zeug mit ins Bett zu nehmen, 
damit sie warm werden, ein anderer legt sich sogar mit den Kleidern zur 
Ruhe, was jedoch von seinem Freunde als schädlich bezeichnet wird, da man 
sehr leicht Würmer auf diese Weise bekäme (Schott. 62). Unter dem Un- 
geziefer werden zwar nicht, wie bei Platter, Läuse genannt, *wie reifer Hanf- 
samen dick', aber dafür Mücken, Flöhe und Wanzen. Als bei Vives (11) ein- 
mal ein Knabe beim Aufstehen nach einem Floh hascht, wird das eine verlorene 
Mühe genannt, da der Fang eines Tierchens aus dem Schlafzimmer etwa so 
viel bedeute, wie das Schöpfen eines Wassertropfens aus dem Ozean. Wenns 
kälter wurde, liefsen die Plagen des Ungeziefers natürlich nach, und in dieser 
Beziehung sehnten sich die Schüler nach dem Winter, den sie um seiner Kälte 
willen doch wieder so sehr verabscheuten. Nur bei den alten Weibern hätten 
die Flöhe ein ewiges hospitium, heilst es bei Schottennius (28). 

Selbstverschuldetes Fehlen und Zuspätkommen in der Schule wurde 
unnachsichtig geahndet. Wenn jemand von einer oder mehreren Stunden 
dispensiert werden wollte, hatte er vorher um Erlaubnis zu fragen. Nach 
den zahlreichen Notizen bei Niavis zu schliefsen, müssen die Knaben nicht 
selten von dieser Freiheit Gebrauch gemacht haben. Bei Corderius begegnen 
uns wiederholt die Nomenciatores, welche die fehlenden oder zu spät kommenden 
Schüler notierten. Erasmus (Euntes in ludum litt.) läfst den kleinen Johannes 
Hals über Kopf zur Schule rennen, denn wenn er vor Ablesung des Schüler- 
kataloges nicht zur Stelle ist, ist es um seine *Haut' geschehen. Zur Ent- 
schuldigung ihres Zuspätkommens führen die betreffenden Sünder die wunder- 
barsten Gründe an. Der eine hat wegen Ungeziefers und heftiger Kopfschmerzen 
erst nicht einschlafen können (Dune. 58), der andere versichert, dafs ihm die 
Schlafsucht angeboren sei (Cord. II 26). Besonders beliebt, auch für den Fall, 
dafs einer seine Lektion nicht konnte, war der Vorwand, dafs man den Eltern 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 207 

oder den Wirtsleuten erst noch bei irgend einer Arbeit hätte behilflich sein 
müssen. An solchen kleinen Geschäften der Schüler werden erwähnt: Auf- 
warten bei Gesellschaften (Schott. 65), Bierholen (Niav. I 2; Hegend. 4 u. 7), 
Ausrichten von Botschaften (Zov. 1), Wasserschöpfen (Mos. 11), Helfen beim 
Eäsepressen und Butterkernen (Dune. 50), Herumbringen von Würsten bei den 
Nachbarn, wenn geschlachtet wird (Schott. 76) u. a. Falls die Knaben dem 
Lehrer und seinen Gehilfen eine Wurst oder eine Kanne Bier mitbrachten, oder 
wenn sie eine Einladung der Eltern auszurichten hatten, sei es zum Frühstück, 
sei es zur Mahlzeit oder sei es zum Freibad, wird ihre Strafe, wenn sie sich 
verspäteten, nicht allzugrofs gewesen sein. Die Kantoren bei Niavis (I 3) 
nehmen solche Einladungen geradezu devot von ihren Schülern entgegen. Bei 
Barlandus (22) weifs ein Knabe von einem Lehrer zu erzählen, der sich sogar 
*si diseipuli illius sellam concacassent 9 , durch eine Mahlzeit hätte beschwichtigen 
lassen. Die Mutter bürge für die Wahrheit. Hinter die Mutter verschanzten 
sich die Söhne, weil sie fast immer — im Recht und im Unrecht — Hilfe 
bei ihr fanden, mit Vorliebe. Bei Corvinus (4) klagt der Baccalaureus dem 
Rektor, dafs der Knabe Lentulus nie rechtzeitig zur Deklination erschiene, weil 
die Mutter ihn nicht vor Sonnenaufgang aufstehen liefse. Bei dieser Gelegen- 
heit spricht der Rektor die bemerkenswerten Worte: 'Es ist ein uralter Fehler, 
und er findet sich nicht nur hier in Breslau, dafs gut beanlagte Knaben oft 
infolge der Schmeicheleien ihrer Mütter für die Wissenschaft verloren gehen/ 

Die Kost der Knaben bestand aus dem Morgenimbifs (ientaculum), dem 
Spätfrühstück oder der Vormahlzeit (prandium), dem Vesperbrote (merenda) 
und der Hauptmahlzeit (cena). Die Zeit und die Gerichte für die einzelnen 
Stärkungen wechselten natürlich je nach der Dauer der Schulstunden und dem 
Vermögen der Schüler. Bei Vives (7) giebt es im Hause des Lehrers zum 
Morgenimbifs Butterbrot mit Früchten, zum Spätfrühstück Brei, Gemüse und 
gehacktes Fleisch, an Fasttagen Rührmilch, frische Fische oder gesalzene 
Häringe, zum Vesperbrote Mandeln, Nüsse, Feigen oder Rosinen, im Sommer 
Birnen, Äpfel, Kirschen oder Pflaumen. Bei der Hauptmahlzeit folgen auf 
klein geschnittenen und mit Essig und Ol angemachten Salat gekochte Hammel- 
kaidaunen mit Würzelchen und getrockneten Pflaumen oder auch Pasteten. Als 
Hauptgang giebt es meistens Kalbsbraten oder im Frühjahr zuweilen auch 
einen vom jungen Zickchen. An Fasttagen werden statt des Fleisches Eier 
gereicht, die entweder einzeln genommen oder in einer Pfanne zum Kuchen 
vermengt werden. Den Nachtisch bilden Rettiche, frische Käse, Birnen, Pfirsiche 
oder Quitten. Bei Huendern (4) bekommt ein Schüler zum Frühstück frische 
Torte, ein anderer Brot und Wildpret. Bei Schottennius giebt es zum Spät- 
frühstück (8) Brot mit Kohl, Eiern oder Häringen, zur Merende (15) Brot 
mit Käse und Bier. Corderius läfst beim Vesperbrot einmal (H 10) mageres 
gesalzenes Rind- oder Schweine- oder als etwas ganz besonders Delikates ge- 
schmortes Bockfleisch verspeisen, ein andermal (IV 19) Birnen und Käse. In 
den Collocutiones wird als Leckerbissen colustrum d. i. Biestmilch gepriesen. 
Oft wechselten die Knaben ihre Portionen untereinander aus oder teilten sich 



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208 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

gegenseitig mit. Dafs es dabei nicht immer ohne Streitigkeiten abgegangen, 
lafst sich denken. Das drastischste Gezanke führt uns Huendern (4) vor. — 
Das Decken des Tisches bei den Hauptmahlzeiten mufsten die Knaben selbst 
besorgen (Schott. 10 u. 67; Heyd. 15; Viv. 7). Für die Etikette beim Essen gab 
es besondere Regeln, auf deren Befolgung grofses Gewicht gelegt wurde (Erasm. 
Monitoria paed.; Heyd. 16; Zov. 14). Am ausfuhrlichsten hat Heyden dieselben 
aufgezeichnet. Aus seinen Unterweisungen seien die folgenden hervorgehoben: 

Primo ungues purga = Erstlich raynig die nägel! 

Hinc manus lava = Darnach wasch die hend! 

Mox deo benedicas = Alsdann sprich das benedicite! 

Post decenter accumbe = Darnach setz Dich fein züchtig nider! 

Cibos carpe digitis = Die speyfs greyff mit den fingern an! 

Ne condas vola = Nit fafs in die faust! 

Primus ne esto esu = Nit sey der erst mit dem essen! 

Proxima te carpe = Nimb das nechst vor Dir! 

Bibiturus os terge = Wisch den mund, wann Du trincken wilt! 

Non manu, sed mappula = Nit mit der band, sondern mit dem tuch! 

Morsa ne redintinge = Das gebissen tuncke nit wider ein! 

Nee linge digitos = Nit leck an den fingern! 

Nee ossa rodas = Nag auch kain bayn! 

Cum satur es, surge = Wann Du gnug hast, so stee auff! 

Rursum lava manus = Wasch die händ wider! 

Mensalia tolle = Heb das tischgeret auff! 

Deo gratias age = Sag Gott dem Herren danck! 

Auch beim Trinken wurden bestimmte Regeln beobachtet. So pflegte 
man z. B. eifrig das Vortrinken und sah genau darauf, dafs mit demselben 
Quantum nachgekommen wurde. Bei Murmellius (61) versteigt sich ein Knabe, 
der dem anderen 'ein potken half vorgetrunken hat, als dieser sich weigert, 
ihm gleichzuthun, sogar zu der Drohung: c Nisi tantumdem potaris, hunc calicem 
tibi in os impingam = Het en sy saich, dat du my gelych sals doen, ich sal 
dit cruysken dich voer den cop werpen!' Verbotener Wirtshausbesuch lockte 
viele besonders an. Bei Corderius (H 30) ist Michael dafür, dafs er einem Ver- 
führer nicht zum unerlaubten Vergnügen hat folgen wollen, von diesem auf 
einem einsamen Wege überfallen worden und hat zwei heftige Faustschläge ins 
Gesicht davongetragen. Frühstück und Mahlzeit werden über das Kneipen ver- 
gessen (Bari. 17). In Cöln hatten die Knaben eine besondere Schülerkneipe in der 
abgelegenen 'platea ovium', wohin so leicht kein Lehrer kam. Hier pflegten 
sie nach der Schule einzukehren (Schott. 26 u. 97). Ein besonders Vergnügungs- 
süchtiger schlägt seinen Kameraden sogar vor, nach dem Beispiele der Priester, 
die sich jeden Monat gegenseitig zum Mahle einlüden, auch unter den Schülern 
ein solches regelmäfsiges convivium einzuführen, bei dem es ja nur Bier und 
ein Stück Brot zu geben brauche (Schott. 98 u. 100). Schöne Wirtstöchterlein 
haben damals schon ihre Anziehungskraft ausgeübt, freilich nicht auf alle, z. B. 
nicht auf den Albinus bei Niavis (H 5), der, als ihn Esculus verleiten will, 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 209 

mitzugehen zu seiner Angebeteten , das ganze wankelmütige Weibergeschlecht 
verwünscht. Neben den Wirtshausmädchen boten — nebenbei bemerkt — die 
Schwestern der Kameraden den Schülern ein beliebtes Verehrungsobjekt: Tauli 
soror adeo formosa est, ut nihil supra = Pawels suster is so seer suverlick, 
dat dair nicht boven en sy!' ruft bei Murmellius (94) ein kleiner Schwärmer 
begeistert aus. Wirtshausschulden waren bei den Knaben nichts Ungewohntes. 
Hadrian bei Duncanus (63) hat zum Anmerken derselben einen besonderen 
Apparat, nämlich zwei *taleolae crenatae = ghekerfde stoexkens'. Auf dem 
einen hat er die Zahl der Gläser Bier eingekerbt, die er dem Wirte das 
Semester über schuldig geblieben ist, auf dem anderen die Anzahl Brote. 
Den Kneipgenies stehen übrigens in den Dialogen fast immer solide Schüler 
gegenüber. Bei Murmellius (49) warnt ein solcher den leichtsinnigen Freund: 
'Cave tibi, ne tantum potes, ut lectum nostrum conyomas = Hoede dy, dat 
du so veel nicht en supest, dat du onse bedde bekotzest P Schottennius (94) läfst 
den Trinker Helluo an das Wort des Thaies (?) erinnern: 'Den ersten Becher 
für den Durst, den zweiten für die Fröhlichkeit, den* dritten für das Vergnügen, 
den vierten für die Unvernunft.' Über die Wirkungen der einzelnen Becher trägt 
bei demselben Schottennius im 22. der den Gonfabulationes angehängten 'Con- 
vivia' ein Dichter folgendes Kneiplied im Tone der Vagantenpoesie vor: 

Dum vina bibo, tristari non bene quibo: 
In haustu primo laetor sub pectoris imo, 
In cordis fando laetor, dum bibo secundo, 
Post ternum potum vinum mox fit mihi notum, 
Et potus quartus laetum reddit atque facetum, 
Et potus quintus laetam mentem facit intus, 
Dum bibo bis ter, sum qualibet arte magister, 
Potu septeno frons efficitur sine freno, 
Potus bis quartus mihi sensus tollit et artus, 
Sed si plus bibam, kannen, pot, omnia frangam, 
Ut corpus redimam, rock, hemmet, omnia vendam. 

Das viele Kneipen verschlang natürlich eine nicht unbeträchtliche Summe, und 
wir sehen deshalb die Trinker in ewigen Geldnöten. Ein grofser Teil der 
Schüler war übrigens gar nicht in der Lage, einen Heller für solche un- 
erlaubte Genüsse auszugeben, konnte er sich doch nur mit gröfster Mühe das 
Allernotwendigste zum Leben verschaffen. Über ihre Armut stimmen die 
Knaben immer und immer wieder die traurigsten Lieder an. Zunächst klagen 
sie über die vielen Abgaben, die sie zu leisten hatten. Zu dem Betrage für 
Wohnung, Licht und Holz, von dem oben schon die Rede war, kam das regel- 
mäfsige Schulgeld, das allerdings den Allerbedürftigsten ganz oder zum Teil 
erlassen wurde, und aufserdem noch kleine Abgaben an bestimmten Festen. 
In Leipzig mufste z. B. am Tage der hl. Katharina dem Kantor 1 argenteus 
gezahlt werden, dazu erhielt derselbe noch alle drei Wochen einen nummus 
antiquus (Hegend. 4). Kurzum, dem Knaben, der dieses erzählt, kostet das 
Leben den Winter über seine sechs Silberlinge. Eine eigentümliche Abgabe 

Neue Jahrbücher. 1899. n ' 14 



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210 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

war die von Kirschsteinen, welche zerstofsen und ins Bier geschüttet wurden, 
um es aufzubessern. Dem Aegidius, der eifrig solche Steine sammelt, um sie 
dem Lehrer zu bringen, giebt sein Freund Bartholomaeus den schonen Rat, zum 
Aborte zu gehen, wo er sie in Menge finden würde (Schott. 70). An die Stelle 
der Kerne trat später das sogenannte Kerngeld. Geldbriefe von den Eltern 
wurden schon mit derselben Sehnsucht erwartet und mit ebensolcher Freude 
begrüfst, wie heute unter der studierenden Jugend; im Notfalle wurde auch schon 
zum Versetzen von Büchern geschritten (Cord. I 29). Briefe ohne Geld ver- 
achtete man, da sie nur *podici tergendo 9 nützlich wären (Erasmus, Ad quid 
litterae vacuae). Häufig brachten die Markttage Rettung aus der Not, wenn 
Verwandte oder Bekannte der Eltern aus der Heimat kamen und für die 
Knaben etwas mitzubringen hatten, wenn nicht Geld, so doch neue Kleider 
oder sonst eine notwendige Gabe (Mos. 1; Schott. 54; Cord. HI 8). Die Kleider- 
not war, zumal bei grimmiger Winterkälte, oft gerade so grofs, wie die Geldnot 
(Schott. 29; Cord. IV 20), und mehr als einmal hören wir von den Schülern, 
dafs der traurige Zustand- ihres Anzuges — oft mitten im Semester — sie 
zwinge, nach Hause zurückzukehren (besonders Hegend. 1). — 

Den armen Knaben blieb nichts anderes übrig, als sich aufs Betteln zu 
verlegen, das infolgedessen allgemein gang und gäbe und sozusagen organisiert 
war. Das Gehen zu den Schwellen der Reichen und Erbitten des Zehnten 
ist etwas ganz Alltägliches in den Dialogen (Mos. 7, 10 u. 20; Hegend. 4 u. 9; 
Schott. 45). Die sogenannten 'Concentores', welche vor den Häusern der Bürger 
oder auch beim Mahle eigens zu diesem Zwecke komponierte Lieder vortrugen, 
hatten für ihren Gesang einen gewissen Anspruch auf eine gute Gabe (Mos. 18; 
Hegend. 4). Diejenigen aber, welchen die Natur keine schöne Stimme verliehen 
hatte, waren übel daran. Bartholomaeus bei Hegendorffinus (4) klagt darüber, 
dafs er oft bis 8 Uhr abends vor den Häusern sitzen müsse, um ein Stückchen 
ranziges Fleisch zu bekommen. Man mufste eben auch das Betteln verstehen. Der 
in dieser Branche besonders bewanderte Marcus belehrt bei Hegendorffinus (9) 
den ungeschickten Peter, wie er es anzufangen hat: Wenn er ein grobes Wort 
zu hören bekommt, darf er nicht gleich verzagen und fortgehen, sondern mufs 
immer stehen bleiben, selbst wenn man droht, ihn mit Steinen wegzutreiben. 
Denn solche Drohungen sind doch nicht ernst gemeint. *Wenn Du häufig 
wirfst, wirst Du einen Venuswurf thun.' Ein grofser Freudentag für die 
Bettler war der vor dem Feste des hl. Martinus. Wenn sie dann am Abend 
von Haus zu Haus zogen, erhielten sie alles, was von den Mahlzeiten übrig 
geblieben war. Hieronymus bei Schottennius (40) hat sich an einem solchen 
Abende für acht Tage versorgt, noch viel gröfseren Erfolg aber erhofft Konrad 
bei Mosellanus (18). Er denkt soviel zu erobern, dafs er den ganzen Winter 
etwas davon hat. Neben den Speiseresten fielen nämlich bei dieser Gelegen- 
heit hier und da auch kleine Geschenke ab. Am Feste des hl. Blasius läfst 
Schottennius (102) gleichfalls die Knaben herumziehen und die übliche Gabe 
erbitten: ein Stück Schweinefleisch und Weizenbrot dazu. Die Sitte gründete 
sich auf ein sagenhaftes Erlebnis aus dem Leben des Heiligen. Diesem soll 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 211 

nämlich eine arme Witwe, der er einst ihr einziges Schwein aus dem Rachen 
eines Wolfes errettet hatte, in Dankbarkeit später während seiner Gefangen- 
schaft Schweinefleisch zur Erquickung gebracht haben, worauf er die An- 
weisung gegeben, auch nach seinem Tode sein Andenken durch Wohlthaten 
zu feiern. Auch an den Fastnachtstagen, an welchen wegen des furchtbaren 
Trubels (Niav. III 15; Phil. 2) der Unterricht ausgesetzt wurde, Maskieren aber 
für die Schüler streng verboten war (Mos. 27), scheinen die Gaben reichlicher 
geflossen zu sein, wenigstens sehen wir bei Hegendorffinus (6) Melchior vor 
Fastnacht zum Markte eilen in der Absicht, sich Töpfe zu holen für die 
Speisen, welche er zu bekommen hofft. Ostern pflegten sich die Knaben an 
die Bauern heranzumachen. Schottennius (120) läfst Buttubata vor dem Feste 
selbst seine Schuhe flicken, damit er in gewohnter Weise aufs Land gehen und 
für Singen des Hymnus ^Christe, qui lux' Eier, vielleicht sogar eine fette 
Wurst erobern kann. Auch bei Mosellanus (29) spricht ein Knabe vom Eier- 
betteln, das sein Freund jedoch für ungeziemend hält. Aus der Dummheit der 
Bauern schlugen die Schüler, wo sie nur konnten, Kapital. Namentlich auf 
dem Markte bot sich dazu Gelegenheit. Johannes wendet z. B. folgenden Kniff 
bei den Obstbauern an: 'Gygis annulo utor vel alium mihi adiungo, qui poma 
et pira licitatur, et cum agricolae in gremium mihi numerarunt, ego me in 
pedem quantum possum proripio' (Hegend. 3). Cyrillus betrügt eine Butter- 
frau, die nicht gut sehen kann, um einen Obolus und erhält für seine Geschick- 
lichkeit von seinem Freunde Pamphilus ein besonderes Lob (Corv. 5). Cirratus 
versucht sogar, eine Obstfrau zu bestehlen (Viv. 4). — Von einem eigentüm- 
lichen Gebrauche am Gründonnerstage hören wir bei Schottennius (58): Im 
Kloster des hl. Antonius steht es an diesem Tage bei der Fufswaschung jedem 
frei, zwei Kuchen mit nach Hause zu nehmen. Von einem dürfen jedesmal 
zwei gleich essen zur Anregung des Durstes, den sie mit drei Bechern Wein 
stillen können. So fand man um Ostern Gelegenheit, sich zu entschädigen für die 
Entbehrungen der langen Fastenzeit (Mos. 17 u. 23; Schott. 36/7 u. 58). Da 
nicht nur während der vierzigtägigen Dauer derselben, sondern dazu auch noch 
an manchem anderen Tage des Jahres, z. B. vor dem Feste der hl. Katharina, 
der Patronin der Studierenden (Mos. 19), gefastet werden mufste, verstehen wir 
es, wenn ein Knabe bei Mosellanus (23) diejenigen verwünscht, die das Fasten 
eingeführt und dabei vergessen hätten, dafs nicht alle in der Lage wären, so 
gut zu frühstücken wie sie. Man könnte sich dazu auch noch auf einen Aus- 
spruch des hl. Hieronymus berufen, dafs in den Jugendjahren das Fasten noch 
nicht angebracht wäre (Mos. ebendas.). 

Eine Fleischverteilung mitsamt einem Freibade, welche ein Reicher einmal 
(Mos. 12) den Schülern in Aussicht stellt, wird wohl eine aufsergewöhnliche 
Wohlthat gewesen sein. Bei Erwähnung des Bades möge gleich hier bemerkt 
sein, dafs im Sommer den Schülern das Baden im fliefsenden Wasser strengstens 
verboten war (Hegend. 2). Hortena wird wegen Übertretung dieses Verbotes bis 
zum Blutvergiefsen geprügelt (Niav. I 7). Ja sogar einem Ertrunkenen bleiben 
die Schläge nicht erspart. Der Lehrer straft den toten Körper, damit die Seele 

u* 



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212 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

Ruhe habe. So Niavis (II 10). Zu seinem Berichte pafst der des Winmannus (15), 
dafs in Breslau einmal ein Schüler bei einem verbotenen Bade in der Oder er- 
trunken und der Leichnam dann in die Schule gebracht und vom Lehrer der- 
artig hergenommen wäre, dafs er vor Schmerz fast hätte wieder aufleben müssen. 
Publius, der in der Bule gebadet hat, ist mit dem Verluste seiner Stiefeln davon- 
gekommen (Winm. ebendas.). 

Das Baden, welches so viele Unglücksfälle mit sich brachte, zu verbieten, 
war jedenfalls recht wohlgemeint von den Lehrern. Dafür verschafften sie 
ihren Schülern andere Erholungen von den geistigen Arbeiten in Fülle. 
Gerade in dieser Beziehung bezeichnen die Humanistenschulen einen besonders 
segensreichen Fortschritt gegenüber den mittelalterlichen. Das Mittelalter 
kannte noch keine längeren Ferien, und nunmehr welcher Jubel der Knaben 
über die bevorstehenden Ruhetage in unseren Dialogen! Bei Duncanus (35/7) 
ist alles in freudiger Aufregung; Schule, Spielhaus und Bibliothek sind wie aus- 
gestorben; jeder ist mit dem Einpacken seiner Sachen beschäftigt. Ulrich bei 
Schottennius (93) zählt an den Fingern die Tage ab bis zum Feste des hl. Bar- 
tholomaeus, dem Schlüsse der Schule (24. Aug.). Nebenbei erklärt er seinem 
Kameraden Lucius, weshalb man sich am letzten Schultage gegenseitig mit den 
Büchern auf den Kopf klopfe. Lucius hatte geglaubt, dem Gehirn würde auf 
diese Weise Wissen eingetrichtert. Der Gebrauch soll aber von den Komödien 
herübergenommen sein, an deren Schlüsse mit den Händen geklatscht wurde. 
Weihnachten giebt es bei Schottennius (35) abermals Ferien, vom Tage vor 
Thomas (21. Dez.) bis zum Tage nach Neujahr. Während dieser Zeit brauchten 
die Knaben, welche am Orte blieben, nur an den Festtagen in der Kirche zu 
singen. Eine Hauptfreude in den Herbstferien war für die Schüler, welche in 
günstigen Gegenden wohnten, die Weinlese (Mos. 8; Hegend. 3; Cord. H 14^5 u. 47. 
IV 24). An der letztcitierten Stelle berichtet ein Knabe, dafs der Wein bei 
ihnen zu Hause so gut geraten wäre, dafs die Bauern ihn wie Wasser tränken 
und gar nicht aus dem Rausche kämen. Für jugendliche Magen wird übrigens 
Vorsicht im Essen von Trauben empfohlen, weil schon viele nach übermäfsigem 
Genüsse nachts das Bett besudelt hätten oder die Stiefeln zu Hilfe zu nehmen 
gezwungen gewesen wären (Schott. 69). Neben der Traubenlese besafs der 
Vogel- und Fischfang für die Schüler eine besondere Anziehungskraft. 

Zu den grofsen Ferien kamen als Erholungszeit freie Nachmittage, und 
zwar neben den regelmäfsigen in jeder Woche — bei Mosellanus (11): Mitt- 
woch, bei Zovitius (2): Donnerstag — noch solche bei aufsergewöhnlichen Ge- 
legenheiten, z. B. an Markttagen (Cord. IV 35), am Gregoriustage (s. oben) u. s. w. 
Diese kleinen Freiheiten wurden mit Vorliebe zum Spiele benutzt. Wir sind 
in neuerer Zeit durch eine besondere Schrift 1 ) darüber belehrt worden, wie 
grofses Gewicht von den Humanisten, zunächst den italienischen, auf Leibes- 
übungen gelegt wurde. Diesem Prinzipe entsprach die eifrige Pflege der Spiele, 



*) W. Krampe, Die italienischen Humanisten und ihre Wirksamkeit für die Wieder- 
belebung gymnastischer Pädagogik. Breslau 1895. 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 213 

welche der körperlichen Ausbildung dienten. Auch während des Mittelalters war 
auf Strafsen und Märkten gelaufen, gesprungen, der Ball geworfen, der Speer 
geschleudert worden, aber in ihre Schulen hatte die Kirche den gymnastischen 
Übungen keinen Eingang gestattet. In dieser Beziehung eine durchgreifende 
Änderung geschaffen zu haben, ist, wie schon angedeutet, eines der gröfsten 
Verdienste der Schulmänner des Humanismus. Kaum einer von ihnen, der ein 
theoretisches Handbuch der Pädagogik geschrieben, verfehlt es, dem Spiele die 
wärmste Empfehlung angedeihen zu lassen. Die besten Lehrmeister auf diesem 
Gebiete waren die Griechen mit ihrer reich entwickelten Gymnastik. Viele 
Spiele wurden von ihnen einfach herübergenommen, andere durch Variation 
oder selbständig neu geschaffen. Dafs auch bei diesen Erholungen die Corycäer 
ihres Amtes zu walten hatten, haben wir oben bereits gehört. Die Aufzählung 
der beliebtesten Spiele möge mit den sogenannten Turnspielen begonnen 
sein. Eine ganze Anzahl derselben beschreibt der gefeierte Philologe Joachim 
Camerarius der Ältere (1500 — 1574) in seinem T)ialogu8 de gymnasiis', der 
zunächst zusammen mit des Camerarius Traecepta morum ac vitae 9 (1541 u. ö.) 
und später auch in mehreren Ausgaben der Golloquia des Gorderius als Anhang 
abgedruckt worden ist. Der Inhalt dieses bemerkenswerten Gespräches ist kurz 
folgender: Ein Fremder hält einem Schüler vor, dafs in ihren Schulen nicht 
mehr die notwendige Sorge auf die Ausbildung des Körpers verwendet würde, 
während im Altertum und auch noch bei den alten Germanen die körperlichen 
Übungen sich eifriger Pflege erfreut hätten. Der Knabe kann jedoch stolz 
erwidern, dafs sein Lehrer in löblicher Weise zu dem alten Brauche zurück- 
gekehrt sei. Er sorge immer dafür, dafs sie, besonders vor dem Essen, die 
nötige körperliche Bewegung hätten. Zwar stände ihnen keine palaestra und 
arena zur Verfügung, aber es gäbe eine ganze Reihe von Spielen, die sich auch 
auf dem Schulboden ausführen liefsen. Wir ergreifen, erzählt er, aufgespannte 
Seile oder eine in Balken eingelassene Stange und halten uns daran, solange 
wir können, oder wir versuchen, an einem herabhängenden Seile, das wir mit 
den Füfsen umklammern, hoch zu klettern. Ein anderes Mal stellt sich einer 
hin und streckt seine Arme auseinander oder prefst sie gegen die Brust, und 
ein zweiter mufs sie mit Gewalt beugen oder strecken. Dabei wird ein Raum 
abgegrenzt, der nicht überschritten werden darf. Ferner: Einer fafst den 
andern mitten um, und dieser mufs versuchen, sich frei zu machen. Oder: 
Einer ballt die Faust, und der andere hat sie zu öffnen. Oder: Einer mufs 
sich bemühen, den andern über eine auf den Boden gezeichnete Linie zu 
ziehen. Wir pflegen auch wohl, berichtet der Schüler weiter, ein nicht allzu 
schweres Gewicht möglichst weit her aufzuheben oder möglichst weit hin nieder- 
zulegen. Aufserdem spielen wir *caecus musculus' — unser Blinde Kuh — , 
indem einer in der Mitte eines Kreises mit verbundenen Augen die ihn um- 
tanzenden und zerrenden Genossen zu greifen sucht. Es hält auch wohl einer 
die Hände auf dem Rücken zusammen, ein anderer kniet hinein, und der erste 
trägt den zweiten zu einem bestimmten Ziele. Oder wir spielen mit Kügelchen, 
indem der eine die des andern zu treffen oder die seinen in Grübchen (die eine 



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214 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

bestimmte Strecke yoneinander entfernt sind) hineinzutreiben sucht. Es kommt 
dabei auf eine sichere Hand an. Dasselbe Spiel spielen wir auch mit ehernen 
Münzen. Kennst Du ferner, fragt der Schüler den Fremden, die sogenannten 
Vaccae latebrae', von den Alten 'diffugium' genannt? Einer bleibt dabei mit 
geschlossenen Augen an einem bestimmten Male stehen, bis die andern sich 
versteckt haben. Nachdem er dreimal *Ich komme!' gerufen, darf er die Augen 
offnen und mufs nun die Kameraden suchen. Sieht er einen, so lauft er auf 
seinen Platz zurück, ruft * Gefunden !' und giebt an, wen und wo. An dem 
betreffenden ist dann die Reihe des Suchens. Glückt es aber einem der Ver- 
steckten, entweder unbemerkt oder schneller, als der Suchende, zum Male zu 
gelangen, so hat dieser noch einmal seine Rolle zu übernehmen. Endlich giebt 
es noch folgendes Spiel: Wir teilen uns in zwei Parteien. Durchs Los wird 
einer bestimmt, der eine Scheibe bewegen mufs. Dieselbe ist auf der einen 
Seite schwarz, auf der andern weifs. Jeder Partei gehört eine Seite. Der Be- 
wegende ruft 'Tag oder Nacht!' Die Partei, deren Farbe dann oben zu liegen 
kommt, mufs laufen, die andere folgt ihr, und wer zuerst gefangen wird, heifst 
'asinus', und an ihm ist die Reihe, die Scheibe zu drehen. Der Fremde be- 
fürchtet, dafs bei solchen Spielen auch mancher Unfall, manche Verletzung 
vorkommen würde. Der Schüler hält das jedoch für ganz heilsam zum Er- 
lernen von Ausdauer, besonders den Schlägen des Lehrers gegenüber. — Neben 
dieser zusammenfassenden Darstellung bei Gamer^rius finden sich zerstreute 
Nachrichten über ein oder anderes Spiel wohl in jeder der Dialogsammlungen, 
ein neuer Beweis dafür, welch grofses Gewicht auf den Gegenstand gelegt 
wurde. Um zunächst die noch nicht erwähnten gymnastischen Übungen im 
engeren Sinne anzureihen, finden wir den von Vergil (Aen. V 291) empfohlenen 
Wettlauf (Erasm., De lusu 4; Schott. 50) und den Sprung (Schott. 49) mit 
Eifer gepflegt. Bei letzterem unterschied man den Heuschrecken- oder Frosch- 
sprung mit beiden Beinen, aber geschlossenen Füfsen (Erasm. a. a. 0.; Bari. 
1524, 6), dann den Sprung auf einem Beine (Erasm. a. a. 0.) und endlich den 
an einem Stabe (Erasm. a. a. 0.). Im Winter bot das Schlittschuhlaufen und 
das 'glibberen, slibberen, glyen' auf dem Eise eine hübsche Abwechselung 
(Dune. 4/8). Ein eigentümliches Plänklerspiel (Lusus velitaris) beschreibt Petrus 
Apherdianus, Lehrer im Hause der Brüder des gemeinsamen Lebens zu Hardewick, 
in einem vereinzelten Dialoge, den er seinem 1545 erschienenen 'Tirocinium 
Latinae linguae' einfügte. Nachdem die Knaben in zwei Parteien eingeteilt 
sind und jeder ein Lager und ein Gefängnis zugewiesen ist, verkündet einer 
der Mitspielenden folgende Gesetze: 

1) Im Lager ist jeder vor dem Feinde sicher sowohl vor dem Auslaufen 
als nach demselben. 

2) Wer das Lager verlassen, um den Feind herauszufordern, mufs sich, 
wenn er von einem Gegner mit der Hand berührt wird, als Gefangener in das 
Gefängnis desselben abführen lassen. Dort hat er solange zu bleiben, bis es 
seinen Genossen gelungen ist, seine ausgestreckte Hand oder irgend einen andern 
Teil seines Körpers zu fassen. Dann darf er frei zu denselben zurückkehren. 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 215 

3) Der eine darf den andern nur gefangen nehmen, falls dieser vor ihm 
das Lager verlassen hat. 

4) Falls eine Partei während des Auslaufens ihr Lager leer läfst, darf 
der Gegner es erobern und alle Feinde, wenn sie zurückkehren, zu Gefangenen 
machen. Wenn das der Fall gewesen, ist das Spiel beendet, und die Besiegten 
müssen ihre Strafe zahlen. 

Wohl der gröfsten Beliebtheit unter allen Spielen erfreuten sich die Ball- 
spiele. Die verbreitetste Methode war die alte inCöxvQog^ icprjßixtf, ixtxotvog 
der Griechen, bei der es galt, den von der feindlichen Partei geworfenen Ball 
zurückzutreiben (Erasm., De lusu 1; Zov. 7). Eine andere gleichfalls gern ge- 
spielte Art war die folgende: Jeder der Mitspielenden grabt sich eine Grube 
in den Boden. Der Ball wird gerollt, und in wessen Grube er fällt, der greift 
ihn und sucht die anderen, welche fortlaufen, zu treffen (Schott. 46). Wer ge- 
troffen wird, 'habet puerum'. Wenn er eine Anzahl solcher pueri hat, mufs 
er sich als Scheibe für die anderen hinstellen, und es ist für diese natürlich 
ein besonderer Spafs, ihn ganz gehörig zu treffen (Niav. I 5). Ein Keulen- 
ballspiel läfst Zovitius (11) veranstalten. Entweder werden bei demselben auch 
mehrere Gruben gemacht, und es gilt, den Ball von einer bestimmten Linie 
aus mit der Keule in dieselben hineinzubringen, oder der Ball mufs von einer 
Grube aus so vor eine Mauer getrieben werden, dafs er in die Grube zurück- 
lauft. Bei Vives (22) stofsen wir auf unser Modespiel *Lawn Tennis', dessen 
Heimat bekanntlich Frankreich und Italien waren. Dort hiefs es 'Longe paume 9 , 
hier Tallone giuco de la corda*. Bei Vives hat Scintilla das Spiel in Paris 
gesehen. Er erzählt darüber: Die Bälle sind kleiner und härter als die ge- 
wöhnlichen. Sie sind nicht von Gummi, sondern von Leder, und nicht mit 
Wolle, sondern mit Hundehaaren ausgefüllt. Der Lehrer liefert besondere 
Schuhe und Hüte. Die Schuhe sind gefüttert, die Hüte, je nach der Jahreszeit 
leichter oder schwerer, werden durch ein Band unter dem Kinn festgehalten, 
so dafs sie beim Hin- und Herspringen nicht vom Kopfe fallen können. 
Zwischen den beiden Parteien wird ein Seil ausgespannt. Wer unter dem- 
selben herwirft, hat einen Fehler gemacht. Die Bälle werden nicht mit der 
Hand, sondern mit Netzen aus festen Saiten geschlagen und entweder im Fluge 
oder nach dem ersten Auffallen zurückgetrieben. Es giebt zwei Zeichen oder, 
wenn man will, Ziele, und jedesmal die Zahlen: 15, 30, 45 oder Vorteil, 
Gleichheit und Sieg, der zweifacher Art sein kann, indem es entweder heifst 
'Wir haben ein Zeichen gewonnen* oder *Wir haben das Spiel gewonnen'. — 
Wiederholt begegnet uns der 'Lusus sphaerae per annulum ferreum' (Erasm., 
De lusu 3; Schott. 48; Zov. 8; Dune. 12 u. 14). Als 'sphaera' konnte man ent- 
weder einen Ball benutzen oder Kügelchen. Im ersteren Falle wurde der 
eiserne Bing aufgehängt und der Ball hindurchgeworfen, wie es auch Aeneas 
Sylvius 1438 auf den grünen Rasenplätzen vor Basel sah. Wollte man aber 
Kügelchen verwenden, so steckte man den Ring so in die Erde, dafs ein Halb- 
bogen heraussah. 

Das Spiel mit Kügelchen oder Knickern, wie wir sie nennen — in Cöln 



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216 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

hiefsen sie t omnia > (Schott. 47) — , ermöglichte auch zahlreiche Variationen. 
Die beiden Hauptspielarten fanden wir bei Gamerarius bereits erwähnt (vgl 
dazu Niav. I 5; Schott. 47). Eine andere Methode war folgende: Einer nimmt 
zwei Kugeln, läfst sich von dem Mitspielenden ebensoviele geben und wirft 
dann die Kugeln zusammen auf eine Grube zu. Falls eine Paarzahl hinein- 
fällt, hat er gewonnen, sonst der Gegner (Niav. I 5). Statt der Kügelchen 
wurden bei diesem Spiele auch wohl Nüsse verwendet (Dune. 47). 

Die Anfänge unseres Kegeins begeguen uns bei Barlandus (3). Es wird 
dort nach aufgestellten Hölzern geworfen. Trifft man den 'König' oder diesen 
und seine beiden Nachbarn, so wird das besonders vermerkt. An einer anderen 
Stelle bei Barlandus (40) wird nur ein einzelner Klotz als Ziel hingestellt. 

Beim Kreiselspiel konnte sich jeder allein vergnügen, man veranstaltete 
aber auch Wettkämpfe, bei denen es darauf ankam, den Kreiseljmöglichst lange 
in Bewegung zu halten. Den Preis bildet bei Huendern (4) einmal ein Kreisel, 
ein andermal eine Aalhaut, deren man sich als Geifsel zum Treiben des Kreisels 
bediente. Dafs er in der Kirche nicht spielen durfte, hätte Petrellus in den 
Collocutiones natürlich wissen müssen, und es geschah ihm deshalb ganz recht, 
wenn einer von den Kirchenhütern ihn abfafste und verprügelte, dafs er kaum 
mehr gehen konnte. 

Was die Preise dieser Spiele im allgemeinen angeht, so war das Spielen 
um Geld zwar meistens für die Schüler verpönt, aber man scheint es nicht 
besonders streng mit diesem Verbote genommen zu haben. Bei Barlandus (40) 
soll der Lehrer sogar mittrinken von den Sextarien Wein, welche die ver- 
lierende Partei zu zahlen hat. Schottennius (50) läfst den Besiegten zwei 
Mafs Bier zum Besten geben. Bei Erasmus wird an einer Stelle (De lusu 1) 
um Geld gespielt, an einer anderen (ebend. 2) um die Ehre der Nationen. 
Adolf ist Franzose, Bernhard Deutscher. Der Unterliegende mufs das Vater- 
land seines Gegners hochleben lassen. Adolf verliert und ruft dreimal: Floreat 
Germania! An einer dritten Stelle (ebend. 3) mufs der Besiegte ex tempore 
ein Distichon auf den Sieger machen und hersagen. 

Wer beim Spiele beginnen durfte, machte man gerne mit einem Messer 
aus. Jeder wählte eine Seite desselben, der eine die mit dem Zeichen des 
Schmiedes, der zweite die andere. Dann wurde das Messer in die Höhe ge- 
worfen, und wessen Seite nach oben zu liegen kam, der hatte das Recht, den 
Anfang zu machen (Schott. 48). 

Kartenspiel war den Schülern an den meisten Orten verboten, gleich- 
wohl dürfen wir annehmen, dafs die Vier, welche Vives (21) den *Triumphus 
Hispanicus' spielen läfst, Schüler sind, da auch an einer anderen Stelle bei 
ihm (6) ein aus der Schule zurückgekehrter Knabe sich mit seinen Geschwistern 
am Kartenspiel erfreut. Einen besonderen Dialog über einen 'Ludus chartarum', 
der späteren Ausgaben von Barlandus angehängt wurde, schrieb der Holländer 
Augustinus Eeymarus. Eine der vier Farben wird als die beste bezeichnet 
Innerhalb der Farben folgen sich die Karten also an Wert: das As gilt 11, 
die Zehn 10, der König 3, die Königin 2, der Bube (pedissequus) 1. Wer die 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 217 

höchste Karte hat, spielt jedesmal auf. 'Unus et trigesimus numerus ludum 
absolvitoP Der Sieger erhält ein Blatt Papier, 25 Wallntisse und 6 Äpfel. 

Mit der Erlaubtheit des Würfelspiels stand es ähnlich, wie mit der des 
Kartenspiels. Bei Schottennius (44) wird es unpassend für Schüler genannt, 
aber Zovitius (9) läfst es sogar in drei Variationen pflegen. Das erste Mal 
werden Tier Knöchel aufeinander gesetzt und nach diesen von einem bestimmten 
Punkte aus mit einem besonderen Wurfknöchel geworfen. Die dabei zu Falle 
gebrachten waren gewonnen. Das zweite Mal setzt jeder zehn Würfel. Der 
letzte, der 'Bäcker' (pistor), wird oben auf dieselben gelegt. Wer diesen trifft, 
hat den ersten Wurf. Die Pointe ist dieselbe, wie Torhin. Bei der dritten 
Spielart, dem *twaelfaeten' (duodecempedes), gilt es, soviel wir aus den Reden 
der Spielenden ersehen können, die aufgesetzten Würfel möglichst weit fort- 
zuschleudern. Der Sieger bringt es auf elf Fufs. 

Der auch bei Zovitius (13) beschriebene 'lusus novem scruporum' erinnert 
an das Belagerungsspiel (ludus latrunculorum) der Alten. 

Unter den Spielen, welche den Geist beschäftigten, waren von alters her 
die Rätsel beliebt. Mit Scherzfragen einer stellenweise für Schüler nicht be- 
sonders passenden Art beschäftigen sich zwei Knaben bei Duncanus (51). Da 
heilst es z. B.: Ubi cunctae mulieres sunt bonae? Antwort: Ubi plurimas est 
in venire quidem, sed nullas malas. — Quid bene facit mulier mala? Antwort: 
Quod moritur et mundum peste liberat. — Ubi nullae sunt mulieres malae? 
Antwort: In coelo. Heimstätten solcher Unterhaltung müssen damals schon 
die Spinnstuben gewesen sein, denn als bei Niavis (II 5) einmal die Rede auf 
Rätsel kommt, erzählt Albinus, dafs er in diesen eben von den Spinnstuben 
seiner Heimat her grofse Erfahrung habe. Er führt seinen Bericht also aus: 
Im Winter, wenns dunkel wird, kommen die Mädchen und jungen Frauen nach 
gethaner Arbeit zum Spinnen zusammen, und dann kann man Rätsel über 
Rätsel hören. Die eine giebt auf, die andere löst. Und wenn diese hin und 
her rät und sich ungeschickt anstellt, dann giebt es ein allgemeines Gelächter, 
und das Anhören macht ein solches Vergnügen, dafs man sich keine schönere 
Erholung für den Geist denken kann. 

Neben den Rätseln im gewöhnlichen Sinne des Wortes wurde auch das 
einfachere Ausraten gepflegt. Man nahm ein paar Nüsse, Kirschsteine, 
Eügelchen, Nadeln oder was man gerade zur Hand hatte, und liefs die An- 
zahl raten, ob Gerad oder Ungerad (Schott. 70), oder man legte zwei Nadeln 
nebeneinander und fragte, ob sie gleich lägen, d. h. die beiden Köpfe zusammen, 
oder ungleich, d. h. Kopf neben Spitze (Zov. 12). 

Als ein Mittel zur Stärkung des Geistes wurde, nebenbei bemerkt, auch 
das Waschen des Kopfes angesehen, das ein Knabe bei Mosellanus (17) 
etwa sechsmal im Jahre vornehmen läfst. Ein Pendant zu dieser Anschauung 
bildet eine Stelle im 7. Kapitel des Enchiridion scholasticorum von Murmellius, 
wo es heilst, dafs häufiges Kämmen der Haare von wohlthätigem Einflufs auf 
das Gedächtnis sei. Ob die genannten Mittel wirklich etwas für sich haben, 
vermag ich nicht zu entscheiden. 



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218 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

Gröfsere Spiele brachten gewisse Festtage des Jahres mit sich. Am ver- 
breiterten und beliebtesten unter diesen war schon während des Mittelalters 
das Bischofsspiel am Tage des hl. Nikolaus. In den Dialogen begegnet es 
uns an zwei Stellen, bei Mosellanus (21) und bei Schottennius (33). Bei 
Mosellanus erzählt Statins den Hergang, wie er in seiner Heimat üblich ist, 
folgendermafsen: Die Schüler wählen dort am Nikolaustage nach der Vorschrift 
des Rektors einen aus ihrer Mitte zum Bischof und geleiten ihn in grofsem 
Aufzuge zu seiner Wohnung und nach bestimmter Zeit zur Kirche zurück. 
Auf die Frage Lucans, was für einen Vorteil der Erwählte von seiner Würde 
habe, erwidert Statius, davon wisse er nur soviel, dafs er bei einem Mahle — 
auf wessen Kosten, könne er nicht sagen — festlich bewirtet würde. Lucan 
interessiert es besonders, ob der Bischof während seiner Amtszeit auch vom 
Lernen dispensiert wäre oder ob er gegebenenfalls ebensogut wie seine Kameraden 
die Rute zu fühlen bekäme. Als Statius die letzte Frage mit 'Ja* beantwortet 
und bemerkt, die Würde habe gerade so viel auf sich, als wenn einer in der 
Tragödie den König Agamemnon oder Priamus darstellte, gesteht Lucan, dafs 
es ihn dann nach einer solchen Ehre nicht gelüstete. Auch bei Schottennius 
legen die Knaben kein besonderes Gewicht auf die Auszeichnung, da sie nichts 
einbringe. Der eine baut allerdings darauf, dafs das Glück in der Jugend 
eine Vorbedeutung für das spätere Leben sei, wie es das Beispiel Piatos zeige, 
dem die Bienen, als er in den Windeln gelegen, Honig auf die Lippen getragen 
hätten. Das Spiel, welches nach Zeit und Ort vielfach variiert wurde, hat sich 
bis ins 18. Jahrhundert hinein erhalten. 

Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Bischofsspiele hatte das von den Alten über- 
nommene Königsspiel, von dem wieder Mosellanus (25) und Schottennius (34) 
berichten lassen. Es war ein Familienspiel. Nach Mosellanus fand es am Tage 
vor dem Feste der hl. drei Könige statt. Jede Familie loste alsdann einen König 
mit der Königin und dem ganzen Hofstaate aus. Um die Würde der Königin stritt 
die Mutter des Hauses mit den Mägden. Der König hatte am Festabende freies 
Trinken, mufste dafür aber später ein königliches Mahl veranstalten. 

Am Tage des hl. Gallus läfst Schottennius (31) die Knaben die c pro- 
sternatio galli' mitmachen. Das 'Hahnschlagen' ist vielleicht auf eine alt- 
deutsche Kultushandlung zu Ehren Donars zurückzuführen. Der Hahn wurde 
entweder unter einen Topf gesteckt oder so in die Erde gegraben, dafs er mit 
dem Kopfe heraussah. Die Spielenden mufsten mit verbundenen Augen aus 
einer bestimmten Entfernung nach ihm schlagen, und wer ihn tötete, war 
König. Später nahm man statt des Hahnes einfach einen Topf. Die Ehre des 
Sieges scheint sehr geschätzt gewesen zu sein, denn Nikolaus verspricht, falls 
ihm das Glück hold ist, seinen Kameraden eine ganze Mahlzeit, zwei Hähne 
und vier Mafs Wein. 

Im Sommer wurde an manchen Orten ein Vogelschiefsen veranstaltet. 
Man hing dann in einem hohen Baume einen Papagei (psittacus) auf, und wer 
ihn herunterschofs, wurde als König mit Gesang und Flötenspiel von den Mit- 
schülern nach Hause geleitet (Bari. 1524, 6). 



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A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 219 

Von den Festen des hl. Martinus und Blasius war schon die Rede. Während 
diese den Knaben eine Quelle des Erwerbs waren, mufsten die Schüler am 
Lambertustage nach Schottennius (32) noch eine Abgabe dazu leisten. 
Thomas giebt ein paar oboli, Paul trotz seines Reichtums nur einen solidus. 
Von Belustigungen der Kinder am Lambertustage, wie sie im Münsterlande 
noch heute üblich sind, hören wir nichts. 

Atti Neujahrstage beobachteten die Knaben die altrömische Sitte, sich 
gegenseitig nicht nur Glück zu wünschen, sondern auch kleine Geschenke 
(strenae) zu verehren (Mos. 25; Hegend. 5; Schott. 41; Phil. 1; Dune. 3). 

Zum Schlüsse noch ein paar Bemerkungen über das religiöse Leben 
der Schüler. Für diesen Punkt fliefsen unsere Quellen spärlich; wir hören vor- 
wiegend von Knaben, welche es mit diesen ihren Pflichten leicht nehmen. 
Dafs ihnen das viele Singen in der Zeit der grofsen Feste zu viel wurde, 
ist schon bemerkt. Auch eine einstündige Predigt bei der Primiz eines 
jungen Priesters stellt ihre Geduld zu sehr auf die Probe (Mos. 10), denn sie 
machen es nicht alle, wie der Taugenichts bei Duncanus (39), der während des 
langen Gottesdienstes zu lesen oder seine Lektion zu repetieren oder auch wohl 
ein kleines Schläfchen zu halten pflegt. Manche Lehrer sahen es gerne, wenn 
die Schüler auch an den Wochentagen, an welchen der Kirchenbesuch nicht 
offiziell war, vor der Schule doch noch eben durch das Gotteshaus gingen 
(Zov. 14). Deshalb richtet ein Pädagoge bei Niavis (I 1) an seinen Zögling 
eine solche Mahnung; er brauche nur fünf Vater-Unser und ebensoviele Ave- 
Maria zu beten. An Gottes Segen sei alles gelegen. c Qui deum negligit, in 
scholis multas subeat virgarum castigationes necesse est.' Einem Skeptiker 
bei Schottennius (72) will das allerdings nicht in den Kopf. Während sein 
Freund Konrad jeden Morgen eine Messe hört, geht er nur an Sonn- und Feier- 
tagen hin. Als Konrad darauf die Vermutung ausspricht, dafs daher vielleicht 
sein schlechter Fortschritt im Lernen rühre, entgegnet er schlagfertig, dafs 
viele ganz gelehrte Männer überhaupt niemals in die Kirche gingen. Gleich 
im folgenden Dialoge läfst Schottennius aber anerkennen, dafs ein andächtiges 
Gebet von grofsem Einflüsse sei auf einen gedeihlichen Fortgang der Studien. 
Die gröfste Qual für ungeratene Knaben war das Beichten. Natürlich war es 
ihr Bestreben, möglichst glimpflich beim Bekenntnisse davonzukommen, und 
es ist interessant zu vernehmen, welche Beobachtungen in dieser Beziehung 
von ihnen gemacht wurden. Bei Niavis (II 11) wird ein dicker Mönch vor- 
geschlagen, weil der humaner sei als die anderen. Mosellanus (28), der 
übrigens bei seiner Hinneigung zur Reformation der Ohrenbeichte überhaupt 
nicht freundlich gegenüberstand, läfst einen schläfrigen Priester wählen, den 
man hintergehen könne. Bei Schottennius (39) kommt es den Schülern 
darauf an, einen Beichtvater ausfindig zu machen, der sie nicht kenne. Im 
allgemeinen scheinen sich die Mönche einer gröfseren Beliebtheit erfreut zu 
haben als die Weltgeistlichen, wobei als Grund mitgesprochen haben mag, 
dafs es den Mönchen verboten war, Geld anzunehmen (Schott. 57). Die Er- 
zählung von einem höchst abenteuerlichen Beichterlebnis bei Jonas Philo- 



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220 A. Bömer: Die Humanistenschulen im Spiegel der lateinischen Schülerdialoge 

logus (10) wollen wir, da sie ohne Zweifel stark übertrieben ist, auf sich be- 
ruhen lassen. 

Die handgreiflichen Mängel des humanistischen Schulbetriebes, welche bald 
eine unausbleibliche Reaktion veranlagten, in erster Linie die Zurückdrängung 
der Muttersprache, überhaupt des Volkstümlich-Nationalen, und in zweiter die 
Vernachlässigung der realen Wissenschaften sind schon oft genug hervorgehoben 
worden. Dafür soll am Schlüsse dieser Untersuchung einmal betont werden, 
was die Humanisten Gutes in erzieherischer Hinsicht geleistet haben, und da 
sind abermals zwei Hauptpunkte zu nennen: 1) der praktische Betrieb des 
Sprachunterrichts, 2) die Einführung der Leibesübungen in die Schule. Gewifs 
ist es eine merkwürdige Fügung des Schicksals, dafs unsere Zeit, in welcher 
sich ein Übergang vom Humanismus zum Realismus vollzieht, gerade die ge- 
nannten beiden Methoden wieder aufgenommen hat, durch deren Einführung die 
Humanistenschulen einen Fortschritt bezeichnen gegenüber den auf Realismus 
gerichteten mittelalterlichen Lehranstalten. Auch von unseren Schulmännern 
wird, um es noch einmal hervorzuheben, genau wie von den Humanisten bei 
Erlernung der fremden Umgangssprachen auf praktische Übungen wieder be- 
sonderes Gewicht gelegt, und auch heute wieder ist ein lange Zeit geschwundener 
Sinn erwacht für einen gesunden Geist in einem gesunden Körper, für eine ge- 
deihliche leibliche Ausbildung der Knaben, die hoffentlich auf die ganze Ent- 
wicklung unseres Volkes ihren wohlthätigen Einflufs nicht verfehlen wird. 



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GELLERTS PÄDAGOGISCHE WIRKSAMKEIT 

Von WOLDEMAR HAYNEL 

Alles, was Gellerts erfolgreiche Lebensarbeit angestrebt hat, darf man als 
Bruchstücke der einen grofsen Aufgabe aufTassen, Tugend und Religion — 
beides gehört untrennbar zusammen — zu befordern, und als Nachhall der 
englischen Moralischen Wochenschriften kehrt dieser bessernde und belehrende 
Zug, freilich ohne das ausgesprochene bürgerliche Selbstbewufstsein der Vor- 
bilder, in der gesamten Litteratur etwa des zweiten Viertels des 18. Jahr- 
hunderts in Deutschland wieder. 1 ) Im Sinne dieser geistigen Bewegung, der 
er für unsere Kultur den vollendetsten und wirksamsten Ausdruck verliehen 
hat, hat der Hofmeister Deutschlands — so wird Geliert von Wilhelm Scherer 
mit treffendem Anklang an seine pädagogische Theorie genannt — auch für 
die eigentliche Erziehung zahlreiche Ratschlage und Vorschriften gegeben, hat 
er persönlich als Erzieher gewirkt. Einigermafsen systematisch stellt er in der 
zweiundzwanzigsten und dreiundzwanzigsten seiner Moralischen Vorlesungen' 
seinen Studenten als künftigen Vätern die Grundzüge der Kindererziehung zu- 
sammen, aber auch sonst durch Lehre und Beispiel wirkte er auf seinen engeren 
Kreis von Zuhörern, über ihn hinaus auf die zahlreichen ihm befreundeten 
Familien und endlich auf das grofse Publikum, dessen Lieblingsschriftsteller 
Jahrzehnte hindurch Geliert war, aus dem heraus man sich mit der Bitte um 
Hilfe und Rat an den persönlich unbekannten Dichter wandte. 

Mit einem gewissen freudigen Stolz, den man öfter an ihm beobachten 
kann, war Geliert sich einer so vielseitigen erzieherischen Thätigkeit bewufst. 
'Ich bin so stolz, dafs ich glaube, das Beste von der Erziehung gelesen oder 
gedacht zu haben', schrieb er bei Gelegenheit von Rousseaus Emil an seine 
empfindsame Korrespondentin Caroline Lucius 2 ), und zu seinen Vorbildern 
hatte er trotz der Vorrede zum Emil das Vertrauen, 'dafs sie das Wichtigste, 
Brauchbarste und durch Erfahrung ganzer Jahrhunderte am meisten Bestätigte 

l ) Hübsch hat besonders diesen Znsammenhang der Pädagogik Gellerts mit der Litte- 
ratur durch eine übrigens leicht zu vermehrende Auswahl von Belegen hervorgehoben 
H. Schuller 'Über Gellerts erzieherischen Einflufs.' Leip. Diss. (= Neue Jahrbücher f. Philo- 
logie u. Pädag. 122. Bd. 1880). Von sonstiger Litteratur erwähne ich nur K. Biedermann 
'Deutschland im 18. Jahrhundert' Bd. II 2, 1867 S. 20 ff. und die vielfach fördernde 
Arbeit von K. 0. Frenzel 'Über Gellerts religiöses Wirken' Leipz. Diss. 1894, endlich meine 
eigene Dissertation 'Gellerts Lustspiele' Leipzig 1896. — Ich citiere nach Band- und Seiten- 
zahl die von Jul. Ludw. Klee besorgte Ausgabe der 'Sämtlichen Schriften' in 10 Bänden 
(mit vielen Briefen und Cramers Biographie) nach dem Abdruck Berlin und Leipzig 1867. 

*) IX 146. 



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222 W. Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 

in ihrem Unterrichte nicht so leicht werden übersehen haben'. 1 ) Unter diesen 
Vorgängern steht obenan Locke mit seinen c some thoughts concerning education'; 
nach 1758, d. h. vor allem in den Moralischen Vorlesungen benutzte Geliert 
gerne Basedows Traktische Philosophie für alle Stände', mit der er sich oft 
geradezu wörtlich berührt (VII 106 f., s. w. u. S. 233 u. ö.) und von deren Ver- 
fasser er urteilt: *er denkt oft aus sich selbst, oft neu, zuweilen zu kühn' 
(VI 178) 2 ), und endlich war ihm Mosheims Sittenlehre insbesondere für seine 
Theorie des Religionsunterrichts wichtig. Dagegen erschien ihm schon die 
Vorrede von Rousseaus Emil so paradox und ^schimmernd wahr', dafs sie 
ihn in ^Verwunderung und Bestürzung* setzte und er das Buch schon seiner 
Schreibart wegen nicht ganz lesen zu können erklärte. Dafs man Rousseau 
beschuldigte, er vertrüge sich nicht mit der Religion, war schon Grund genug 
für den frommen Mann, *seine Weisheit' zu entbehren. Und als *ein wackrer 
Mann' zu ihm kam und von dem Werke Rousseaus sagte, *es ist wegen seiner 
hinreifsenden Beredsamkeit das gefährlichste, das vielleicht jemals zum Umstürze 
der christlichen Religion geschrieben worden', da bat er Caroline Lucius dringend, 
mit der weiteren Lektüre dieses geistreichen Skribenten' noch zu warten (den 
ersten Teil hatte sie schon gelesen und in ängstlichem Zweifel Geliert gefragt, 
ob sie das Buch zu Ende lesen dürfe) (IX 143—149). 

Die Erziehung ist für Geliert eine Pflicht, wegen deren Erfüllung Gott 
einst Rechenschaft fordern wird (V 166), so wird sie den Vätern eingeschärft 
(II 169, 31; III 243); wer seinen Kindern nichts als Reichtum hinterläfst, der 
hafst sie und macht sie unglücklich, ist die Moral des c Baronisierten Bürgers' 
(I 118 f.). Der Redner weist auf die Vererbung von Schwäche und Krankheit 
hin und ermahnt seine Zuhörer, die Jugendjahre unschuldig zu verbringen und 
ihre Gesundheit nicht aufs Spiel zu setzen (VII 98). Und als zukünftigen 
Vätern giebt er seinen Studenten Ratschläge für die Erziehung ihrer Kinder 
und begründet so die Aufnahme der beiden Vorlesungen über Erziehung in 
sein Kolleg (VII 95 ff.). Aber anderseits ist die Erziehung auch das gröfste 
Glück eines Menschen, das der gemütvolle Redner warmherzig und eindringlich 
schildert. So heifst es vom Christen: 

einer Seele Heil 

Ist ihm das gröfste Glück. Dir mangeln gute Sitten; 

Er giebt dir Unterricht und stärket ihn durch Bitten. 

Er sieht ein redlich Herz, das durch des Freigeists Spott 

Im Glauben wanken will; er siehts, und wird sein Gott (II 29). 

Als Vater eilt er fromm, der Kinder Glück zu gründen, 
Und in dem ihrigen seins noch einmal zu finden. 

Er bildet gern ihr Herz 

und er schmeckt Heil und Leben, 

Dem Himmel und der Welt ein würdigs Glied zu geben (II 31). 



*) IX 147. 

f ) G. nennt Basedow an dieser Stelle den Schüler Pufendorfs, Mosheims u. s. w., vergifst 
aber Locke zu nennen. Die f so anstöfsige' Philalethie lehnte G. übrigens energisch ab (VI 179). 



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W. Haynel: Gellerts pädagogische Wirksamkeit 223 

Und ein anderes Mal meint der Dichter: * Aller Beifall der Welt, aller Ruhm 
der Lohlieder ist nichts gegen den stillen Ausspruch des Gewissens, dafs wir 
ein einziges junges Herz für den Himmel gebildet, oder doch zu bilden uns 
aufrichtig bemühet haben* (VIH 128). Ganz besonders verdient macht sich 
'der Menschenfreund', der ein fremdes Kind erzieht, *er schenkt ihm Zucht 
und Kunst; der Vater gab ihm Leben: Wer hat für diesen Sohn das Meiste 
hergegeben?' (H 11), und in der Erzählung hinterläfst Oront seinem Freunde 
Pylades die Sorge für seine Frau und die Erziehung seines Sohnes: 'denn du 
verdienst, dafs sie tir angehören' (I 177). Hier lag wohl auch der psycho- 
logische Hintergrund für Gellerts Vorliebe für das Hofmeistertum; ein fremdes 
Kind zu erziehen war ein Gott wohlgefälliges, Freude und innere Befriedigung 
mit sich bringendes Werk. 

Er selbst hat diese Pflicht der Erziehung mannigfach geübt, ihr Glück 
vielfach erfahren. So betrachten wir zunächst den Kreis, auf den Geliert 
erzieherisch eingewirkt hat, wie er Person, Wort und Schrift in den Dienst 
der Erziehung gestellt hat, und suchen nachher den Inhalt dieses Wirkens 
und seine pädagogischen Ziele festzustellen. 

Geliert selbst hat Leiden und Freuden des Hofmeisterlebens wenigstens 
ein Jahr lang kennen gelernt, er war 1739 Erzieher bei zwei jungen Herren 
von Lüttichau. Dann bereitete er einen Neffen zur Universität vor, ging mit 
ihm 1741 nach Leipzig (X 174 f.), und wie er sich damals eines bald darauf 
verstorbenen Bruders annahm, so hat er auch später jüngeren Verwandten mit 
Unterricht und Rat beigestanden (VIH 16). Am meisten Kummer machte ihm 
Jahre lang ein Schwestersohn, der schliefslich unter die Soldaten ging und 
nachher in Geisteskrankheit verfiel. 1 ) 1757 unterstützte Geliert den Hofmeister 
der Söhne der Familie von Zedtwitz in deren Erziehung, als ihn in den Tagen 
der Schlacht bei Rofsbach Krankheit auf ihrem Gut Bonau zurückhielt 
(VIH 267; das (Jetöse der Schlacht, die in einer Entfernung von 1% Stunden 
von ihm geschlagen wurde, mufste der Kranke erschüttert anhören). Um die 
Wende der 50er und 60er Jahre spielte er wohl mit dem Gedanken, aufs Land 
zu ziehen, dort nützliche Schriften zu schreiben und ab und zu einen ^fähigen 
Knaben 9 zu sich zu nehmen und zu erziehen, ein paar Jahre später aber freute 
er sich, diese Pläne nicht ausgeführt zu haben, so wenig fühlte er sich noch 
dazu gesund und geschickt (1762. IX 162). Darum suchte er doch die von 
ihm selbst gelehrte Pflicht zu üben, und so liefs er auf seine Kosten zwei 
arme Bänder in seiner Vaterstadt die Schule besuchen (VIH 280). *) Den Sohn 



*) Ober diesen in Briefen oft erwähnten, in Klees Ausgabe mit G***l bezeichneten 
Neffen Gabriel Christian Meese vgl. Gellerts Briefe an Frl. E. von Schönfeld, Leipzig 1861 17 f. 

*) Die Schrift 'Geliert als Vater, von einem Leipziger Frauenzimmer beschrieben', 
das von seinem zwölften Jahre mit G. korrespondiert haben und von ihm unterwiesen sein 
will, rührt überhaupt von keinem Frauenzimmer her, wie Frenzel a. a. 0. S. 66 gezeigt hat. 
Diese nach G.s Tod entstandene Litteratur kann man gar nicht kritisch genug prüfen; 
jeder Verfasser will sich durch persönlichen Verkehr mit dem allverehrten G. interessant 
machen, und was er nicht erlebt hat, das erfindet er einfach. 



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224 W. Haynel: Gellerts pädagogische Wirksamkeit 

des Wohlthaters seiner Mutter, des Freiherrn von Craufsen, hoffte er dereinst 
an Herz und Verstand bilden zu können. So waren viele Studenten nicht nur 
willige Hörer seiner Vorlesungen, sondern drängten sich zu ihm heran, um 
ihm ihre Verehrung zu bezeugen und seiner milden Lebensweisheit teilhaftig 
zu werden. Da kamen insbesondere adlige Herren aus deutschen und fremden 
Landen, so Moritz von Brühl, der Neffe des allgewaltigen Ministers, vielleicht 
Gellerts Lieblingsschüler, ferner dessen Bruder Heinrich, der Dichter Cronegk, 
der seinen Lehrer in seinen Schriften nachahmte und verherrlichte 1 ); ein Graf 
Werther wollte gleichzeitig seine collegia von Geliert eingerichtet und von ihm 
eine Frau vorgeschlagen haben 8 ), und Laudons Neffe erhielt von dem Oheim, 
der Geliert in Karlsbad kennen und verehren gelernt hatte, die Erlaubnis, in 
Leipzig zu studieren, wenn der Dichter sich seiner annehmen wollte (IX 187). 
Ganz besonders lieb und wert waren Geliert, wie seine Briefe zeigen und 
Goethe bezeugt 8 ), die jungen Adligen aus Dänemark, für die es guter Ton 
wurde, in Leipzig zu studieren und von Geliert unterwiesen zu werden. Kein 
Wunder, dafs der Minister von Bernstorff bekannte, dafs Dänemark für diese 
Erziehung ihm vielen Dank schulde (IX 235) und man von Kopenhagen aus 
bei dem Leipziger Professor anfragte, ob er die Erziehung des dänischen Kron- 
prinzen übernehmen wolle (VIH 226. 229). Sogar ein Amerikaner kam aus 
der neuen Welt nach Leipzig und suchte bei Geliert < Hilfe und Religion'. 4 ) 
Wie alle diese Jünglinge an Geliert hingen, dafür genüge als einziges und 
vielleicht vortrefflichstes Beispiel das Zeugnis Christian Garves in einem Brief 
an Geliert vom 3. Juni 1767. Er bittet, ihn seinen zweiten Vater nennen 
zu dürfen, und bekennt, ihm nicht nur die Ausbildung seines Verstandes, 
sondern auch die Verbesserung seines Herzens schuldig zu sein, *nicht blofs 
Ihr Unterricht, Ihr Rat, Ihre Fürsorge für mein Glück, sondern noch viel- 
mehr der starke und beständige Antrieb, den ich zur Ausübung meiner Pflichten, 
in dem Wunsche und in der Hoffnung, Ihre Gewogenheit und Ihren Beifall zu 
erhalten, gefunden habe und immer finden werde: dieses ist ein Geschenk der 
Vorsicht, die meine schwache Tugend dadurch unterstützen und befestigen 
wollte' (X 45). Und auch Leute, die wie der junge Goethe und sein Kreis 
seiner Pflichtenlehre und seiner Moral kritischer gegenüberstanden, waren doch 
der milden Persönlichkeit zugethan und konnten nicht umhin, den Mann e herz- 
lich lieb zu haben'. 5 ) 

*) Vgl. Haynel, a. a. 0. 8. 76 f. *) Briefe an Frl. v. Schönfeld S. 62. 

*) In 'Dichtung und Wahrheit', = Werke, Weimarer Ausgabe I XXVII 129. Den Ab- 
Bchlufs der Erziehung der Dänen scheint übrigens persönliche Vorstellung bei der Lucius 
in Dresden gebildet zu haben. IX 256; IX 143. 

4 ) Briefe an Frl. v. Schönfeld S. 240. 

6 ) Goethe in 'Dichtung und Wahrheit' Buch VII = Werke XXVII 118. Übrigens darf 
man Goethes Verhältnis zu G. nicht lediglich nach der Darstellung in 'D. u. W.' beurteilen. 
Gellerts 'Stilübungen' wirken deutlich in den Briefen Goethes an seine Schwester nach. 
Er ermahnt sie, natürlich zu schreiben, und korrigiert den Ausdruck der Schreiben 
Corneliens ahnlich wie Geliert z. B. die des Freiherrn von Widmann (IX 21 ff. 26 ff. 32 ff.). 
Und die 'Laune des Verliebten' hat man mit G.'s 'Band' in Verbindung gebracht. Wahr wird 



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W. Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 225 

Der Leipziger Student, der dem gefeierten Lehrer der Hochschule nicht 
persönlich nahe stand, horte wenigstens sein Kolleg. Schon als Privatdozent 
las er mit grofsem Erfolge, den ein glänzend anerkennendes Zeugnis der 
Fakultät (VIII 24 f.) bestätigte, als er sich auf Drangen seiner Freunde und 
der Regierung selbst um eine aufserordentliche Professur bewarb, die er denn 
auch erhielt (1751. VIII 22). Zehn Jahre später drängte man ihn, ein er- 
ledigtes Ordinariat zu übernehmen, aber standhaft weigerte er sich mit Rück- 
sicht auf seinen Gesundheitszustand (IX 58 ff. 70 ff.). In seinen Vorlesungen 
fanden sich Studenten aller Fakultäten ein, während des siebenjährigen Krieges 
horten preufsische Offiziere den berühmten Leipziger Professor, wie der mar- 
tialische Held des berühmten Husarenbriefs (VHI 286 ff.), wie ferner der junge 
Graf Dohna, *ein gutes Kind von neunzehn Jahren' (VHI 289 f.). Der Freiherr 
von Widmann erinnerte sich des Gellertschen Kollegs noch lange mit Freuden 
(IX 9), und wer durch Leipzig durchreiste und geistige Interessen hatte, der 
wollte auch den berühmten Fabeldichter hören. 1 ) 

Geliert las über Dichtkunst und Beredsamkeit, über Batteux und Stock- 
hausens Bibliothek der schonen Wissenschaften; in seinem Praktikum lieferten 
die Studenten deutsche und lateinische Ausarbeitungen, um Stil und Geist zu 
üben, hier kritisierte der Dichter poetische, lieber aber prosaische Aufsätze 
seiner Zuhörer, und wenn ihm die Lucius oder sonst eine seiner empfind- 
samen Korrespondentinnen einen recht schönen Brief gesandt hatte, so gab 
er ihn als Musterbrief seinen Studenten zum festen. Nützliche Kenntnisse 
zu befördern, ganz besonders aber Herz und Sitten zu bessern, war das 
Ziel aller seiner Vorlesungen. Am wichtigsten waren daher die über Sitten- 
lehre, die moralischen, c das philosophische Auditorium war in solchen Stunden 
gedrängt voll, und die schöne Seele, der reine Wille, die Teilnahme des edlen 
Mannes an unserem Wohl, seine Ermahnungen, Warnungen und Bitten, in 
einem etwas hohlen und traurigen Tone vorgebracht' Ä ), machten tiefen Ein- 
druck. Originale Gedanken waren freilich wenig vorhanden, Geliert verfuhr 
eklektisch und nahm das Gute, wo er es zu finden glaubte, insbesondere von 
englischen Moralphilosophen. Und er wollte die Sittenlehre nicht blofs von 
der Seite vortragen, c wo sie den Verstand als eine Wissenschaft unterrichtet, 
aufklärt und überzeugt', sondern sie vornehmlich von der Seite zeigen, c wo sie 
das Herz rührt, bildet und bessert' (VI 9). Hier zeigte der Redner seinen 
Zuhörern, wie sie ihre Kinder dereinst erziehen sollten, hier sprach er von 
Gesundheitspflege, von Sittsamkeit und Anstand, besonders aber predigte da» 



freilich bleiben, dafs die ausgesprochene Abneigung gegen jeden kräftigen Gefühlsausdruck 
in der Poesie, der Mangel jedes fortreifsenden Schwunges in Vortrag und Weltanschauung 
ein inneres Verhältnis zu Geliert bei dem jugendlichen Feuergeist nicht aufkommen liefsen. 
Anderseits weisen bei G. die Betonung von Gefühl und Herz, der Drang nach natürlicher 
Ausdrucksweise doch schon auf die Stürmer und Dränger hin. 

l ) Vgl. den Bericht Goethes über den durchreisenden Franzosen,. Werke XXVII 128, 
und Frenzel, a. a. 0. S. 25. 

*) Goethe, a. a. 0. S. 128. 
Neue Jahrbücher. 1899. H 15 



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226 W. Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 

Kolleg Demut, Frömmigkeit und Herrschaft über Begierden und Leidenschaften. 
Mustermenschen und abschreckende Beispiele schilderte der Professor in fein 
gezeichneten 'Charakteren' (nach dem Muster der Moralischen Wochenschriften), 
und in den Kreis aller dieser Bestrebungen fielen Gelegenheitsreden oder er- 
gänzende Darlegungen: 'Von den Trostgründen wider ein sieches Leben', 'Von 
dem Einflüsse der schonen Wissenschaften auf das Herz und die Sitten', 'Von 
den Ursachen des Vorzugs der Alten vor den Neueren in den schonen Wissen- 
schaften, besonders in der Poesie und Beredsamkeit', 'Lehren eines Vaters für 
seinen Sohn, den er auf die Akademie schicket', letztere im Anschlufs an die 
die Erziehung behandelnden Vorlesungen vorgetragen 1 ), u. a. m. 

Wo Gellerts personliche Unterweisung ausgeschlossen war, da waren doch 
seine Schriften und von ihm in besonderen Vorlesungen herangebildete Hof- 
meister Trager seiner Bestrebungen. Immer wieder zeigen die an ihn ge- 
richteten Briefe, wie er von allen Seiten, von Bekannten und Unbekannten um 
Hofmeister, auch um Prediger, ja sogar um Frauen angegangen wurde. Die 
Herzogin von Holstein, 'eine verstandige Prinzessin', verlangte von ihm einen 
Informator *), der Dessauische Hof, der Minister von Massow, die Grafin von F. 
und viele andere mehr baten um Hofmeister (X 46 f.; X 40; IX 321; ferner 
VIH 126; VIH 238 u. s. w.), und Goethes wunderlicher Freund Behrisch ver- 
dankte Geliert seine Erzieherstelle beim Grafen von Lindenau. 8 ) 

Mag der Dichter sich und den Seinen gegen Ende seines Lebens das 
Dasein vergällt haben, mag feine Frömmigkeit in unfruchtbaren, ja abstofsen- 
den Tiefsinn und unleidliche Schwermut ausgeartet sein, wie es uns weniger 
seine Briefe als besonders sein Tagebuch zeigen, seine Schriften atmeten doch 
das, was der Zeit am meisten fehlte und für die Bildung der Herzen die Haupt- 
sache war und ist, den gefühlswarmen Ton, in dem er alles, was er schrieb 
und lehrte, vortrug, die herzliche Zuneigung, die er jedem entgegenbrachte, 
das mitfühlende Herz, durch das die Schärfe des Verstandes wohl beeinträchtigt 
wurde, in dessen Reiz aber gerade das Geheimnis seines unendlichen Erfolges 
lag. Bessern und Belehren, Erziehen und Unterrichten ist auch hier das Ziel, 
'so werden die guten und bösen Charaktere in dem Heldengedicht, in dar 
Tragödie, in der Gomödie, in dem Romane; so wird eine Fabel, eine Erdichtung 
besser als Cratippus und Crantor lehren* (V 74). Und auf die Frage, welches 
seiner Werke ihm das liebste wäre, antwortete er: 'Das nützlichste' (IX 195). 
Ein Buch der Erziehung und Lehre waren seine 'Fabeln und Erzählungen'; 
wie sein Magister in dem Lustspiel 'Die zärtlichen Schwestern' meint auch 
er, wo keine systematische Moral geboten werden, wo eine abstrakte Lehre un- 
verständlich sein kann, da tritt anmutig und anziehend die Wahrheit im Gewände 
der Fabel auf, 'dem, der nicht viel Verstand besitzt, die Wahrheit durch ein 
Bild zu sagen' (I 95). Geistlicher Unterricht wird in den religiösen Liedern, 
speziell in den Lehroden geboten, 'dafs der Verstand in den Liedern unter- 

l ) VII 138 Anm. 

*) Chr. F. Gelferts Tagebuch aus dem Jahre 1761, Leipzig 1862 8. 29. 

*) v. Loeper zu Goethes Dichtung und Wahrheit, Hempel XXI 307. 



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W. Haynel: Geliert» pädagogische Wirksamkeit 227 

richtet und genährt werde, ist eine sehr notwendige Pflicht, wenn man die 
unrichtigen Begriffe, die sich die Menge von der Religion macht, den Mangel 
der Kenntnis in den Wahrheiten derselben und die täglichen Zerstreuungen 
bedenkt* (EL 71). In den Lustspielen sind die tugendhaften Menschen allemal 
gebildet, die frommen Frauen wie Frau Dämon und die empfindsamen Mädchen 
verstehen Französisch und sind in der neuesten moralischen Litteratur be- 
wandert, dagegen die Betschwester kennt Richardsons verherrlichte Tamela' 
nicht, und die kokette Frau Orgon kann kein Französisch. Das Musterbild 
einer richtig erzogenen und selbst wieder erziehenden Frau war die schwedische 
Grafin, und in dem Herrn Jl** mit seiner eifrigen pädagogischen Thätigkeit 
zeichnete der Dichter, leicht verhüllt, sich selbst. Für das Briefschreiben gab 
Geliert eine hübsche Vorschrift mit sorgfältig ausgewählten Musterbriefen. 
Wie diese eifrig nachgebildet wurden, so waren insbesondere Gellerts Fabeln 
ein willkommenes Schulbuch. Aus ihnen lernten sächsische Prinzessinnen 
Deutsch (IX 195), Friedrich der Grofse empfahl sie als Lesebuch, in kur- 
sächsischen lateinischen Stadtschulen wurden sie als Schulbuch benutzt, und 
die Moralischen Vorlesungen empfahl Ernesti für den moralischen Unterricht 
auf den sächsischen Fürstenschulen. 1 ) Gellerts Vorlesungen liefs sich der 
bayerische Kurfürst wiederholt vorlesen und befahl sie durch den Druck zu 
verbreiten 8 ), und als Kinderbuch spielen die Fabeln in der gesamten Litteratur 
ihrer Zeit eine Rolle. 

Und endlich welche köstlichen Lehren empfing der zahlreiche Kreis der 
Korrespondenten durch die vielen Briefe, deren Erledigung den gröfsten Teil 
von Gellerts gesunden, nicht den Vorlesungen und dem Bibellesen gewidmeten 
Tagen in Anspruch nahm. Wie hat er in dieser selbst für jene briefselige 
Zeit außerordentlichen Menge von Briefen namentlich den jungen Damen, mit 
denen er so gerne plauderte, Erdmuthe von Schönfeld und Caroline Lucius, 
aber auch früheren Zuhörern wie Moritz von Brühl Geist und Herz in freund- 
lich * väterlichem Tone gebildet. Auch darf der Historiker anmerken, dafs 
Geliert Jahre lang mit Eberhard von Rochow, dem ausgezeichneten Förderer 
der preufsischen Elementarschulen, in lebhaftem Briefwechsel über moralische 
und gelegentlich auch pädagogische Fragen gestanden hat. Seine Verehrung 
bezeugte Rochow dem Dichter durch eine Pension, die dieser aber nach einigen 
Jahren 1763 ausschlug und lieber c zur Erziehung armer Kinder oder zur Aus- 
stattung eines armen und frommen Mädchens 9 anzuwenden bat (IX 228). Und 
wie Geliert den trefflichen Mann schätzte, zeigt, dafs er auf seine Bitte ihm 
sogar seinen langjährigen Famulus, Gödick, anscheinend als Hofmeister abtreten 
wollte. Schliefslich ist dieser dann allerdings doch bis zu Gellerts Tod bei ihm 
geblieben, und die sentimentalen Freundinnen des Professors beneideten ihn, 
dafs er immer in der Nähe des verehrten Mannes weilen durfte. 8 ) 



*) Vgl. Schuller, a. a. 0. S. 29. *) Briefe an Frl. v. Schönfeld S. 246. 
8 ) Aach mit Basedow stand Geliert in litterarischem Verkehr, vgl. Max Müller, Essays IV 7 
bei Schuller, S. 36. 

16* 



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228 W.Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 

Über seinen Tod hinaus wollte Geliert Segen stiften durch die 'Unvoll- 
ständigen Nachrichten' von seinem Leben, eine Art Memoiren, die er an- 
scheinend ursprünglich zur späteren Veröffentlichung bestimmt hatte, und aus 
denen, als wegen der Unfertigkeit der Arbeit oder aus anderen Gründen 
davon abgesehen werden mufste, Gramer viel Material für seine Biographie 
Gellerts schöpfte. 1 ) 

Nachdem uns dieser Überblick gezeigt hat, wie mannigfach Geliert durch 
That und Rede, durch Wort und Schrift nach allen Seiten hin erzieherisch 
gewirkt hat, erhebt sich die wichtige Frage nach dem Inhalt aller dieser Be- 
mühungen. Welche Ziele steckte Geliert der Erziehung, und welche Wege 
schlägt er ein, sie zu erreichen? 

Nicht allein für diese Welt, sondern für die Ewigkeit soll die Jugend er- 
zogen werden (V 166). 'Alle Anwendung und Übung der Kräfte des Geistes 
mufs auf die Absicht gerichtet sein, uns weiser, besser und zum Dienste der 
Welt brauchbarer zu machen .... Des Menschen Glück nicht einzuschränken, 
Verlieh ihm Gott die Kraft zu denken Und sprach: Mensch, schaffe dein und 
deiner Brüder Glück' (VH 19). So sind Vollkommenheit und Glückseligkeit, 
die Schlagworte der Wolffischen und der englischen Popularphilosophie, daa, 
wonach der Mensch streben, worauf die Erziehung und Bildung gerichtet sein 
soll. So hatte Basedow gesagt, der Zweck der Erziehung sei, 'dafs Kinder 
glückselige und gemeinnützige Menschen würden'. 2 ) Für Geliert liegt die 
Glückseligkeit im Bewufstsein der Tugend, die schönste Belohnung der Tugend 
ist das Gefühl der Glückseligkeit, seine weichmütigen Frauen und Mädchen, 
seine zärtlichen Väter und Liebhaber zeigen immer wieder dieses frohe Gefühl 
freudiger Ruhe. Das Streben nach Vollkommenheit zeigt sich in dem Eifer 
für Tugend und Religion und einer herzlichen, werkthätigen Nächstenliebe; 
wir haben gesehen, wie Geliert selbst für dieses alles Muster und Vorbild war. 
Am Eingang der Vorlesungen über Erziehung heifst es 'Kinder erziehen heifst, 
ihren Verstand, ihr Herz, ihren Körper und ihre besonderen Naturgaben so 
bilden, dafs sie sich und anderen zum Glück leben und die wichtigen Ab- 
sichten ihres Daseins erreichen lernen' (VJi 97). 

Der Redner kennt zwar auch Söhne und Töchter niedriger Stände, die 
weise und glücklich erzogen sind (VII 131) 8 ), aber seine ganze Erziehungs- 
lehre ist hauptsächlich für die *grofsen Häuser' und für günstige Umstände 
berechnet (VH 131). Man mufs sich an die Kreise erinnern, in denen er sich 
am meisten bewegte, aus denen sich seine Hörer meist zusammensetzten, und 
versteht es, dafs er den Schulunterricht kurz abmacht. Er verlangt zwar, dafs 
zum Unterricht an Schulen keine düsteren Köpfe *mit Wörtern und Sentenzen', 
sondern die ^Verständigsten unter den Gelehrten' herangezogen und durch 

*) Darauf, dafs die 'Unvollständigen Nachrichten' ursprünglich für den Druck bestimmt 
waren, läfst wenigstens der Umstand schliefsen, dafs der Leser öfter ermahnend angeredet 
wird, so X 176. 186 u. ö. 

*) Basedow, Praktische Philosophie für alle Stande. Kopenhagen u. Leipzig 1758 S 540. 

8 ) Vgl. auch die Erzählung 'Der Informator' I 219 ff. 



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W. Haynel: Geliert» pädagogische Wirksamkeit 229 

gute Bezahlung dabei erhalten bleiben sollen (V 99), aber an eine so ausführ- 
liche Gegenüberstellung von häuslicher und Schulerziehung, wie sie Locke in 
§ 70 seiner 'thoughts concerning education' giebt, denkt er nicht. So gelangt 
Geliert mit Montaigne, Locke und Basedow zur Theorie der Erziehung durch 
den Hofmeister 1 ), sein Leben lang hat er ihr nachdrücklich das Wort geredet. 
Aber während Locke seinen Zögling dem beständigen, segensreichen Einflufs 
des Elternhauses unterwerfen will, während Basedow nur dann Privatunter- 
richt durch den Hofmeister empfiehlt, wenn die Eltern im stände sind, dessen 
Fähigkeiten zu beurteilen, ^onst sind die öffentlichen Schulen besser' 2 ), geht 
Gellerts Erziehungsideal viel weiter. In einem seiner Musterbriefe meint er: 
'Die Erziehung zu Hause hat tausend Hindernisse. Ein Hofmeister kann un- 
möglich alles wissen; und wenn er auch viel weifs, so hat er doch nicht allemal 
die Gabe, gut zu unterrichten oder ein junges und lebhaftes Herz genug zu 
unterhalten, und dies gehört doch notwendig zu einer guten Erziehung. Wir 
müssen leicht und angenehm lernen, ehe wir wissen, wie viel wir zu lernen 
haben. Es ist nicht genug zu lernen, wir müssen auch beizeiten mit der 
Welt bekannt werden; allein die Welt zu Hause ist nicht allemal die beste. 
Wir sehen nur immer einerlei Geschöpfe, und wie wir wenig bemerkt werden, 
so bemerken wir auch \mdre wenig .... Ich will nur sagen, dafs es sowohl 
für den Verstand eines jungen Menschen, als für sein Herz und für seine 
Sitten vorteilhaft ist, wenn er an einem fremden Orte erzogen wird' (IV 115 f.). 
So rät er denn der besorgten Mutter, ihren zehnjährigen Sohn durch einen 
Informator an einem Ort erziehen zu lassen, wo er Gelegenheit habe, viel zu 
sehen und zu hören. Und dazu empfiehlt er — Leipzig. Hier wird der Knabe 
alles, was zu der Bildung eines Weltmannes gehört, lernen, etwa bis zum 
16. Jahre verweilen und kann dann seine Kavalierreise antreten, immer noch 
von seinem Mentor begleitet. Man sieht, Geliert will wie Locke den Knaben 
zum Weltmann heranbilden, aber während letzterer häusliche Erziehung fordert, 
übertreibt Geliert einseitig den Gedanken Lockes von der Annehmlichkeit des 
Lernens, er versteht ihn schief und folgert aus der gröfseren Anregung von 
Sitten und Verstand den Vorzug der Erziehung in einer Stadt wie Leipzig, 
die doch für ein derartiges Unternehmen nicht eben sehr geeignet gewesen 
sein wird. Man kann sich kaum einen gröfseren Gegensatz zur Erziehung 
des Emil denken, und sehr viel Anklang scheint dieses Gellertsche Prinzip 
auch kaum gefunden zu haben, wenn er auch an jener Stelle versichert, es 
seien jetzt verschiedene Knaben in dieser Absicht in Leipzig; wenigstens findet 
man in späteren Jahren kaum eine Spur davon. Im Sinne Lockes mufste 
sich mit dieser Erziehung notwendigerweise eine Frühreife verbinden, und 
Geliert urteilt: 'Der Vorteil ist grofs. Sie (die jungen Herren) fangen etliche 
Jahre eher an zu leben und hören etliche Jahre eher auf, Kinder zu sein.' 
Auch die schwedische Gräfin klagt, sie wäre einige Jahre früher Vernünftig' 



') Er nennt ihn auch Anfähier, Führer, Aufseher, Informator. 
*) Basedow, a. a. 0. 8. 563. 



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230 W. Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 

geworden, wenn ihr Vetter allein sie erzogen und nicht der Einflufs von dessen 
Frau den seinigen durchkreuzt hätte (IV 196). Wieder ist Rousseau, sind 
aber auch die Philanthropinisten energische Gegner dieser ungesunden vor- 
zeitigen Reife. 1 ) 

Aber wir kehren zum Hofmeister zurück, der denn doch Gelferts Ideal 
zum Trotz auch in des Dichters Freundeskreis meist seinen Zögling zu Hause 
auf die Akademie vorbereitete (so V 165). Geliert malt sich zwischen dem 
Jüngling und seinem ^Führer' ein herzliches Verhältnis aus, wie jener diesem 
sein Herz entdeckt und sich zur Abwehr von Versuchungen und Gefahren 
Rats bei ihm erholt (IX 232 f.). Wo kein Hofmeister vorhanden ist, da treten 
Freunde oder Verwandte hilfreich an seine Stelle, wie Christianchen in der 
^Betschwester* von ihrer älteren Freundin Lorchen und von der Frau des Herrn 
Ferdinand erzogen und gebildet werden soll. Geliert rühmt, dafs so öfter 
Kinder böser und schlechter Eltern durch rechtschaffene Hofmeister brave 
Menschen werden können (VH 98 f.); dafs der Fall auch umgekehrt eintreten 
könnte, das scheint ihm gar nicht in den Sinn zu kommen. Der ideale Hof- 
meister ist Herr R** in der Schwedischen Gräfin', ein Abbild des Dichters 
selbst; dieses Buch ist überhaupt der pädagogische Musterroman für Geliert, 
so sehr man sich heute über die widersinnige Misctfung von Moral und Un- 
moral wundern mag, die in diesem Werk herrscht. Hier übergiebt auch 
Caroline ihren Sohn schon in seinen zartesten Jahren einem geschickten Manne 
zur Aufsicht und ruft erst den Dreizehnjährigen auf kurze Zeit zu sich, da sie 
ihren Tod nahe glaubt (IV 220). Die schwedische Gräfin ist — wir haben es 
oben schon gesehen — von ihrem Vetter erzogen. Aus dem ungeratenen 
Simon im 'Los in der Lotterie% der als ^Freigeist* möglichst abschreckend 
wirken soll, wäre nach des Verfassers Meinung gewifs ein besserer Mensch ge- 
worden, wenn er nicht seinen Hofmeister fortgeschickt hätte (HI 267). 

Aber Geliert ahnt doch wenigstens etwas von dem reichen Segen des 
häuslichen Lebens auch für die Erziehung. Bildet der Informator seinen Zög- 
ling im Elternhause heran, dann sollen, wenn möglich, die Eltern dem Unter- 
richt ihrer Kinder beiwohnen (VH 125). Leider aber thun das die wenigsten, 
und jener Bauer in der Erzählung e Der Informator' ist eine löbliche Aus- 
nahme, e als obs die Pflicht der Väter war* (I 220), meint ironisch der Dichter. 
Das Hauptthema dieser Erzählung ist die unwürdige Behandlung und elende Be- 
zahlung, die dem Hofmeister gewöhnlich zu teil werden, und gegen die Geliert 
wieder im Bunde mit Locke (§ 90 ff.) und Basedow (a. a. 0. S. 563) kämpft 
(vgl. VH 99). Für die Erziehung seines Kindes darf dem Vater nichts zu 
teuer sein, und jener Bauer ist mit Recht darüber aufgebracht, dafs der Infor- 
mator nicht mehr Bezahlung verlangt als sein Grofsknecht erhält. Sein Edel- 
mann freilich giebt 'für sein halb Dutzend Knaben Mit vielem Stolz kaum 
dreifsig Gulden' (I 221). Geliert kennt die hohen Anforderungen, die das Amt 

') Für die Philantropinisten vgl. die f Allgemeine Revision des gesamten Schul- und 
Eraehungswesens' IX (Locke) S. 439 f. Wien und Wolfenbüttel 1787. Wie die Frühreife 
der Zeit entsprach, dafür vgl. Schuller S. 12 f. 



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W. Haynel: Geliert» pädagogische Wirksamkeit 231 

des Erziehers stellt, und er wünscht, dafs junge Leute von erfahrenen Hof- 
meistern auf den Akademien Rat und Unterricht für die Praxis erhielten 
(VH 100). So schweben ihm hier 'kleine Pflanzschulen' für Hofmeister vor, 
ein Urbild unserer pädagogischen Seminare an Universität und Gymnasium. 
Er selbst zog durch Vorlesungen über diesen Gegenstand Nachwuchs für diese 
verantwortungsvolle Stellung heran 1 ); wie gesucht seine Schüler als Erzieher 
waren, haben wir oben gesehen (S. 226). 

Schlagt Geliert bei der Erziehung den Einflufs des Familienlebens gering 
an, so will er dagegen dem Säugling von der Mutter die erste Nahrung ge- 
reicht sehen. Der Kampf gegen die Ammen war in Lockes Erziehungstheorie 
enthalten gewesen, die Moralischen Wochenschriften hatten das Thema auf- 
gegriffen, auch Basedow hatte gegen diese Vertreterinnen der Mutter geeifert 
(a. a. 0. S. 530), und Bousseaus Zorn über sie ist bekannt. Geliert fürchtet 
von den Ammen 'sowohl Krankheiten der Seele als des Blutes' für die Kinder 
(VII 101 f.), und seinen Tartarenfttrsten, der in Nachäffung europäischen Vor- 
bildes befohlen hatte, alle Kinder Ammen zu übergeben, bedroht eine edle 
Frau mit dem Tode, wenn er ihr Kind von ihrer Brust risse (I 187 f.). 

Mit Locke (§ 4) stellt Geliert das kräftige, gesunde Bauernkind dem Stadt- 
kind zu dessen Nachteil gegenüber und fordert, man möge die Sitten des Land- 
volks allgemein bei der Erziehung von Kindern nachahmen (VH 102 f.). 
Gesunde körperliche Erziehung verlangt er mit seinen Vorgängern; die Fabel 
'die Affen und die Bären' vergleicht die an Hitze und Frost gewöhnten, kräf- 
tigen jungen Kren mit der verweichlichten und verzärtelten Affenjugend und 
schliefst mit der Moral: 

Was macht die Kinder siech? Vielleicht Natur und Zeit? 

Nein, mehr der Eltern Weichlichkeit. 

Reicher, soll dein Kind gesund in Städten blühen, 

So zieh es in der Stadt, wie es die Dörfer ziehen. (I 270 f.) 

Es ist anzuerkennen, dafs Geliert trotz ängstlicher Fürsorge für seinen 
eigenen, zarten Körper Einsicht genug besafs, um sich dem sicheren Blick des 
Engländers unterzuordnen, der hier seine nationale Erziehung zu Ehren brachte. 
Wie. Locke (§ 8. § 13) wünscht Basedow (a. a. 0. S. 540 f.), wünscht Geliert 
einfache Kost, nicht zu viel Schlaf und ein hartes Lager, viel frische Luft, 
Leibesübungen, Gewöhnung an Unbilden der Witterung, nicht zu warme und 
nicht einengende Kleidung (VI 205 ff. VII 122 f.), 'das frische Wasser' und 
das 'gesunde Brot' (VII 102 f.) sind die beste Nahrung für Kinder. Auch 
seinen Studenten predigte er Mäfsigkeit und Sorge für Gesundheit und Körper, 
indem er sich auf sein eigenes Beispiel berief, aber auch ein schönes Lehr- 
gedicht anerkennend nannte (VI 205 f.). Seines mäfsigen Lebens freut sich 
der Vater des schwedischen Grafen noch auf dem Sterbebett (IV 211). 

Das heranwachsende Kind bekomme nur das beste Beispiel zu sehen 

*) Auch der 'Nordische Aufseher' 1762 II S. 359 fordert Lehrer auf den Akademien, 
welche 'die schwere Kunst, Kinder zu unterrichten und zur Tugend anzufahren, ordentlich 
gleich anderen Wissenschaften vortrügen'. Ähnliches strebte auch Büsching an. 



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232 w - Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 

(VII 115). Locke hatte (§ 71) das herrliche Wort Juvenals 'maxima debetur 
pueris reverentia' *) als Richtschnur aufgestellt ; und Geliert übersetzt es 'Man 
habe für den Knaben die höchste Ehrerbietung' (VII 131). Was Geliert über 
Sparsamkeit und Freigebigkeit und über Besserung der Fehler des Kindes vor- 
bringt, hat er fast wortlich Basedow entnommen; den er auch anführt als 
seinen Gewährsmann (Vll 105 f.). Wenn Locke den Ehrgeiz der Kinder zu 
erregen sucht, so warnen Basedow sowohl wie Geliert davor, ihn zu sehr zu 
wecken, denn Eifersucht und Neid würden die Folge sein. Wohl will auch 
Basedow (a. a. 0. S. 549) nebenher den Trieb zur Ehre starken, aber die 
Hauptsache ist ihm das Trachten nach Ehre bei Gott, und das pafste in 
Gellerts Anschauung vortrefflich hinein. Er lehnt den Ehrgeiz vollständig ab, 
nach ihm sollen Kinder alles möglichst rühmlich und vollkommen thun, um 
dem Gebot des Allmächtigen nachzukommen, sein Wohlgefallen und die Liebe 
der Vernünftigen zu erwerben (VII 125 ff.). So knüpft er auch hier an die 
Religion an. Bei der Aufzählung unschädlicher Belohnungen stimmt Geliert 
wieder fast wörtlich mit der Traktischen Philosophie' überein, wo Werkzeuge, 
nützliche Bücher, vermehrte Freundlichkeit empfohlen werden. Locke nennt 
noch 'Ruhm und Ehrenzeichen', beide sucht man bei Geliert und Basedow ver- 
gebens, jener warnt sogar bei dieser Gelegenheit noch einmal ausdrücklich 
davor, den Ehrgeiz anzuspornen (Vll 125). Auch die Strafen, die Basedow 
vorschlägt, übernimmt Geliert, 'Entziehung der Gewogenheit, den kleinen 
Kerker, den Hunger' empfiehlt er, aber alle Strafen sollen erst einige Zeit 
nach dem Fehltritt, nach Verrauchen des ersten Zornes, verhängt werden. 
Wirkliche Halsstarrigkeit will Geliert mit Locke, der sonst so sehr gegen die 
Anwendung der Rute eifert, mit der Rute bestrafen (Vll 128 ff). Bevor man 
das Band aber straft, soll man versuchen, dem Kinde die ^Gründe und Vor- 
stellungen von der Strafbarkeit des Bösen' beizubringen, und schämen soll es 
sich da am meisten, 'wo es die Vernunft am meisten befiehlt' (Vll 129 f.). Da 
klingt also Lockes bekannter Rat, mit Kindern zu vernünfteln, wider. 

Zu Dankbarkeit, Dienstfertigkeit, Treue, Verträglichkeit, Zufriedenheit, 
Bescheidenheit, Demut und Menschenfreundlichkeit will Geliert die Jugend er- 
zogen sehen; das sind fast alles passive Tugenden, und der Mensch des 18. Jahr- 
hunderts zeigt sich in ihm, wenn er von der Vaterlandsliebe, die man bei den 
Alten so rühme, sagt: 'was ist sie oft als eine parteiische und schwärmerische 
Hitze für die Ehre und den ewigen Namen ihrer Nation, zum Untergange der 
Freiheit und des Glücks andrer Völker? Wo ist die allgemeine Menschen- 
liebe? Wo die Mildthätigkeit in der Tugendlehre der Alten?' (VI 52). Hier 
hätte sich Geliert Locke zum Muster nehmen können, dessen ganze Erziehung 
nationalen Charakter trägt und der von schlechter Jugendbildung den Verlust 
von virtue, ability, learning, courage fürchtet, die die Engländer wie kein andres 

') Das bezieht Basedow (a. a. 0. S. 545) mit einem groben Mißverständnis auf das 
Ceremoniell und wünscht, dafs die Kinder daran gewöhnt werden, dasselbe Ceremoniell, 
das die Eltern hohen Standespersonen gegenüber beobachten, jenen und ihren Aufsehern 
gegenüber zu zeigen. 



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W. Haynel: Gellerts pädagogische Wirksamkeit 233 

Volk bis dahin ausgezeichnet hätten (§ 70). Und wieder wird ein Thema des 
18. Jahrhunderts angeschlagen: der Roman zeigt eine glückliche Ehe zwischen 
der schwedischen Grafin und dem Herrn R**, zwischen adliger Dame und 
bürgerlichem Mann, allerdings wohl das einzigemal, wo der zaghafte Geliert 
dieses Thema der 'Moralischen Wochenschriften* verwendet. Eine andere 
Mahnung dieser lehrhaften Litteratur hat dagegen Geliert sein ganzes Leben 
lang wiederholt und sich hierin mit Locke, Richardson und Basedow zusammen- 
gefunden, die freundliche Behandlung der Dienstboten; Fabeln, Roman und 
Lustspiele 1 ) predigen sie dem Leser. 

Wir mochten noch auf eines hinweisen. Es ist die schwere Aufgabe des 
Erziehers, auf die Individualität des heranwachsenden Knaben Rücksicht zu 
nehmen. Hier war Locke der Meister feiner Seelenkenntnis, der manch über- 
raschend tiefen Blick in das Leben der jugendlichen Seele geworfen hatte. Er 
hatte insbesondere auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kind hingewiesen, 
wie es z. B. zwischen Vater und Sohn immer mehr freundschaftlicher Natur 
werden solle (§ 95 ff.). Ein Nachklang dieser feinen Beobachtung findet sich 
nur ein einzigesmal bei Geliert, in dem pädagogischen Musterbuch, zu dem es 
der Verfasser bestimmt hatte, hat der schwedische Graf in seinem Vater nach 
dessen Willen mehr den Freund als den Vater lieben gelernt (IV 201). 
Gelegentlich fehlt auch bei Geliert nicht der Hinweis auf die individuelle Be- 
handlung der Kinder; er warnt davor, sie einfach so zu erziehen, wie man 
selbst erzogen ist, ohne Fähigkeiten und Neigungen zu erforschen (VH 106), 
aber von einer wirklichen Kenntnis des Kindergemütes und der Jugend findet 
sich kaum eine Spur. Geliert kannte ja wirklich aus eigener Erfahrung nur 
sentimentale junge Mädohen und fromme Studenten. 

Wir wenden uns zum ersten Unterricht der Kinder, etwa bis zum fünften, 
sechsten Lebensjahr. Mit seinen Vorbildern lehrt Geliert, dafs er mehr Ver- 
gnügen als Arbeit sein soll, mehr sinnliches Spielwerk als trockene Unter- 
weisung. Buchstaben lernen Kinder nicht aus Büchern, sondern man klebt sie 
auf Karten, Bilder und ähnliches, auch wird auf die Natur verwiesen, wo viel 
zu sehen ist, woran das Kind denken lernen kann (VH 106 ff). Ganz wie 
Locke es betont, soll auch nach Geliert möglichst grofse Abwechselung in der 
Beschäftigung des Zöglings herrschen und Spielen und Lernen einander mög- 
lichst angenähert werden. Was die Kinder sehen und hören, soll ihnen ge- 
nannt, oft wiederholt und so nach und nach eingeprägt werden; allmählich kann 
man dann zum Lesebuch übergehen, das erst Wörter, dann kleine Sätze, 
schliefslich Erzählungen, Fabeln, Briefe, moralische Regeln enthalte. Diese 
Sätze entnahm Geliert wörtlich Basedow (vgl. das Citat VH 107), nur die 
'Fabeln', die in der Vorlage fehlen, fügte er ein. Denn hier war seiner Theorie 
nach der Platz für die Verwendbarkeit der Fabel im Unterricht. Übrigens 
fand auch Locke Äsops Fabeln vortrefflich geeignet, Kinder zu vergnügen 
und zu unterhalten, und ihnen, aber auch bejahrten Männern, Stoff zu nütz- 



! ) Vgl. Haynel, a. a. O. 8. 64 f. 



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234 W. Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 

liehen Betrachtungen abzugeben (§ 156). *) Auch die Art, wie Frau von 
Beaumont fafsliche Sittensprüche in Fabeln und Erzählungen einkleidete, 
rühmte der Redner (VII 110). Diesen moralischen Regeln sollten sich dann 
'die ersten Wahrheiten der Religion, die sich dem Verstände eines Kindes be- 
greiflich machen lassen' (VII 107) anschliefsen. 

Damit kommen wir auf den Teil des Unterrichts zu sprechen, der für 
Geliert der wichtigste war, den Religionsunterricht. Sein Leben lang hat 
Geliert zwischen Orthodoxie, Pietismus und Rationalismus keine ganz klare 
Stellung gewonnen*); die Wertschätzung der heiligen Schrift verband ihn mit 
der Orthodoxie, das gläubige, lebendige Christentum fand er im Pietismus, 
und seine Freude an der Offenbarung Gottes in Natur- und Menschenleben, 
seine Neigung zu vernünftigem Denken mufsten ihn dem Rationalismus ver- 
binden. In vielen seiner geistlichen Lieder spricht sich eine formliche Ver- 
meidung des Dogmas aus, und ihm war die christliche Religion die beste 
Sittenlehre, daher entsprach diese Religion durchaus der Vernunft. Diese 
praktisch rationalistische Anschauung spricht sich am schärfsten in der 
'Schwedischen Gräfin' aus. Sie sagt von ihrem Vetter: 'Man glaube ja nicht, 
dafs er eine hohe und tiefsinnige Philosophie mit mir durchging. nein, er 
brachte mir die Religion auf eine vernünftige Art bei und überführte mich 
von den grofsen Vorteilen der Tugend . .' (IV 196), und sie meint: 'Ich glaube 
auch gewifs, dafs die Religion, wenn sie uns vernünftig und gründlich bei- 
gebracht wird, unsern Verstand eben so vortrefflich aufklären kann, als sie 
unser Herz verbessert' (IV 197). 'Viele Leute würden mehr Verstand zu den 
ordentlichen Geschäften des Berufs und zu einer guten Lebensart haben, 
wenn er durch den Unterricht der Religion wäre geschärft worden' (IV 197). 
Hier scheint also der Rationalismus zu herrschen, und in den 1766 ge- 
druckten 'Betrachtungen über die Religion' heifst es ähnlich 'Die Absicht 
der Religion besteht darin, dafs sie unsre falschen Begriffe reinigen, die 
Neigungen unsers Herzens bessern . . . und sie und unsre Handlungen den Ge- 
setzen der Vernunft und Tugend unterwerfen . . . soll' (V 85). Etwas anders 
klingt das, was Geliert in den 'Moralischen Vorlesungen' für den Religions- 
unterricht in den ersten Jahren der Kindheit vorbringt, etwa bis zum zehnten 
oder zwölften Jahre (Vll 117). Hier handelt es sich um Bildung des Ver- 
standes und des Herzens beim Unterricht in der Religion, beides läuft neben- 
einander her. Aus den Werken der Natur, aus der Schönheit und Vollendung 
der Welt lerne das Kind Gottes Güte und Heiligkeit empfinden 8 ), vor allem 
aber werde die Religion geweckt durch das Leben des Erlösers, durch Bei- 
spiele aus der biblischen Geschichte und dem Leben frommer Männer, ins- 
besondere des Paulus; denn das Privatleben frommer und weiser Leute erscheint 

') Dazu bemerkte Campe sehr richtig (Revisionswerk S. 469), daft verschiedene Äsopische 
Fabeln weder der Fassungskraft der Kinder noch einer für sie geeigneten Sittenlehre ent- 
sprächen. 

*) Frenzel, a. a. 0. S. 16 ff. 

") Vgl. II 80 das dem Psalm nachgedichtete: 'Die Himmel, rühmen des Ewigen Ehre.' 



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W. Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 235 

ihm für die Jagend lehrreicher als das glanzende Leben der Grofsen 1 ) (VII 115). 
So schlagt er hier die Brücke zur moralischen Auffassung aller Geschichte. 
Geliert protestiert gegen die Methode, durch trockene und langweilige Erklärung 
einer Glaubenslehre oder durch Auswendiglernen des Katechismus Religion zu 
lehren, jene Beispiele aus der Vergangenheit und Gegenwart sollen vielmehr 
zu praktischer Nacheiferung auffordern *), und das Leben Christi Ehrfurcht, 
Liebe und Gehorsam gegen Gott erwecken. An dieser Stelle citiert Geliert als 
Muster für solchen Unterricht die Anweisung, die der 'Nordische Aufseher* 
gegeben hatte (Vll 114). Auch dieser wollte durch Beispiele aus Christi Leben 
Verstand und Herz bilden und nach Erkenntnis begierig machen, anderseits 
den Willen erregen und zum Gehorsam gegen Gott anleiten. Auch Locke und 
Basedow hatten ähnliches angestrebt. Wir haben hier also eine praktische, 
aber auch zum Herzen sprechende Tendenz, abgelehnt wird der Unterricht der 
Orthodoxie. Der Verstand ist freilich keineswegs ganz zurückgetreten, und der 
Rationalist kommt ganz deutlich auf der zweiten Stufe der Erziehung zu Worte. 
Hier soll der formliche Unterricht beginnen und die Religion 'der Jugend 
zwar gründlich, aber darum nicht unverstandlich, zwar in einer guten Ordnung, 
aber darum nicht in einem trocknen und tiefsinnigen Lehrgebäude' vorgetragen 
werden (VH 119). Richtige und würdige Begriffe von den Glaubenslehren 
mufs man sich machen, dann wird man die Religion als göttliche Weisheit 
verehren und lieben und in ihr den einzigen Weg zur wahren Glückseligkeit 
erkennen (Vll 120). Aus dieser Kenntnis geht dann als schönste Frucht die 
Liebe zu Gott hervor 'die Wissenschaft der Seligkeit hat das mit allen mensch- 
lichen Künsten und Wissenschaften gemein, dafs sie zuerst mit dem Verstände 
gefafst werden mufs, ehe sie durch die Anwendung unser wahres Eigentum 
wird' (V 86). Geliert citiert Young: 'Einen Gott erkennen, ist der Freude 
Anfang; einen Gott anbeten, ist der Freude Wachstum; einen Gott lieben, ist 
der Freude völlige Reife', und fügt hinzu: 'Ihn aber erkennen, und Empfindungen 
der Seele gegen ihn haben, die dieser Erkenntnifs gemäfs sind, und das thun, 
was diese Empfindungen uns empfehlen, dieses ist die Anbetung Gottes, das 
Wesen und das Glück der Religion' (VI 85). Vgl. VI 11; VH 9; VIH 352 u. ö. 
Dieses scheint uns der Kern der Anschauung Gellerts von Religion zu sein, 
erst die Erkenntnis, dann eine Liebe und zwar eine werkthätige Liebe. Ganz 
klar wird freilich seine Stellung nie, und es ist bezeichnend, dafs er für den 
religiösen Bildungsgang Mosheims Sittenlehre rühmt (IX 147), der ebensowenig 
wie er selbst einen ganz festen theologischen Standpunkt besafs. 8 ) 

*) 'Lehrreicher', ja, aber man darf mit Schuller a. a. 0. S. 17 fragen, auch anziehender? 

*) Vorbildlich wirkt auch der Tod wahrer Christen; er zeigt Ergebenheit, ja Freude, 
die köstliche Frucht frommen Lebenswandels. So wird der Tod frommer Männer gern be- 
schrieben, in der Schwedischen Gräfin IV 74 ff. 340 f., so verwendet Cramer Gellerts eigenen 
Tod X 269—266(1). Abschreckend wirkt dagegen der Tod des Sünders und Freigeists 
IV 246 ff. Haynel, S. 62. 

■) Vgl. Allgemeine deutsche Biographie XXII 397. 

(Schlufs folgt) 



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ANZEIGEN UND MITTEILUNGEN 



ÄSTICAMPIANS LEIPZIGER ABSCHIEDS- 
REDE 

Eines Tages im Sommersemester 1511 
herrschte in den Höfen und Gängen und 
Räumen der Leipziger Universität grofse 
Aufregung. Am schwarzen Brett war ein 
Zettel angeschlagen, auf dem in lateinischer 
Sprache geschrieben stand: * Johannes Ästi- 
campianus, im Begriff, von hier fortzuziehen, 
wird nach seiner Sitte allen, die zu dieser 
Universität gehören, Vorgesetzten und Unter- 
gebenen, ein letztes Lebewohl sagen. Mögen 
alle sich einfinden, die nicht sowohl den 
Menschen — er ist ein Poet! — als die 
Wahrheit — sie ist göttlichen Wesens! — 
lieben und verehren. Heute Nachmittag 
2 Uhr im Auditorium mazimum.' 

Der Mann, der dies geschrieben, hiefs 
eigentlich Johannes Rack, hatte aber seinen 
Familiennamen in RagiuB latinisiert und 
nannte sich dazu nach seinem Geburtsorte 
Sommerfeld in der Neumark Ästicampianus. *) 
Er gehört zu den vagabundierenden Huma- 
nisten seiner Zeit, ein Geistesverwandter des 
grofsen Ulrich von Hütten. Er war ungemein 
fleifsig und strebsam und gründlich gelehrt, 
doch alles andere als ein Stubenhocker; ein 
gut Teil der Welt hatte er mit offenen 
Sinnen und reichem Gewinn für sein Innen- 
leben durchwandert. Er war begeistert für 



') Von dem sehr dürftigen Artikel der 
Allgemeinen deutschen Biographie (I 133) 
ist zurückzuverweisen auf Böcking, Hutteni 
operum supplementum H 293 ff, der wieder 
auf Jo. Alb. Fabricius, Bibliotheca Latina 
mediae et infimae aetatis VI 198 ff zurück- 
geht. Vgl. ferner Enders, Luthers Brief- 
wechsel I 126 Anm. 5. H 61 Anm. 2. Seide- 
mann, Die Leipziger Disputation S. 16. 
Straufs, Ulrich von Hütten, Register s. v. 
Krause, Helius Eobanus Hessus I 111 ff 
Vor allem G. Bauch, Archiv für Literatur- 
geschichte XH 321 ff Xm 1 ff, Zeitschrift für 
Sirchengeschichte XVHI 396 f., Geschichte 
des Leipziger Frühhumanismus (Beihefte zum 
Centralblatt für Bibliothekswesen XXH) 
S. 172 ff. 



die neu entdeckte Antike, doch bewahrte er 
sich sein gut deutsches Herz — wie werden 
die Jünglinge gelauscht haben, wenn er 
ihnen des Tacitus Germania interpretierte! 
Ein stolzer Freimut, der in herausfordernde 
Keckheit umschlagen konnte, gab seinen 
Reden etwas Hinreifsendes, — aber nie ver- 
fiel er in ordinäres Witzeln und Schimpfen. 
Im Wintersemester 1507/B wurde er in Leipzig 
immatrikuliert: dns. Iohannes Esticampianus, 
professor rhetorice artis et poeta laureatus. 
Aus der im folgenden mitgeteilten Rede er- 
hellt, mit welchem Eifer er sich Beinern Be- 
rufe und seinen Studien widmete. Doch 
wurde ihm seine Wirksamkeit sehr bald ver- 
leidet durch die kleinlich-gehässigen In- 
triguen, mit denen ihn die alten, zähe an der 
mittelalterlichen sterilen Scholastik hangen- 
den Professoren verfolgten; sie sahen in ihm 
einen frechen Eindringling und Revolutionär. 
Sie schlössen ihm die Hörsäle zu, beauf- 
tragten andere mit Abhaltung der Vor- 
lesungen, die auf ihn fielen, hetzten die 
Studenten gegen ihn auf, verdächtigten ihn 
beim Herzog Georg, bis dieser ihm seine 
Huld entzog, kurz, quälten ihn auf alle 
Weise, bis er sich entschlofs, freiwillig zu 
weichen. Vorher aber wollte er mit seinen 
Feinden und Neidern noch Abrechnung 
halten und ihnen in seiner Abschiedsrede 
nach Herzenslust die Wahrheit sagen. Diese 
ist uns glücklicherweise erhalten. 1 ) Sie ist 



s ) Fehlerhaft gedruckt aus einer E. S. 
Cyprian gehörenden Handschrift in einer 
schwer zugänglichen Gelegenheitsschrift: De 
Ioanne Rhagio Aesticampiano . . . praeside 
M. Daniele Fidlero ... ad diem XXTTT 
Maji MDCCm publice disputabitur H. L. Q. C. 
In Abschrift Stephan Roths findet sie sich im 
Cod. XXIV. VH. 3 fol. 50 a — 62 » der Zwickauer 
Ratsbibliothek. Dieser Text ist im folgenden 
zu Grunde gelegt. — Varianten: S. 1 Z. 2 
nach orationem: quandam (am Rande: ali- 
quam); Z. 7 statt veri: viri; Z. 10 statt etiam: 
mihi; Z. 11 st. praesens: enim; Z. 26 st. nobis: 
mihi; Z. 27 st. labor pene: laborque (a. R. 
dazu: pene); vos — ; S. 2 Z. 1 st. tum; cum; 



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Anzeigen und Mitteilungen 



237 



ein wahres Muster humanistischer Bered- 
samkeit: schön und stolz und kraftvoll ist 
die Sprache, besonders köstlich aber die 
Ironie, mit der er im dritten Teile — übri- 
gens durchgehends in anständigem, mafs- 
vollem Tone — gegen seine Widersacher 
loszieht. Feige und erbärmlich, wie ihre 
ganze Eampfesweise, war ihre Antwort: sie 
relegierten ihn auf zehn Jahre. Was kümmerte 
ihn das? Als Sieger, als Triumphator zog er 
von dannen. Seine Bede aber kursierte mit 



Z. 6 st. animi: anime; Z. 7 st. pestem: pestes; 
Z. 8 st. laboriose: laboriosas; Z. 10 st. ut 
(moribus): et (moribus); Z. 12 st. cum: tum; 
Z. 15 st. victui: victum; Z. 17 st. famaegratia: 
vanae gloriae; Z. 21 semper — ; sint — ; Z. 22 
st nobis: mihi; Z. 36 u. S. 3 Z. 1 heifst hier: 
qui sunt de homine, de celo, de animalibus 
domesticis ac feris, de auibus, de insectis 
et peregrinis, patrijs arboribus; Z. 2 st. 
ommaque; omnia; st. strenue: secure; Z. 4 
st. commentariola: commentaria; Z. 5 st. 
commodo: commodato; Z. 6 eam corrigiert 
in iam; Z. 16 st. laboris: laborum; Z. 16 st. 
et privatim: ad primam; Z. 17 st pertexerim: 
perrexerim (a. R.: prouexerim); Z. 19 st. ani- 
marum: animorum; Z. 20 st. eandem: eam 
(a. R. : cum); st. propalamque: palamque; 
Z. 23 st. nihil: nihilque; Z. 26 st. antiquiorum: 
antiquorum; Z. 26 st. picti: depicü; vor 
dicta: siue lepida; Z. 27 st. rei: res; Z. 29 
st. vel: ne; Z. 30 non — ; Z. 31 nach Horatii: 
venusini; S. 4 Z. 3 vor mecum: domi; Z. 8 
st. triumphos: triumphosque ; Z. 14 vor ei: 
hoc; Z. 16 sit — ; Z. 18 mihi — ; Z. 23 st. 
cum: tum; Z. 26 st. alibi: aliubi; vor nihil: 
et; Z. 27 st. iam: ergo; st. bono: loco; S. 6 
Z. 7 st. quo: quod; Z. 12 st. his: iis; Z. 14 
st. persequuti: prosecuti; Z. 16 nach prae- 
cluserunt: vel alios lectores subornarunt; 
Z. 21 heifst hier: illos numerare non est 
necesse; Z. 24 aiunt auditores se velle; Z. 27 
Sunt Theologi, Theologi certe, Theologi 
sunt, et docti et probi viri, qui . . .; Z. 33 
st. etiam: iam; Z. 34 st. tarnen: tu; Z. 35 
st. vobis: nobis; S. 6 Z. 3 vel — ; Z. 9 loco — ; 
Z. 11 st. civitas: grauitas; Z. 13 st. tutari: 
curare; Z. 16 autem — ; Z. 19 saepius — ; 
Z. 22 st. Sed: sese (a. R.: seque); Z. 24 st. 
possent: posaun t; Z. 27 st. quia: secundum 
quod; Z. 34 st. recte: recta; st. insulsis: 
multis; S. 7 Z. 1 st. non: nunc; Z. 3 st. vos: 
vobis; Z. 4 st. repellitis illud: repellimur 
(a. R. dazu: alio); Z. 6 st. eloquentum: id 
est eloquentdam; Z. 8 st. Nam: Atque; der 
Schlafs (Z. 13 ff.) heifst hier: Inculti ergo 
ieiunique uiuatis, fede atque in^lorii: quid 
(lies quod) inuitus ominor: moriemini. Sed . . . ; 
Z. 19 st. languidissimae: languissime (?); 
Z. 21 nach amen: Valete feliciter Et pro 
viatore Esticampiano deum pie ac assidue 
orate. Darunter: Invitatio eiusdem. S. Pidler 
S. XV n. ****. Hier noch am Ende: hodie 
hora 2 in maximo auditorio. 



der Überschrift: r O Wahrheit, wie bist du 
den Sterblichen verhafst!' unter der Leipziger 
Studentenschaft und drang gewifs auch in 
weitere Kreise. Es verlohnt sich, sie aus 
dem Staube der Vergessenheit hervorzuholen. 

'Erwartet nicht von mir, deutsche Männer, 
eine wohlgesetzte, kurzweilige und eure 
Ohren, wie es vordem oft der Fall war, 
sanft und angenehm kitzelnde Rede! Die 
Tag für Tag sich wiederholende Quälerei, 
durch die ich hier beinahe aufgerieben bin, 
hat mir all meine gute Laune zerstört. 
Hört euch vielmehr eine kunstlose und 
tapfere und wahre Rede aufmerksam an, 
die euch, die ihr Freunde der Wahrheit 
seid, sicher mehr interessieren wird, zumal 
da ihr das, was ich sagen will, selbst mit 
angesehen und mit angehört habt — darum 
kann ich mich auch kurz fassen — die mir 
zur Verfügung stehende Zeit gestattet so 
wie so keine wortreichen Herzensergiefsungen. 
Ich will euch also, wenn ihr mich gütigst 
anhören wollt, kurz das erklären, was einigen, 
die weder meine wissenschaftlichen Grund- 
sätze, noch meine guten Absichten der Uni- 
versität gegenüber kennen, als unklar oder 
geradezu sinn- und zwecklos erschienen ist. 
Zuerst werde ich reden von der Mühe, die 
ich während fast dreier Jahre auf die Unter- 
weisung sehr vieler von euch verwendet habe. 
Darauf will ich über die Schriftsteller, über 
die ich in dieser Zeit teils privatim, teils 
publice Vorlesungen gehalten habe, Heerschau 
halten, zuletzt aber denen, die mich verfolgt 
und meine ehrlichen wissenschaftlichen Be- 
strebungen mit List und Gewalt gehindert 
haben, danken — zunächst mit Worten, 
wenn sich Gelegenheit bietet, auch — und 
zwar gehörig — mit der That, wogegen ich 
denjenigen, die mit Interesse und Gewinn 
mich gehört und mit Achtung und Liebe 
mir begegnet sind, blofs Dank sagen kann, 
— den Dank mit der That abzustatten, ist 
mir jetzo nicht mehr vergönnt; denn ich 
mufs von hinnen ziehen, da ihr es so wollt, 
und zwar sogleich. 

Es ist, deutsche Männer und Jünglinge, 
immer mein höchstes Bestreben und unaus- 
gesetztes Bemühen gewesen, euch alle, die 
ihr, um zu lernen, euch an mich wandtet, 
gewissenhaft und recht zu unterrichten und 
seiner Zeit als wissenschaftlich und 
zugleich moralisch reife Männer zu ent- 
lassen, damit ihr euch zur Ehre, euren 
Vätern zum Gewinn, der christlichen Reli- 
gion zur Zierde leben und wirken könntet. 
Um dies gut und richtig leisten zu können, 
habe ich Länder und Meere durchreist, 
Tage und Nächte durchwacht, mein Ver- 



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238 



Anzeigen und Mitteilungen 



mögen verbraucht, Gesellschaften gemieden, 
Freundschaften mir vom Leibe gehalten, 
Gefahren des Leibes und der Seele be- 
standen, Vergnügungen, denen andere fast 
die ganze Jugend weihen, als mühselige 
Pest für die Seele mir versagt und ihnen 
für immer den Krieg erklärt, nicht zwar aus 
einer natürlichen Antipathie (denn jeden 
reifst seine Begierde fort 1 )), sondern nur, 
um dem Vaterlande zu nützen und zur Aus- 
bildung eurer Talente und Charaktere mein 
Scherf lein beizutragen. Eine Zeit lang habe 
ich täglich vier Stunden Kolleg gelesen, 
während ich zugleich andere teils zum 
Repetieren und Einprägen, teils zur Prä- 
paration und zum Verseschmieden verwandte, 
so dafs kaum etwas Zeit zum Essen, Trinken, 
Schlafen und zu Freundesbesuchen übrig 
blieb. Ihr wifst es alle, dafs ich das gethan 
habe, nicht, um irgendwie Geld oder eitle 
Ehre einzuheimsen (beides ist in sehr be- 
scheidenem Mafse mir eigen), sondern aus 
Eifer, um euch und um mich um das Vater- 
land verdient zu machen. Wie viel Jüng- 
linge aber und auch ältere Männer ich 
durch meine fleifsige Arbeit wissenschaft- 
lich und sittlich gefördert habe, müfst 
auch ihr wissen, da ihr sie gesehen und 
gehört habt. 

Was nun die traktierten Autoren be- 
trifft — das war ja der zweite Teil meiner 
Bede — so habe ich euch — und zwar in 
beispiellos kurzer Zeit — diejenigen erklärt, 
die eben jene doppelte Förderung euch 
bringen konnten : die weisesten und moralisch- 
sten, die Hellas und Born je gehabt hat. 
Um nun alle meine Kollegien aufzuzählen, so 
habe ich erstlich jenen grofsen Brief des 
älteren Plinius an Titus Vespasian, mit 
dem er seine Historia naturalis einleitet, 
publice und gratis gelesen. *) Wer den recht 
verstanden hat, dem ist der Weg gebahnt 
zum Eindringen in die tiefsten Geheimnisse 
der Schöpfung. Nicht zufrieden damit, habe 
ich aber auch das Werk selbst in Angriff 
genommen und alles darin mit Lust und 
Liebe erklärt und bewiesen, und zwar so 
gründlich, dafs nicht nur die, welche mein 
Kolleg gehört, sondern auch andere, die sich 
von diesen meine Erklärungen und Text- 
verbesserungen geborgt und abgeschrieben 
haben, das Werk verstehen und ihren Schülern 
ohne Anstofs vortragen können. Dank meiner 
gewissenhaften Arbeit haben sie es so herr- 
lich weit gebracht, dafs sie aus diesem 

*) Verg. Eclog. II 65. 
») Bauch, Archiv XIII S. 12 Anm. 4. 
Leipziger Frühhumanismus S. 176. 



Schriftsteller, den ganz Deutschland vor mir 
kaum vom Hörensagen gekannt, geschweige 
gelesen hatte, reichsten und glänzendsten 
Gewinn zogen. Trotzdem haben sie mir mit 
schwärzestem Undank gelohnt. Doch mögen 
sie selbst zusehen! Vorher habe ich von 
des Titus Livius Ab urbe condita historia 
drei Dekaden bis zu Ende durchgenommen, 
dann die erste repetiert und endlich das 
Ganze überflogen. Was soll ich die Komödien 
des Plautus aufzählen? Es giebt nichts 
Liebenswürdigeres, nichts Geistreicheres und 
zugleich Beredteres. In ihnen wird uns ein 
farbengesättigtes Bild gegeben von der bald 
kärglichen, bald üppigen Lebenshaltung der 
Alten und von ihren reinen, unverdorbenen 
Sitten; bald zierliche, bald bescheidene, bald 
leichtfertige Beden klingen an unser Ohr; 
was dem privaten und öffentlichen Leben 
frommt und was nicht, ist vollauf gezeigt. 
Und dabei trägt die ganze Sprache ein so 
echt lateinisches Kolorit, — selbst die Musen, 
wenn sie Lateinisch reden wollten, könnten 
sich' nicht passender und feiner ausdrücken. 
Ich schweige von den Gedichten des Venu- 
siners Horaz, die sich ganz vorzüglich zur 
Einführung der Studierenden in die klassische 
Lyrik, aber auch in die christliche Hymnik 
eignen. Ich übergehe die Äneide Vergils, 
in der das thätige und beschauliche Leben 
— die Entdeckung ist von mir — allegorisch 
dargestellt ist. Ich erwähne auch nicht die 
Rhetorik des Martianus Capella, — ich habe 
den unglückseligen Einfall gehabt, sie 
drucken zu lassen, und hab sie noch zu 
Hause. 1 ) Ich übergehe auch die Briefe 
Ciceros, seine drei Bücher De officiis, De 
oratore und drei seiner Beden. Beinahe 
aber hätte ich den Tacitus vergessen. Er 
hat euch eurer Vorfahren Ursprung, Lebens- 
weise, Waffen, Sitten, Gesetze, Feierlich- 
keiten, Siege und Triumphe offenbart, hat 
euch in euer Vaterland, dem ihr entfremdet 
wäret, als wenn ihr daraus verbannt wäret, 
zurückgeführt.*) Die Briefe des Hiero- 

*) Vgl. Bauch, Archiv X 428. XIH 14 
Anm. 1. Drucke von Frankfurt a. 0. Central - 
blatt für Bibliothekswesen XV S. 251 Nr. 12. 
Leipziger Frühhumanismus S. 176. Auf dem 
TitelblattdesZwickauerExemplars(IV.IX40 t ) 
steht folgende Bemerkung von Stephan Roths 
Hand: donum M. Georgij heltis a Forchhaim 
(vgl. G. Kawerau, Der Briefwechsel des 
Justus Jonas I 186) praeceptoris mei Chariss. 
anno M. D. XX. 

■) Vgl. Bauch, Archiv XHI 13 Anm. 2. 
Leipziger Frühhumanismus S. 176. Ferner 
diese Jahrbücher 1899 S. 117 f. und Mit- 
teilungen des Altertumsvereins für Zwickau 
VI S. 30. 



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Aliseigen und Mitteilungen 



239 



nymus ') übergehe ich absichtlich, denn 
dieser Schriftsteller ist zu grofs und er- 
haben, als dafs er mit den andern von mir 
aufgezählten auf eine Linie gerückt werden 
könnte. Denn er legt jedem Menschen nach 
seinem Stande die menschlichen und gött- 
lichen Tugenden mit freundlicher Bestimmt- 
heit ans Herz und prägt sie ihm mit der 
hinreifsenden Wucht und überströmenden 
Fülle seiner Bede ein, so dafs es geradezu 
ein Frevel wäre, für den Christen zumal, 
seinen Ermahnungen und Belehrungen nicht 
Folge zu leisten und sein Leben nicht so 
einzurichten, dafs es Gott wohlgefällig und 
den Menschen nützlich sei. Aufserdem hatte 
ich die leuchtenden Nächte des Aulus 
GelliuB, das fleifsige Werk Priscians und 
die vier Bücher Augustins De doctrina 
Christiana in Arbeit, — letztere gedachte 
ich dieses Jahr, so Gott es gewollt, der 
Herzog den Gehalt gespendet und die Uni- 
versität mir einen Hörsal überlassen hätte, 
zu Nutz und Frommen der Studenten vor- 
zutragen, aber die Menschen und wohl auch 
Gott haben es anders gewollt 

Nun komme ich zum Danksagen, dem 
dritten Teil meiner Bede, — dem schwierig- 
sten zugleich wegen der verschiedenen Per- 
sonen, die jetzt mich hören, als auch wegen 
ihrer verschiedenen Gesinnungen. Wie 
ich in dieser mifslichen Lage mich be- 
nehmen soll, weifs ich nicht Denn wenn 
ich überhaupt nicht danke, beleidige ich 
Gott, den Schöpfer aller Dinge, und die 
Menschen, die sich um mich wohl verdient 
gemacht haben. Wenn ich aber danke, be- 
stärke ich diejenigen, welche mich schlecht 
behandelt haben, und die Undankbaren in 
ihrer Verstocktheit und Perfidie, — denn 
niemand legt Fehler ab, die von jemandem 
mit vollem Munde gelobt werden. Nun, ich 
werde so lavieren, dafs niemand, aufser er 
ist ein Wahrheitsfeind, von hier unbedankt 
nach Hause geht. Ich hege und sage Dank 
dem ewigen Gott, der mich so lange hat 
heil und gesund hier wirken lassen, dem 
Herzog Georg, der mir seine Güte bewiesen 
hat, — o dafs er sie doch, wie es scheinen 
wollte, gekrönt hätte! — dann hätte Ästi- 
campian nicht vergebens hier so viel Geld 
verbraucht und euch mit eitler Hoffnung 



x ) Vgl. Bauch, Archiv XHI 7 Anm. 3. 
Leipziger Frühhumanismus S. 174. G. Ea- 
werau, Hieronymus Emser, Halle 1898, S. 24 
u. Anm. 56. — Seit der berühmten Hieronymus- 
ausgabe des Erasmus (Panzer, Annales typo- 
graphici VI S. 194 Nr. 143) stand dieser Kirchen- 
vater bei den Humanisten in hohen Ehren. 



genasfährt! — den Bürgern, die mich be- 
herbergt und beköstigt haben. Insbesondere 
aber danke ich — denn man soll ja beten 
für die, die uns verfolgen und schmähen, 
um so mehr also ihnen danken — danke 
ich denen, die mich mit Hafs und Neid ver- 
folgt, die mir mein Amt mifsgönnt, mich 
nie eingeladen, nie angeredet, die mir die 
Hörsäle verschlossen oder ihre Schüler ab- 
gehalten haben, bei mir zu hören, oder 
andere mit der betr. Vorlesung beauftragt 
haben. Das habe ich nicht verschuldet, 
denn niemanden habe ich gereizt, niemandem 
geschadet, sondern ihre ureigene Natur und 
längst eingerissene und eingerostete ver- 
kehrte Gewohnheit und ihr böser Wille hat 
sie dazu getrieben. Wer sie sind? — ich 
brauche sie nicht aufzuzählen. Sie wissen 
es, und die meisten von euch kennen sie. 
Aber wer murmelt da unter euch, er kenne 
sie nicht, die die Poeten nicht leiden könnten ? 
Du da? Dich meine ich, der du da sitzt! 
Du willst sie nicht kennen? — Die Zuhörer 
sagen: Ja. — Nun, es sind die vier Fakul- 
täten. Namen! sagst du? Nenne sie auf 
der Stelle! — ? — Es sind die Theologen, 
die der Poeten Gedichte ebenso hassen wie 
die Sünden der Pharisäer, — gelehrte Herren 
und Biedermänner — wer wollte das leugnen? 
Aber sage mir doch, warum sie Zöllner und 
Sünder zu ihren Schmausen rufen, die Poeten 
aber zu ihren steif-feierlichen Frühstücken nie- 
mals einladen? Fürchten sie, diese möchten 
einen zu guten Appetit entwickeln? Ach, 
was sollten sie essen? Poeten leben von 
Hülsenfrüchten und aufgebackenem Brot. — 
Aber wir wollen sie, wenn du willst, un- 
geschoren lassen, damit sie nicht gereizt 
uns zürnen und uns schlecht behandeln, denn 
sie haben die Gewalt, freizulassen und ans 
Kreuz zu schlagen, wen sie wollen. — Ferner 
die Juristen. Sie wissen, wie man recht 
handeln soll, handeln selbst aber selten so, 
einen oder den andern ausgenommen; den 
Poeten, der ihre Schüler nicht Ammen- 
märchen, wie sie sie auf klägliche Weise 
vortragen, lehrt, sondern sie zum Verständnis 
der Gesetze anleitet, lassen sie nicht in ihr 
Auditorium, sondern chicanieren ihn, — 
denn auch sie können freisprechen und ver- 
dammen. — Es folgen die Mediziner. Sie 
haben den Poeten freilich eingeladen, aber 
nicht aus Freundlichkeit, sondern aus blofser 
Prahlsucht, um ihm ihre 'Überlegenheit' 
zu beweisen. Als ob unsere hochheilige 
Poesie der schmierigen und giftmischerischen 
Medizin die Schleppe nachzutragen hätte! 
Die gestrengen Römer haben die Poesie 
immer, jene Kunst der Griechlein nie aus- 



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Anzeigen und Mitteilungen 



geübt! — Aber auch sie lasse ich, die den 
Poeten mit ihren Trankchen gesund machen 
oder auch zum Orcus hinunterschicken 
können. — Bleiben die Philosophen übrig. 
Sie haben mich teils wohlwollend angehört, 
teils mit wohlfeiler Ignorierung bedacht, — 
diese letzteren sind freilich in erdrückender 
Majorität. Doch dank ich ihnen allen, teils, 
weil sie mich doch einmal wenigstens zu 
einem Frühstück eingeladen, teils weil sie 
durch ihren Neid und ihre Verkleinerungs- 
sucht mich zu untadeligem Lebenswandel 
und mannhafter Bede getrieben haben. — 
Nachdem ich aber denen gedankt, die es 
nach ihrem Thun nicht verdient haben, will 
ich nunmehr denen Dank sagen, die es ver- 
dient haben nach ihrer Gesinnung und ihrem 
Thun, — ich meine die Männer und Studenten, 
die mich von Herzen lieben und mit ihrem 
Hab und Gut nötigenfalls unterstützen würden. 
Sie sollen des eingedenk bleiben, dafs sie es 
meiner Sorge und Arbeit zu danken haben, 
wenn sie soweit ausgebildet sind, dafs sie 
nun auch andere hier und anderswo unter- 
richten können. Sie sollen überzeugt sein, 
dafs ich, wohin ich nur immer ziehe und 
wo ich bleibe, ihnen mit Bat und That, 
Bchliefslich auch mit Geldmitteln zur Seite 
stehen werde. Denn ich mufs von hier 
weichen, wie die Schrift sagt: Wenn sie 
euch verfolgen in dieser Stadt, flieht in eine 
andere ! l ) Und zwar werde ich gezwungen, 
von hier fortzuziehen, nicht etwa wegen an- 
geborener geistiger Impotenz oder schand- 
barer Gesinnung (solche Anklagen bringen 
die Heuchler ja sonst gegen die Poeten 
vor) — in beiden Beziehungen habe ich 
reichlich Gegenbeweise gegeben — sondern 
unr wegen der Mifsgunst und Bosheit einiger, 
die euch, edle Kommilitonen, terrorisieren, 
gierig ausplündern und von dem Wege zur 
wahren Bedekunst und von der Norm ge- 

*) Matth. 10, 28. 



ziemenden Lebenswandels durch ihre blöden 
Gespräche und üppigen Schmausereien ab- 
zuziehen suchen. Auf sie könnte man, wenn 
sie nicht hier wären, das Schriftwort 1 ) mit 
geringen Änderungen anwenden: Euch mufste 
zuerst das Wort des Lateins gepredigt werden, 
aber weil ihr es zurückweist und euch der 
römischen Beredsamkeit unwert erzeigt, siehe, 
so wende ich mich zu den benachbarten und 
barbarischen Völkern. 

Wen von den Poeten, die, um euch eine 
feinere Bildung zu bringen, gleichsam vom 
Himmel zu euch herabgeschickt worden sind, 
haben euere Väter nicht vertrieben, habt ihr 
nicht verspottet? Um aus vielen wenige 
herauszugreifen: Conrad Celtes habt ihr fast 
wie einen Feind verjagt 1 ), Hermann von dem 
Busche lange hin- und hergequält und dann 
vertrieben 8 ), auch Johannes Ästicampian habt 
ihr mit Intriguen aller Art befehdet und 
werft ihn nun endlich hinaus. Welcher Poet 
wird schliefslich noch zu euoh kommen?! 
Keiner, beim Hercules, keiner, zu dessen 
Ohren je die Kunde von euerer — Tugend- 
haftigkeit dringt! In Unkultur und geistiger 
Hungersnot werdet ihr leben, schmachvoll 
und ruhmlos — ungern sage ichs voraus — 
werdet ihr sterben. Indes — das wollte ich 
eigentlich nicht sagen; der gerechte Schmerz 
und der glühende Eifer für die Wahrheit 
hat mir diese Worte entrungen. Habt drum 
Nachsicht, deutsche Männer, mit meinem 
gerechten Schmerz und gebt der Wahrheit 
nur ein klein wenig Baum, damit Gott der 
Allmächtige euch euere Sünden verzeihe! 
Amen! Lebt wohl und legt allzeit fromme 
Fürbitte ein bei Gott für Ästicampian, der 
wieder zum Wanderstab greift! 9 



*) Act. 13, 46. 

*) Bauch, Leipziger Frühhumanismus 
S. 20. 

") Ebd. S. 169. 

Otto Clbmbm. 



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JAHRGANG 1899. ZWEITE ABTEILUNG. FÜNFTES HEFT 



GELLERTS PÄDAGOGISCHE WIRKSAMKEIT 

Von WOLDEMAR HAYNEL 

(Schluß) 

Aus der Unklarheit seiner theologischen Stellung ging als segensreiche 
Frucht Gellerts versöhnliche Duldsamkeit hervor. An der Hochschule des alt- 
lutherischen Landes freute er sich der Übereinstimmung mit Lehrern der 
reformierten Kirche wie Saurin und Sack, seiner Betschwester ist dagegen 
ein calvinischer Priester ein Abscheu (HI 165); der Roman vereint Prote- 
stanten, Katholiken und Juden in Freundschaft, ja Verwandtschaft. Nur den 
Deismus halste er, so- gut er es verstand zu hassen, die Freigeisterei war 
ihm die gröfste Sünde, und er besafs keine Spur von Verständnis für jene 
Richtung, ebensowenig wie die Moralischen Wochenschriften und sein gesamter 
Freundeskreis. In Erzählungen, Lehrgedichten, Lustspielen und Vorlesungen 
eiferte er gegen die Freigeisterei. 

Geschichte und Geographie sind ihm eigentlich nur Anhängsel der Religion, 
der Unterricht in jenen Fächern nur eine Unterstützung des Religionsunter- 
richts. Bossuets Einleitung in die Geschichte der Welt und Religion ist mit 
der Fortsetzung von Cramer das Werk, das zu rühmen und zu empfehlen er 
nicht müde wird (VH 118 u. ö.). Die Geschichte ist ihm ^moralisch be- 
trachtet* — und er betrachtet immer moralisch — *ein Commentarius über 
den Menschen, über seine Weisheit und Thorheit, über seine Tugenden und 
Laster, über sein Glück und Unglück/ Die grofsen Männer der Historie 
interessieren ihn nur, weil sie zeigen, wie wenig sie ausgerichtet haben, wenn 
sie nicht religiös und fromm gesinnt waren; ihn lehrt die Geschichte Liebe zur 
Tugend und Abscheu vor dem Bösen und bietet der Nachwelt *die nützlichsten 
Regeln des Verhaltens im bürgerlichen Leben* (VH 16). In diesem Sinne soll 
sich auch der historische Unterricht bewegen; kein Wunder, dafs ihm, dem 
der Sinn für historische Gröfse so gut wie Patriotismus abgeht, Lebens- 
beschreibungen grofser Männer lieber sind, wenn sie sie im Privatleben, in der 
Familie, als wenn sie sie im Glänze der Macht ihrer glänzenden Throne und 
der ersiegten Lorbeerkränze zeigen (VI 153). Man mag zugeben, dafs es um 
die Zeit Gellerts wenig historisches Verständnis gab, das nicht ins Moralische 
hinüberspielte, dafs das Sachsen seiner Tage wenig Vaterlandsliebe wecken 
konnte, ihn! fehlte doch auch das Verständnis für alle menschliche Gröfse, 

Nene Jahrbacher. 1899. H 16 



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242 W. Haynel: Gellerts pädagogische Wirksamkeit 

wenn er *einen rechtschaffenen Antonin, der doch noch lange kein Christ war* 
über einen *freigeisterischen König' mit seinem Unglauben — gemeint ist 
natürlich Friedrich der Grofse — stellt (VI 62). 

Wie hier auf dem Felde der Geschichte alles durch die Brille übelen 
Moralisierens betrachtet wird, so ist's nicht besser mit der Geographie bestellt. 
Ordnung und Schönheit der Natur schärfen den Verstand, platt nach Nutzen 
und Zweck zählt der Redner ähnlich wie Brockes Vorzüge von Weltmeeren 
und Seen 1 ), Pflanzen und Tieren (Geographie und Naturkunde werden zu 
einem Gebiet vereinigt) auf (VII 24 ff.). Die blofse Kenntnis der Naturlehre 
reicht nicht aus, c dadurch wird der Knabe nicht gebessert*. So wird die Voll- 
kommenheitstheorie, lediglich um Eindrücke der Religion hervorzurufen, be- 
nutzt, und der Moralprofessor klagt, dafs die wenigsten Lehrmeister dieses vor- 
treffliche Mittel zur Beförderung der Tugend benutzen (VII 118). 

Die religiöse Grundstimmung Gellerts beeinflufste auch sein Verhältnis 
zum klassischen Altertum. Freilich hat er antike Autoren viel gelesen, ins- 
besondere schätzte er Cicero, daneben auch Plato, Xenophon, Theophrast, Cebes, 
Epictet, Antonin, Seneca. Sie sind ihm einmal Ehrwürdige Überreste der ge- 
sunden Vernunft', anderseits aber c Beweise von der Schwäche der Vernunft, 
wenn sie von keiner Offenbarung unterstützet wird* (VI 175). Und darin eben 
liegt das Entscheidende für Geliert; die stoische Sittenlehre ist zwar prächtig, 
aber sie *bläht das kranke Herz auf und schmeichelt ihm* (VI 176) 2 ), und 
stolz darauf, wie herrlich weit wir's gebracht haben, sagt er c gleichwohl weifs in 
unsern Tagen das geringste Dorf mehr von dem Einigen Gott und den Pflichten 
des Menschen, .... als Athen und Rom wuTsten* (VI 23). Er erkennt haupt- 
sächlich formale Gründe für das Studium der Alten an, es ist *zum Geschmack 
notwendig* (X 179), die Alten sind ^unsere Lehrmeister in der Kunst zu denken 
und sich auszudrücken' (VI 53) er rühmt sie wegen *ihrer meisterhaften 
Geschicklichkeit schön zu denken und zu schreiben' (X 179), aber sie ^erniedrigen 
die Moral der Religion' (X 180). So ist ihm Ovid schön, aber unreif, und er 
hat ihn nie ganz gelesen (X 179)> und der Moralprofessor ruft entsetzt: *Hörte 
(Rom) auf, fremden Königen mit einem schnöden Stolze zu begegnen? .... 
besiegte Heerführer, ja zuweilen sogar Könige zu ermorden; und an grausamen 
Schauspielen, wo Menschenblut zur Lust vergossen war, sich zu ergötzen?' 
(VI 55). Er unterläfst es leider, sich auch in der Geschichte christlicher 
Völker nach derartigen Schandthaten und Unsitten zu erkundigen. 1767 erhielt 
Geliert den Befehl, vor seinem Kurfürsten, der sich zu wiederholten Malen eine 
moralische Vorlesung von ihm halten liefs, über den Vorzug der Alten vor 
den Neuem in den schönen Wissenschaften zu sprechen. Zögernd und im 
Grunde nur, weil alle andern es thun, giebt er da den Alten zwar im all- 

*) Von den Bergen weifs er noch, dafs sie dazu dienen, die Aussicht angenehmer zu 
machen, die ohne sie allzu einförmig sein würde! (VII 24). 

*) Die Erzählung 'Epictet' verspottet das Ungereimte der Lehre dieses Philosophen 
I 181 f. 'Und willst du stets zufrieden sein: So bilde dir erhaben ein, Lust sei nicht Lust 
und Pein nicht Pein', meint der Dichter ironisch. 



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W. Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 243 

gemeinen den Vorzug — das Gegenteil zu erklären wäre kaum erlaubt ge- 
wesen — , aber er weist doch schon auf Molieres Lustspiele, auf Richardson 
und das rührende Lustspiel hin als Schöpfungen, wie sie bei den Alten gar 
nicht oder weniger vollendet gefunden würden. Die christliche Religion könne 
ebensogut grofse Redner bilden wie die heidnische Beredsamkeit (V 187 ff.). 
Homer ist zwar des Witzes Fürst (VI 49) und unsterblich (III 424), aber 
c unsterblicher bei Christen' ist — Richardson (III 424); seine eigenen geist- 
lichen Oden und Lieder vergleicht er mit Pindar nach dem Mafs der Nützlich- 
keit (IX 7), und Cicero wird als Beispiel eitler Selbstgefälligkeit verwandt 
(I 228 f.) in der Erzählung 'Der gehoffte Ruhm 9 . Es soll freilich nicht ver- 
gessen werden, dafs er für die Musterbibliothek des Fräulgins von Schönfeld 
auch Winckelmanns 'Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke 
in der Malerei und Bildhauerkunst', 'ein schönes Werk zum Geschmack in der 
Malerei' 1 ), empfiehlt, aber im ganzen wird man zusammenfassen dürfen, dafs 
Geliert bei der antiken Litteratur lediglich formale Schulung und Geschmacks- 
bildung suchte, dafs er für den ewigen Inhalt ihrer Musterwerke — schon die 
oben citierte, oft wiederholte Auswahl zeigt das — keine Spur von Verständnis 
besafs. Von dem anhebenden Geiste des Neuhumanismus ist bei ihm nichts 
zu finden, und er wufste doch von Gesner und war mit Heyne, auch mit 
Ernesti befreundet. 

Deren Einflufs zeigt sich dagegen in seiner Theorie des Unterrichts in den 
alten Sprachen, wo er sich allerdings ebenso mit Locke und Basedow wie mit 
Gesner und Ernesti berührte. Wie man zur Zeit von Gellerts Jugend die 
alten Sprachen lehrte, erzählt Ernesti im Leben Gesners: man übersetzte die 
Schriftsteller Wort für Wort, Redner, Historiker, Dichter ohne sonderlich viel 
Rücksicht auf den Inhalt, lernte Redensarten auswendig und putzte mit ihnen 
seine Sprachübungen auf. 2 ) Da ist Geliert denn doch moderner. Anfangs 
lerne der Knabe eine alte Sprache wie die Muttersprache, ohne alle Grammatik, 
etwas Deklinieren und Konjugieren ausgenommen. Haften so eine Menge 
Wörter und Redensarten im Gedächtnis des Schülers, dann lasse man ihn 
eifrig lesen und übersetzen, aber erst nach einigen Jahren eine Grammatik zu 
Hilfe nehmen (VH 109; Geliert führt als Leitfaden dieser Methode Gesners 
kleine deutsche Schriften an). Nicht die Menge der Lektüre thut es; nichtige 
Gelehrsamkeit, die nur liest, um 'stark und sinnreich' denken zu lernen und 
sich der Menge toten Wissens rühmt, verspottet der Dichter (I 200 f. 216 f.). 
Lieber lese man wenig Werke, diese aber fleifsig, aufmerksam und mit grofser 
Empfindung; hier weicht Geliert von Gesner und Ernesti ab, die eine mög- 
lichst ausgebreitete Lektüre empfahlen. Diese Unterrichtsregeln gelten natür- 
lich nur für das Lateinische, aus dem Griechischen wünscht Geliert mehr gute 



*) In der oben erwähnten, vor dem Kurfürsten gehaltenen Rede wird man an Winckel- 
mann erinnert, wenn es heifst 'Eine gewisse edle Einfalt der Alten .... schien ihnen eine 
Verbesserung zu leiden' (V 193). 

*) Abgedruckt in Gellerts Leben von Cramer X 163 f. 

16* 



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244 W. Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 

Übersetzungen, er denkt besonders an Xenophon, aber auch an Tragiker und 
Redner (VHI 68). 

Aufser dem formalen Motiv bestimmte ihn noch ein anderes zur Wert- 
schätzung des Altertums, c die Alten liebten die Muttersprache und schrieben 
darin, nachdem sie sich von Jugend auf darin geübt hatten .... Viele von 
den Neuern haben in ihren ersten Jahren alle Sprachen, nur nicht ihre Mutter- 
sprache gefafst' (V 195), und so wissen sie schliefslich bei der Menge von 
Sprachen, die sie kennen, sich in keiner leicht, natürlich, reich und mannig- 
faltig genug auszudrücken. Geliert selbst war ein Meister des Stils; man denke 
an die graziöse Form seiner Fabeln und vergleiche die Ausdrucksweise seiner 
Lustspiele mit denen seiner Zeitgenossen, wie jene diese an Leichtigkeit, 
Gefälligkeit und Wahrheit der Redeweise übertreffen. Und sein Hinweis auf 
die Muttersprache war nicht der erste, den man vom Katheder der Leipziger 
Universität herab hörte. Die Bemühungen um die deutsche Sprache waren 
nach Thomasius anerkennenswert von dem Sprach- und Litteraturdiktator 
Gottsched fortgeführt worden, und aus dem Kreise jüngerer, freier zu ihm stehen- 
der Schüler war auch Geliert hervorgegangen. Gellerts Sprache war noch für 
Adelung 1 ) das damals allerdings längst überholte Vorbild, im ganzen blieb 
er auf Gottscheds Standpunkt mit mehr Geschmack, als dieser besessen, stehen; 
Natürlichkeit und Leichtigkeit liefsen zwar gelegentlich Dialektisches einfließen, 
an den Beurteilungen einiger (eigener) Fabeln aus den Belustigungen' (I 283 ff.) 
zeigt er seinen Lesern, wie man den Stil verbessert, und lehrt sie Stilgefühl. 
Interessant ist zu sehen, was er in den Briefen des süddeutschen Freiherrn 
von Widmann am Ausdruck auszusetzen hatte (IX 21 ff. 27 ff. 32 ff.). Da 
sucht er dann alles Dialektische herauszutreiben, zeigt sich auch als Puristen, 
hat aber doch den Mut, ein paar sich durch Nachdruck und Kürze aus- 
zeichnende austriacismos zuzulassen (IX 29). In ähnlicher Weise verfuhr er in 
seinem Praktikum, unermüdlich ermahnte er seine Studenten, bei den ihm ein- 
gereichten Aufsätzen gewissenhafte Sorgfalt auf den Stil zu verwenden. Welchen 
Erfolg er dabei hatte, lehren uns die jetzt vorliegenden Briefe Goethes an seine 
Schwester 2 ); gleich wendet er, was eben Geliert gelehrt hatte, der Schwester 
gegenüber an. 

Fast ebensoviel Sorgfalt wie auf den Stil wollte Geliert auf die Hand- 
schrift verwandt wissen, und er glaubte, gute Ausdrucks weise wäre oft die 
Folge einer guten Hand. Beide vereint gehören zu einem guten Brief. 

Fast nichts hat Geliert in seiner gesamten pädagogischen Thätigkeit 90 
sehr betont als die Kunst des Briefschreibens und die Vorzüge eines guten 
Briefs. Auch Locke wünscht, dafs Kindern Beherrschung ihrer Muttersprache 
und klare Wiedergabe ihrer Gedanken im Brief beigebracht würde, und Natürlich- 
keit war auch für ihn die Hauptsache beim Briefschreiben gewesen (§ 189). 



*) Adelung, Versuch eines vollständigen, grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hoch- 
deutschen Mundart Leipzig 1774. I. Vorrede S. Xu. 

*) Abgedruckt in dem 1. Bd. der 4. Abt. der Weimarer Ausgabe. 



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W. Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 245 

Seitdem Geliert 1742 seine * Gedanken von einem guten deutschen Brier in 
Schwabes Belustigungen* veröffentlichte (V 204 ff.), hat er bis zuletzt praktisch 
und theoretisch Briefschreiben gelehrt. Oft sandte er Briefe korrigiert dem 
Verfasser zurück, gerne lobte er, wo ein Brief ihm besonders gefiel. 1751 ver- 
öffentlichte er eine Auswahl wirklich geschriebener 'Briefe, nebst einer Abhand- 
lung von dem guten Geschmacke in Briefen' (IV 5 ff.). Der Brief vertritt die 
Stelle des Gesprächs, daher sei er natürlich, die Einfälle und Schreibart un- 
gesucht, halte er die rechte Mitte zwischen fader Gedankenarmut und gesuchter 
Geistreichigkeit. Titulaturen und Komplimente sind vom Übel. Den Muster- 
briefen von Junker, Neukirch gegenüber 1 ) war Gellerts Bestreben wirklich ver- 
dienstlich, sie waren alle gezwungen und geschraubt, Geliert bot das gerade 
Gegenteil; kein Wunder, dafs Rabener den Freund drängte, den Deutschen 
einen neuen und brauchbareren Briefsteller zu schenken (X 204 f.). Was Geliert 
vom Brief verlangte, fand er besonders in den Briefen seiner schreibseligen 
Korrespondentinnen; wegen ihrer naiven Schreibart lobte er Caroline Lucius 
(IX 31); hübsche Briefe von ihr las er in seinem Praktikum den Studenten 
als Muster vor, und sie zeigen die geforderte Leichtigkeit und Natürlichkeit bis 
zur Grenze der Geschwätzigkeit und Gedankenarmut, gerade so wie die Briefe 
des braven Geliert selbst oft und vielleicht meist recht flach und leer sind. 
Er ging sogar soweit zu erklären, dafs Frauenzimmer, auch wenn sie nicht 
von Stande wären und keine gute Erziehung genossen hätten, bessere Briefe 
schrieben als das stärkere Geschlecht. 2 ) Dem Fräulein von Schönfeld erteilt 
er als besonderes, uns freilich sonderbar anmutendes Lob die Versicherung, er 
habe ihren Brief, der schön und richtig gedacht sei, in Gedanken ins Lateinische 
übersetzt, und c er blieb immer gut; wer weifs, wie schön er erst im Griechischen 
klänge!' 8 ) So empfiehlt er auch zur Übung im Briefschreiben zunächst Über- 
setzung ausländischer, besonders französischer Muster — die Briefe der Frau 
von Sevigne gehören zu seinen liebsten — , aber er weifs, dafs das gefährlich 
ist, und giebt einige treffliche Regeln für die Kunst des Übersetzens (IV 50 ff). 
In den Briefen empfiehlt Geliert, namentlich den Damen, gern gute Lektüre 
und stellt eine Auswahl guter Bücher nach dem Vorgang des Zuschauers zu 
einer Musterbibliothek zusammen. 4 ) Es ist hier nicht der Ort, auf Gellerts 
ästhetische Anschauungen einzugehen. Sie haben sich nicht sonderlich über 
die seiner Zeitgenossen erhoben und suchten in der Kunst den Begriff des 
Schönen, der Ordnung, der Übereinstimmung und des Anstands, der auf Sitten 
und äufserliches Betragen übergehen sollte, wie anderseits Edelmut und Grofs- 
mut in den Werken der Kunst praktisch Eigentum des eigenen Herzens werden 
sollten (VII 17). Man sieht, da spielt das Interesse an der schönen Form mit, 
die Hauptsache bleibt aber Belehren und Bessern. Uns interessiert, dafs solche 



*) Vgl. den Liebhaber, der in seiner Thorheit aus zwanzig Briefen die 'hellsten Flammen' 
für seinen Liebesbrief zusammenträgt ( r Der erhörte Liebhaber' I 99 ff.). 
*) Briefe an Frl. v. Schönfeld, a. a. 0. S. 77. 
■) Ebd. S. 14. 4 ) Ebd. S. 36, vgl. VI 175 f., auch VIH 121. * 



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246- W. Haynel: Gellerts pädagogische Wirksamkeit 

Anschauungen wieder vortrefflich zum Streben Lockes nach Nützlichkeit und 
Brauchbarkeit passen. Moralische Wochenschriften, Bremer Beiträge, Richardson, 
Frau von Beaumont, Mosheim und ähnliches ist die Lieblingslektüre des Dichters 
und wird seinem Kreise empfohlen. Geliert warnt vor der ^Krankheit', nur 
Journale und Wochenblätter und gelehrte Tagesregister zu lesen (V 180) 
(vgl. I 201), und er verlangt, dafs man auch geographische, historische und 
ökonomische Wissenschaften kennen sollte (V 181), wo er Lockes Mahnung, 
dafs der junge Engländer auch die Gesetze und Staatseinrichtungen seines Vater- 
landes kenne, nachklingen lassen mag. Von der Dichtkunst 'die aus vollem 
Herzen und wahrer Empfindung strömt, welche die einzige ist' 1 ), hatte Geliert 
keinen Begriff, und schlimm war, dafs er mit der Litteratur nicht fortschritt 
und bei den höchst mittelmäfsigen Poeten stehen blieb, die es um 1740 gab. 
Er selbst gestand: c die Poesie und ihr Verdienst wird mir alle Tage fremder, 
und warum sage ich nicht, gleichgiltiger' (IX 96). 

Als Jugendlektüre empfiehlt Geliert auf der ersten Stufe Fabeln und Er- 
zählungen, auf der zweiten, wo nun die scherzhafte Hülle dem Verstand weichen 
mufste, das Lehrgedicht, das ihm selbst vielleicht am wenigsten gelungen war. 
Geschmack, Einsicht und Tugend werden ferner durch die Werke der Haller, 
Hagedorn, Schlegel, Cramer und sonstiger ^ofser' Dichter gebildet, aber auch 
Zuschauer und Nordischer Aufseher werden für einen Knaben von neun oder 
zehn Jahren 2 ) empfohlen. Beim Lesen mufs der Knabe seinen Fähigkeiten 
nach angestrengt werden und seinen Verstand anwenden lernen, aber er soll 
weder blofs aus Wollust lesen, ohne seinen Verstand zu gebrauchen, noch — 
hier tönt Lockes Lehre nach — soll er lediglich bei seinen Büchern sitzen, 
um arbeitsam zu werden, denn dadurch wird ihm das Lesen verhafst, und es 
ist doch ein sicheres Hilfsmittel zu Weisheit und Tugend (VH 121). 

Wir werfen noch einen Blick auf besondere Kreise, die Geliert pädagogisch 
anregte, Studenten und junge Mädchen. Erstere hatte er freilich eigentlich 
immer im Auge, sie kannte er am besten, hier war er wirklich verbunden mit 
der Jugend und nicht, wie bei der Kindererziehung, vorwiegend Theoretiker. 
Bei der Berufswahl empfiehlt er verständig, einer nicht tadelnswürdigen, son- 
dern gegründeten Neigung nachzugeben; ganz ohne göttliche Fürsorge kommt 
er freilich auch hier nicht aus; vielleicht äufsert sich in dem Wunsche des 
Jünglings eine Fügung der Vorsehung, die ihn zu Grofsem bestimmt, und dann 
kann der Mensch nichts an einer solchen Neigung ändern. 8 ) Auch für die 
Einrichtung des akademischen Studiums gab er Ratschläge, 5 — 6 Jahre empfiehlt 
er als Dauer des Aufenthalts auf der Akademie (V 180). Hatte die bisherige 



l ) Frankfurter gelehrte Anzeigen 1772, XV, in Scherers Neudruck, Heilbronn 1883, S. 99. 
Man sollte endlich nach v. Biedermanns, Scherers u. a. Nachweis aufhören, diese Recension 
Goethe zuzuschreiben; die Stelle c Der Recensent ist Zeuge u. s. w.' wird auf ihn zurück- 
zuführen sein, kann aber auch von Merck geschrieben sein. 

*) VII 117 begann diese zweite Stufe der Erziehung mit dem zehnten oder zwölften 
Jahr. Man sieht, wie wenig methodisch der Verfasser zu Werke geht. 

■) IX 166 f. * 



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W. Haynel: Gellerts pädagogische Wirksamkeit 247 

Erziehung wesentlich den Zweck allgemeiner Bildung, sollte sie einen 'Welt- 
mann' aus dem Knaben machen, um mit Locke zu reden, so tritt die Fach- 
bildung in den Vordergrund der akademischen Studien. Der Hofmeister bleibt 
am besten auch auf der Universität noch Begleiter des jungen Mannes, ebenso 
wie nachher auf der Kavaliersreise. Gelehrsamkeit zu erlangen ist der Zweck 
des Aufenthalts, aber Verstand ohne Tugend, ohne ein gebessertes Herz sind 
weder für den Einzelnen noch für das Vaterland, dem er dienen soll, von 
Segen (VI 11). So soll zwar ein betrachtlicher Teil der Zeit dem Fachstudium 
gewidmet werden, aber der besorgte Morallehrer schärft jedem ein, das Morgen- 
gebet nicht zu vergessen und täglich in der heiligen Schrift zu lesen; auch soll 
mindestens eine Stunde täglich den Alten gewidmet werden. Auch das geliebte 
Briefschreiben wird wieder empfohlen. Und dafs nur ja nicht die gute Hand 
vernachlässigt werde! (V 180 f.). Einen ausführlichen Stundenplan entwirft 
der Professor: 4 Stunden Kolleg und ebensoviel für die Wiederholung, 4 für 
Künste und Leibesübungen, 5 für Mahlzeiten, Erholung und Freunde, 7 für 
den Schlaf. Endlich soll der Jüngling auf der Universität auch eine Gewohn- 
heit fortsetzen, die er schon seit dem zehnten Jahre etwa geübt hat, sich 
nämlich täglich Rechenschaft über alles, was er erlebt, zu geben; c ein getreues 
und ungekünsteltes Journal' "übt uns in der Schreibart, macht uns auf das, 
was wir thun, sehn oder hören, achtsamer, giebt uns zu guten Anmerkungen 
und Regeln über unsere Berufsgeschäfte Gelegenheit' und läfst schliefslich auch 
dankbar die Spuren der göttlichen Vorsehung bemerken (IX 159). Das war 
also in nuce eine tägliche Wiederholung aller pädagogischen Vorschriften 
Gellerts, die nachdenkliche, Verstand und Sitten bildende Lektüre, der gute 
Stil und endlich das Vertrauen auf Gott. Diese tägliche Rechenschaft wird 
daher auch in fast allen Schriften empfohlen, so in dem geistlichen Lied 
t Prüfung am Abend' (H 81); der Vater des schwedischen Grafen — immer 
wieder werden wir auf den Roman zurückgeführt — hat 40 Jahr lang ein 
Tagebuch geführt, und vor seinem Ende läfst er es sich von seiner Schwieger- 
tochter vorlesen (V 211). Geliert selbst beobachtete in seinem Tagebuch 1 ) nur 
zu ängstlich und peinlich alle Stimmungen und Regungen seines ängstlichen 
Gemüts. Diese Vorliebe für die psychologische Vertiefung hier des eigenen 
Charakters, die sich aber sonst in seinen ^Charakteren' und z. B. den eingehend 
und fein gezeichneten Mädchenfiguren seiner Lustspiele offenbart, weist ent- 
schieden nach vorwärts, die Beobachtung des Herzens, so zaghaft und schüchtern 
sie war, konnte auch der Sturm und Drang an Geliert lernen. 

Noch einmal finden wir Geliert auf dem Boden der Bestrebungen der 
Moralischen Wochenschriften in seinem Eifer für die Hebung der weiblichen 
Bildung. Lockes c Gedanken' waren für die Erziehung von Knaben bestimmt, 
er glaubte, es würde sich leicht ergeben, inwiefern die Erziehung der Mädchen 



*) Davon ist das Jahr 1761 gedruckt; f Chr. F. Gellerts Tagebuch aus dem Jahre 1761.' 
Leipzig, Weigel 1862, ein unerquickliches Register von Ausbrüchen der Zerknirschung 
und Bufse. 



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248 W. Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 

davon abweichen müsse. Basedow hatte denjenigen, welche eine besondere An- 
leitung für die Mädchenbildung wünschten — und dieses Verlangen trugen 
weite Kreise 1 ) — eine Anzahl Schriften angegeben, aus denen sie sich be- 
lehren möchten (S. 563). Die Moralischen Wochenschriften aber hatten dieses 
Thema sehr energisch aufgegriffen, und Locke und Basedow gegenüber durfte 
sich Geliert einer gewissen Erfahrung in dieser Beziehung rühmen. Er freute 
sich des Vertrauens und der Achtung, die ihm Damen fast durchweg mehr als 
Männer erwiesen (IX 269); der Grund dafür lag freilich nicht blofs, wie er 
meinte, in seiner gröfseren Liebenswürdigkeit gegen das zartere Geschlecht, er 
lag in seiner ganzen Art und Weise zu denken. Es ist merkwürdig, dafs 
Geliert zu derselben Zeit, wo er in seinen Fabeln und Erzählungen die Frauen 
mit allen schlechten Eigenschaften der litterarischen Tradition ausstattete, dafs 
er da in seinen Lustspielen feine und lebenswahre Charakterbilder 'empfind- 
samer' Mädchen und Frauen zeichnete. Bei der Darstellung der männlichen 
Charaktere ist ein derartiger Widerspruch zwischen Erzählungen und Lust- 
spielen nicht vorhanden. Gellerts weichlicher, schwächlicher Art entsprachen 
jene 'vernünftigen Frauenzimmer' am besten, dieses Schlages waren die meisten 
seiner Korrespondentinnen, solche Frauen wünschten die jungen Männer, die 
ihn verehrten (VTII 289). Solchen Mädchen bezeichnete er ein Ideal weiblicher 
Bildung, wenn es von Julchen in den 'Zärtlichen Schwestern' heifst: 'Du kannst 
ja auf der Laute spielen. Du kannst schon singen. Du kannst dein Bischen 
Französisch. Du schreibst einen feinen Brief und eine gute Hand. Du kannst 
gut tanzen, verstehst die Wirtschaft, und siehst ganz fein aus; bist ehrlicher 
Geburt, gesittet und fromm und nunmehr auch ziemlich reich* (DI 69). Und 
die schwedische Gräfin besitzt eine ähnliche Bildung (IV 202. 209). 'Klug, 
gesittet und geschickt' ist diese Musterfrau dadurch geworden (V 196). Geliert 
wollte keine 'gelehrten Frauenzimmer' bilden, aber durch das Lesen guter 
Bücher Verstand und Sitten bilden 2 ), das Vorbild ist das Magazin der Frau 
von Beaumont. Der Lucius schreibt er 'Fahren Sie in Ihrer guten Lektüre 
fort . . . Sie muntere ich dazu auf, ob es gleich für viele Frauenzimmer gut 
wäre, wenn sie weniger läsen; aber Sie gehören nicht in diese Klasse'. Die 
'vielen Frauenzimmer' sind diejenigen, welche nur lesen, um zu lesen, aus 
'Wollust' (IX 31 f.). Im Besitz dieser Bildung wird das Mädchen vom Manne 
seiner selbst wegen, nicht wegen seines Geldes, gesucht werden (IX 48). 

Für den Verkehr zwischen beiden Geschlechtern sprach Geliert merk- 
würdige Anschauungen in seinem Roman aus. Dem vorehelichen Sohn ihres 
Mannes, den R*** erzieht, bringt die Gräfin das 'Wohlanständige' bei, das 



*) Ein paar Beispiele aus der Litteratur bei Schuller, S. 22 f. 

*) Es ist ergötzlich zu lesen, wenn der junge Goethe, wie der leibhaftige Geliert, 
seiner Schwester schreibt: 'Du bist über die Einderjahre, du mufst also nicht nur zum 
Vergnügen, sondern zur Besserung deines Verstandes und deines Willens lesen', und ihr 
Zuschauer, die Schriften der Beaumont, unter Romanen nur Grandison empfiehlt, ebenso 
italienische Litteratur mit Ausnahme Boccaccios. (Die Erwähnung des letzteren stammt 
wohl aus G.s eigenen Studien, nicht von Geliert) Werke IV. I 26. 



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W. Haynel: Gellerts pädagogische Wirksamkeit 249 

'junge Mannspersonen oft am ersten von einem Frauenzimmer lernen können' 
(IV 223); umgekehrt ist die Tochter des Amsterdamer Wirts mehr unter den 
'Mannspersonen' als unter ihrem Geschlecht aufgewachsen, und ihre Erziehung 
ist nach dem kompetenten Urteil der Gräfin vortrefflich. 1 ) Übrigens ist diese 
selbst vormittags wie c ein Mann' und nachmittags 'als eine Frau' erzogen 
worden (IV 195). Dieser Anschauungskreis ist in seiner Verbreitung allerdings 
auf den Roman beschränkt, man darf daher billig Bedenken tragen, ihn dem 
späteren Geliert noch zuzuschreiben; es genüge, ihn wegen seiner Sonderbarkeit 
erwähnt zu haben. 

Wie Geliert über die erzieherische Thätigkeit der Frauen aufserhalb des 
Familienkreises dachte, zeigt eine Stelle der Korrespondenz mit Caroline Lucius. 
Als diese Lust zeigte, selbst zu unterrichten und zu erziehen, schreibt er (1766), 
es wäre vortrefflich, wenn sie nach Art der Frau von Beaumont einigen Kindern 
Franzosisch beibrächte und ihnen etwas Handarbeitsunterricht gäbe. Sie könne 
nichts Nützlicheres und Rühmlicheres für die Welt thun. Es sei blofs frag- 
lich, ob sie lediglich einigen Kindern aus guten Familien, die zu ihr kämen, 
Unterricht erteilen oder ein Kind ganz zu sich nehmen und erziehen wolle. 
Dafs sie sich in einer fremden Familie der Erziehung unterziehen würde, 
würde ihr Vater kaum zugeben, *und ich', setzt er mit seltener Entschieden- 
heit hinzu, c billige es überhaupt auch nicht' (X 18). 

Damit glauben wir, Inhalt und Ziele der pädagogischen Bestrebungen 
Gellerts im Umrifs dargestellt zu haben; wir haben vieles von ihnen auf Vor- 
bilder, wie Locke, Basedow, die Moralischen Wochenschriften und andere, 
zurückgeführt, vieles hat unsere Kritik ablehnen müssen. Insbesondere war es 
für Gellerts pädagogische Ideale von vornherein bedenklich, dafs er sie auf dem 
Untergrunde seiner moralischen Theorie aufbaute und alle Fragen der Er- 
ziehung vom Standpunkt seiner moralischen Bestrebungen aus beurteilte. So 
verquickte er deutsche und antike Litteratur, Geschichte und Geographie, alles 
und jedes mit dem Übeln Drange zum Moralisieren. Kam eine Zeit, die die 
einzelnen Wissenschaften frei und selbständig machte und es ablehnte, alle der 
Moral dienstbar zu machen, die den Unterbau aller dieser Gellertschen An- 
schauungen, eben seine Moral, erschütterte, so fiel der übrige Teil des päda- 
gogischen Gebäudes fast ganz zusammen. 

Jahrzehnte hindurch sind freilich Gellerts Schriften, wenn auch nicht alle 
in gleichem Mafse, um Goethes Urteil heranzuziehen 'das Fundament der 
deutschen sittlichen Kultur* gewesen *), und es ist hundertmal dargestellt, wie 
Geliert der besorgte Gewissensrat Bekannter und Unbekannter, Nahestehender 
und Fremder gewesen ist. Auch ein anderes berühmtes Wort des Goethischen 
Kreises, das mitten in den litterarischen Kämpfen der 70er Jahre gesprochen 
eine um so gröfsere Bedeutung hat, sei hier nicht unterdrückt. *An Geliert, 
die Tugend und die Religion glauben, ist bei unserm Publico beinahe Eins.' 8 ) 



*) 'Dieses halte ich allemal für ein Glück bei einem Frauenzimmer' IV 251 f. 
*) Werke I. XXVII 128. *) Frankfurter Gelehrte Anzeigen, a. a. 0. S. 98. 



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250 W. Haynel: Gellerts pädagogische Wirksamkeit 

An dem Siegeslauf seiner Schriften haben auch die in ihnen verstreuten 
pädagogischen Bemerkungen Teil genommen; hauptsächlich freilich waren sie, 
wie wir sahen, in den Moralischen Vorlesungen enthalten, die erst nach des 
Verfassers Tode gedruckt wurden. Während Geliert sie zu seinen Lebzeiten 
seinen Studenten vortrug, fügte er doch das Beste hinzu, was er geben 
konnte, was diesem Manne erst eigentlich sowohl als persönlichem Vorbild als 
auch als Lehrer seines Volkes die ungeheure Anziehungskraft verlieh, seine 
Persönlichkeit. Wir möchten meinen, dafs die liebenswürdige Zaghaftigkeit, 
die herzliche Liebe und Zuneigung, die seine Freundlichkeit jedem entgegen- 
brachte, dieses noch so rührselige und einseitige, doch felsenfeste und aus dem 
Innern dringende Gottvertrauen der eigentliche Grund war, dafs sich ihm die 
Herzen öffneten. Und dieser selbe Geist wehte auch aus seinen Schriften und 
zog die Herzen ihrer Leser mit einer anmutigen Unwiderstehlichkeit an. Ge- 
lehrte Poeten und weltweise Männer hatte es genug gegeben das ganze 
17. Jahrhundert hindurch und bis an Gellerts Tage heran, hier zum erstenmale 
trat ein Lehrer seines Volks auf, der ihm gab, was es suchte, was es seit 
Luther nicht wieder gefunden hatte, Wärme, Herzlichkeit, Liebe. So ist die 
Persönlichkeit dieses Mannes das Beste an seinem Lebenswerk, auch an seinem 
erzieherischen Wirken; wir haben es gesehen, wie er da selbst überall voran- 
ging, wie er die von ihm selbst gelehrte Pflicht der Erziehung übte und sich 
an dem daraus hervorgehenden Glück erfreute. Auch die, welche seiner Lehre 
widerstrebten, denen er nicht grofs, nicht allseitig genug erschien, sie konnten 
doch nicht umhin, — wir berufen uns wieder auf Goethe — ihn herzlich lieb 
zu haben. 

Und gewifs, grofs, tief war Gellerts c MoraP nicht, seiner Ethik war viel 
Menschliches fremd. Es war ihm nur vergönnt, seiner Zeit den wirkungs- 
vollsten und entsprechendsten Ausdruck zu verleihen, aber das Gröfsere, sein 
Volk vorwärts zu führen, ihm voranzuschreiten, das war ihm nicht beschieden. 
Am Ende einer langen Epoche fafst er noch einmal alles, was sie bewegt, am 
anziehendsten und herzlichsten zusammen, aber über sie hinaus ragt er nicht, 
oder wenigstens nur in ganz geringen Ansätzen. Kein Wunder daher, dafs 
nach seinem Tode, als die Persönlichkeit verstummt war, sein Werk, genau 
besehen im Lichte einer neuen Zeit, Mängel und Schwächen in Menge aufwies. 
Sehr bald setzte die Kritik ein, Mauvillon und Unzer mit ihrem Briefwechsel 
'Über den Wert einiger deutscher Dichter' voran, mehr boshaft und abstofsend 
als dafs sie gerecht abzuwägen versuchten. Eingesetzt hat diese Gegenströmung 
schon Jahre vorher, Geliert wufste nichts von den neueren Dichtern, aber 
Klopstock und Lessing hatten auch zu ihm kein inneres Verhältnis. Und alles, 
was eine ganz neue Zeit bald brachte, war Gellerts Anschauungskreis unend- 
lich ferne liegend; weder für die Freude an menschlicher Gröfse, noch für eine 
Sittlichkeit, die die Fesseln der Theologie abwarf, für ein starkes Menschen- 
tum, für ein leise aufdämmerndes Nationalgefühl hatte Gellerts Moral Platz 
gehabt. Mit einer neuen litterarischen Welle kam das Selbstbewufstsein des 
Bürgertums, das die deutschen moralischen Wochenschriften ihren englischen 



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W. Haynel: Gellerts pädagogische Wirksamkeit 251 

Vorbildern nicht hatten nachfühlen können, nun auch in Deutschland zum 
Ausdruck. Unbarmherzig wurden Gellerts Ideale bei Seite geworfen, seine 
Epoche war zu Ende. Betrachten wir noch einmal seine pädagogischen Ideale, 
so hat Rousseaus Notschrei die zaghafte Stimme des Leipziger Professors über- 
tönt, Kant befreite die Moral, und das klassische Altertum verband sich mit 
dem germanischen Geist in höchster Offenbarung im Neuhumanismus. 

Nur auf dem Gebiet der Religion, wo Geliert sein Bestes gab, sind die- 
jenigen geistlichen Lieder, deren herzlicher Ton, deren innige, thätige Frömmig- 
keit die Schranken kalter und trockener Lehrhaftigkeit durchbrach, Eigentum 
unseres Volkes geblieben. Die Macht und Wucht der Lieder des 16. Jahr- 
hunderts, die tiefe, warme Gläubigkeit des Einzelnen, wie sie Paul Gerhardts 
Poesie eigen ist, hat Geliert nicht erreicht, ihre Gröfse und Schönheit aber 
verständnisvoll gewürdigt. Seine geistlichen Lieder erheben sich auch hier 
nicht über ihre Zeit, es sind die klassischen Kirchengesänge des Rationalismus. 
Wie wir im grofsen Ganzen Geliert doch am meisten zu dieser theologischen 
Richtung hinneigen sahen, so spiegeln auch seine Lieder in ihrer Betonung des 
Allgemeinen, in ihrer Mahnung zu Menschenliebe, in ihrer Vermeidung des 
Dogmatischen den Geist der Aufklärung wieder. Bei einzelnen bricht aber 
die Wärme des Gefühls so sieghaft durch, dafs sie das Eigentum unserer 
protestantischen Gemeinden bleiben mögen 1 ), zumal diejenigen, denen Beethoven 
die Macht unvergänglicher Töne geliehen hat. So mag des Dichters Freude 
an der Erziehung zu ^Tugend und Religion' hier in frommer Christen Herzen 
noch lange im Sinne des einstigen Lehrers seines Volkes nachwirken. 

Wie steht es aber um den erzieherischen Wert, den wir heute den Fabeln 
und Erzählungen Gellerts zumessen? Sie waren bestimmt, 'dem, der nicht 
viel Verstand besitzt, die Wahrheit, durch ein Bild, zu sagen* (I 95), und 
unsere Darlegungen haben gezeigt, welche wichtige Rolle sie nach Gellerts 
pädagogischer Theorie für den Unterricht der ersten Jahre, etwa bis zum 
zehnten Lebensjahr, spielten (s. o. S. 233 f.). In einer etwas voreiligen Ver- 
ehrung für alles Alte haben manche auch für unsere Zeit Gellerts Fabeln als 
vortreffliches Lesebuch für unsere Sextaner oder Quintaner gepriesen. Zu- 
gegeben, dafs die Anzahl guter neuerer Fabeln nicht sehr grofs ist, so erhebt 
sich doch die Frage, ob Gellerts Fabeln und Erzählungen wirklich jenen ge- 
rühmten pädagogischen Wert noch besitzen. Die Vorbedingung, dafs sich die 
Fabel überhaupt trotz ihrer oft recht dick aufgetragenen Lehrhaftigkeit für den 
Gebrauch in der Schule empfiehlt, betrachten wir als erfüllt; denn die Beant- 



*) Zum Beweis für das Nachwirken der religiösen Gesänge G.s mögen folgende Zahlen 
statt vieler anderer gelten: das bis vor etwa 8 Jahren gebräuchliche Gesangbuch der 
lutherischen Gemeinden Ostfrieslands (wir haben einen Druck aus 1841 vor uns) zählte 36, 
das seitdem eingeführte hannoversche Gesangbuch umfafst 19 Gellertsche Lieder, das eben- 
falls vor einigen Jahren neu erschienene Gesangbuch der reformierten Gemeinden Ostfries- 
lands zählt 20; diese Zahl ist wegen der Abweichung vom Dichter in der Konfession be- 
sonders charakteristisch. Ästhetisch betrachtet dürfte etwa die Hälfte dieser Zahl dauernden 
Wert beanspruchen. 



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252 W. Haynel: Gellerts pädagogische Wirksamkeit 

wortung dieser Vorfrage müssen wir dem praktischen Schulmann überlassen, 
der allein aus eigener Erfahrung darüber wird urteilen können. • 

Man spricht gewöhnlich kurz von Gellerts Fabeln, und doch sollte man 
lieber, wenn man den langen Titel abkürzen will, von Erzählungen reden, denn 
das sind sie zu vier Fünfteln. Daraus ergiebt sich für uns schon ein wich- 
tiges Moment. Der allgemeine Charakter, der' der Fabel eigentümlich ist, ist 
bei Geliert meist überhaupt nicht vorhanden, ganz spezielle Verhältnisse da- 
maliger Zeit werden behandelt; da erscheint Satire auf Auswüchse des Lebens 
jener Epoche, da wird altes litterarisches Gut aufs neue verwertet, alles 
Dinge, die für die heutige Schuljugend unverständlich und ungeeignet sind. 
Geliert räumte allerdings der Fabel einen bedeutsamen Platz in der Erziehung 
ein, aber man verkennt den Charakter dieser Schöpfungen durchaus, wenn man 
die Fabeln und Erzählungen des Dichters lediglich für ein Schulbuch hält. 
Vielmehr wollen sie viel weitere Kreise belehren, bessern und — verspotten. 
Je mehr wir durch Publikationen und Forschung neuerer Zeit in die Lage ge- 
setzt sind, die innere Geschichte der deutschen Länder jener Zeit zu studieren, 
desto mehr erkennen wir, dafs sich hinter der scheinbar litterarischen, dabei 
so zaghaften und vorsichtigen Kritik Gellerts, Rabeners u. a. ein tiefer Wahr- 
heitsgehalt verbirgt. Klagen über Arglist der Advokaten, über den Prozefs- 
unfug, über Ungerechtigkeit der Richter, über Stellen- und Amterjagd ver- 
stummen in der Masse des Materials nie. 1 ) Die Empörung über diese Zustände 
macht sich freilich so zaghaft und behutsam, dabei so amüsant und kunstvoll 
dargestellt geltend, dafs man bei Gellerts Erzählungen den Wirklichkeitsgehalt 
gewöhnlich vergifst und nur zu oft lediglich die Entwickelung litterarischer 
Motive betrachtet, dabei aber nicht bedenkt, dafs den Anstofs zur Umformung 
alter Tradition bittere Wirklichkeit gab. Wir haben oben schon gesehen, wie 
manche Erzählung dazu benutzt wurde, um den eigenen Zeitgenossen Lehren 
ins Gedächtnis zu rufen, bei denen von einer Gültigkeit für unsere Tage und 
erst recht von ihrer Verwendung im Unterricht auf der unteren Stufe nicht 
die Rede sein kann (Informator, der erhörte Liebhaber, Tartarenfürst, Affen 
und Bären u. s. w.). Dazu kommt nun der reiche Schatz der überlieferten 
Satire, den der Dichter ausbeutet, der Hohn auf die dummen Bauern (Bauern 
und Amtmann), die Spottverse auf die schlechten Dichter und elenden 
Skribenten (z. B. das Gespenst, die Nachtigall und die Lerche, der unsterb- 
liche Autor, die beiden Schwalben, der alte Dichter und der junge Kritikus), 
auf haarspalterische Philosophen und Gelehrte (der grüne Hut, Fuchs und 
Elster, der Schatz, der Polyhistor, Spinne u. s. w.). Für die Schuljugend sind 
alle diese Stücke ebensowenig brauchbar wie diejenigen, in welchen uns Ver- 
treterinnen des weiblichen Geschlechts entgegentreten. Den merkwürdigen 
Gegensatz zwischen den meisten weiblichen Figuren der Lustspiele und den 



*) Wir denken speziell an die schöne Publikation der Acta Borussica, Denkmäler der 
preufsischen Staatsverwaltung im 18. Jahrh. Herausgegeben von der Kgl. Akademie der 
Wissenschaften. Berlin 1894 ff. 



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W. Haynel: Gellerts pädagogische Wirksamkeit 253 

Frauen, wie sie in den Erzählungen ganz nach dem Muster der Holberg, 
Moli&re, Frau Gottsched gezeichnet werden, haben wir schon oben angedeutet 
(S. 248). Nur diese letztere Art von Frauen findet sich in den Erzählungen, 
hier sind sie alle, eine wie die andere, eitel, schwatzhaft, zänkisch, buhlerisch, 
und fällt einmal eine Ausnahme von dieser Regel vor, so weifs der Verfasser 
sie nicht hoch genug zu preisen. Etwa ein Fünftel der ganzen Sammlung 
darf man diesen pädagogisch ganz unfruchtbaren zuweisen, und Geliert hat 
auch eine Anzahl von Ehen geschildert, in denen die Männer jener Art von 
Frauen würdig sind. In den Erzählungen und Fabeln spiegelt sich dann auch 
der gesamte Apparat des Schäferspiels wieder, auch die unnatürlichen Namen 
Dämon, Selinde, Orgon u. s. w., die die Zeit nun einmal in jeglicher Poesie ver- 
wandte und liebte, kommen vielfach vor. Gegen einige Stücke mufs, wenn es 
sich um pädagogische Verwendbarkeit handelt, aus moralischen Gründen Ein- 
spruch erhoben werden; wie man überhaupt die Stichhaltigkeit der Moral 
Gellerts stets prüfen mufs, so findet man auch hier, dafs uns selbstverständlich 
erscheinende Ehrlichkeit und Bravheit den Ruhm besonders grofser Tugend zu- 
gebilligt erhält (z. B. der arme Schiffer; der fromme General, der, wenn Gott 
nicht wäre, auch keinen König scheuen würde; Alcest, Amynt). In Zeit und 
Persönlichkeit des Dichters wurzeln ferner Schauergeschichten mit faustdick 
aufgetragener Moral oder voll rührseligen Mitleids (Inkle und Yariko, Rhynsolt 
und Lucia); da findet sich jene unmännliche, ungesunde Art der Moral, gegen 
die wir mit jenem Franzosen, von dem Goethe erzählt, uns ablehnend verhalten 
müssen (Alcest, der grofsmütige Räuber, das neue Ehepaar, der Held und der 
Reitknecht u. s. w.). Manchmal ist endlich die Erzählung nichts mehr als eine 
gereimte moralische Vorlesung, und dadurch geht die ganze Anschaulichkeit 
verloren (das Testament), oder die Moral ist so langatmig wie im *Kutschpferd* 
oder so unklar, so allgemein und dem Hergang des vorderen Teils der Fabel 
so wenig angemessen wie in *Hans Nord', in dem 'Kind mit der Schere', den 
'beiden Hunden' u. s. w. Unverständlich für die Jugend sind wegen ihres ge- 
samten Hintergrundes z. B. Semnon und das Orakel, der Leichtsinn, oder 
wegen ihrer Verquickung mit philosophischen Lehren z. B. Epictet, Herodes 
und Herodias, das Schicksal. 

Aufser diesen sachlichen Momenten, von denen wir nur einige typische 
hervorheben konnten, ist auch noch etwas Formelles zu bedenken. Scherer 
hat Geliert nachgerühmt, er habe die Grazie der deutschen Litteratur wieder 
zugeführt 1 ), und gewifs sticht die Eleganz des Gellertschen Stils aufs vorteil- 
hafteste von aller Poesie um ihn herum ab. Aber man darf nicht übersehen, 
dafs die Leichtflüssigkeit und Gefälligkeit seiner Darstellung den Dichter nicht 
selten verleitet, in reinste versifizierte Prosa zu verfallen, dafs Charakter und 
Klarheit der Erzählung unter ermüdender Weitschweifigkeit, die alles bis aufs 
Kleinste erzählt und berichtet, empfindlich leiden. Man braucht noch nicht 
mit Johann Heinrich Vofs gegen Gellerts französisch kraftlose Schreibart los- 



') Geschichte der deutschen Litteratur 7 , Berlin 1894, S. 402. 



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254 W. Haynel: Gellerts pädagogische Wirksamkeit 

zupoltern 1 ) und kann doch zweifeln, ob manche Erzählung nicht zuviel Flufs, 
zuviel Deutlichkeit besitze, um der Jugend empfohlen zu werden. 2 ) Darunter 
leidet z. B. auch der berühmte c Hund' und, um noch eins gerade der be- 
kanntesten Stücke anzuführen, der Schlufs der Erzählung *Der Blinde und 
der Lahme'. 

Wenn man schliesslich auch den Gebrauch heute veralteter Ausdrücke als 
Hindernis für die Verwendung der Fabeln im Jugendunterricht ansieht, so darf 
man bei scharfer Kritik auf Verständlichkeit für jüngere Schüler hin doch nur 
von wenigen dieser berühmten Fabeln und Erzählungen zugeben, dafs sie 
Sextanern oder Quintanern als Lesestück in die Hand gegeben werden könnten. 
Ein Zehntel des Ganzen wird allerhöchstens noch für unsere Zeit auf dieser 
Stufe des Unterrichts in Betracht kommen, darunter freilich die bekanntesten 
Stücke wie der grüne Esel, der Bauer und sein Sohn, Till, der Hund, der 
Blinde und der Lahme (wenn man die klappernden Schlufsverse mit in Kauf 
nimmt). Auch die Erzählung, die dem unsichern Jüngling zeigt, wie man 
Briefe schreiben soll, mag als Nachhall dieser Bemühungen Gellerts fortleben. 
Aufserdem kommen in Frage etwa der Kuckuk, das Pferd und die Bremse, die 
junge Ente, der Schwätzer, der Knabe und die Mücken, Wachtel und Hänfling, 
Elster und Sperling, der Zeisig, das Heupferd, und auch bei diesen möchte 
man zum Teil Zweifel an ihrer Verständlichkeit für ein jugendliches Alter 
hegen. Wie ersichtlich, überwiegen in dieser Auswahl die Fabeln, die all- 
gemeine Wahrheiten vortragen. 

So haben wir also hier Geliert einen beträchtlichen Teil lebendiger Nach- 
wirkung, die ihm von anderer Seite noch eingeräumt wird, absprechen und 
die Brauchbarkeit seiner Fabeln für das Alter, für das ihr Verfasser sie vor- 
wiegend bestimmte, ganz erheblich einschränken müssen. Ganz aber möchten 
wir Gellerts Fabeln und Erzählungen auch in einem weiteren Sinne nicht 
aus der Schule verbannen. Es giebt kein litterarisches Denkmal der ganzen 
Zeit von etwa 1550 bis 1750, das uns ein so vortreffliches Abbild ihrer Kultur 
giebt, das ähnlich verbreitet und bekannt wäre im deutschen Hause wie Gellerts 
Fabeln. Nicht mehr als Lehrer soll der Dichter, von jenen paar Ausnahmen 
abgesehen, wirken, aber als ein lebendiges Abbild seiner Epoche kann er uns 
ein vortreffliches Mittel zur Belebung des Unterrichts in oberen Klassen sein. 
Je mehr der Lehrer sich wird bestreben müssen, die Vergangenheit in Litteratur, 
politischem und wirtschaftlichem Leben, in religiösen Anschauungen deutlich 
und anschaulich seinen Schülern vorzutragen, ein desto vortrefflicheres Hilfs- 
mittel findet er dazu an den Fabeln Gellerts. An ihnen kann er zeigen, wie 
sich schüchtern die Anfänge der Kritik der bestehenden Verhältnisse geltend 
machten, wie viel Unnatur und Überlieferung von dieser Litteratur fortgeschleppt 
wird, wie aber so manches Zeichen der anhebenden neuen Epoche in schüchterner 



*) Bei Schuller, S. 32 Anm. 140. 

*) Ähnlich urteilt Wendt, Didaktik und Methodik des deutschen Unterrichts, München 1896, 
S. 41 (Baumeisters Handbuch VII 7). 



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W. Haynel: Gelierte pädagogische Wirksamkeit 255 

Satire deutlich wird. Hier spiegeln sich die Unsicherheit des Rechts, die weich- 
liche Rührseligkeit und der Abscheu frommer Gemüter gegen den Deismus 
wieder; die Kritik, die der mannhafte Lessing an den Religionen übt, richtet 
Geliert scherzhafter gegen die philosophischen Systeme. Auf der einen Seite 
spielt noch die Unnatürlichkeit der Schäferpoesie eine Rolle, auf der andern 
findet sich eine Vorahnung des Naturevangeliums Rousseaus, wenn der schlechte 
Kulturmensch dem unschuldigen Naturkinde gegenübergestellt wird (Inkle und 
Yariko). So können Gellerts Fabeln und Erzählungen wertvolle Hilfsmittel 
der Erziehung sein, in anderm Sinne freilich als ihr Dichter gewollt hat, so 
mögen sie fernerhin ein Plätzchen im deutschen Hause finden, für das sie doch 
das einzige poetische Werk geblieben sind, das von der Reformation bis auf 
Klopstock und Lessing in unseres Volkes Eigentum übergegangen ist. 



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ZU DEE NEUEN PEEUSSISCHEN PRÜFUNGSORDNUNG FÜR 
KANDIDATEN DES HÖHEEEN LEHEAMTS 

Von N. N. 

Preufsen hat unter dem 12. September 1898 eine neue Prüfungsordnung 
für die Kandidaten des höheren Lehramts erscheinen lassen, die am 1. April 1899 
in Kraft getreten ist. Es ist zu erwarten, dafs andere Staaten, insbesondere 
auch Sachsen, dem Beispiele der führenden Macht bald folgen werden. Für 
die Umgestaltung wird das neue preufsische Muster das Vorbild abgeben, und 
von denen, die jetzt auf der Universität zum höheren Lehramte sich vorbereiten, 
wird schon mancher neuen Prüfungsbedingungen sich zu unterwerfen haben. 
Für eine neue Regelung der Verhältnisse bringen selbstverständlich alle daran 
beteiligten Parteien Wünsche mit, im vorliegenden Falle: Examinatoren und 
Examinanden, Staat und Schule. Nach Aufforderung der Redaktion sollen im 
folgenden Betrachtungen und Wünsche zur neuen preufsischen und bevor- 
stehenden sächsischen Prüfungsordnung vorgebracht werden, wie sie einem 
&li<p{ßiog aufgestiegen sind, der nach überstandener Prüfung im Schul- 
vorbereitungsdienste steht, dem also seine Examenerlebnisse noch frisch genug 
in der Erinnerung haften, der mit den Studierenden noch Fühlung genug hat, 
um zu wissen, was diese für eine neue Prüfungsordnung etwa für Wünsche 
hegen, und der aus den ersten Anfängen seiner Praxis doch auch schon ein 
klein wenig Blick dafür gewonnen hat, in welchem Verhältnisse Examen- 
forderungen und Lehrthätigkeit stehen. Also nicht eine kritische Musterung 
Paragraph für Paragraph soll gegeben werden, sondern im Anschlüsse an ein- 
zelne Punkte sollen einige sächsische Kandidatenwünsche zur Sprache kommen. 

Zunächst hält Preufsen fest am zweijährigen Vorbereitungsdienste, worin 
Sachsen noch nicht gefolgt ist. Dafs wir davor bewahrt bleiben, ist zu erhoffen. 

Beibehalten ist ferner die Trennung von allgemeiner und Fachprüfung, 
d. h. die Forderung, dafs jeder Examinand aus dem Gebiete der Philosophie, 
der Pädagogik, der deutschen Litteratur und Sprache und aus der Religions- 
lehre seiner Konfession geprüft werde. Nachdem schon in den Bemerkungen 
zur Prüfungsordnung von 1887 diese Forderungen besonders begründet worden 
waren, sind sie jetzt in § 11 in klarerer Form als 1887 und weit ausführlicher 
dargestellt worden. Nun aber die Neuerungen: 

Zunächst sei hingewiesen auf einige genauere Formulierungen und scheinbar 
nur ausschmückende Zusätze. 

§ 1 lautet: Zweck der Prüfung ist die Feststellung der wissenschaftlichen 
Befähigung für das Lehramt an höheren Schulen. Das war der Zweck der 



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N. N. Zu der neuen preufs. Prüfungsordnung für Kandidaten des höheren Lehramts 257 

Prüfung auch bisher. Dafs aber dieser allgemeine Satz jetzt an die Spitze der 
Verordnung gestellt wird, soll wohl einen ausdrücklichen Hinweis auf Trennung 
zwischen wissenschaftlicher und sogenannter praktischer Ausbildung abgeben. 

In § 2 wird jetzt ausdrücklich festgestellt, dafs die Prüfungskommissionen 
vorwiegend aus Universitätslehrern und Schulmännern zusammengesetzt werden 
sollen und der Vorsitz regelmäfsig einem Schulmanne zu übertragen ist. 

Die Bestimmungen über die Zuständigkeit der Kommissionen sind auch 
vervollständigt, aber für Sachsen mit seiner einzigen Prüfungsstelle ohne Belang. 

In § 5 wird bei den Bedingungen für die Zulassung nach Halbjahren ge- 
rechnet, nicht mehr nach Jahren: wohl ausdrückliche Rücksicht auf Unter- 
brechung des Studiums. Ebenda ist neu die Bestimmung über die Anstalten, 
deren Absolvierung an Stelle des Gymnasiums in bestimmten Fällen genügen 
soll zur Bewerbung um die Kandidatur. 

Wichtige Neuerungen bringen in den §§ 28 ff. die Bestimmungen über die 
Hausarbeiten und deren Ersatz. Nach der bisherigen preufsischen und der be- 
stehenden sächsischen Ordnung bekommt der Kandidat zu häuslicher Erledigung 
eine Aufgabe aus dem philosophischen oder pädagogischen Gebiete, je eine aus 
jedem der Fächer, in denen die Lehrbefähigung für die erste Stufe nachgewiesen 
werden soll. . Dazu sind folgende zwei Einschränkungen gegeben: 

1. Wenn zwei von dem Kandidaten gewählte Hauptfächer in solcher Be- 
ziehung stehen, dafs die Prüfungskommission die Gründlichkeit des Studiums 
derselben durch eine Aufgabe erachtet ermitteln zu können, so ist es zulässig, 
für dieselben nur eine Aufgabe zu stellen. 

2. Mehr als drei Aufgaben zu schriftlicher häuslicher Bearbeitung dürfen 
keinem Kandidaten gestellt werden. 

Hierfür bestimmt die neue Vorschrift: 

Zur häuslichen Bearbeitung erhält der Kandidat zwei Aufgaben, die eine 
für die allgemeine Prüfung aus deren Gebieten — also auf Wunsch auch aus 
der Religionslehre oder deutschen Litteratur — , die andere für die Fachprüfung 
aus einem der Fächer, in welchen er die Lehrbefähigung für die erste Stufe 
nachweisen will. Wünsche des Kandidaten bezüglich der Auswahl der Auf- 
gaben sind thunlichst zu berücksichtigen. § 6, 1: In der Meldung ist an- 
zugeben, aus welchen Gebieten — also nicht nur aus welchen Fächern — der 
Kandidat die Aufgaben für die schriftlichen Hausarbeiten zu erhalten wünscht. 

Betreffs der Sprache, in welcher die Arbeiten zu schreiben sind, ist neu 
die Bestimmung, dafs vom Gebrauche der deutschen Sprache kein Dispens 
mehr erteilt wird. Das bedeutet den Verzicht auf eine Höflichkeit gegen die 
Ausländer, die auf ihr deutsches Zeugnis hin in ihrem Vaterlande Vorteile für 
ihre Anstellung erringen wollen. Sie mögen immerhin der Sprache sich auch 
in den Arbeiten bedienen, in der sie bei deutschen Professoren Unterricht ge- 
nossen haben. 

Als Gesamtfrist für die Hausarbeiten sind jetzt 16 Wochen festgesetzt 
worden gegen 6 Wochen für jede Arbeit nach den alten Vorschriften. Dem- 
entsprechend kann Aufschub um 16 Wochen von der Kommission erteilt 

Neue Jahrbücher. 1899. II 17 



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258 N. N.: Zu der neuen preufs. Prüfungsordnung für Kandidaten des höheren Lehramts 

und von deren Leiter weitere Fristverlängerung beim Ministerium beantragt 
werden. 

Mit diesen neuen Bestimmungen wird Zweck und Wesen der Hausarbeiten 
nicht unerheblich verändert. Nicht mehr in jedem Fache, in dem er volle Lehr- 
befähigung zuerkannt haben will, darf der Kandidat eine Hausaufgabe gestellt 
bekommen, sondern nur aus einem und aufserdem eine zweite aus dem Gebiete 
der allgemeinen Prüfung. Er soll also jetzt nicht mehr nachweisen, dafs er in 
jedem seiner Hauptfächer zu arbeiten versteht und dafs er genügend mit 
Pädagogik oder Philosophie sich vertraut gemacht hat, sondern er soll den 
Nachweis liefern, dafs er die allgemeine Standesbildung besitzt und dafs er den 
wissenschaftlichen Betrieb der Fachstudien erlernt hat. Die Verlängerung der 
Arbeitsfrist ist wohl als Hinweis darauf anzusehen, dafs zu recht eingehenden 
Erörterungen durch die Auswahl der Themata Gelegenheit gegeben werden soll. 
An Stelle der Hausarbeiten können nach wie vor vom Kandidaten bereits im 
Druck veröffentlichte Arbeiten angenommen werden. Nach den neuen Be- 
stimmungen sind alle veröffentlichten Schriften bei der Bewerbung einzureichen, 
während das früher nur zugelassen war, falls der Kandidat deren Berück- 
sichtigung wünschte. Bestehen geblieben ist die Einschränkung, dafs nur die 
von preufsischen Universitäten angenommenen Dissertationen ohne Prüfung 
ihrer Qualität als Ersatz gerechnet werden sollen. 

Geblieben ist das Institut der Klausurarbeiten als Kontrole der Selb- 
ständigkeit und als Schutz gegen eine zu grofse Zahl von Hausarbeiten. Sie 
werden nun häufiger vorkommen, weil die Zahl der Hausarbeiten beschränkt 
ist und Übersetzungsproben für die fremden Sprachen ausdrücklich gefordert 
werden (§ 29). Die Arbeitsfrist ist auf je drei Stunden Maximum festgesetzt. 

Der Nachweis praktischer Fähigkeiten, der bisher nur in Physik und 
Chemie verlangt war, soll nun ausgedehnt werden auf Benutzung erdkundlicher 
Anschauungsmittel und — im Anschlufs an die Hausarbeiten — Entwerfen 
von Kartenskizzen und einfache bildliche Darstellung von Pflanzen- und Tier- 
formen (§ 30). 

Die dreistündigen Klausurarbeiten werden die Vorteile und Nachteile aller 
Klausurarbeiten haben. Dire stärkere Betonung bedeutet wohl eine Anpassung 
an die Examenvorschriften der anderen Fakultäten. Die Forderung des Nach- 
weises praktischer Fähigkeiten ist wohl in bester Absicht gestellt als nach- 
drücklicher Hinweis für den Kandidaten auf die Bedürfnisse der Schulpraxis. 
Ob daraus nun unbedingt eine neue Prüfungsforderung gemacht werden mufste, 
ist ja eine andere Frage. 

§ 11 handelt von der Abstufung der Lehrbefähigung. In Sachsen und 
Preufsen hatte man bisher drei Stufen: Lehrbefähigung im einzelnen Fache für 
Ober-, Mittel- und Unterklassen. Über die Frage dieser Gliederung sind aus- 
führliche Erörterungen zu finden in den Bemerkungen zu der Prüfungsordnung 
von 1887. Es wird da im Anschlufs an die Abschaffung des dritten Gesamt- 
zeugnisgrades die Beibehaltung der dritten Lehrfähigkeitsstufe verteidigt mit 
folgender Begründung: Damit die Lehramtsprüfung überhaupt bestanden und 



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N. N.: Zu der neuen preufs. Prüfungsordnung für Kandidaten des höheren Lehramts 259 

das zulässig mindeste Mafs der Lehrbefähigung erreicht werde, ist in einer be- 
stimmten Zahl von Lehrgegenständen eines bestimmten Gebietes die Nach- 
weisung der mittleren Lehrbefähigung erforderlich; dadurch wird keineswegs 
ausgeschlossen, dafs in anderen Gegenständen das mindeste Mafs der Lehr- 
befähigung erworben werde, und der Nachweis auch nur dieses Mafses sicherer 
Kenntnisse ist sowohl für die Gesamtbildung des betreffenden Kandidaten als 
insbesondere für seine etwaige Verwendung in der Lehrthätigkeit nicht zu 
unterschätzen. 

Ich wende mich zu § 9, der in Absatz 2 von der pflichtmäfsigen Ver- 
bindung von Fächern handelt. Es wird bestimmt: *Die dem Kandidaten .... 
zustehende Wahl unterliegt der Beschränkung, dafs sich unter den von ihm 
bezeichneten Fächern stets eine der folgenden Verbindungen finden mufs: 
Lateinisch und Griechisch, Französisch und Englisch, Geschichte und Erdkunde, 
Religion und Hebräisch, Reine Mathematik und Physik, Chemie nebst Mineralogie 
und Physik oder anstatt letzterer Botanik und Zoologie, mit der Mafsgabe 
jedoch, dafs an die Stelle jedes in den drei ersten Verbindungen genannten 
Prüfungsgegenstandes sowie an die Stelle von Hebräisch in der vierten Ver- 
bindung Deutsch treten kann. — 4. Angewandte Mathematik kann nur im An- 
schlufs an Reine Mathematik gewählt werden.' 

Die Änderung bedeutet also eine Begünstigung des Deutschen. Den Schaden 
tragen die fremden Sprachen, für die die bisher bestehende enge Verknüpfung des 
Griechischen mit dem Lateinischen und des Französischen mit dem Englischen 
beseitigt ist. Vgl. §§ 15 u. 17. Einen Vorteil sehe ich darin nicht. 

Auf eine Besprechung der Vorschriften über das Mafs der in den einzelnen 
Fächern nachzuweisenden Kenntnisse möchte ich in diesen allgemein gehaltenen 
Erörterungen verzichten. 

Was nun die Wünsche anlangt, mit denen die künftigen Kandidaten der 
Prüfung entgegensehen, so sind es wohl hauptsächlich diese drei, dafs sie dabei 
von ihren Fachstudien möglichst ausgedehnten Gebrauch machen können und 
für den Erfolg der Prüfung den rechten Nutzen haben, dafs ihnen ferner die 
Prüfung als heilsames Menetekel vor Augen steht und dafs endlich, um einen 
modern wirtschaftlichen Ausdruck zu gebrauchen, ungeeigneter Zuzug durch 
die Einrichtungen der Prüfung fern gehalten wird. 

Für die Erfüllung dieser Wünsche wird es das wichtigste sein, dafs in 
möglichst wenig Fächern nebeneinander geprüft wird. 

Ich halte es für einen Hauptvorzug der Vorbildung für das höhere Lehr- 
fach gegenüber der seminaristischen Bildung der Volksschullehrer, dafs wir in 
ein freiwillig gewähltes Studiengebiet oder mehrere irgendwie verwandte Fächer 
uns einarbeiten und zum wissenschaftlichen Verständnisse derselben zu kommen 
suchen, und dafs uns dieser Vorzug durch den Zwang zu einer zweifelhaften 
Polyhistorie nicht genommen wird. 

Die preufsische Neuerung, dafs die dritte Lehrstufe beseitigt wird, ist 
meines Erachtens freudigst zu begrüfsen. Man vergegenwärtige sich nur, wes- 
halb und wie die Lehrberechtigung für Unterklassen erworben wird. Das 

17* 



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260 N. N.: Zu der neuen preufs. Prüfungsordnung für Kandidaten des höheren Lehramts 

Zeugnis verlangt drei volle Fakultäten oder den Ersatz der dritten vollen 
Fakultas durch die zweite Stufe der Lehrbefähigung in zwei Fächern. Nun 
dient es dem Kandidaten zur Empfehlung, mehr Fakultäten im Zeugnis auf- 
zuweisen als verlangt wird. An gewisse Fächer ist auch Nachweis elemen- 
tarer Kenntnisse in verwandten Fächern gebunden. Deren Nachweis bringt 
aber auch eine Lehrbefähigung dritten Grades ein. Die Kenntnisse kann 
sich nun der Kandidat auf verschiedenen Wegen verschaffen. Er hört etwa 
eine möglichst kurze Vorlesung bei dem prüfenden Professor und bringt die 
dabei erworbenen Kenntnisse gewaltsam an. Von den so erworbenen und dar- 
gelegten Kenntnissen wird er gerade im Unterklassenunterricht meist so gut 
wie gar keinen Gebrauch machen können. Man hört ferner die Examina 
mehrerer Leidensgefährten an, um sich über die Gegenstände der Prüfung zu 
orientieren in der ja wohl nicht immer unrichtigen Meinung, dafs die Examina- 
toren für den Nachweis von Mindestkenntnissen allmählich durch die Praxis 
zu einem Prüflingskanon kommen. Auch wird an Heften zusammengeborgt, was 
man bekommen kann, und sie werden studiert, mit allen Un Vollkommenheiten 
des Kollegienheftes, ein zeitraubendes und unerspriefsliches Unternehmen. Dazu 
kommt etwa noch die Durcharbeitung eines Schullehrbuchs. So belastet sich 
der Examinand mit viel und vielerlei ungesichtetem und sehr äufserlich an- 
geeignetem Wissensstoff. Mancher freilich thut überhaupt gar nichts. Er sagt sich: 
Der Staatsexaminand hat für seine Hauptfächer genug zu schaffen, um die 
Fülle von Gedächtnisarbeit für die Prüfung zu bewältigen. Da ist jede Zer- 
splitterung schädlich. Was ich für meine Hauptfächer aus den Nachbargebieten 
wissen mufs, weifs ich, über Einzelheiten kann ich im Bedarfsfalle jederzeit 
mich leicht unterrichten. Dafs ich nicht ganz unwissend bin, beweist ja mein 
Keifezeugnis, das bei andern Fakultäten doch auch als Garantieschein der Bil- 
dung angesehen wird. Und wir, die wir ins Schulamt gehen wollen, haben 
doch in der Regel nicht zu den schlechtesten Schülern gehört. Also auf gut 
Glück hinein ins Examen mit den Schulerinnerungen und den gelegentlich dazu 
erworbenen Einzelkenntnissen. 

Also entweder thut der Kandidat für die Prüfung nichts und überläfst die 
Entscheidung dem Zufall. Dann hat die Prüfung keinen Zweck. Oder er thut 
viel und raubt sich die Zeit und die Kraft für die wichtigeren Arbeiten. Dann 
ist die Prüfung schädlich. Hat der Kandidat nun aber die Lehrbefähigung im 
Zeugnis stehen, dann kann er auch Unterricht in dem betreffenden Fache nicht 
ablehnen, so unwillkommen ihm dieser sein mag. Umgekehrt wird er auch ohne 
die Fakultas im Bedarfsfalle den Unterklassenunterricht in weniger ihm ver- 
trauten Fächern übernehmen können, mindestens ebensogut wie der Landgeist- 
liche, der alle Fächer der Unterklassen zu traktieren pflegt. 

Endlich erlangen die dritte Lehrbefähigung auch diejenigen, die sich ver- 
geblich um die Mittelklassenfakultas beworben haben. Sie werden nun in aller 
Form prädiziert zum Unterklassenunterricht, wo sie doch ausdrücklich einen 
Mangel an Fähigkeit bewiesen haben, und brüsten sich unter Umständen mit 
dem Besitze der Fakultas gegenüber denen, die, als allgemein tüchtig erwiesen, 



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N. N.: Zu der neuen preufs. Prüfungsordnung für Kandidaten des höheren Lehramts 261 

auch ohne besondere Prüfung zur Übernahme des betreffenden Unterrichtes eher 
befähigt sind. Dafs diese Begründung nicht zutrifft für diejenigen, die um die 
volle Fakultas sich beworben und nur die zweite Stufe erlangt haben, leuchtet 
jedem ein, der die dabei gestellten und zu stellenden Anforderungen kennt. 

Die Forderung, dafs auch der Unterschied zwischen erster und zweiter 
Fakultas für die Prüfung zu beseitigen sei, möchte ich mir nicht zu eigen 
machen. Denn in drei oder — zur Sicherung gegen etwaigen Schiffbruch — 
in vier Fachern den Anforderungen für Oberklassenunterricht in der Prüfung 
genügen zu wollen, ist schon ein kühnes Unterfangen. Das Vorhandensein von 
ausdrücklich anerkannten Nebenfächern ist ganz zweckmäfsig. Wer in der 
Praxis dann nachweist, dafs er in einem Fache zwar nur die Fakultas für 
Mittelklassen, aber die Befähigung für Oberklassen hat, nun der mag, um allen 
gesetzmäfsigen Vorschriften zu genügen, sich einer Ergänzungsprüfung unter- 
ziehen. Aber auch ohne diese wird bei Gelegenheit der Oberklassenunterricht 
ihm nicht vorenthalten werden. Umgekehrt kann er, wenn es ihm nicht will- 
kommen ist, nicht gezwungen werden, den höheren Unterricht zu übernehmen. 
Auch diese Folge des Vorhandenseins einer Abstufung kann ja unter besonderen 
Umständen angenehm sein. * 

Von den obligatorischen Prüfungsgegenständen sind unbedingt zu halten 
Philosophie und Pädagogik. Beseitigen sollte man dagegen die Zwangsprüfung 
in Religion. Deren Stellung im Staatsexamen suchen zu verteidigen die Be- 
merkungen zur preufsischen Prüfungsordnung von 1887. Sie soll danach nicht 
eine Wiederholung der Reifeprüfung bilden, sondern den Kandidaten Anlafs 
geben zu zeigen, dafs sie der Kenntnis und dem Verständnisse ihrer christlichen 
Konfession ihr gereifteres Nachdenken gewidmet haben. Das kann eine Prü- 
fung, von deren Bestehen die Zukunft des Prüflings abhängt, nicht zeigen. 
Welcher 25jährige Kandidat wäre soweit in seinem religiösen Denken reif 
und fertig, dafs die Prüfung nicht gefährlich würde als Gewissenszwang oder 
Versuchung zur Heuchelei oder Verleidung der Religion? Um das zu verhüten, 
kommen einsichtige Examinatoren ja doch wieder darauf hinaus, den Wissens- 
stoff der Reifeprüfung zu repetieren. Und damit wird dann auch nach den 
preufsischen Erläuterungen der ganze Prüfungsabschnitt überflüssig und als 
Überlastung des Kandidatengedächtnisses hinfällig. 

Deutsch in der allgemeinen Prüfung wird in den preufsischen Erläuterungen 
begründet mit der c hohen Aufgabe dieses Momentes der Jugendbildung'. Gewifs 
ist ein wenig Studium deutscher Sprache und Litteratur recht schön und gut. 
Aber mufs es darum examiniert werden? Prüft man den Juristen aus allen 
Gebieten menschlichen Denkens und Lebens, in denen es zu rechtlichen Ver- 
wickelungen kommen kann? Oder ist's nicht auch nach der Prüfung für den 
Lehrer wünschenswert, dafs er bei Gelegenheit sich über Fortschritte mensch- 
lichen Wissens und Könnens informiert, die aufserhalb seines Studiums liegen 
und von denen bis zur Zeit seiner Reifeprüfung den Schulen noch nichts ge- 
sagt werden konnte? 

Wie aus den geführten Erörterungen zu ersehen ist, vertrete ich die An- 



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262 N. N.: Zu der neuen preufs. Prüfungsordnung für Kandidaten des höheren Lehramts 

sieht, dafs die allgemeine Prüfung nach Möglichkeit einzuschränken ist. Will 
man aufser der Philosophie und der Pädagogik noch andere Fächer halten, so 
sind dem Kandidaten zwei Zugeständnisse zu gönnen, erstens Anrechnung der 
bei der etwaigen mündlichen Promotion nachgewiesenen Kenntnisse wenigstens 
für die allgemeine Prüfung, und zweitens Zulassung zeitlicher Trennung der 
einzelnen Prüfungsfächer oder wenigstens von allgemeiner und Fachprüfung 
nach Art der Stationen in der medizinischen Staatsprüfung. 

Der Staat, der den Kandidaten ein Zeugnis ausstellen läfst, giebt ihnen 
damit die Aussicht auf Verwendung im Schuldienst für die gesamte Zeit ihrer 
Dienstfähigkeit. Er droht nicht mit neuen Prüfungen bei jeder Änderung im 
Unterrichtswesen. Er mufs also seine Forderungen so stellen, dafs seine künf- 
tigen höheren Lehrer auch unter veränderten Verhältnissen Verwendung finden 
können. Er kann beispielsweise keinem ein Oberlehrerzeugnis erteilen, der 
nichts kann als nur in einem einzigen Fache unterrichten. Denn es könnten 
Umstände eintreten, die die Beseitigung dieses einen Faches aus dem Mittel- 
schulunterrichte herbeiführten. 

Die Schule mufs aus mancherlei Zweckmässigkeitsgründen wünschen, dafs 
jedes Mitglied des Kollegiums in möglichst viel Fächern auf möglichst viel 
Stufen verwendbar ist. Ausarbeitung des Stundenplans, möglichste Zusammen- 
legung des Unterrichts einer Klasse in eine Hand begründen diese Forderung. 
Wenn ich so die Wünsche und Forderungen der an der behandelten Frage 
beteiligten Parteien gegeneinander abwäge, komme ich zu folgendem Ergebnis: 
Ein volles Zeugnis soll erworben werden durch zwei Hauptfächer mit voller 
Fakultas und dazu zwei Nebenfächer mit halber Fakultas nach Wahl oder 
durch drei Hauptfächer. In der Freiheit der Fächerkombination darf nicht zu 
weit gegangen werden. Examinatoren und Examinanden sind auf den Unter- 
richtsstoff der Schulen ausdrücklich hinzuweisen. Mehr Fächer nebeneinander 
sind nicht zu fordern wegen der daraus entstehenden Gefahr der Verflachung, 
aber auch nicht weniger Fächer zum Schutz gegen wissenschaftliche Einseitig- 
keit und im Interesse der praktischen Verwendbarkeit der Kandidaten. Die 
Möglichkeit einer Zerlegung des Examens in Stationen mufs zugelassen werden. 
Der Kandidat erwirbt sich ein Anrecht auf Verwendung nach erwiesener 
wissenschaftlicher Befähigung, wenn nicht seine Versuche in der Praxis seine 
Unbrauchbarkeit darthun. 

Es soll jedem das Recht zugestanden werden, die Anstaltsart zu wählen, 
an der er unterrichten will, und ihm möglichst nur Beschäftigung in den 
Fächern gegeben werden, die seinem Interesse nahe liegen — dem Interesse, 
d. h. dem Studiengebiete, auf das die Prüfung sich erstreckte und Gebieten, 
denen aufserdem oder später die Neigung sich zuwendet, denn bei der Prüfung 
soll ja kein Kandidat darauf vereidigt werden, nun gar nichts Neues mehr 
lernen zu wollen. Dafs man einem sonst als tüchtig Erwiesenen auch Leistungen 
auf Gebieten zutrauen kann, aus denen er nicht auf alle und jede Weise ge- 
prüft worden ist, nimmt ja auch die neue preufsische Ordnung an, die nur eine 
fachwissenschaftliche Hausarbeit vorschreibt. 



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DER GRIECHISCHE UNTERRICHT 

Von Richard Meister 

Mit der Bearbeitung des griechischen Unterrichts ist nunmehr das Bau- 
meistersche Handbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre für höhere Schulen 
zum Abschlüsse gelangt. Der Auftrag zur Bearbeitung dieses letzten Teiles 
ist längere Zeit von Hand zu Hand gegangen; mehrere namhafte Schulmänner 
hatten ihn erst angenommen, nach einiger Zeit aber wieder zurückgeschickt; 
schlief slich ist er c in elfter Stunde' in Dettweilers Hände gelangt, der bereits 
den lateinischen Unterricht für das Handbuch bearbeitet hatte, und ist von ihin 
in weniger als neun Monaten vollendet worden, wie das in Baumeisters Schlufs- 
wort mit gebührendem Danke hervorgehoben wird. Wie sein lateinischer Unter- 
richt ist auch dieser griechische ein an nützlichen Winken reiches und an- 
regendes Buch. Bei allgemeinen Fragen verweilt es nur kurz, manchmal zu 
kurz, wie in dem Überblick über die geschichtliche Entwickelung des griechi- 
schen Unterrichts (S. 7 — 11), den realen Dingen aber geht es resolut und 
frisch zu Leibe; man hat immer das Gefühl, dafs bei allem, was hier ge- 
schrieben steht, unmittelbare Beobachtung und Kritik des wirklichen Unter- 
richts zu Grunde liegt. Energisch in der Durchführung seiner Forderungen, 
konsequent in der Verfolgung seines Ziels, kurz gefafst im Anfassen der 
Probleme, so erscheint uns in dem Buche der Verfasser als Didaktiker. Aber 
eben darum, weil ich die werbende Kraft seines Wortes nicht verkenne, glaube 
ich meine Bedenken gegen den Grundgedanken dieser Didaktik um so rück- 
haltloser aussprechen zu müssen. 

'Der griechische Unterricht ist heute aufs äufserste gefährdet' (4), das ist 
der Leitsatz seiner Einleitung. Dieser Gefahr gegenüber organisiert er seine 
Didaktik defensiv, sucht zu beseitigen, woraus der Gegner Vorteil ziehen 
könnte, und giebt auf, was, wie er glaubt, sich nicht mehr halten läfst. Vor 
allem hat nach ihm der 'grammatische Betrieb' heftige Angriffe hervorgerufen; 
er sucht daher in seiner Didaktik den griechischen Unterricht dadurch zu refor- 
mieren, dafs er den grammatischen Betrieb ganz erheblich zu beschränken rät. 

Man solle sich zunächst in der Formenlehre begnügen, 'das zu lehren 
was not thue, und alle Seltenheiten und Ausnahmen bei Seite lassen 9 (25). 
Nur die 'regelmäfsigen Grundformen' seien 'einzupauken' (36); es komme nicht 
darauf an, 'die Formen so zu lernen, dafs sie ohne weiteres auch beim Über- 
setzen ins Griechische angewendet, sondern nur, dafs sie in dem griechischen 
Texte sofort erkannt' würden (36). 'Auf die unbedingt genaue Accentsetzung 
werde man wohl allmählich verzichten müssen 9 (38); begnügen solle man sich 



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264 R- Meister: Der griechische Unterricht 

mit 'Anschauung und Erklärung der Accente in den wichtigsten Erscheinungen 
ohne die sogenannten Ausnahmen und ohne die alexandrinische Benennung'; 
zum schriftlichen Gebrauche sei weder die Setzung der Accente, noch die des 
Spiritus lenis noch die Eigentümlichkeit der Encliticae einzuüben (25 f.). In 
der Declination sei 'aus dem regelmäfsig zu erlernenden Lehrstoff auszuscheiden 
und gelegentlicher Erklärung bei der Lektüre zu überlassen: der Dual, der 
Vokativ mit wenigen Ausnahmen, die sogenannte attische Deklination, eine 
grofse Anzahl von Substantiv- und Adjektivformen, namentlich auch von 
solchen, die durch Eontraktion Eigentümlichkeiten haben' (26) u. s. w. In der 
Konjugation brauche sehr vieles von den sogenannten Unregelmäfsigkeiten, 'was 
die Schüler selbst finden können, für die Zukunft nicht dem mechanischen 
Gedächtnis aufgebürdet zu werden' (34); auszuscheiden seien c z. B. die Perfekte 
von äyeiQG), aXeiqxo, &q6co, iysiQO u. a., Seltenheiten wie aXati&at, akdiLevog, 
aQcci, &Qccg, ixaft a$a, iötfiiava, manche Imperativformen, besonders die des 
Perfekts' (26); auf das Perfekt brauche überhaupt nicht die gleiche Sorgfalt 
verwendet zu werden wie auf die übrigen Verbalformen, z. B. auf den Aorist (26). 
Von einer solchen Beschränkung in der Einübung der Formen, die bis jetzt 
noch nicht genügend durchgeführt sei, verspricht sich Dettweiler nicht eine 
Schädigung, sondern eine Förderung und Vertiefung des griechischen Unter- 
richts (25). Wenn aber nur die regelmäfsigen Grundformen sicher gelernt, die 
unregelmäfsigen Formen zum grofsen Teil bei Seite gelassen werden sollen, 
und auch von den regelmäfsigen auf manche Formen keine Rücksicht ge- 
nommen, auf manche nicht die gleiche Sorgfalt verwendet werden soll wie auf 
andere, wenn die Formen überhaupt nicht so gelehrt und gelernt werden 
sollen, dafs sie ohne weiteres beim Übersetzen ins Griechische angewendet, 
sondern nur so, dafs sie in einem griechischen Texte erkannt werden können, 
dann, fürchte ich, werden bei einem solchen Unterrichte in der Formenlehre 
unter gewöhnlichen Verhältnissen die Schüler nicht *wenig aber sicher' (25), 
sondern wenig und unsicher lernen. Sie werden, wenn man von ihnen nicht 
mehr verlangt die Formen zu bilden sondern nur zu erkennen, mit geringerer 
Aufmerksamkeit die einzelnen Wörter, Silben und Zeichen betrachten und 
infolgedessen die im Text begegnenden Formen leichter verkennen und ver- 
wechseln. Und wenn man so zahlreiche Stücke der Deklinations- und Kon- 
jugationslehre nicht lernen läfst, sondern allemal erst, wenn sie in der Lektüre 
vorkommen, erklärt, so verlangsamt man nicht nur dadurch die Lektüre, son- 
dern hält auch die Schüler in dem Gefühl der Unzulänglichkeit und Halbheit 
ihres grammatischen Wissens nieder. Und wenn man den Lehrer auffordert, 
gewisse Formen zwar lernen zu lassen, aber nicht mit der gleichen Sorgfalt 
wie andere, so wird man ihn aufser stand setzen, die Sicherheit der Schüler 
in der Formenlehre, die sein Ziel beim Unterrichte sein mufs, zu erreichen. 
Zu verlangen ist doch wohl vielmehr, dafs, was einmal in der Formenlehre 
von den Tertianern gelernt werden soll, ordentlich gelernt und geübt werden 
mufs, so dafs es fest sitzt, und dafs der in den Tertien gelernte Formenschatz 
für die Bedürfhisse des Gymnasiums aushält und reicht. 



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R. Meister: Der griechische Unterricht 265 

Aber weit mehr noch als in der Formenlehre soll nach Dettweilers Rat 
der Unterricht in der Syntax reformiert werden. 'Es mufs vollständig mit 
der übrigens verhältnismässig jungen Tradition gebrochen werden, dafs ein 
eigentlicher, buchmäfsiger, systematischer Unterricht in der griechischen Syntax 
zum Verständnis des Griechischen, zur wissenschaftlichen Bildung und Er- 
ziehung, also zur Erfüllung der Aufgabe des humanistischen Gymnasiums notig 
sei oder auch nur Wesentliches beitrage oder je beigetragen habe' (39). 'Das 
Gezeter, dafs hierdurch die Lektüre an Gründlichkeit verliere, rührt mich nicht; 
denn es ist grundlos. Im Gegenteil wird mit dem Schwinden des buch- 
mäfsigen Unterrichts in der Syntax eine Menge von sogenanntem notwendigen 
Memorierstoff beseitigt und Zeit und Kraft gewonnen. Dadurch wird erst 
Gelegenheit geschaffen, auf die feineren Mittel und Färbungen der griechischen 
Sprache, auf ihre Verwandtschaft mit anderen, auf die sinnliche Kraft des Aus- 
drucks, auf die etymologischen Fragen, kurz auf das, was W. v. Humboldt 
«innere Sprachform> genannt hat, einzugehen und so die sprachliche Einsicht 
viel mehr zu vertiefen, als dies beim Regelunterricht nach der Grammatik der 
Fall war und ist. Und umgekehrt wird dadurch die Lektüre selbst nur ge- 
fordert. Denn es ist eine Illusion, dafs die Schüler durch einen noch so gründ- 
lichen Grammatikunterricht irgendwie in dem Verständnis einer Stelle gefördert 
würden* (69). Nur gewisse syntaktische Hauptregeln sollen durch Beispiele 
Veranschaulicht* werden in einer 'Schulsyntax*, wie sie der Verfasser als 
Direktor in Bensheim auf sechs kleinen Quartseiten zusammengestellt hat. 
'Diese Schulsyntax besteht darin, dafs wir eine Anzahl von leicht behaltbaren 
metrischen Beispielen mit einem allgemeinen oder doch leicht verständlichen, 
auch wohl geschichtlichen Inhalt gruppenweise mit ganz kurzen Bemerkungen 
über die Regel, die dadurch veranschaulicht werden soll, in gemeinsamer Be- 
ratung zusammenstellen, drucken lassen und allein dem syntaktischen Unter- 
richt zu Grunde legen* (40). Er giebt folgendes Beispiel aus ihr, 'Die Eigen- 
tümlichkeiten des griechischen Accusativs werden folgendermafsen dargestellt: 

ßXcbttu tbv avÖQa frvpbg elg ÖQyijv nsömv (Gutes oder Böses zufügen 
durch Wort oder That, nützen, schaden, vergelten). 

£ij6€ig (Uov xQatiöTov, r\v frvfiov xQcctfig (Acc. des Inhalts. Der im Acc. 
stehende Begriff ist schon unmittelbar oder mittelbar im Verbum ent- 
halten). 

tbv Ttdvrcc d* <SXßov fipctQ Sv p Scyelkexo (doppelter Acc. bei ausziehen 
und berauben, lehren und verheimlichen). 

ßeXtiöv iötc 6ß>(id y' i} t/wx^v voöelv (Acc. der Beziehung. Vgl. Abi. 
limitationis)* (40 f.). 
Diese Zusammenstellung kommt mir doch einigermafsen lückenhaft vor. Ich 
vermisse z. B. die Konstruktion der doch sehr häufigen Verba litiXtiituv, 
(pftdveiVj Xav%&vuv, Q'ccqqsIv — mit welchem der vier metrischen Beispiele 
sollen diese von den Schülern durch Gedankenassociation als begriffsverwandt 
verbunden werden? Oder soll ihre Konstruktion etwa als 'selbstverständlich* 
nicht besonders gelernt, oder nur bei Gelegenheit in der Lektüre 'aufgezeigt* 



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266 R- Meister: Der griechische Unterricht 

werden? Oder soll sie deshalb in der Syntax weggelassen werden, weil sie 
etwa schon früher bei den Vokabeln mitgelernt worden ist? Gilt aber nicht 
das Gleiche von ihr wie von der Konstruktion der durch jene metrischen 
Beispiele Veranschaulichten* Verba $\a%xuv, SctpcuQeiöd'cci, Sidäöxeiv u. s. w.? 
Ist es nicht im Sinne der Konzentration, die doch Dettweiler mit Recht überall 
vertritt, zu verlangen, dafs bei der Lehre vom Accusativ alle gebräuchlichen 
Verba, die vom Deutschen abweichende Accusativkonstruktion haben, auch 
wenn sie früher bereits als Vokabeln gelernt worden sind, in logischer 
Gruppierung aufgeführt werden? Und ist es nicht für das Lernen und Wieder- 
holen praktischer, dafs, wie die üblichen Schulgrammatiken es thun, die dem 
Begriff und der Konstruktion nach zusammengehörigen gebräuchlichen Verba 
übersichtlich zusammengedruckt werden, als dafs sich der Schüler z. B. bei 
dem Beispiel von äyaiQelö&ai merken soll: ebenso werden die Verba 'lehren* 
und Verheimlichen' konstruiert? — Ferner bedarf nach Dettweiler, 'wenn der 
lateinische Unterricht in Tertia seine volle Schuldigkeit gethan hat', 'die ganze 
Lehre vom Prädikativum, so auch die dahin gehörigen Verba mit doppeltem 
Acc. oder Nom. keine Minute der Erklärung, ebenso der Gen. possess., subject., 
object., explic, partit. Denn das ist alles in der lateinischen Grammatik ge- 
lernt. Dafs an Stelle des Ablat. instrum., modi, mensurae der Dativ, an Stelle 
des Abi. der Trennung und der Vergleichung, des Abi. absol. der Genetiv tritt, 
wird schon in dem Lesebuch für Untertertia hervortreten' (41). Auch hier ist 
mir Dettweilers Verfahren zu summarisch. Namentlich der Gebrauch des 
griechischen Genetivs wird auf so kurze Weise nicht klar gemacht werden 
können; der partitivus z. B. bei den Verben itlvsiv, Xupßdveiv, tvy%dveiv^ 
avxi%%6^ai u. 8. w. ist doch im Lateinischen weder beim Genetiv noch beim 
Ablativ erlernt oder erläutert worden. Ebenso ist mit der Bemerkung: 'die 
Eigentümlichkeiten der Negationen erklären sich alle ohne grofses Regelwerk 
aus dem Pleonasmus' (42) für das Wissen der Schüler vom Gebrauch der 
griechischen Negationen doch noch gar nichts gethan; Konstruktionen z. B. wie 
ov fti) ütavö(0[iai wollen doch einfach gelernt sein. Das Verfahren, alle diese 
Regeln nicht systematisch nach der Grammatik, sondern je nach ihrem Vor- 
kommen bei der Lektüre zu lehren und lernen zu lassen, halte ich für um- 
ständlicher und zeitraubender als das gewöhnliche, und wenn man auf die Ein- 
übung dieser syntaktischen Dinge, um den Gang der Lektüre nicht allzulange 
aufzuhalten, nicht die nötige Zeit verwenden will, halte ich allerdings für nahe- 
liegend die Gefahr der Ungründlichkeit und der Verwirrung in den Schüler- 
köpfen. Und wenn diese Gefahr sich verwirklichen sollte, dann erst wäre 
meiner Ansicht nach der griechische Unterricht aufs äufserste gefährdet. Dem 
vorzubeugen, weifs ich kein besseres Mittel zu empfehlen, als, soweit die Lehr- 
pläne dazu Spielraum lassen, die grammatische Grundlage so fest und solid 
wie möglich aufzubauen; dabei soll nicht das Gedächtnis allein, sondern der 
Verstand zugleich beschäftigt werden und mithelfen; Formen und Regeln 
sollen sofort in den Satzzusammenhang gebracht und wieder aus ihm heraus 
erläutert werden; was aus dem griechischen Satz gelernt worden ist, soll beim* 



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R. Meister: Der griechische Unterricht 267 

Übersetzen in das Griechische angewendet werden; durch Wechsel im Lehr- 
verfahren soll das Denkvermögen vielseitig angeregt werden; erklären und ab- 
fragen, mündlich übersetzen und Sätze bilden, einzelne Wörter an die Wand- 
tafel anschreiben, in das Heft kurze Sätze übersetzen, so soll der Unterricht 
in der griechischen Grammatik auf vielen Wegen das eine Ziel erstreben: 
Sicherheit in der Beherrschung der äufseren Sprachform. Dann erst wird es 
erlaubt sein, auf die innere Sprachform' (s. oben S. 265) einzugehen. Je näher 
aber der grammatische Unterricht die Schüler jenem Ziel gebracht hat, desto 
ungehinderter und rascher wird die Lektüre vorwärts schreiten können. So 
bedeutet der von Dettweiler verworfene 'gründliche' Grammatikunterricht für 
den Hauptteil des griechischen Unterrichts im Gymnasium Erleichterung und 
Zeitgewinn. 

Nicht so wie bei der Grammatik tritt die reformierende Tendenz der 
Dettweilerschen Didaktik bei seiner Behandlung der Lektüre hervor, zu der 
ich nur wenige Bemerkungen mir gestatte. Die zu lesenden Autoren sind für 
ihn von den Prosaikern Xenophon, Herodot, Thukydides, Demosthenes, Piaton, 
von den Dichtern Homer und Sophokles. Ich möchte den in Übereinstimmung 
mit den preufsischen Lehrplänen von ihm gestrichenen Lysias in HA festgehalten 
sehen. Dettweiler meint, wer Demosthenes als Typus des Redners habe, 
könne jeden anderen entbehren (57); aber die Gerichtsrede des Lysias mit 
ihren feingezeichneten Charakterbildern ist ein besonderer Typus, der neben 
dem der politischen Rede des Demosthenes einen Platz verdient. Wenn ihm 
ein Dritteljahr in HA gewidmet wird, bleibt für Herodot genug noch übrig. 
Von Demosthenes wird als gebräuchliche Auswahl empfohlen *eine Olynthische 
Rede, am besten die erste, weil einführende, und die 3. Philippische, die ge- 
waltigste, feurigste, nationalste, in der Ehre wurzelnde, der Schwanengesang 
des Demosthenes, dazwischen mit Abwechselung aus manchen Gründen eine 
andere, meist die über die Angelegenheiten auf dem Ghersones, die am meisten 
streng beweisende, oder auch die 1. oder 2. Philippische' (55). Dabei ist, wie ich 
glaube nicht mit Recht, die Rede über den Frieden ausgeschlossen, die inhalt- 
lich ganz besonders bedeutungsvoll und für die Politik des Demosthenes von 
hervorragendem Interesse ist. Beiläufig möchte ich bemerken, dafs ich die 
Bezeichnung der 3. Philippischen Rede als 'Schwanengesang des Demosthenes , 
weder für glücklich noch für richtig halte, da er, wie bekannt, in den auf sie 
folgenden zwanzig Jahren seines Lebens noch manche Rede gehalten hat, von 
denen die uns erhaltene vom Kranz ihr an Bedeutung sicherlich nicht nach- 
steht. Dafs es sich in Piatons Apologie um des Sokrates 'gereiften Glauben 
an eine Unsterblichkeit* (56) handele, kann ich nicht finden; der Abschnitt 
dvoiv yäg d'dteQÖv iött, tö tB&vdvcu, u. s. w. kann schwerlich als Beleg dafür 
dienen. Aischylos soll 'zu allen Zeiten, auch wo man es sich nicht eingestehen 
wollte, für die Schule zu schwer' (65) gewesen sein; bei uns liest man oft den 
Prometheus und wird nicht ohne Verwunderung von Dettweiler sich sagen 
lassen, dafs 'der kühne Wortbildner, dessen Sprache überall ringt mit dem 
Gedanken, niemals auch nur annähernd von einem Schüler erfafst worden sei* 



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268 R. Meister: Der griechische Unterricht 

und dafs auch die Lehrer selten seien, 'die es vermögen, ihn zu erklären' (65). 
Auch dagegen möchte ich Einsprache erheben, dafs Dettweiler den Euripides 
'in seiner sittlichen Auffassung vielfach zu leicht geschürzt' (65) erklärt. Er 
hat dieses Urteil wohl eher aus dem Spötter Aristophanes geschöpft als aus 
dem philosophischen Tragiker, der es so bitter ernst mit allen sittlichen 
Problemen nimmt. Ab und zu einmal in Unter- oder Oberprima zur Medeia, 
dem Hippolyt, der taurischen Iphigenie zu greifen, sollte nicht verwehrt sein. 
Von allen Sophokleischen Stücken bevorzugt Dettweiler den Aias, der ihm zur 
Einführung vortrefflich erscheint. Ich will dagegen nichts sagen, obwohl ich 
zu diesem Zwecke dem Philoktet oder dem König Ödipus den Vorzug gebe, 
aber die empfohlene (66) Heranziehung der zahlreichen Beziehungen aus 
Goethes Götz, 'mit dem Aias sehr viele Berührungspunkte gerade in dem Be- 
griff der durch eigene Schuld verletzten Heldenehre und des dadurch hervor- 
gerufenen Untergangs' habe, aus Minna von Barnhelm und aus den Reden des 
Demosthenes zur verschiedenen Beleuchtung des Ehrbegriffe im Aias würde 
ich, soweit es sich um die Erklärung des Sophokleischen Dramas handelt, als 
zu weit hergeholt lieber unterlassen. Ich verstehe auch nicht, wie 'im Aias 
deutlicher als in einem anderen antiken Stücke die Gnade der Gottheit als eine 
die irrenden Menschen gerecht und weise bestimmende Macht als Leitmotiv 
angewandt' (66) sein soll; nicht c Gnade der Gottheit' wird durch das Ein- 
greifen der Athene bekundet, sondern im Gegenteil erbarmungslose Bestrafung 
menschlicher Überhebung. — Für die Lyriker, meint Dettweiler, fehle es an 
Zeit (68 f.). Ich möchte doch dringend empfehlen, in den beiden Primen oder 
wenigstens in Oberprima für sie Zeit zu schaffen, etwa aller vierzehn Tage 
eine Stunde, wo man sechs Stunden wöchentlich hat, oder eine Wochenstunde, 
wo man, wie bei uns, über sieben verfügt. Die Stadtmüllerschen Eclogae 
poetarum Graecorum bieten eine passende und nicht zu kärglich bemessene 
Auswahl aus ihnen. Da ist die schönste Gelegenheit, scharfe und mannig- 
faltige Bilder des Griechentums vorzuführen, 'Litteraturbilder, Geschichtsbilder, 
Persönlichkeitsbilder, Begriffsbilder' (46), wie sie Dettweiler so gern 'erarbeiten' 
läfst. Dichter allerersten Ranges sind unter ihnen, Persönlichkeiten, die mit 
ihrem Denken und Handeln charakteristisch für ihr Volk und ihre Zeit und 
typisch für alle Zeit geworden sind, Schöpfer und über Jahrtausende hin 
leuchtende Muster bestimmter Dichtungsgattungen. Sollen unsere Schüler nichts 
von ihnen lernen? Oder nur dürre litteraturgeschichtliche Notizen? Gerade 
für das Konzentrations verfahren, in dessen Wertschätzung ich mit Dettweiler 
ganz übereinstimme, bieten sie verlockende Aufgaben. Wo läfst sich die 
Tüchtigkeit der spartanischen Jugenderziehung, das Wesen der lykurgischen 
Verfassung, der Charakter der Lakonier besser schildern und schauen als in 
den Gedichten des Tyrtaios? Wie läfst sich der Kontrast zwischen athenischer 
und lakonischer Sinnesweise besser begreifen, als wenn man neben sie die 
Gedichte Solons stellt? Kann man die Gesetzgebung Solons in ihren Ursachen, 
Haupttendenzen und Wirkungen irgendwo lebendiger zur Anschauung bringen 
als im Rahmen seiner Hypothekai? Sind nicht Mimnermos und Theognis zu 



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R. Meister: Der griechische Unterricht 269 

beiden wirkungsvolle Gegensätze, und beide nicht nur ausgeprägte Charakter- 
köpfe, sondern zugleich auch ihrerseits Typen des griechischen Volkes? Und 
Archilochos, Alkaios, Sappho — führt nicht jeder in eine eigene reiche Welt, 
sind es nicht grofsartige Erscheinungen mit stark individuellem Gepräge, die 
im Gedächtnis der Betrachtenden fest haften und ihnen vieles Wertvolle mit- 
zuteilen haben? Gern lasse ich den Lyrikern im zweiten Halbjahr der Ober- 
prima eines der drei Aristophanischen Stücke (Ritter, Wolken, Frösche) in der 
gekürzten Form, in der sie Stadtmüller mit in die Eclogae aufgenommen hat, 
folgen; sie zeigen neben ihrem allgemeinen litterarischen und historischen 
Interesse den Schülern das unerreichte Musterbild der Posse und den geist- 
reichsten Bühnendichter und erwecken durch ihren unerschöpflichen Humor, 
ihren schlagfertigen Witz und ihre kühne Phantasie Frohsinn und Heiterkeit. 
Wenn ich, wie dargelegt, über den Weg, den der griechische Unterricht 
im Gymnasium einzuschlagen hat, an verschiedenen Punkten von Dettweilers 
Ansicht abweiche, so bin ich über das zu erstrebende Ziel und die Zu- 
kunft dieses Unterrichts ganz mit ihm einverstanden: 'Wir können, wenn wir 
uns selbst in die rechte Zucht nehmen, es so weit bringen, dafs unsere Schüler 
sich in einen gegen früher nicht einmal beschränkten Kreis von Schriftstellern 
ersten Ranges bis zu selbständigem Übersetzen in ein ordentliches Deutsch 
einlesen, dafs sie nicht etwa dilettantenhaft herausgepflückte Teile, sondern 
gröfsere Gedankeneinheiten durch eigene Arbeit verstehen und in ihrer Kunst- 
form würdigen, und dafs sie sich eine durch eigene Erarbeitung wertvollere 
Kenntnis der für unsere eigene Zeit wichtigsten antiken Gedankenwelt erwerben. 
Wir glauben deshalb, dafs der griechische Unterricht, richtig gehandhabt — 
was nicht bedeuten soll, nach einer bestimmten, unfehlbaren Methode, die es 
nie geben wird — in der Zukunft eine günstigere Stellung haben kann als 
jetzt' (75 f.). Das glaube auch ich, wenn ich auch vielleicht die Voraus- 
setzungen der fechten Zucht' und Nichtigen Handhabung' etwas anders fasse. 
Der griechische Unterricht hat eine Zeit lang unter der Meinung gelitten, der 
Weg zur höheren Bildung gehe einzig und allein durch ihn. Das war ein 
Irrtum. Wir sehen auf den Höhen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens 
nicht nur frühere Zöglinge humanistischer Gymnasien, sondern Industrielle, 
Techniker, Offiziere, Kaufleute, Künstler und viele andere, die sich höhere und 
hohe Bildung erworben haben, ohne jemals mit Bewufstsein bei den Griechen 
in die Schule gegangen zu sein. Gewifs, die Schule der Griechen ist nicht die 
einzige, die höhere Bildung lehrt: die feinste aber und die an vorzüglichen 
Lehrern reichste ist sie. Zu diesen Lehrmeistern, Homer und Piaton, Demosthenes 
und Sophokles, Herodot und Solon und wie sie alle heifsen, den jugendlichen 
Sinn hinzuführen und zu erheben, das ist die schöne Aufgabe des griechi- 
schen Unterrichts. Was jene Geister gedacht und gebildet haben, können sie 
nur in ihrer eigenen Sprache rein und unverfälscht vermitteln; die edle 
künstlerische Form und die individuelle Gestaltung der Gedanken geht in der 
Übersetzung unrettbar verloren; Charakter und Bedeutung von feststehenden 
und nach Form und Inhalt erzieherischen Mustern haben die Klassiker nur im 



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270 R- Meister: Der griechische Unterricht 

eigenen Sprachgewand. Um eingeführt zu werden in den Geist jener Werke 
und ihrer Verfasser, müssen darum die Schüler die griechische Sprache lernen, 
und je gründlicher sie sie lernen, um so ungehinderter und gewinnbringender 
wird die Lektüre vor sich gehen: Unsicherheit und Karglichkeit des gramma- 
tischen Wissens hindert den griechischen Unterricht, sein Ziel zu erreichen, und 
verringert seinen Wert und seine Existenzberechtigung. 

So bin ich wieder an dem Punkte angelangt, von dem ich ausging, auf 
den es mir, wie dem Verfasser dieser neuesten Didaktik, am meisten ankommt 
In diesem Punkt sind wir verschiedener Meinung. Ich würde es für einen 
Schaden halten, wenn in der von Dettweiler empfohlenen Weise der Unterricht 
in der griechischen Grammatik in weiterem Umfange beschrankt und zurück- 
gedrängt werden sollte; nach meiner Überzeugung werden wir die Stellung des 
griechischen Unterrichts im Gymnasium durch nichts besser starken, verteidigen 
und schützen können als durch treue Arbeit an der Befestigung seines Funda- 
ments, des sprachlichen Wissens. 



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HILFSBÜCHEE FÜR DEN DEUTSCHEN UNTERRICHT 

Von Paul Vogel 

Ernst Laas, Der deutsche Aufsatz in den oberen Gymnasialklassen. Erste Abteilung: 
Einleitung und Theorie. Dritte Auflage besorgt von J. Im el mann. Berlin, Weidmannsche 
Buchhandlung 1898. 

Meine hohe Wertschätzung des Laasschen Baches habe ich schon bei der 
Besprechung der zweiten Abteilung (Jahrbücher f. Phil. u. Päd. H. Abt. 1896 
Heft 12 S. 574 ff.) zu erkennen gegeben. "Bei genauer Durchsicht der 'Theorie' 
hat sich meine Bewunderung nur gesteigert. Hauptsächlich ist mir immer 
klarer geworden, dafs das Werk für die ganze Gymnasialbildung von 
hoher Wichtigkeit ist, nicht nur für den deutschen Aufsatz. Die vorwiegend 
auf das Reale gerichtete Jetztzeit hätte das humanistische Gymnasium gern zu 
einer höheren Bürgerschule umgemodelt, die nur das und alles das zu treiben 
hätte, was im späteren Leben praktisch verwertbar ist. Die Unterrichts- 
ministerien konnten sich dem Zug der Zeit nicht ganz entziehen, sie konnten 
höchstens — wie dies gottlob in Sachsen geschehen ist — die neuen Regulative 
möglichst konservativ gestalten. Die moderne Bewegung ist aber mit diesen 
neuen Regulativen durchaus noch nicht zum Stillstand gekommen. Und an- 
gesichts dieser Thatsache gerade begrüfse ich die neue Auflage des Laasschen 
Buches mit besonderer Freude: denn es zieht sich durch dasselbe, und zwar 
stark betont, der Grundsatz hindurch, dafs das Gymnasium wissenschaftliche 
Propädeutik zu bieten habe, ein Grundsatz, der auch in neuerer Zeit meines 
Erachtens z. B. beim Betrieb des Französischen nicht immer genügend an- 
erkannt und durchgeführt wird. 

Nach Laas soll der Aufsatz 1. die für die höheren Berufsarten bestimmten 
Jünglinge mit der Fertigkeit ausrüsten ihre Gedanken in sachgemäfser, über- 
sichtlicher Gliederung klar und verständig darzulegen; 2. naheliegende, für die 
allgemeine Bildung besonders wertvolle Unterrichtsstoffe recht 
gründlich durchzuarbeiten und anzueignen; 3. die Privatlektüre zu leiten 
und zu vertiefen. Damit diese Zwecke erreicht werden, wünscht Laas, dafs 
dem Lehrer des Deutschen noch andere Unterrichtsgegenstände in die Hand 
gegeben werden, und zwar meint er damit in erster Linie das Griechische 
und das Lateinische 1 ): sein ganzes Buch (auch die 'Materialien') ist in dem 



*) Genannt ist nur der lateinische Dichter (S. 26) 'Die lateinische Prosa mufs so lange 
dem lateinischen Aufsatz zur Ausbeute vorbehalten bleiben, als dieser fortfährt, Bestandteil 
des Gymnasialunterrichts zu sein' (S. 25). Dafs letzteres nicht mehr der Fall ist, hätte 



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272 P- Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 

Sinne geschrieben, dafs der deutsche Aufsatz auch für die humanistischen 
Disziplinen ganz direkt nutzbar gemacht wird. Auf Mathematik, Religion 1 ), 
Naturwissenschaften, Franzosisch wird das Prinzip der Konzentration nicht aus- 
gedehnt. Sehr richtig: die Gegenwart hat Lateinisch und Griechisch stark zurück- 
gedrängt, die realen Fächer und Französisch haben mächtig gewonnen und 
nehmen auch die häusliche Arbeitszeit der Schüler ganz anders als früher (das 
Französische in Quarta entschieden bedeutend mehr als das Lateinische!) in 
Anspruch: soll das humanistische Gymnasium sehliefslich nicht blofs den 
Namen eines solchen führen, so mufs jede Gelegenheit benutzt werden, den 
humaniora beizuspringen. Dafs Laas hierzu den deutschen Aufsatz grundsätz- 
lich verwendet wissen will, kann ihm nicht genug gedankt werden: ist es doch 
auch für den Aufsatz selbst ein Gewinn, wenn ihm aufser der deutschen Litte- 
ratur noch die alten Klassiker zur Verfügung stehen. 

So viel über die Grundgedanken des Werkes. Auch die Durchführung im 
einzelnen bleibt allerwärts des Prinzips eingedenk, dafs der Aufsatz im Sinne 
einer wissenschaftlichen Propädeutik verstanden werden soll. Glänzend 
sind die Abschnitte über Analysis und Paraphrase (S. 66 — 77), sodann über 
inventio und im Zusammenhang damit über die x6noi (S. 79 ff.), über partitio 
und divisio (S. 103 ff), über die Kategorien der Relation (bes. die kausalen) 
(S. 148 ff.) und über Urteile, Beweis und Widerlegung (S. 156 ff): werden 
diese Gedanken, auch nur zum Teil, beim Aufsatzunterricht verwertet und die 
Schüler durch sie geistig geschult, so ist damit zugleich die philosophische 
Propädeutik geboten, die auf der Schule überhaupt in Betracht kommt. Mir 
ist aus der Seele gesprochen: 'für die Gymnasialjugend ist vorerst diejenige 
Logik zuträglicher, von der Melanchthon zu sagen pflegte, dafs sie sich von 
der Rhetorik nur dem Namen nach unterscheide, jene Logik, welche die 
Theorie fortwährend an Inventions- und Dispositionsübungen zur Anwendung 
bringt' (S. 11). Im übrigen möchte ich dem Gymnasiasten von Philosophie 
nur so viel geboten sehen, als durch die Lektüre alter und deutscher Klassiker 
direkt nahegebracht wird: werden darüber hinaus noch irgendwelche skeptische, 
materialistische, pessimistische u. s. w. Samenkörner ausgestreut, so kann oder 
vielmehr wird meist der Erfolg ein bedenklicher sein. Der Lehrer hat nicht 
Zeit, die Saat zu voller, fruchtbarer Entwickelung zu bringen, und der Schüler 
besitzt noch nicht die Fähigkeit, sie selbständig in sich ausreifen zu lassen; 
anderseits sind es aber auch nicht taube Samenkörner: denn solche Ideen 
imponieren dem Schüler mächtig durch den Reiz der Neuheit und weil sie 
ganz abweichen von dem sonst auf der Schule Gebotenen. Was ist dann also 
der Erfolg? Die Schüler gelangen zur Selbstüberhebung, zum Pessimismus, 
zum Unglauben, zum Zweifel überhaupt an jeder Autorität, und sie verlieren 



Imelmann zu den entsprechenden Änderungen im Text veranlassen müssen. — Ebenso ist 
S. 93 nicht berücksichtigt, dafs nach den jetzigen Lehrplänen die Stellung eines Themas 
im Anschlufs an Homer in Untersekunda nicht mehr möglich ist. 
l ) Wegen der konfessionellen Unterschiede. 



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P. Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 273 

leicht die Begeisterungsfähigkeit für Ideale, die das Wesen der Gymnasial- 
bildung ausmachen. 

Es seien noch einige einzelne Punkte hervorgehoben, in denen mir Laas' 
Auffassung besonders einleuchtend erscheint. Wenn er zunächst die Chrien- 
schablone höchstens als ein Mittel der inventio gelten läfst, so findet er 
jetzt wohl fast allgemeine Zustimmung: gar selten liest man noch in Jahres- 
berichten davon, dafs thatsächlich ein Aufsatz in Chrienform gemacht worden 
ist — Auf mehr Widerspruch wird sein Urteil über die sogenannten freien 
Vorträge stofsen: ich aber stimme mit ihm in der Wertschätzung dieser 
Übungen — meist handelt es sich doch um auswendig gelernte Aufsätze — 
völlig überein. 'Ein in dieser Richtung planmäfsig organisierter Betrieb nimmt 
auf alle Fälle zu viel Zeit und Kraft in Anspruch', 'die so angewandte Zeit 
ist für die übrigen Schüler so gut wie verloren'; 'der Vortrag seiner (des 
Schülers) eigenen Sachen bringt zu dürftigem Ertrag; und je «freier» er 
wird, um so unergiebiger ist er'; 'die ... «Debatten» sind auch nur Spielereien'. 
'Wird in den Antworten der Schüler stets Bedachtsamkeit, Zusammenhang und 
Bestimmtheit gefordert, läfst man sie über Klassen- wie Privatlektüre regel- 
mäßig mündlich referieren und resümieren, wird das, was aus einer Reihe auf- 
genommener Kenntnisse und Erkenntnisse das Wichtigste und Wesentlichste 
ist, öfter einmal von ihnen rekapituliert und zusammengefafst, erhalten sie 
immer wieder Gelegenheit und Anreiz, ihr Urteil redend zu entwickeln und zu 
begründen, so ist mit alledem ihren leiblichen und geistigen Sprachorganen 
Übung genug angeboten' u. s. w. — Wenn Laas — entgegen der sonst ge- 
forderten Verknüpfung des Aufsatzunterrichtes mit der Lektüre — auch 
gelegentliche Stellung von allgemeinen Themen (S. 23) gestattet, so 
ist das ein Beleg dafür, wie wenig einseitig er vorgeht: denn gerade solche 
Aufgaben vermitteln eine bestimmte Art von stilistischer Schulung, die nicht 
zu entbehren ist. Aber er verlangt — und das ist eine auch für die Jetztzeit 
keineswegs überflüssige Mahnung! — dafs dann nur solche Themata gegeben 
wemen, 'zu denen der Stoff im allgemeinen, im schul- oder aufserschulmäfsigen 
Erfahrungskreise des Schülers erwartet werden kann': e die Feder und 
Zunge unserer Schüler soll nur benutzt werden, um ehrlich die echten, eigenen 
Vorstellungen, Gefühle und Einsichten darzustellen.' Überhaupt warnt Laas — 
so sehr er auch dem Aufsatz eine bedeutsame Rolle zuweist und ihm hohe 
Ziele steckt — wiederholt eindringlich davor, vom Schüler zu viel zu er- 
warten und zu verlangen (S. 53); Mas geistige Leben unserer Schüler baut 
sich auf aus Rezeption, Verarbeitung des Rezipierten und Umbildung desselben 
zu selbständigerer Produktion' (S. 13); von Obersekunda an 'wird man 
vorsichtig und allmählich den Versuch machen . . . das selbständige Urteil 
in Anspruch zu nehmen' (S. 38). — Ebenso berechtigt ist es, dafs Laas an 
den Lehrer die entschiedensten Anforderungen stellt, und es verdient Be- 
achtung, wenn er der 'Manier der Herren Schlendrianisten' entgegen- 
arbeitet, 'die entweder bei jedem Aufsatztermine blindlings nach einem be- 
liebigen, halbwegs klassengerechten Thema greifen oder mit einer nicht immer 

Neue Jahrbacher. 1899. II 18 



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274 P- Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 

wohl assortierten Anzahl von Aufsatzthemen 1 ) mit vorrückendem Dienstalter 
und Rang von Klasse zu Klasse, von Anstalt zu Anstalt reisen 5 (S. 36), die 
aus ^Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit Zufall oder Laune über die Ab- 
grenzung des Themas entscheiden lassen und sich über Einheit u. dgl. schlechter- 
dings keine Skrupel machen' (S. 51), die die einfachsten Fingerzeige darüber 
unterlassen, was eigentlich vom Schüler verlangt wird (S. 29). — Dafs Imel- 
mann bei Bearbeitung der dritten Auflage durchaus pietätvoll verfahren ist, 
kann man nur billigen; am Texte sind keine nennenswerten Änderungen ge- 
macht worden (s. auch das Vorwort zu den ^Materialien'); die anregende Kraft 
des Buches ist unabhängig von der Übereinstimmung mit seinem Standpunkt; 
auch wer z. B. dem Aufsatz die beherrschende Stellung nicht einräumt, wird 
reiche und mannigfaltige Belehrung aus dem Studium des Buches davon- 
tragen. — Wünschenswert wäre, wenn f in der Eindämmung der Flut wissen- 
schaftlicher Kunstausdrücke und Fremdwörter' noch durchgreifender 
vorgegangen würde, zumal da das Buch den deutschen Unterricht zum Gegen- 
stand hat (z. B. S. 203 'laudieren'!); aus demselben Grunde möchte auch der 
Stil an manchen Stellen noch mehr auf Schönheit und Durchsichtigkeit hin 
abgefeilt werden, z. B. S. 50: Von demselben Lehrer — es ist nebenbei auch 
derselbe, den wir S. 36 Anm. 2 tadeln mufsten, und das folgende das dort 
als ungeeignet bezeichnete Thema — wurde gestellt: 'Wenn es dir 
übel geht, u. s. w.' — Schliefslich ist es recht unübersichtlich und störend, 
wenn zu einem Punkte a (S. 134) der entsprechende Punkt b Seite 138 in der 
Anmerkung versteckt erscheint, oder wenn zu den mit Ziffern bezeichneten 
Punkten 1. 2. (S. 247) die Weiterführung durch die nicht gesperrten Worte: 
drittens, viertens im Text (S. 248. 250) gebracht wird. — In vieler Beziehung 
geistesverwandt mit Laas ist: 
Ferdinand Schnitz, Meditationen. Dessau, Paul Baumann, 1884. 1886. 1898. 

Von dem längst rühmlich bekannten Buche ist im Jahre 1898 die zweite 
Auflage des ersten Bändchens und das dritte Bändchen neu erschienen. 

Dafs ich im allgemeinen kein besonderer Freund von 'Themensammlungen' 
bin, habe ich schon verschiedentlich als Referent ausgesprochen und auch be- 
gründet (s. Neue Jahrbücher 1898 II S. 281); insbesondere sind mir solche, 
die reichliche Ausführungen bieten, bedenklich als mögliche Eselsbrücken. 
Letztere Befürchtung ist nun zwar bei den Meditationen 5 durchaus nicht aus- 
geschlossen, aber Schultz bietet so viel Treffliches und Neues, solch eine Fülle 
von Anregungen für den Lehrer, dafs ein etwaiger Mifsbrauch demgegenüber 
nicht in Betracht kommen kann. 

Schultz bekennt in den Vorreden, Laas viel zu verdanken, ohne sich darum 
in jeder Beziehung von ihm abhängig zu machen. Wie Laas, benutzt Schultz 
den Aufsatz, um Gelesenes und Gelerntes innerlich zu befestigen, und behandelt 

*) Unter den aufgeführten Beispielen steht zuerst das berüchtigte: f Meine Ferien'! — 
Die von Laas gerügten Mifsstände haben sich allerdings teilweise verringert, aber nach 
meiner Beobachtung ist es doch richtig, dafs Imelmann die betreffenden Passus nicht etwa 
'als für die Jetztzeit entbehrlich 1 getilgt hat. 



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P. Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 275 

er neben der deutschen Litteratur vorwiegend die antiken Klassiker. Da 
sein Buch aber auch für Realgymnasien brauchbar sein soll, zieht er im zweiten 
und dritten Bändchen die Peripherie des Ideenkreises etwas weiter und geht 
auch auf Geschichte, Geographie, Physik ('der Blitzableiter' HI 152) und aus- 
landische Litteratur — Shakespeare wird mit Recht unter die Schätze unserer 
Nationallitteratur gerechnet — ein: doch bleiben derartige Themata stark in 
der Minderzahl. — Wie Laas erkennt auch Schultz wohl den Wert sogenannter 
allgemeiner Themata an, wünscht aber in gleicher Weise wie dieser die Heraus- 
forderung zu altklugem Absprechen und die Verlockung zu hohlen Phrasen zu 
vermeiden: er empfiehlt deshalb vielmehr die Entwicklung von Begriffen als 
die Behandlung von Urteilen, anderseits sucht er solche Aufgaben möglichst 
zu einem unserer grofsen Meister in Beziehung zu setzen (s. u.). 

Von den Alten werden herangezogen Homer, Aschylos, Sophokles, Plato, 
Horaz, aus der deutschen Litteratur Wolfram von Eschenbach, Walther von der 
Vogel weide (das Nibelungenlied wunderbarerweise nicht!), Klopstock, Lessing, 
Schiller, Goethe, Kleist, Uhland, G. Frey tag, Fritz Reuter, Jordan, Rieh. 
Wagner, Shakespeare (s. o.); eine Anzahl von Meditationen bringen auch 
die Litteratur der Griechen und Römer mit der unsrigen in Beziehung. Schultz 
bestrebt sich, den Gedankenkreis der Dichter und Denker zur rechten 
Auffassung und Durchdringung zu bringen: seine Meditationen sorgen dafür, 
dafs der Schüler über gewisse allgemeine Begriffe unterrichtet werde, die 
Grundanschauungen unserer ersten Geister darstellen (s. o.); so wird gleich zu 
Anfang der Begriff 'Charakter* erläutert (im Anschlufs an 'Tasso'), die 
nächsten Entwürfe drehen sich darum, wie die Griechen — Herder — Schiller — 
Goethe das Menschheitsideal fassen. Ebenso wird in Hinblick auf die Lektüre 
Leasings, auch Schillers die Frage behandelt: 'Was verstehen wir unter Kunst?' 
Fernerhin wird Bedacht genommen auf die den Dichtwerken zu Grunde liegen- 
den 'sittlichen Ideen und deren Modifikation durch die Weltanschauung des 
Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit'; ein grofser Teil der Aufgaben 
leitet zur Charakteristik, besonders zur vergleichenden Charakteristik an. 

Etwas ganz Neues ist es, dafs von Schultz auch die Musik herangezogen 
wird: Bd. I Nr. 15 c Welche Aufgabe hat die Musik?' Bd. H Nr. 69 'Eignet 
sich der Stoff des Epos von Wolfram v. Eschenbach, Parzival, zur Fabel eines 
Musikdramas?' Der Verfasser — bekannt durch seine Komposition der Musik 
zu des Sophokles Philoktetes — ist hierbei von der Erkenntnis ausgegangen, 
c dafs diese Kunst in unserer Zeit eine Macht geworden ist, die so bedeutende 
Kulturerscheinungen aufzuweisen hat, um auch diejenigen, denen die Gaben 
zur Ausübung derselben fehlen, zum Nachdenken über sie zu veranlassen'. 
Besonders da Schultz die Musik durchaus nicht in den Vordergrund gedrängt 
hat (nur drei Meditationen im ganzen Werke berühren sie), stelle ich mich 
völlig auf seine Seite; ich würde sogar gern noch einige wenige musik- 
geschichtliche Aufgaben aufgenommen sehen: jetzt liegt doch die Sache so, 
dafs die gebildetsten Leute auf dem Gebiete der Musik die tollste Unkenntnis 
und Gleichgültigkeit an den Tag legen dürfen, ohne erröten zu müssen, während 

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276 P. Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 

in der Malerei und Plastik jeder wenigstens die wichtigsten Namen und Werke 
wissen möchte und sich schämen würde, völlige Gefühllosigkeit gegenüber den 
Darbietungen der bildenden Kunst kund zu thun. Darin mufs entschieden 
Wandel geschafft werden, und das Gymnasium kann zu seinem bescheidenen 
Teile dazu beitragen: ist doch die Musik die Kunst, die nächst der Poesie die 
allgemeinste Bedeutung für die Menschheit hat — besonders jetzt, wo so viel 
für die Verbreitung derselben gethan wird — , die für die Gesamtheit ungleich 
wichtiger ist als Malerei und Bildhauerkunst! 

Mehr beiläufig sei zum Schlufs bemerkt, dafs man im dritten Bändchen 
S. 49 den Eindruck gewinnt, als würde Oedipus rex als Glied einer Ödipus- 
trilogie betrachtet, während doch zur Zeit des Sophokles der innere Zusammen- 
hang der Trilogien aufgegeben war; — erstes Bändchen S. 39 ist ein Irrtum 
im Schema der Disposition: auf A. Vorzüge folgt nicht das zu . erwartende B. 

Zu seinem Teile von gleich hoher Bedeutung, wie die beiden soeben be- 
sprochenen Bücher, ist 

Hermann Steuding, Die Behandlung der deutschen Nationallitteratur in der Oberprima 
des Gymnasiums an den Hauptwerken Goethes erläutert. Leipzig, Seemann 1898. 

Der geschätzte Verfasser, der auf dem Gebiete des deutschen Unterrichts 
in Oberprima langjährige Erfahrung besitzt, will nicht einen vollständigen 
Lehrplan bieten, sondern er zeigt an Goethe, wie er sich überhaupt die 
Behandlung der Nationallitteratur denkt: die Besprechung der Hauptwerke 
Schillers und einen Ausblick auf die spätere Zeit der Dichtung verschiebt er 
auf spätere Gelegenheit. Zuvörderst genügt das erschienene Buch völlig, um 
des Verfassers pädagogische Auffassung bis ins einzelne kennen zu lernen: die 
für später in Aussicht gestellte Fortsetzung wird aber als willkommenes Hilfs- 
buch von vielen Lehrern mit Freude begrüfst werden. 

Der Verfasser sieht als seine Aufgabe als Lehrer der obersten Stufe an, 'die 
fortschreitende Entwickelung unserer beiden gröfsten Dichter, Goethes 
und Schillers, aus ihren eigenen Werken darzulegen und die Schüler in 
die geistige Werkstatt derselben einzuführen*. Demgemäfs bietet er von S. 20 
an: Goethes Leben im Spiegel seiner Hauptwerke, und zwar 1) Goetz, 
2) Werthers Leiden, 3) Clavigo, 4) Wanderers Sturmlied (als Beispiel für die 
Erklärung lyrisch-philosophischer Gedichte), 5) Egmont, 6) Iphigenie, 7) Tasso, 
8) Elegien, Epigramme, Idyllen, Balladen, 9) Faust 1 ) (S. 85—161). Die Schlufs- 
besprechung des Faust pflegt dann Steuding mit der Gesamtbetrachtung Goethes 
nach Beendigung der Darstellung seines Lebensganges zu vereinigen, da dieses 
Werk 'neben seiner allgemeineren Bedeutung die Selbstentwickelung des 
Dichters schildert'. 

Die genannten Dichtungen werden den Schülern teils durch Privat- 
lektüre teils durch zusammenhängende Klassenlektüre bekannt gemacht. 
In der Klasse läfst Steuding lesen 1) besonders schöne, wichtige oder 



*) S. 11—12 spricht Steuding von der Berechtigung, ja Notwendigkeit der Faustlektüre 
auf dem Gymnasium. 



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P. Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 277 

schwierige Scenen aus privatim gelesenen Dramen, 2) eine Auswahl (S. 13) 
aus Faust, besonders die Stücke, die wirklich Goethes eigenen Werdegang 
schildern, 3) eine Auswahl aus den lyrischen Gedichten, die Goethes inneren 
Lebensgang versinnbildlicht. — Bei der Aufgabe eines Dramas zur Privat - 
lektüre verteilt Steuding eine Reihe Themata unter die Schüler, c so dafs diese 
Dichtungen vor der Behandlung in der Klasse von jedem unter ihnen nach 
einem bestimmten Gesichtspunkte hin durchgelesen werden müssen' (derartiger 
Gesichtspunkte werden neun genannt, S. 8 — 9, die bei Behandlung der meisten 
Dramen berücksichtigt werden können). Diese Themata müssen 'von allen im 
Entwurf ausgearbeitet und dem Gedächtnis so weit eingeprägt sein, dafs 
darüber in freiem Vortrag 1 ) (vom Platze aus) berichtet werden kann'. Das 
ist sicherlich eine treffliche Vorbereitung für die gemeinsame Besprechung der 
Dramen, nur würde ich vorschlagen, das Drama zuerst einfach lesen zu lassen, 
dann die Themata zu stellen und daraufhin eine nochmalige Lektüre zu 
verlangen, damit die Dichtung zuerst in ihrer Gesamtheit auf den Schüler 
wirkt; das voraus gestellte Thema wird meist den Blick einseitig auf gewisse 
Beobachtungen lenken und den allgemeinen Eindruck beeinträchtigen. Freilich 
ergiebt sich dadurch noch ein Plus von häuslicher Arbeit: diese scheint aber 
ohnedies durch das Steudingsche Verfahren etwas stark in Anspruch genommen 
zu werden, da es sich um eine stattliche Anzahl Dramen handelt und jedesmal 
von allen ausgearbeitete Entwürfe verlangt werden — aufser den wirklichen 
Aufsätzen. 

Im übrigen möchte ich mich mit diesem blofsen Referate über das Buch 
begnügen: da ich noch nicht Gelegenheit hatte, deutschen Unterricht in Prima 
zu erteilen, ist es mir unmöglich, zu beurteilen, wie die Steudingschen Vor- 
schläge im einzelnen zur Schulpraxis stehen. Ich kann nur aussprechen, dafs 
das Buch mich so gewonnen hat, dafs ich nicht anstehen würde, in des Ver- 
fassers Fufstapfen zu treten, wenn ich in die Lage kommen sollte, den Unter- 
richt zu übernehmen. Aber auch dem, der mit manchem nicht einverstanden 
ist 2 ) und manches anders machen möchte, wird das von Steuding entworfene 
Unterrichtsbild — er selbst erklärt (S. 2) kein Muster aufstellen zu wollen — 
Gutes in Fülle bieten; z. B. ist auch nicht nur für Lehrer der Oberprima und 
nicht nur für Lehrer des Deutschen hochinteressant die Methode der Wieder- 
holung litteraturgeschichtlicher Pensen der vorhergehenden Klassen: Steuding 
läfst den Stoff nach neuen Leitmotiven gruppieren und so nach gewissen Haupt- 
gesichtspunkten zu wohlgeordneten Gesamtbildern vereinigen (S. 4 — 5); S. 15 — 19 
wird im einzelnen ausgeführt, wie sich etwa für Oberprima eine solche ein- 
leitende Übersicht gestalten kann. 



*) Aufserdem läfst der Verfasser jeden Schüler je eine wirkliche Rede halten (S. 6); 
Vorträge im Sinne von auswendig gelernten Aufsätzen kennt auch Steuding nicht (s. oben 
unter Laas S. 273). 

*) Z. B. halten noch nicht alle die Einführung eines litteraturgeschichtlichen Lehr- 
buches fflr selbstverständlich (S. 2); mir persönlich scheint es für Prima mindestens 
empfehlensweit, s. unten S. 279. 



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278 P. Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 

Eine andere Seite des deutschen Unterrichtes auf der obersten Stufe 
behandelt: 

Fr. Bindseil, Der deutsche Aufsatz in Prima. Zweite Auflage von Bruno Zielonka. 
Berlin, Gaertner 1899. 

Wie Laas will auch Bindseil durch den deutschen Aufsatz den reichen 
Schatz heben, den die Meisterwerke unserer grofsen Dichter sowie der 
alten Klassiker sowohl zur intellektuellen als auch zur moralischen Aus- 
bildung des menschlichen Geistes bieten; auch er fafst den Aufsatz nicht nur 
als ein Mittel zu sprachlicher und formaler Schulung, sondern will durch ihn 
vor allem auch erzieherisch auf den inneren Menschen wirken. Zu letzterem 
Zwecke wünscht er, dafs auch das Stoffgebiet sittlicher Ideen und all- 
gemeiner Lebenswahrheiten für den Aufsatzunterricht grundsätzlich 
herangezogen werde, während Laas diesen Aufgaben einen nur bescheidenen 
Spielraum anweist, sie nur zu gelegentlicher Verwendung kommen lassen 
will (s. o.). Was mir gegen häufige Stellung solcher Themata zu sprechen 
scheint, ist oben S. 273. 275 gesagt worden; wenn aber der Verfasser S. 31 dem 
Schüler das Moralisieren verbietet: c es steht dem jungen Menschen schlecht 
an, andern zu sagen, was sie thun und lassen sollten', wenn er glaubt (S. 8), 
es könne vom Schüler nicht mehr verlangt werden, als *das von andern Ge- 
dachte in sich aufzunehmen, zu verarbeiten und in einer angemessenen Weise 
wieder zum Ausdruck zu bringen', so scheint er doch insofern mit mir 
übereinzustimmen, als er eine Sorte von Themen, die im Lehrerjargon wohl als 
c Schwafelthemata' bezeichnet zu werden pflegen, nicht gutheifsen kann (obschon 
einige der von ihm vorgeschlagenen ^eien' Themata etwas danach klingen). 

Das Büchlein beginnt (I) mit einem theoretischen Teil: 1. Die Aufgabe 
des deutschen Aufsatzes in Prima. 2. Die sprachliche Seite. 3. Die stoffliche 
Seite (sehr beachtlich ist, was hier S. 4 — 6 über das geistige Niveau gesagt 
wird, auf dem der Primaner steht, wenn ich auch über das eine oder 
andere abweichender Ansicht bin). 4. Die formale Seite. 5. Die allgemeinen 
Dispositionsgesetze. 6. Elemente der empirischen Psychologie. 7. Die kontra- 
diktorischen Gegensätze. 8. Die speziellen Inventions- und Dispositionsgesetze. 
9. Die Einteilung der Themata nach ihrem Inhalte. Nr. 5 — 9 sind ja viel 
kürzer gefafst als die entsprechenden Partien bei Laas, gehen demgemäfs auch 
viel weniger in die Tiefe, aber sie eignen sich trefflich zur schnellen Infor- 
mation für die Lehrer und zu direkter Verwendung im Unterricht. Sehr wert- 
voll sind im (II) praktischen Teil die Handwerksregeln (A), die man bei 
Laas nur ganz vereinzelt findet, wertvoll für Lehrer wie für Schüler. Wie 
nötig ist z. B. die Warnung vor formelhaften Wendungen, leeren Redensarten 
bei Einführung eines Gedankens, besonders auch von Beispielen, ebenso bei 
Übergängen! (S. 32—34). Wenn freilich am Ende dieses Kapitels (S. 39—47) 
10 vollständig ausgeführte Einleitungen, 7 desgl. Schlüsse, zu 7 und 
5 Themen gehörig, geboten werden, so wird diesen unwesentlichen Teilen des 
Aufsatzes zu viel Ehre zugestanden und überdies hilfsbedürftigen Schwächlingen 
bedenkliche Gelegenheit zum Abschreiben geboten. 



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P. Vogel: Hilfßbücher für den deutschen Unterricht 279 

Leider wird das Buch unnötig verteuert durch B. Dispositionen, die 
den gröfsten Teil desselben (S. 48 — 140) ausmachen, in der zweiten Auflage 
auch noch vermehrt worden sind. Wenn die in I gegebenen Theorien durch 
praktische Beispiele belegt wurden, so war das sehr zweckentsprechend, fast 
nötig, aber es genügten hierzu völlig etwa 10 Typen. Werden aber 50 Dis- 
positionen gebracht, so stellt sich der Anhang als eine 'Sammlung von Aufsatz- 
themen' heraus, und hierfür ist gar kein Bedürfnis vorhanden (s. oben S. 274). 
Denn 'freie* Themata hat jeder Lehrer zu hunderten im Kopfe, und die 25 Auf- 
gaben im Anschlufs an die Lektüre sind teils ganz selbstverständlich und nahe- 
liegend (z. B. die Vorfabel zu Goethes Egmont), teils bringen sie wenigstens 
keine neuen Ideen und Auffassungen (z. B. Nr. 4. 5. 7; vgl. Laas, Materialien 
S. 89. 335. 379). 

Es ist oben (s. S. 277 Anm. 2) die Frage der litteraturgeschichtlichen 
Lehrbücher gestreift worden. Steuding nimmt die Einführung eines solchen 
für Prima als selbstverständlich an; die meisten werden sie wohl wenigstens 
als wünschenswert, vielleicht alle als zulässig betrachten. In Sachsen sind die 
Grundzüge der deutschen Literaturgeschichte von Klee mit Recht besonders 
verbreitet; da aber vielleicht auf keinem Gebiete Geschmack und Ansprüche 
der Lehrer so verschieden sind wie im deutschen Unterricht, verdient wohl 
auch empfohlen zu werden das Büchlein von 

Rudolf Lehmann, Übersicht über die Entwickelang der deutschen Sprache und Litteratur. 
Zweite Auflage. Berlin, Weidmann 1898. 

Wie die Namen Lehmann und Klee auf dem Gebiete des deutschen Unter- 
richts einen gleich guten Klang haben, so sind auch die beiden Leitfaden — 
jeder in seiner Art — gleich gut; dabei dürften sie sich kaum ernstlich 
Konkurrenz machen, denn wenn sie auch beide ihre Aufgabe in derselben 
Weise anfassen, nämlich beide die Entwickelung der Nationallitteratur 
bieten, so weichen sie doch in der Ausführung so wesentlich voneinander 
ab, dafs dem einen das eine, dem andern das andere Buch als für seine Be- 
dürfnisse brauchbarer erscheinen kann, ohne dafs er dadurch den Wert des 
nicht gewählten irgend bezweifeln möchte. 

Wesentlich ausführlicher ist Klee, das Lehmannsche Buch ist sicher um 
die Hälfte kürzer: Lehmann will nur ein Schema bieten, das der Lehrer erst 
mit Geist und Leben erfüllen und das blofs zur häuslichen Wiederholung auf- 
gegeben werden soll; Klee dagegen wünscht gewisse Partien dem häuslichen 
Privatfleifs der Schüler zu überlassen, auch soll sein Handbuch für den Selbst- 
unterricht genügen, es ist deshalb ausführlicher gehalten. Selbstverständlich 
ist auch die Nomenklatur bei Lehmann noch mehr beschränkt. Klee ver- 
folgt den Werdegang in dankenswerter Weise bis in die neueste Zeit, Lehmann 
hat erst in der zweiten Auflage seinen literarhistorischen Teil wenigstens bis 
zu Goethes Tode fortgeführt; dafür bietet Lehmann in einem besonderen Teile 
(S.3 — 30), viel eingehender als Klee, eine Geschichte der deutschen Sprache 1 ) 

l ) Es ist mir aufgefallen, dafs S. 14 die Regel über die Brechung so gefafst ist, dafs 
sich die 1. Pers. Sing. Ind. Praes. gSbu anstatt gibu ergeben müfste, 



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280 P- Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 

und einen Anhang über die Entwickelung der Verskunst. Wird also irgendwo 
ein Lehrbuch nur für die Primen gesucht , so wird man sich wahrscheinlich 
lieber für Klee entscheiden, da man dem Primaner gern ein Buch in die 
Hand giebt, welches auch för sein Privatstudium einigermafsen ausreicht; 
würde aber die Einfuhrung eines solchen Leidfadens für die drei oberen 
Gymnasialklassen gewünscht, so könnte man vielleicht gerade wegen des 
erwähnten sprachgeschichtlichen Teiles im Interesse der Obersekunda das 
Lehmannsche Buch bevorzugen, auch wenn man, wie ich, einzelnes bei Klee 
richtiger oder geeigneter dargestellt findet; wenn z. B. S. 41 behauptet wird, 
kein höfischer Epiker der Blütezeit entlehne seine Stoffe heimischen Sagen 
(Der arme Heinrich! 1 )), wenn S. 46 behauptet wird, man dürfe nur c von einem 
Sammler und Ordner sprechen, welcher die 39 Aventüren (des Nibelungen- 
liedes) aus einem Cyklus alter . . . Volkslieder vereinigt hat', und wenn 
S. 49 von der stofflichen Einseitigkeit des Minnesangs (ohne zeitliche 
Einschränkung!) gesprochen wird, so ziehe ich mir die entsprechende Dar- 
stellung bei Klee (§ 26. 31. 35) bedeutend vor. 

Im übrigen glaube ich, dafs die Obersekunda ein Hilfsbuch noch sehr 
wohl entbehren kann. Wird aber ein solches beliebt, so ist wohl auf jeden 
Fall eines von der Art der eben besprochenen zu wählen, die den gesamten 
litteraturgeschichtlichen Stoff der drei oberen Blassen im Zusammenhang 
bringen, nicht aber ein Separatleitfaden für Obersekunda, wie er sich z. B. 
darstellt in 

P. Wessel, Geschichte der deutschen Dichtung. Bis zur Reformation, für Obersekunda. 
Gotha, Perthes 1898. 

Im übrigen wird hier der Stoff im allgemeinen ebenso behandelt wie bei 
Klee und Lehmann: Zeichnung des Entwickelungsganges, möglichste Be- 
schränkung der Nomenklatur, Unterdrückung von Inhaltsangaben und Analysen 
der in der Schule zu lesenden Dichtungen. Als Einteilungsprinzip wählt Wessel 
die religiös-sittliche Weltanschauung: I. das germanische Heidentum, H. das 
römisch katholische Christentum, HI. das Erstarken des weltlichen und nationalen 
Geistes, 1. die Dichtung der Ritter, 2. die Dichtung der Bürger, 3. die Dichtung 
des Volkes. Der Verfasser tadelt die in den meisten Büchern übliche ganz 
äufserliche Einteilung (Ahd. Mhd. Nhd. Litteratur), ebenso billigt er nicht, 
wenn die Verschiedensten Einteilungsprinzipien zusammengeworfen und 
bald der sprachliche, bald der politische oder kulturhistorische, bald der religiöse 
Gesichtspunkt in den Vordergrund gestellt' werden. Zuzugeben ist, dafs Wessel 
Einheit der Disposition durch seine Aufstellung erreicht, innerlich aber, für 
das Verständnis des Schülers, wird nichts gewonnen, denn eine Anzahl von 
Dichtungen läfst sich weder in positivem noch in negativem Sinne mit der 
Religion in Beziehung setzen. So sind aus dem germanischen Heidentum (I) 
die Göttermythen hervorgegangen, die Heldensagen dagegen von Ermenrich, 
Dietrich, Etzel, Günther, Walther sind wohl in heidnischer Zeit entstanden, 

l ) Sollte das Gedicht auch nach lateinischer Vorlage gearbeitet sein, so bietet es doch 
eine deutsche Sage! 



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P. Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 281 

sie haben aber mit der heidnischen Religion innerlich nichts zu thun. 
Teil III kann angesichts des Einteilungsprinzips nur so aufgefafst werden, 
dafs mit dem ^Erstarken des weltlichen und nationalen Geistes* ein Gegen- 
satz zu Religion und Kirche hervorgetreten sei: das läfst sich aber weder 
vom Parzival noch vom armen Heinrich, weder von Walther von der Vogel- 
weide noch vom Meistergesang und Hans Sachs irgend behaupten, im Gegen- 
teil; anderseits sind unter HI sowohl solche Dichtungen behandelt, die gerade 
rein kirchlichen Charakter haben (Passions-, Oster- und Christspiele), als auch 
die Minnesänger, die zum Teil' absolut nichts mit der Religion zu thun 
haben, z. B. der Kürenberger, Dietmar von Eist u. ä. Nach alledem kann ich 
es für keinen wirklichen Gewinn betrachten, wenn von den sonst üblichen Ein- 
teilungen des Stoffes abgegangen worden ist; mir erscheint gerade für die Ober- 
sekunda, in der man auch Sprachgeschichte zu treiben hat, die Einteilung nach 
dem sprachlichen Gesichtspunkt am zweckentsprechendsten: in den Unterteilen 
müssen sich damit natürlich die andern Gesichtspunkte mehrfach kreuzen. 

Sehr beherzigenswert ist, was Wessel (Vorwort IV — V) über die Lektüre 
der mittelhochdeutschen Dichtung sagt: auch ich glaube, dafs die beste Über- 
setzung das Original nie ersetzen kann, dafs ferner die Kenntnis der älteren 
deutschen Sprache das deutsche Empfinden weckt und befestigt; auch mir 
würde es lieb sein, wenn aufser Nibelungenlied und Walther auch Gudrun und 
der arme Heinrich den Obersekundanern durch eigene Lektüre bekannt gemacht 
werden konnte. Diesem Zwecke soll dienen 
P. Wessel, Mittelhochdeutsches Lesebuch. Gotha, Perthes 1898. 

Die Sammlung bietet in 494 Strophen die Haupthandlung des Nibelungen- 
liedes, in 150 Strophen die wirkungsvollsten Stellen aus Gudrun — also be- 
sonders die, die sich auf Gudruns Person beziehen — , 638 Verse des armen 
Heinrich, und von Walther 10 Mai- und Minnelieder, 11 politische, 8 lehrhafte 
Sprüche, 7 Gedichte, die sich auf sein Wanderleben beziehen 1 ), und 4 geistlich- 
asketische. Niemand wird bezweifeln, dafs eine derartige vielseitige Lektüre 
für die Schüler sehr nutzbringend sein mufs, und ich kann behaupten, dafs die 
Auswahl im allgemeinen richtig und zweckmäfsig getroffen ist; jedem sub- 
jektiven Wunsche kann solch ein Buch doch nicht gerecht werden. Eine 
andere Frage ist freilich, ob nicht viele Kollegen doch lieber auf den armen 
Heinrich und Gudrun verzichten, um unser grofses Nationalepos von der 
Nibelunge not den Schülern, wenn auch nicht ganz, so doch mehr im ganzen 
und als Ganzes vorzuführen; viel geht natürlich verloren, wenn nicht ganz ein 
Viertel des Epos gelesen wird; z. B. können die Schüler keinen wirklichen 
Eindruck von der dichterischen Komposition erhalten, wenn es nicht möglich 
ist, an der Hand eigener Lektüre mit ihnen von der kunstvollen Gliederung 
des Ganzen, von der planvollen Durchführung gewisser Charaktere, z. B. Hagen, 
Kriemhild zu sprechen. Doch läfst sich durch Erörterung von Für und 



*) Vielleicht könnten noch einige Lieder herangezogen werden, die auf seine an- 
genehmen und unangenehmen Erfahrungen in Wien hinweisen. 



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282 P. Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 

Wider in dieser Frage nicht zu einem abschliefsenden Ergebnis kommen; es 
wird eben immer von den einen Lehrern und Schulen dies, von den andern 
jenes Verfahren bevorzugt werden. 

Für die Amtsgenossen, die sich für eingehendere Behandlung der Geschichte 
der deutschen Sprache im Unterricht erwärmen können und sich deshalb für 
dieses Gebiet interessieren, wird vielleicht willkommen sein der Hinweis auf das 
mir in erster Lieferung vorliegende, auf sechs Lieferungen berechnete Werk von 
Bruno Liebich, Die Wortfamilien der lebenden hochdeutschen Sprache als Grundlage für 
ein System der Bedeutungslehre. Breslau, Preufs und Jünger 1898. 

Vorausgeschickt wird eine ziemlich weit ausholende, aber sehr klare und 
interessante Einleitung, die zur Konstatierung der Thatsache führt, dafs die 
Bedeutungslehre c ein richtiges Neuland ist, dessen Grenzen wir noch nicht 
kennen und wo jeder für seine Persönlichkeit freien Spielraum findet*. Es 
fehlt noch durchaus an einem System der Bedeutungslehre, Bedürfnis nach 
einem solchen ist aber vorhanden. Die richtige Methode, um allmählich zu 
einem System zu gelangen, ist nach Liebichs Ansicht die, dafs man von der 
Muttersprache ausgeht und — an Stelle des Suchens nach den Wurzeln — 
eine möglichst vollständige Aufzeichnung der Wortfamilien (in alphabetischer 
Reihenfolge) versucht; ist dann auf dieser Grundlage eine Bedeutungslehre für 
das Neuhochdeutsche geschaffen, so sollen in derselben Weise andere Einzel- 
sprachen behandelt und damit so lange fortgefahren werden, bis man ^zunächst 
für einen ganzen Sprachzweig (z. B. den germanischen), sodann für einen 
ganzen Sprachstamm (z. B. den indogermanischen), endlich für alle Sprachen 
durch Ausscheiden des Besonderen die allgemein gültigen Gesetze* auffindet. 

Zu einem grofsen wissenschaftlichen Gebäude soll also durch dieses Buch 
ein erster Grundstein geliefert werden; aber auch der Grundstein an sich dürfte 
in mehr als einer Beziehung von Nutzen sein, z. B. als bequemes Mittel zur 
Orientierung. Das Buch ist gearbeitet nach Heynes Wörterbuch, ohne dafs 
sich jedoch der Verfasser immer an dessen Ansicht bände; auch werden — 
als solche bezeichnete — Worte herangezogen, die sich in jenem Lexikon 
nicht finden. Ich würde für richtig halten, möglichst alle existierenden Worte 
aufzuzeichnen, vielleicht auch die Mundarten noch mehr zur Geltung kommen 
zu lassen, denn je vollständiger das Verzeichnis ist, eine um so sichrere Unter- 
lage stellt es dar für weitere Untersuchungen; so würde ich S. 28 unter 75 
Armenarzt, Schularzt, Bezirksarzt, Spezialarzt, Assistenzarzt, Militärarzt, S. 34 
unter 116 Strafbank, Gartenbank, S. 37 unter 131 Zahnbürste, S. 77 unter 311 
Gelegenheitsgedicht u. a. m. hinzufügen. 

Die bisher besprochenen acht Bücher bezogen sich sämtlich auf den 
deutschen Unterricht der Oberklassen; es sei noch kurz auf eine Reihe Schriften 
hingewiesen, die vorwiegend den Unter- oder Mittelklassen dienen sollen. 

H. Heidelberg, Elementargrammatik der deutschen Sprache für höhere Unterrichts- 
anstalten. Berlin, Weidmann 1898. 

Auch über die Frage (s. oben S. 277 Anm. 2), ob ein derartiges Hilfs- 
buch einzuführen ist, sind die Ansichten noch sehr geteilt, wenigstens in 



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P. Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 283 

Sachsen kommen viele Anstalten ohne ein solches aus; abgesehen von inneren 
Gründen kommt hier auch die Rücksichtnahme auf den Geldbeutel der Eltern 
und das Bestreben in Betracht, den Bücherwust der jungen Leutchen nicht 
noch weiter zu vermehren. Will man aber den Knaben eine Grammatik in 
die Hand geben, so halte ich' die vorliegende für sehr angemessen. Sie ver- 
schmäht das Eingehen auf Quisquilien und vermeidet es, dem Schüler den 
Kopf schwer zu machen durch Behandlung aller möglichen kitzlichen Fälle, 
über die manchmal sogar die Lehrer des Deutschen uneins sind. Anderseits 
reicht das kurzgefafste und dementsprechend billige Büchlein auch noch für die 
Bedürfnisse des Primaners aus, er wird sich darin bei Zweifeln in formeller 
und syntaktischer Beziehung, über Rechtschreibung und Zeichensetzung immer 
genügenden Rat holen können. An folgenden Stellen würde mir eine Ergänzung 
oder Änderung angebracht erscheinen. S. 12 fehlt: 'Die Silbenbrechung ist zu 
vermeiden, wenn auf der einen oder andern Zeile nur ein Buchstabe stehen 
würde'; S. 17 würde ich Pluralbildungen wie Jungens, Mädels, Kerls (in einer 
Elementargrammatik!) nicht als zulässig nennen; S. 19 genügt die Haupt- 
regel 'das Adjektiv geht nach der schwachen Deklination mit davorstehendem 
Artikel oder Fürwort', z. B. nicht für den Fall: du Glücklicher, dir Glück- 
lichem (auch Anm. 1 bringt keine Ergänzung! — Bessere Fassung der Regel 
bei Matthias, kleiner Wegweiser); auch fehlt eine Anweisung für den Fall, 
dafs zwei Fürworte zu einem Substantiv treten, z. B. nach jenem unsrem 
Rate, mit allem eurem Zureden (mit Anm. 3 zu verbinden!); — S. 32 — 33 
werden Verba genannt, die zwischen starker und schwacher Flexion schwanken: 
hier fehlen so wichtige Worte wie gären, schwellen, sieden, — 'erlöschen' wird 
unter die gerechnet, bei denen beide Bildungen ohne Bedeutungsunterschied 
gebraucht werden, während doch hier die starken Formen intransitiv, die 
schwachen transitiv sind. Ferner sind c roch' (von rächen) 'schrob, geschroben' 
(von schrauben) nur noch mundartlich im Gebrauch, also in diesem Buche zu 
streichen; — S. 67 ist ganz unzureichend die Regel über die Verkürzung eines 
Objektsatzes mit *dafs' zum Infinitiv: nach derselben würde es erlaubt sein 
zu schreiben 'ich sage es genau zu wissen' 'der Feldherr meldete den Feind 
besiegt zu haben' u. a. m. (vgl. Grammatik von Heyse-Lyon S. 436); — S. 72 fehlt 
die Anweisung, dafs auch Konsekutivsätze die Verkürzung zulassen, z. B. ich 
bin so glücklich ihn zu kennen. 1 ) 
Gemeinsam sind zu behandeln: 
F. Kern, Leitfaden für den Anfangsunterricht in der deutschen Grammatik. Zweite Auflage. 

Berlin, Nicolai 1898. 
0. Lehmann und K. Dorenwell, Deutsches Sprach- und Übungsbuch für die unteren und 
mittleren Klassen höherer Schulen. In vier Heften (Sexta bis Untertertia). Hannover- 
Berlin, Carl Meyer (Prior) 1898. 

Beide Veröffentlichungen haben den grammatischen Elementarunterricht 
zum Gegenstand (Kern bis Quinta, Lehmann -Dorenwell bis Untertertia 8 ) ein- 

*) Druckfehler: S. 41 steht zweimal Ferf. statt Fers. 
*) Mir liegen die Hefte für Quinta und Quarta vor, 



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284 P. Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 

•schliefslich), beide verfolgen die induktive Methode; beide bringen dem Lehrer 
wertvolle Ratschläge und Anregungen über das bei diesem Unterricht ein- 
zuschlagende Verfahren, beide — insbesondere Lehmann -Doren well — eine 
Fülle von Übungsstoff. Nun scheinen aber beide, ganz sicher wenigstens das 
letztgenannte, darauf berechnet zu sein, den Schülern in die Hände gegeben 
zu werden (Lehmann und Doren well bieten zahlreiche Sätze, in denen bedeut- 
same Lücken von den Schülern auszufüllen sind): gegen eine solche Ver- 
wendung der Hefte möchte ich mich entschieden erklären. Wird ein gram- 
matischer Leitfaden gewünscht, so möchte das nur ein Buch von der Art des 
besprochenen Heidelbergschen sein, welches für die ganze Schulzeit ausreicht 
und in kurzer Fassung die hauptsächlichsten Regeln und Paradigmata enthält: 
die Gewinnung der Regeln etwa durch heuristisches Verfahren, desgleichen die 
Illustrierung durch Beispiele ist Sache des Lehrers. Es möchte doch den 
Schülern die Muttersprache nicht dadurch verleidet werden, dafs sie — wie für 
Latein und Griechisch* — für jedes Jahr ein neues ^deutsches Übungsbuch* 
anzuschaffen und danach Deutsch zu 'lernen' haben! 

In dem dritten Heft (Quarta) von Lehmann -Dorenwell ist mir folgendes 
aufgefallen: S. 15 G. wird die besondere Regel aufgestellt: 'Geht dem Adjektiv 
ein Genitiv voraus, so biegt es stark' (Auf des Meeres tiefstem Grunde); der 
ganze Abschnitt kann wegfallen, denn die starke Biegung ergiebt sich einfach 
daraus, dafs das Adjektiv keinen Artikel vor sich hat; — S. 28: das 
Praeteritum 'trug' dürfte mindestens für diese Klasse nicht als möglich ge- 
nannt werden; so lange bei einem Verbum starke und schwache Bildung noch 
in einem völlig unentschiedenen Kampfe liegen, mufs die Schule das ursprüng- 
lich Richtige möglichst zu schützen suchen; hier liegt die Sache doch so, 
dafs ein starkes Partizip 'gefragen* bisher überhaupt noch nicht aufgetaucht 
ist; — S. 79: ich glaube, Quartaner könnten schon durch einige bestimmtere 
Regeln darüber aufgeklärt werden, wann der Objektsatz durch Infinitiv ersetzt 
werden darf. 
Heinrich Schrohe, Über die Verbindung des deutschen und lateinischen Unterrichts auf 

der Unter- und Mittelstufe des Gymnasiums II. Teil. l ) Programm des Gymnasiums zu 

Bensheim 1898. 
Dafs eine derartige Verbindung nötig ist, ist klar; in der fortgesetzten 
Gegeneinanderstellung und gleichsam Reibung der fremden Sprachbildung mit 
unserer eigenen liegt eine treffliche logische Zucht. Das im deutschen gram- 
matischen Unterricht Behandelte mufs im und für den lateinischen Unterricht 
verwendet werden, sobald das Deutsche passenden Stoff für solch ein induk- 
tives Verfahren bietet, z. B. wenn es gilt, gewisse Begriffe klar zu machen. Ist 
in Quarta deutsche Satzlehre getrieben worden, so wird der dort klar gemachte 
Unterschied von Subjekts- und Objekts-, von Urteils- und Begehrungssätzen, 
ebenso des Indikativs und Konjunktivs in Nebensätzen sehr trefflich bei dem 
Beginn der lateinischen Satzlehre in Untertertia zu Grunde gelegt und auf die 
fremde Sprache übertragen werden. 

*) Die beiden Tertien behandelnd. Teil I (Sexta — Quarta) erscheint später. 



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P. Vogel: Hilföbücher für den deutschen Unterricht 285 

Verhältnismäfsig selten aber nützt das Deutsche etwas für die Erlernung 
des lateinischen Sprachgebrauchs, der lateinischen Regeln': z. B. wann nun 
im Lateinischen accusativus cum infinitivo ; ut finale, ut consecutivum, quod, 
quin, ne zu wählen ist, läfst sich aus dem Deutschen nicht, oder wenigstens 
nur zu einem bescheidenen Teile ableiten. 

Nun verlangt der Verfasser nicht etwa nur, dafs man bei passender 
Gelegenheit auf der deutschen Grammatik fufse und dafs man die Sprachen 
fortdauernd miteinander vergleiche, sondern er fordert geradezu, 1) dafs der 
deutsche grammatische Unterricht der Quarta den Ausgangspunkt 1 ) für 
die Belehrungen biete, die in den Tertien über die lateinische Satzlehre ge- 
geben werden; 2) dafs dieser Behandlung wiederum eine abschliefsende 
Betrachtung der deutschen Satzlehre folge. 

Der gröfste Teil der Abhandlung ist nun dazu bestimmt, solche — 
systematische! — Zusammenfassungen, *die nach Abschlufs der einzelnen 
Kapitel (s. vorher unter 2)) der lateinischen Grammatik in den Tertien vor- 
genommen wurden', darzubieten. Er bringt folgende Kapitel: I. Tempora. 
II. Indikativ und Konjunktiv. III. Die unabhängigen Urteils-, Begehrungs- 
und Fragesätze. IV. Die Nebensätze: A. Subjekts- und Objektssätze, a. Dafs- 
Sätze, b. indirekte Rede, c. indirekte Fragesätze; B. Adverbialsätze; C. Attribut- 
sätze. V. Der Infinitiv. 

Dafs ich das oben unter 1) aufgestellte Verlangen bis zu einer gewissen 
Grenze für berechtigt halte, geht aus meinen einleitenden Bemerkungen 
hervor; der Forderung unter 2) mufs ich aber entschieden widersprechen, 
mindestens wenn die abschliefsende Betrachtung so ausgedehnte und 
schwierige systematische Zusammenfassungen ergiebt, wie sie Schrohe uns 
vorführt. Schrohe hat * keinen Augenblick gezögert', lateinische Stunden 
hierzu zu verwenden: nun wenn diese Betrachtungen so in extenso vor- 
genommen werden, wie Verf. es darstellt, und so gründlich, dafs die Schüler 
solche grammatische Ausarbeitungen fertigen können, wie sie, wörtlich aus 
Schülerheften entnommen, als ^Beilagen' angefügt werden, — dann wird ein 
schönes Quantum lateinischer Lektionen in Anspruch genommen! Ich behaupte 
nicht, dafs das verlorene Zeit ist, aber für die Erlernung der Regeln der 
lateinischen Sprache wird verhältnismäfsig wenig dadurch gewonnen; und 
das ist doch für die Tertien die Hauptsache; tiefer in das Wesen der Syntax 
einzudringen, dazu bieten Repetitionen in den obern Klassen passende Gelegen- 
heit. Für Tertianer halte ich diese Sachen für zu hoch, auch hat dieses Alter 
für solche abstrakte Besprechungen noch kaum Interesse. 

Kann ich somit dem Verf. nicht in allem folgen, so habe ich doch die 
klare und lehrreiche Abhandlung mit grofsem Genüsse gelesen, und jeder 
wird wie ich vielfache Anregung daraus ziehen; für den Lehrer sind solche 
Zusammenstellungen eine aufserordentlich nützliche Vorbereitung auf seinen 
Unterricht. * 



*) Ohne jede Einschränkung! 



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286 P. Vogel: Hilfsbücher für den deutschen Unterricht 

Last not least sei kurz Erwähnung gethan des liebenswürdigen Büch- 
leins von 

Oskar Dähnhardt, Naturgeschichtliche Volksmärchen aus Nah und Fern. Leipzig, 
Teubner 1898. 

Wenn ich mich hier kurz fasse, so ist dies alles andere als Gering- 
schätzung: ich kann mich nur nicht entschliefsen, im wesentlichen das hier zu 
wiederholen, was vor kurzem in einer eingehenden, mir sehr treffend erscheinen- 
den Besprechung in der * Zeitschrift für den deutschen Unterricht' über das 
Buch und über Dähnhardts Verdienste um die Erforschung des deutschen 
Volkstums gesagt worden ist. Ich mochte aber zwei Kategorien von Amts- 
genossen diese Märchen noch ganz besonders zu gelegentlicher Benutzung 
empfehlen. Die naturwissenschaftlichen Lehrer der Unterklassen werden 
gut thun, öfter einmal solch eine kleine Geschichte ihrer Besprechung zu 
Grunde zu legen oder anzufügen: die Märchen zeigen, wie scharf das Volk die 
Natur beobachtet und wie liebevoll es darüber nachgedacht hat, und das ist 
es doch, was auch die Schüler zuerst lernen sollen. Und es kommt damit ein 
belebendes Element in den Unterricht hinein: mit der sinnig poetischen Er- 
klärung der Märchen läfst sich gar leicht die wissenschaftliche Darstellung 
verbinden. Ebenso werden die Religionslehrer für die gleichen Altersstufen 
mit Erfolg einige solche Märchen vorlesen: dieselben zeigen aufs eindringlichste, 
wie tief der Glaube an Gott, der Glaube an das Wirken Gottes in den kleinsten 
Kleinigkeiten im Volke haftet. Und das ist in unserer glaubensarmen Zeit ein 
bedeutender Gewinn. 



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DIE KUNSTGESTALTUNG DES BUCHES fflOB 1 ) 

Von Julius Ley 

In meiner letzten Abhandlung in dieser Zeitschrift (Jahrg. 1896 S. 125 ff.) 
hatte ich mir die Aufgabe gestellt, den Kern und den Zweck des Buches Hiob 
darzulegen. In der vorliegenden Abhandlung sei es mir gestattet, auf die 
dichterische Kunst des Buches, die wohl einzig in ihrer Art sein dürfte, näher 
einzugehen. 

Zur richtigen Beurteilung des Kunstwerkes ist es notig, den stofflichen 
Gehalt, auf welchen die Dichtung sich aufbaute, von dieser selbst zu unter- 
scheiden. Der stoffliche Gehalt war dem Dichter durch die alte Sage von 
Hiob gegeben. Von diesem Manne berichtete sie, dafs er lange Zeit durch 
Frömmigkeit und Tugend vor allen seinen Zeitgenossen hervorgeragt und zu- 
gleich auch in ungetrübtem Glücke, im Reichtum und Bandersegen gelebt 
habe, plötzlich aber durch hereinbrechende Unglücksfalle und schreckliches 
Körperleiden in das äufserste Elend geraten sei, dafs er jedoch, durch Geduld 
und Ergebung in den Willen Gottes wiedergenesen, noch gröfseres Glück und 
reicheren Segen als früher wiedererlangt habe. Diese Sage war allgemein im 
Volke bekannt. Der Prophet Ezechiel, welcher noch vor der Zerstörung 
Jerusalems (586 v. Chr.) weissagte, nennt Hiob (C. 14, 14. 20) neben Noah 
und Daniel, welche in schweren Prüfungen sich bewährt hätten. Der Inhalt 
dieser Sage ist im wesentlichen aus C. 1 und 2, V. 1 — 10 und aus C. 42, 
V. 10 — 17 zu entnehmen. Aber der rohe Stoff der Sage erscheint bereits in 
einer dichterischen Bearbeitung. Zunächst äufserlich wird der Schauplatz auf 
fremdes Gebiet aufserhalb Palästinas und in die uralte Zeit der Patriarchen 
verlegt, wodurch dem Dichter, wie bereits früher (Troblem* S. 141) bemerkt 
worden ist, die freieste Entwicklung seiner poetischen Schöpfung ermöglicht 
wurde. Die dichterische Bearbeitung zeigt sich ferner in der symmetrischen 
Zahlenangabe der Kinder und des Besitzes: 7 Söhne und 3 Töchter — 7000 Schafe 
und 3000 Kamele, ebenso sich entsprechend: 500 Jochrinder und 500 Eselinnen. 
In ähnlicher Weise wechseln symmetrisch die über Hiob hereinbrechenden Un- 
glücksfälle ab: auf den räuberischen Überfall der Sabäer folgt das elementare 
Feuer des Blitzes und auf den Einbruch der Chaldäer der verheerende Sturm 



*) Diese Abhandlung gehört eigentlich nicht in die Pädagogik. Aber dem ehrwürdigen 
Verfasser, der fast seit fünfzig Jahren schätzbare Beiträge für die zweite Abteilung der 
Jahrbücher geliefert hat, haben wir gern auch bei der neuen Einrichtung unserer Zeit- 
schrift an der altgewohnten Stelle einen Platz eingeräumt. Die Redaktion. 



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288 J. Ley: Die Kunstgestaltung des Buches Hiob 

aus der Wüste, so dafs menschliche und elementare Gewalten der Zerstörung 
in gleicher Reihe miteinander abwechseln. Dafs alle diese Unglücksfälle, 
welche den gesamten Besitz und sämtliche Kinder hin wegraffen, an einem Tage 
eintreffen, und dafs immer nur ein Unglücksbote übrig bleibt, läfst ebenfalls 
das Streben nach Symmetrie, selbst auf Kosten der Wahrscheinlichkeit, erkennen. 
Auch die Gastmahle im regelmäfsigen Kreise der 7 Söhne und die Brandopfer 
in gleicher Zahl, wie die 3 Freunde, die 7 Tage und 7 Nächte zur Erde 
sitzen, zeigen ebenfalls Neigung zur Symmetrie der Zahlen. Kunstvoller schon 
ist die Steigerung in den sich fortsetzenden Unglücksfällen und Verlusten, 
welche mit dem schlimmsten, dem Tode der Söhne und Töchter, schliefsen. 
Der ruhige und gleichmäfsige Gang der Erzählung, die sich wiederholenden 
Redewendungen und Ausdrücke in C. 1 und 2, V. 1 — 10 erinnern überhaupt 
an dichterisch epische Darstellungsweise. Doch sind dieses nur äufserliche 
Kunstmittel; aber auch diese schon lassen keinen Zweifel an der Echtheit des 
Prologs aufkommen. 

Eine wahrhaft dichterische Erfindung ist die Eröffnung der Himmelsscene, 
in welcher die Engel und Satan zugleich vor Jahve erscheinen. Hierdurch 
werden die Ereignisse auf Erden mit den himmlischen Vorgängen in Verbindung 
gebracht und auf einen höheren Standpunkt erhoben. Ein Ahnliches hat ja 
auch Homer, aber von einer Entlehnung kann ja keine Rede sein. Dagegen 
hat bekanntlich Goethe im Prolog des Faust dieses Kunstmittel aus Hiob ent- 
lehnt. Hierdurch wird zugleich das Interesse des Lesers für den nachfolgenden 
Kampf in den Streitreden Hiobs mit seinen Freunden um so gespannter, als er 
einerseits über Hiobs Unschuld durch Jahves eigene Worte, dafs keiner an 
Frömmigkeit ihm auf Erden gleichkomme, aufgeklärt ist und auf dessen Seite 
stehen mufs, anderseits aber auch den Reden der Freunde, welche aus Gründen 
ihrer religiösen Überzeugung sprechen, die Anerkennung nicht wird versagen 
können. Die dramatische Anlage ist auch hieran zu erkennen. 

Nach der Sage hatte sich Hiobs Frömmigkeit in den ihm auferlegten 
Prüfungen bewährt: 'Bei alledem sündigte Hiob nicht mit den Lippen', auch 
nicht mit einem Worte des Vorwurfs gegen Gott; Satans Verdächtigungen 
waren widerlegt. Mit diesen Textesworten C. 2, 10 schlössen nach der Sage 
Hiobs Prüfungen ab. Hieran schlofs sich nach dem Inhalt: 'Und Jahve wandte 
Hiobs Mifsgeschick, als er wegen seines Unglücks 1 ) betete, und Jahve gab 
ihm alles, was er besessen hatte, doppelt wieder' (c. 42, 10). Er wurde von 
seiner Krankheit geheilt, von seinen Verwandten und Bekannten besucht, ge- 



l ) Es mufs in V. 10 'lriri 153 (vgl. V. 11) gelesen werden, worauf auch die defektive 
Schreibweise hinweist. Doch ist die falsche Lesart schon sehr alt, wie sich aus der LXX 
ergiebt, und kann möglicherweise vom Dichter selbst herrühren, von welchem auch 
C. 42, 7—9 (ebenso wie C. 2, 11—13) hinzugefugt worden ist, um die Erzählung der Sage 
äufserlich wenigstens mit seiner Dichtung in Einklang zu bringen. Schon an sich erscheint 
es kaum denkbar, dafs Hiob, während er noch selbst sich im äufsersten Elend befand — 
denn von seiner Heilung ist bisher noch keine Rede gewesen — für seine gegnerischen 
Freunde eher als für sich selbst gebetet haben sollte. 



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J. Ley: Die Kunstgestaltung des Buches Hiob 289 

tröstet und beschenkt, sein Herdenreichtum verdoppelte sich; er erfreute sich 
eines neuen Kindersegens bis ins vierte Geschlecht und lebte noch 140 Jahre 
(C. 42, 11 — 17). Hiermit war der Sagenkreis über Hiob abgeschlossen, welcher 
auch zu der traditionellen Anschauung stimmte, dafs Hiob in Geduld, Ergebung 
und Gebet seine Frömmigkeit bewährt habe (vgl. Jacob. 5, 11) und mit einem 
noch gröfseren Glücksstande belohnt worden sei. Weitergehende Prüfungen 
lagen der Sage fern, da Satan selbst keine Verdächtigungsgründe vorzubringen 
hatte und dessen auch nicht ferner im ganzen Buche erwähnt wird. 

Die Ankunft der drei Freunde (C. 2, 11 ff.) kann nicht mehr zur Sage ge- 
hören; denn sie konnte von Satan weder veranlafst, noch gewünscht worden 
sein. 1 ) Die Freunde kamen in bester Absicht, um Hiob ihr Beileid zu be- 
zeugen und ihn zu trösten. Nach der Sage kommen die Freunde erst nach 
seiner Wiedergenesung. Die Ankunft der Freunde ist des Dichters eigene 
Erfindung und ein besonderes Kunstmittel. Diesem konnte in seiner weit fort- 
geschritteneren Zeit die einfache Lösung für menschliche Prüfungen, wie sie 
die Sage bietet, nicht mehr genügen; sie entsprach auch nicht mehr den viel- 
fachen Erfahrungen einer späteren Zeit, nach welchen oft die Frommen im 
Elend untergehen, während die Gottlosen sich im Wohlleben befinden. Er 
suchte daher eine tiefere Lösung welche auch für seinen fortgeschritteneren 
Standpunkt ausreichte. Der Sagenstoff gestaltete sich in seiner schöpferischen 
Phantasie zu einer vollständigen Dichtung. Die erdichtete Ankunft tröstender 
Freunde war ja ganz den Verhältnissen angemessen; aber der Dichter liefs zu- 
gleich hervorragende Männer von eigentümlichem Charakter und verschiedener 
Sinnesart erscheinen, durch welche es ihm möglich wurde, reichere und tiefere 
Gedankenreihen zu entwickeln. Die Frage über Hiobs persönliches Schicksal 
erweiterte sich ihm zu einer allgemeinen über die Gerechtigkeit Gottes in der 
Leitung der menschlichen Schicksale, und in welchem Verhältnisse das Glück 
oder Unglück der Menschen zu ihrem sittlichen und religiösen Wandel stehen. 
So gestaltete sich das Ganze zu einer psychologisch dramatischen Dichtung, 
in welcher die fortschreitende Gedankenentwickelung mit den wechselnden 
Seelenstimmungen der sich bekämpfenden Personen zum Ausdruck gelangen 
konnte. 

Der Dichter motivierte die Ankunft der drei Freunde mit der Absicht, 
dafs sie ihn trösten wollten. Aber hierzu liefs er es gar nicht kommen; sieben 
Tage safsen sie um ihn mit allen Zeichen der Trauer, ohne ein Wort des 
Trostes oder der Teilnahme zu sprechen. Das Entsetzliche war ihnen un- 
begreiflich; die Gedanken, welche sich ihnen aufdrängten, wagten sie nicht 
auszusprechen; sie würden den Leidenden nur verletzt haben. Aber dieses un- 
heimliche Schweigen, dieses Versagen jedes Zuspruchs der nächsten Freunde 



l ) Aach Bad de (das Bach Hiob übersetzt and erklärt. Göttingen 1896) ist der gleichen 
Ansicht. Doch fehlt bei ihm wie bei den anderen Exegeten eine klare Scheidung des 
Sagenstoffes von der eigentlichen Dichtung, wodurch allein viele Schwierigkeiten beseitigt 
werden. Die falsche Vokalisation des einen Wortes in G. 42, 10 (s. oben) war das Hindernis. 

Neue Jahrbücher. 1899. II 19 



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290 J Ley: Die Kunstgestaltung des Buches Hiob 

verwundete seine Seele aufs tiefste und brachte ihn ganz in Verzweiflung. So 
brach er denn endlich selbst das Schweigen, indem er in Verwünschungen 
seines eigenen Daseins und in Hagen wegen der Unglücklichen, die sich ver- 
gebens nach dem Tode sehnen, ausbrach. Hierdurch sahen sich auch die 
Freunde zum Sprechen genötigt. Die Anknüpfung zum Redekampf und zum 
eigentlichen Drama war gegeben. 

Schon diese aus Verzweiflung hervorbrechende Klage ist kunstvoll ge- 
gliedert. Sie beginnt mit den heftigsten Verwünschungen gegen den Tag und 
die Nacht, die ihn ins Dasein gebracht. Nur gegen die scheinbare und äufsere 
Ursache seines Daseins ist seine Verwünschung gerichtet. Es ist dieses psy- 
chologisch begründet. Der leidenschaftlich Erregte wendet sich zunächst stets 
gegen die auf serliche oder unmittelbare Ursache des Unglücks; vgl. Jerem. 
20, 14 — 18. Horat. Oden II. 13. Aber auch als Hiob, durch das Ausstofsen 
der ungeheuerlichen Verwünschungen gleichsam erleichtert und erschöpft, in 
einen ruhigeren Ton der Klage übergeht und sich gegen den wirklichen 
Urheber seines Daseins wendet, geschieht dieses mit einer gewissen Scheu. 
Der Name Gottes wird nicht genannt. Die Frage, ob mit Recht und nach 
Verdienst die Leiden über ihn gekommen seien, wird gar nicht berührt. Ein 
Zweifel an Gottes Gerechtigkeit liegt ihm bei seiner tiefen Frömmigkeit noch 
fern. Aber es ist doch nicht mehr der Hiob der Sage, welcher in den schwersten 
Leiden in Demut und Ergebung betet, es ist der Hiob des Dichters, der sich 
aus den Banden altväterlichen Glaubens zu lösen beginnt und die demselben 
widerstrebenden Gedanken und Wünsche nicht mehr niederhält. Mit den Ver- 
wünschungen seines Daseins und den Klagen über dessen Urheber ist er auf 
eine schiefe Bahn geraten und von dem früheren festen Glaubensstandpunkte 
gewichen, als er seinem Weibe gegenüber sprach: 'Das Gute nehmen wir von 
Gott an, und das Schlimme sollten wir nicht annehmen ¥ Jetzt will er weder 
Gutes noch Schlimmes empfangen haben; er wünscht, ins Dasein überhaupt 
nicht gerufen worden zu sein. Aber dieser Wunsch vertragt sich nicht mit 
einer Ergebung in Gottes Willen, dessen Geschicke der Fromme vertrauensvoll 
ertragen müfste. Dieses giebt den Freunden Anlafs zum Tadel und zum Be- 
ginn des Streites. 

Kunstvoll in diesem Monolog Hiobs ist sowohl der allmähliche Übergang 
von dem Ausbruch der Verzweiflung (V. 3 — 10) in den milderen Ton der Klage, 
zuerst mit unerfüllbaren Wünschen (V. 11—19), zuletzt mit erfüllbaren (V. 20 
— 26), als auch die Art und Weise, wie er von seiner leidenschaftlichen Er- 
regtheit unversehens und fast gegen seinen Willen von seinem bisherigen 
frommen Standpunkt sich fortreifsen läfst. 

Der weitere Gang der kunstvollen Gedankenentwickelung in den Rede- 
kämpfen, in welchen zuerst in dem ersten Rede Wechsel die Freunde mit sieg- 
reichen Gründen die Oberhand gewinnen, Hiob dagegen in vergeblicher Abwehr 
immer mehr von seinem früheren Standpunkte der Frömmigkeit abgedrängt 
wird und der Verzweiflung fast unterliegt, dann aber inmitten des zweiten 
Redewechsels aus innerer Kraft zu einem festen Glauben sich erhebt und von 



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J. Ley: Die Kunstgestaltung des Buches Hiob 291 

einem höheren Standpunkte die Angriffe der Freunde widerlegt 1 ) und im dritten 
Redewechsel sie zum Schweigen bringt und schliefslich zum Erweis seiner Un- 
schuld seinen frommen und von Gott begnadeten Lebenswandel zu seinen jetzigen 
übermäfsigen Leiden in Gegensatz stellt und von Gott ein Rechtsverfahren zu 
seiner Verteidigung verlangt, die Ausführung dieses so kunstvoll sich ent- 
wickelnden psychologischen Dramas in seinen Einzelheiten kann schon der 
Raumbeschrankung wegen hier nicht weiter dargelegt werden. Auch sind die 
Umrisse desselben in dem Troblem des Buches Hiob' gezeichnet worden. 1 ) Nur 
die kunstmafsige Weise, wie die theoretischen Fragen eine dichterische Ge- 
staltung in anschaulichen Bildern erhalten haben und die gesellschaftlichen 
Zustände der Zeit, die Volkssagen, die geschichtlichen Ereignisse, die Anschau- 
ungen von den Naturerscheinungen erkennen lassen, so dafs sie uns gewisser- 
mafsen ein Weltbild jener Zeit gewähren, mag hier noch in einigen Zügen 
dargelegt werden. 

In den gesellschaftlichen Zuständen erscheint das alte patriarchalische Re- 
giment trotz der monarchischen Spitze in voller Geltung, wie dieses ja nach 
den Berichten der Bücher Esra und Nehemia selbst nach der Rückkehr 
aus dem babylonischen Exil geblieben war. Hiob selbst erscheint als ein 
hochangesehener Stammesältester, ein Berater und Wohlthäter seiner Unter- 
gebenen, welche ihn dankar verehren und segnen (C. 29, 8 — 25). Daneben 
treten auch gewaltthätige Herren uns entgegen, welche ihre Unterthanen hart 
bedrücken (22, 6 — 9; 24, 2 — 4), und neben den hochmütigen, in allem Über- 
flufs schwelgenden Reichen (21, 8 — 12) sehen wir die in die Wüste Hinaus- 
gestofsenen, welche unter Gesträuchen übernachten und zum Schutze vor Un- 
wetter an den Fels sich schmiegen; daneben auch den Tagelöhner, der, von der 
Arbeitslast und der Hitze des Tages erschöpft, nach dem Abendschatten sich 
sehnt. Die Mühen und Gefahren des Bergmannes, der aus der Tiefe verborgene 
Schätze ans Licht bringt, werden ausführlich geschildert (28, 1 — 10) und lassen 
zugleich die in Kunstfertigkeiten fortgeschrittene Zeit erkennen. 

Die Sagen der Vorzeit werden berührt, so namentlich die von der Sintflut, 
für welche dem Dichter Berichte vorgelegen zu haben scheinen, die uns un- 
bekannt geblieben sind (22, 15 — 18). Tief ergriffen zeigt sich der Dichter von 
der traurigen Lage und den Bedrängnissen des eigenen Volkes. Die Dichtung 
ist, wie wir anderwärts nachgewiesen haben 21 ), zur Zeit der Regierung des 
Königs Zedeqia (597 — 586 v. Chr.) abgefafst worden, als Nebukhadnezar 
Jerusalem erobert, den Tempel ausgeplündert, den König Jojakhin mit seinem 
ganzen Hofe, die Vornehmen, Priester, Handwerker und an 7000 (10000) der 
Wehrhaftesten in die Gefangenschaft fortgeführt und Zedeqia zum König ein- 
gesetzt hatte. In den Klagen Hiobs über das eigene Leid tönen die des ganzen 
Volkes wieder über die Gewaltthätigkeit des Eroberers, in dessen Hand das 
Land gegeben war (9, 24; 17, 5 — 9), über die Fortführung der gefesselten 
Königsfamilie und der ihres Ornats entkleideten Priester und Ratsherren, was 

') Buddes Einwendungen (S. XXVII. XXXI) finden am Schlüsse ihre Erledigung. 
*) Die Abfaseungszeit des Buches Hiob in den Theol. Stud. u. Krit. 1898 S. 69 ff. 

19* 



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292 J. Ley: Die Kunstgestaltung des Buches Hiob 

er mit eigenen Augen hatte ansehen müssen (12, 17 — 19. 24. 25; 13, 1). In 
Hiob verkörpern sich die Drangsale des ganzen Volkes, die Belagerung und 
Erstürmung der Stadt und des Tempels: ^Entbrennen liefs er wider mich seinen 
Zorn und sah mich an, als ob ich zu seinen Feinden gehörte; allsam t rücken 
seine Scharen an und lagern rings um mein Zelt 1 ) (19, 11. 12). Er stürmt 
auf mich ein, Rifs (folgt) auf Rifs, wie ein Kriegsheld stürzt er gegen mich 
(16, 14). Zur Beute läfst er die Freunde fortwandern 2 ), während die Augen 
der (verlassenen) Kinder verschmachten: Und so hat er mich zum Sprichwort 
für alle Welt hingestellt' (17, 5. 6). — In diesen Worten drückt sich seine 
Klage und sein Zorn über des Volkes Unterdrücker aus, der die Gefangenen in 
entfernte Gegenden fortführte und am Flusse Kebar ansiedelte (Ezech. 3, 15). 
Auch die Angriffe der Freunde gegen Hiob gehen oft in versteckte Ver- 
wünschungen gegen den verhafsten Eroberer über. So kündigt Eliphas diesem 
innere Gewissensqualen und äufsere Bedrängnisse an (15, 19 — 24): 'Denn gegen 
Gott streckte er seine Hand aus und wider den Allmächtigen erhob er sich 
trotzig. Er rannte wider ihn mit trotzigem Halse unter der Wölbung seiner 
Schilde Buckel/ — was sich nur auf des Eroberers Eindringen in den Tempel 
Jahves und auf die Beraubung seiner Schätze und Heiligtümer beziehen kann 
(H Reg. 24, 13). Auch Bildads Rede (18, 5—21) läfst den Hafs gegen den 
Nationalfeind in den Verwünschungen erkennen, ebenso Zophar (20, 19 — 29), 
alle jedoch im natürlichen Zusammenhange der Rede, so dafs sie auch auf Hiob 
bezogen werden konnten, aber den Volks- und Leidensgenossen nach ihrem 
Sinne verständlich. Die geschichtlichen Ereignisse der Zeit und die Seelen- 
stimmung des Volkes werden uns hiermit erkennbar. 

Ganz besonders verwebt sich mit der Dichtung die Schilderung vielfacher Er- 
scheinungen in der Natur. Treffend vergleicht Hiob die wandelbare Treue seiner 
Freunde mit der Steppe, welche im Frühling nach der Schneeschmelze reich be- 
wässert im üppigen Graswuchs prangt, zur Sommerszeit aber zur ausgedörrten 
Wüste wird und die die Hoffnungen der Karawanen zu ihrem Verderben täuscht 
(6, 16 — 20). Die Erde läfst der Dichter als ein Werk Gottes vor unseren Augen 
entstehen, wie er ihre Mafse bestimmt, die Mefsschnur ausspannt und die Eck- 
steine legt; sie entsteht unter dem Jubel der Morgensterne und dem Jauchzen 
der Himmelssöhne (38, 4 — 7), auf festen Grundsäulen schwebt sie frei im Äther 
(26, 7). Auch das Meer sehen wir im Entstehen, wie es als ein Riesenkind aus 
dem Schofse der Erde hervorbricht, Wolken und Nebel als Wickel und Gewand 
erhält, aber in Zucht und Schranken gehalten wird: Bis dahin darfst du kommen 
und nicht weiter, hier haben deine stolzen Wellen ein Ende (38, 8 — 11). Das 
Himmelsgewölbe erstrahlt bald durchsichtig im Goldglanze von Norden her 
(37, 21. 22), bald wird es von dunklen Wolken bedeckt, die mit Regen die 
Erde überschütten; der Sturmwind treibt sie umher, dafs sie nach seinem Rat- 
schlüsse ausführen, was er befiehlt, sei es zum Segen, sei es zum Verderben 

*) Mit dem e Zelt' ist wohl der Tempel gemeint. Da der Feind im Lande war, durften 
die Klagen nicht offen ausgesprochen werden; nur symbolisch konnte man es wagen. 
■) Vgl. die Abfassungszeit S. 65 Note 1. 



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J. Ley: Die Kunstgestaltung des Buches Hiob 293 

(5, 10; 12, 15; 36, 27. 28; 37, 12. 13; 38, 26. 27). Alle Elemente: das Licht, 
die Wolken, der Regen, Schnee, Hagel und Frost entstehen, kommen und gehen 
auf Gottes Befehl und erscheinen stets in Bewegung (9, 9; 37, 37. 28. 32; 38, 
31. 32); die Morgenröte, welche die Erde mit strahlendem Lichte erweckt und 
die Diebesbanden von ihrem nachtlichen Treiben verscheucht (38, 12 — 15); der 
Mond, der mit seinem milden Strahlenglanz hinwandelt und zur Anbetung ver- 
lockt; die hellglänzenden Sterne und selbst die Sternbilder werden nach alten 
Mythen in Bewegung dargestellt (38, 31. 32). Ebenso auch die zerstörenden 
Elemente: Blitz und Donner (37, 2 — 4), Erdbeben, Bergstürze, Verfinsterungen 
der Sonne und der Gestirne (9, 5 — 7), selbst das stille, friedliche Schattenreich 
der aus dem Leben Geschiedenen (3, 17 — 19) und die geheimnisvollen Visionen 
zur Mitternachtszeit (4, 13 — 16), in allem ist Leben und Bewegung, woran man 
den schöpferischen Dichter erkennt wie an Homer und Vergil. 

Mit besonderer Vorliebe werden die Tiere geschildert, aber nicht nach 
ihrer äufseren Erscheinung, sondern in ihrer lebensvollen Bewegung und Thätig- 
keit, so der Löwe, wenn er im Hinterhalte auf Beute lauert (38, 39. 40); der 
Rabe, der nach Prafs schreit und mit seiner hungernden Brut umherirrt (38, 41); 
die kreifsende Gemse, die schmerzlos ihre Jungen gebiert, welche, sich selbst 
überlassen, ins Weite davonlaufen (39, 1 — 4); der in der Steppe umherschwei- 
fende Wildesel, der jeder Zähmung widerstrebt (5 — 8); der starke Wisent, der 
zum Dienste des Ackerbaues sich nicht zwingen läfst (9 — 11); der dumme und 
sorglose Vogel Straufs, der seine Eier unbedacht dem Wüstensande zum Aus- 
brüten überläfst und mit einer Schnelligkeit dahineilt, dafs kein Reiter ihn 
einholt (12 — 18); das feurige, in den Kampf sich stürzende Rofs, so es den 
Trompetenschall hört (19 — 25); der hoch sich schwingende Adler, der vom 
Felsengrat aus auf Beute späht. 1 ) Alle diese kleinen Schilderungen lassen eben- 
falls Leben und Bewegung des instinktiven Bildungstriebes schöpferischer 
Dichtungskraft erkennen. Selbst Pflanzen, welche in ihrem Wachstum ganz 
passend in Vergleichungen verwendet worden, erscheinen in lebensvoller Be- 
wegung, wie sie die Mauer übersteigen und dichtes Geröll durchdringen und 
überwuchern (8, 16. 17). 

Ganz besonders lebhaft sind die Schilderungen der inneren Vorgänge des 
Seelenlebens: die Unruhe des schmerzlichen Krankenlagers (6, 3. 4. 13. 14), das 
geangstigte Gewissen (15, 20 — 24; 18, 11 — 16) und umgekehrt der Frieden und 
die Gemütsruhe der Gottergebenen (5, 24 — 26; 11, 17 — 19), die zum Teil den 
Gegenstand des Streites in den Gegenreden bilden. 

Obwohl der Dichtung theoretische Fragen der Theodicee zu Grunde liegen, 
und sie auch nicht der Gründe strenger Beweisführung ermangelt, so bewegen 
sich doch sämtliche Reden stets in einer blühenden und kunstreichen Sprache 
und lassen auch die Elemente der verschiedenen Dichtungsarten erkennen. Am 
stärksten tritt das lyrische Element hervor zunächst in den wehmütigen Klagen 
des von Schmerzen und Gram niedergedrückten Mannes nicht nur über den 

l ) Die Schilderangen des Nilpferdes und des Krokodils (C. 40. 41) sind sekundär, 
vgl. unten. 



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294 J- Ley: Die Kunstgestaltung des Buches Hiob 

jammervollen Zustand seines Leibes, sondern auch über die Herzlosigkeit der 
Freunde, welche statt des Trostes ihn mit Vorwürfen überhäuften und ihm 
seinen letzten Halt, die Überzeugung seiner Unschuld, zu erschüttern suchten. 
Die Klagen über das persönliche Leiden gehen oft in die über das traurige 
Schicksal der Menschen überhaupt über (3, 20 ff.; 14, 1 u. a.). An die Klagen 
schliefsen sich mehrmals die rührendsten Bitten an Gott und die Freunde um 
Erbarmen und Schonung (7, 17 ff.; 10, 2 ff; 13, 24 ff; 7, 28 ff; 19, 21). In ganz 
erhabenem Tone gehalten sind die Lobpreisungen von Gottes Allmacht, Weisheit 
und Güte (5, 9—17; 9, 6—10; 11, 8—11; 12, 7—10; 25, 2—5; 26, 5—13; 28, 
23 — 28; C. 38 — 40); es sind diese zum Teil Hymnen, welche sich den schönsten 
Psalmen anreihen, ja man könnte sagen, die ganze Dichtung lauft auf die Ver- 
herrlichung von Gottes Erhabenheit hinaus. 

Das dramatische Element ist schon äufserlich an der dialogischen Form 
zu erkennen, wesentlich aber an den bereits erwähnten fortschreitend sich stei- 
gernden Affekten in den Seelenstimmungen: für Hiob in der anfangs zunehmen- 
den Erbitterung und seinem Zurückweichen von seinem früheren festen Glaubens- 
standpunkt bis zur Verzweiflung, dann seiner Wiederermannung und Erstarkung, 
welche ihn mit neuer Zuversicht erfüllt und über seine Gegner siegreich 
hervorgehen lafst, während umgekehrt die Freunde, anfangs ihres Sieges sicher, 
stets schärfer mit ihren Angriffen vorgehen, zuletzt jedoch dem überlegenen 
Gegner weichen und verstummen. Anstatt der Handlungen, welche sonst das 
Wesen des Dramas ausmachen, tritt hier die fortschreitende Bewegung in der 
Entfaltung innerer Seelenzustände ein. Die dramatische Anlage der Dichtung 
zeigt sich im besonderen in der Individualisierung der drei Freunde Hiobs. 
Obwohl sie alle drei den gleichen Standpunkt einnehmen, dafs Hiobs Leiden 
nur die Folge einer Verschuldung sein könne, und in ihren Angriffen und Er- 
mahnungen einstimmig auftreten, so ist doch der Ausgangspunkt bei denselben 
nicht nur verschieden, sondern auch die Art ihres Auftretens, die Ausdrücke 
und Wendungen in ihren Reden lassen ihre verschiedenartigen Charaktere und 
die eigentümliche Sinnesweise erkennen. Auch hier mufs ich mich, da die 
Ausführung einen zu weiten Raum einnehmen würde, auf die im 'Problem* ge- 
gebenen Andeutungen beschränken. 1 ) 

Auch epische Schilderungen fehlen der Hiobdichtung nicht. Der Prolog 
(C. 1. C. 2, 1 — 10) hat, wie eben bereits bemerkt, den epischen Charakter und 
ist in seiner aus der Sage umgearbeiteten Gestalt ein Werk des Dichters. 
Auch die genannten kleinen Tierschilderungen in C. 39 können wohl als episch 
bezeichnet werden. Dagegen sind die ausführlichen Schilderungen des Nil- 
pferdes und des Krokodils am Schlüsse der Dichtung spätere Einschaltungen, 
die wie die Elihureden mit der Dichtung in keinem organischen Zusammen- 
hange stehen, wie dieses auch von vielen Exegeten auch aus anderen Gründen 
erkannt worden ist (vgl. Stud. u. Krit. 1895 S. 678. 690). 

So finden sich in diesem Werke die Elemente sämtlicher Dichtungsarten 

*) Eine ausführliche Schilderung von den Charakteren der Freunde und Hiobs religiösen 
Wandlungen wird nächstens in den Theol. Stud. u. Krit. erscheinen. 



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J. Ley: Die Kunstgeßtaltung des Buches Hiob 295 

vereinigt, welche ihm, abgesehen vom Inhalt, noch einen besonders hervorragen- 
den Kunstwert verleihen, um so mehr, als die hebräische Poesie nichts Ähnliches 
aufzuweisen hat. 

Zum Schlüsse sei es mir noch gestattet, Buddes Einwendungen 1 ) gegen 
meine dramatische Auffassung der Dichtung zu berichtigen. B. will einen 
Unterschied in Hiobs Stellung zu Gott nach der Bede in C. 19, wie ihn auch 
die meisten Exegeten annehmen, nicht anerkennen (S. XXVII Note 2). Dafs 
aber hier der Wendepunkt liegt, und dafs von hier ab eine gewisse Beruhi- 
gung in Hiobs Gemüt und eine vollständige Veränderung in seinem Verhalten 
gegen Gott eingetreten ist, läfst sich sowohl an dem mehr freundlichen Tone, 
den er jetzt den Freunden gegenüber anschlägt, als auch an der ehrfurchts- 
vollen Scheu erkennen, wenn er etwas aussprechen will, was gegen den Glauben 
an Gottes Gerechtigkeit zu verstofsen scheint. So gleich zum Beginn der 
nächsten Rede in C. 21, wo er die Freunde in Demut bittet, ihn doch anzuhören, 
Geduld mit ihm zu haben; er würde dieses als eine Tröstung von ihrer Seite 
aufnehmen (21, 2. 3). So hat er bisher mit seinen Freunden nicht geredet; 
man vergleiche die Anreden in C. 6, 14—27; 12, 2—8; 13, 7—12; 16, 2—5; 
17, 10; 19, 2 — 5. 14 — 19, wo er sie treulos, heuchlerisch, parteiisch, falsche 
Anwälte u. s. w. nennt. Solche Ausdrücke gegen die Freunde kommen nach 
den Schlufsworten des C. 19 nicht mehr vor. Und wie verschieden ist sein 
jetziges Verhalten gegen Gott. Da er jetzt zur Widerlegung der Vergeltungs- 
lehre der Freunde Beispiele vom Wohlergehen der Frevler anführen will, er- 
greift ihn Schrecken und Schauder, weil es wie eine Anklage gegen Gottes 
Gerechtigkeit aussehen könnte (21, 6). Früher hatte er solche Scheu nicht 
gehabt; da hatte er keck erklärt: 'Den Frommen wie den Frevler vertilgt er 
in gleicher Weise/ Wenn eine Geifsel plötzlich Tod verbreitet, so spottet er 
des Unterganges der Unschuldigen (9, 21 ff. und ähnlich 10, 3 ff.; 13, 24 ff.; 
14, 20 ff; 16, 14 ff; 19, 7. 22). Jetzt, da er die Worte der Gottesverächter an- 
fuhrt, kann er es nicht unterlassen; gleich hinzuzufügen: Gewifs, in ihrer Gewalt 
steht nicht ihr Glück, und was Gottlose denken, liegt mir fern (21, 14 — 16). 
Mit dem letzten parenthetisch zu fassenden Verse will er den Verdacht von 
sich abwälzen, als ob er gleiche Gedanken hegen könnte. Den letzten Halb- 
vers auszuscheiden (Budde S. 119), dafür liegt gar kein Grund vor; er ist eben 
für Hiobs veränderte Stellung zu Gott bezeichnend. Auch in der Rede des 
Eliphas (22, 18) kehrt derselbe Stichos in gleichem Sinne wieder. In derselben 
Weise sucht Hiob gleich darauf den Schein, als ob er die ausgesprochenen 
Gedanken der Frevler billige, in einem Zwischenverse abzuweisen mit den 
Worten: 'Will man Gott Einsicht lehren, ihn, der die Himmlischen richtet' 
(21, 22)? Er erhebt überhaupt keine Anklage mehr gegen Gottes Gerechtig- 
keit, er zweifelt auch nicht mehr an derselben. Seine Klage ist nur darauf 
gerichtet, dafs Gott ihm nicht gestatte, seine Unschuld durch ein Rechtsverfahren 
zu erweisen, dafs Gott sich nicht finden lasse (23, 3 — 12), wobei stets die 



l ) Budde, Das Buch Hiob (S. XXVII. XXXI). 



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296 J- Ley: Die Kunstgestaltung des Buches Hiob 

Voraussetzung zu Grunde liegt, dafs, wenn es zu einer Darlegung seiner Rechts- 
sache käme, Gott ihm sein Recht unzweifelhaft würde zu teil werden lassen. 
Ja er sucht sich Gottes Verhalten dadurch zu erklären, dafs es zur erhabenen 
Allmacht Gottes gehöre, den einmal gefafsten Beschlufs gleichsam wie ein 
Naturgesetz nicht zu verändern und auf Erörterungen sich nicht einzulassen 
(23, 13. 14). Diese Scheu vor dem allgewaltigen Gotte, der keine Einrede zulasse, 
erhält ihren stärksten Ausdruck in C. 23, 14 — 17 (der letzte Vers ist nach 
Budde S. 132 zu emendieren). Hiob nimmt jetzt ungefähr den religiösen 
Standpunkt ein, wie ihn der Islam über die menschlichen Schicksale hat. 
Trotzdem hält er an der Überzeugung seiner Unschuld fest, die er zunächst in 
C. 27, 2 — 7 ausspricht. Nur darf man V. 2 nicht (mit Budde) übersetzen: 'So 
wahr Gott lebt, der mir mein Recht genommen', sondern 'der mir ein Rechts- 
verfahren versagt (entzogen) hat'. Diese Bedeutung hat das Wort 'Mischpat' 
(C. 13, 18; 23, 4; Num. 27, 5; Jes. 50, 8; Jerem. 12, 1 u. v. a.). Von der Über- 
zeugung seiner Unschuld läfst er sich nicht abbringen. Heucheln, sagt er, 
könnte nur ein Gottloser zum Mifsfallen Gottes und zu seinem eigenen Ver- 
derben (27, 8 — 10). Mit dieser Überzeugung seiner Unschuld schliefst er seine 
letzte Rede (31, 35 — 37), nachdem er sein in Tugend und Frömmigkeit zu- 
gebrachtes Leben beteuert hatte. Bei allen seinen Beteuerungen setzt er jedoch 
stets voraus, dafs Gott ihn für unschuldig erklären und ihm seine Gnade zu- 
wenden würde, wenn er seine Rechtssache wahrnehmen wollte. Denn er zwei- 
felt nicht an Gottes Gerechtigkeit, vielmehr hofft er auf sie; sie ist seine letzte 
und einzige Stütze. Budde verwechselt Verletzung des Rechts, positives 
Unrecht, welches Hiob auch nur von Gott zu denken seit dem Wendepunkte 
fern von sich weist (23, 6. 22), mit Versagung einer Rechtsuntersuchung, 
über welche Hiob bis zum Schlüsse seiner Reden klagt. Letzteres allein war 
das Strafwürdige, welches er durch das Erscheinen Gottes zu seiner Beschämung 
erkennen und bereuen mufste. Wenn Budde dagegen einwendet (S. XXVH), 
'dafs nichtsdestoweniger Hiob nach meiner Darstellung (Problem S. 138) die 
Strafwürdigkeit seiner eigenen vermessenen Rede erkennen und demutsvoll seine 
Reue aussprechen mufs', so ist daselbst bereits erklärt und auch selbstverständ- 
lich, dafs er durch Jahves Erscheinen und Rede erkennen mufste, in welchem 
schweren Irrtum er befangen war, wenn er klagte, dafs Gott sich nicht um 
ihn bekümmere und seine Klage über Entziehung eines Rechtsverfahrens nicht 
höre. Alle Klagen, die er in diesem Irrtume gegen Gott erhoben, müssen ihm 
jetzt, da Gott sich selbst zu ihm herabgelassen hatte und ihn seine gütige Für- 
sorge für das Weltall und selbst für die Tiere hatte erkennen lassen, zu seiner 
Beschämung als unwahr und vermessen erscheinen, und deshalb spricht er seine 
Reue in tiefster Demut aus, aber nicht deshalb, weil er Gott abgesagt hätte. 
Denn seit der Wende in C. 19 hängt er mit aller Innigkeit wieder an Gott 
und klagt nur, dafs Gott auf ihn nicht achte. Und je tiefer seine Anhänglich- 
keit an Gott ist, um so mehr mufs er es bereuen, dafs er ungerechterweise 
gegen ihn geklagt hatte. 

Budde läfst Hiob in C. 27. 28 seinen Bankerott in der Weltanschauung 



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J. Ley: Die Kunstgestaltung des Buches Hiob 297 

erklären (S. XXIV), wenn auch nicht einen so schlimmen, wie er ihn früher 1 ) 
dargestellt hatte. Aber abgesehen davon, dafs Hiobs Reden in C. 27 — 31 den 
Eindruck eines aus dem Kampfe hervorgegangenen Siegers und nicht eines des 
Bankerotts sich bewufsten Mannes machen, so ist für solche Annahme nicht 
der geringste Grund vorhanden, wenn man die Dichtung als eine dramatisch 
sich fortentwickelnde erkannt hat, in welcher Hiobs Stellung zu Gott in ver- 
schiedenen und sogar sich widersprechenden Phasen erscheinen konnte, die aber 
notwendige Übergange zu einander bildeten. Der Wendepunkt in C. 19 ist im 
Problem (S. 134 ff.) in seiner inneren Notwendigkeit begründet worden, und 
hierdurch sind die Schwierigkeiten und Widersprüche, welche Budde (S. XXI) 
anfuhrt, beseitigt. Wie im Leben des einzelnen Menschen infolge von Erfah- 
rungen und besserer Erkenntnis Wandlungen in den religiösen und moralischen 
Anschauungen eintreten können, ohne dafs von einer Untreue gegen sich selbst 
oder gar von einem Bankerott die Rede sein kann, ebensowenig kann dieses von 
Hiob behauptet werden. Es ist kein blofser c Wortstreit', wie Budde meine 
Bezeichnung der Hiobdichtung als eine dramatische erklart (S. V Note 1), 
sondern die ganze Anlage und Ausführung der Dichtung gestaltet sich ganz 
anders, als wenn man sie als eine didaktische auffafst. Die didaktische hat 
eine bestimmte Tendenz, welcher sie treu bleiben mufs; die dramatische stellt 
die Vorgänge nach ihrem natürlichen in des Dichters Phantasie sich gestalten- 
den Verlauf dar ohne tendenziöse Belehrung: sie ist sich selber Zweck. 

Es sind noch andere Punkte in der Auffassung des Ganzen, in denen ich 
Budde nicht beistimmen kann, so namentlich in Beziehung auf die Echtheit 
der Elihureden und der ihnen untergelegten Tendenz. Hierauf gedenke ich an 
anderer Stelle einzugehen. Auch die von ihm angenommene Fragestellung des 
Dichters (S. XH f.) scheint mir verfehlt und ist nach Problem (S. 129 ff.) zu 
berichtigen. In der Bestimmung der Abfassungszeit des Buches Hiob habe 
ich Buddes Annahme (§ 5 S. XXIV) in der genannten Abhandlung (Stud. u. 
Krit. 1898 S. 53 ff.) berichtigt, und ich will noch hinzufügen, dafs selbst bei 
der Annahme, dafs 15, 18 — 19 keine Interpolation sind (Stud. u. Krit. 1895 
S. 657), diese dennoch nicht *auf die Zeit der Völkermischung nach der Ver- 
bannung' (B. S. 79), sondern auf die Zeit sich beziehen müssen, da die Chal- 
däer in Palästina eingedrungen und die Herren des Landes geworden waren. 
Eine weitere Auseinandersetzung wäre hier nicht am Platze. Übrigens sollen 
hiermit keineswegs Buddes Verdienste um die Erklärung der Einzelheiten des 
Textes in Abrede gestellt werden, wenn man auch an manchen Stellen ihm 
nicht zustimmen kann. Der emsigen und umsichtigen Benutzung und Beurtei- 
lung aller seiner Vorgänger gebührt die vollste Anerkennung. Seine Skepsis 
gegen meine Metrik hat er aufrecht erhalten. Wenn er aber die Form von 
weolatha (C. 5, 16) ganz nach meinen 'Grundzügen der Metrik' 1875 (S. 101) 
erklärt (S. 25), so hat er die Einwirkung der rhythmischen Betonung selbst auf 
den Konsonantentext zugestanden. 

') Zeitschrift d. A. T. W. 1882 8. 616 ff. — Meine Entgegnung in d. Stud. u. Krit. 1896 
S. 671 durfte vielleicht die Milderung der früher gebrauchten Ausdrücke veranlafst haben. 



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ANZEIGEN UND MITTEILUNGEN 



BRIEFE VON F. A. WOLF UND F. PAPEN- 
CORDT AN LINA KLINDWORTH 
Aus dem Nachlafs einer längst verstor- 
benen, ihm nahe verwandten Dame sind dem 
Unterzeichneten eine Anzahl Briefe von Frie- 
drich August Wolf, dem Philologen, und 
von Papencordt in die Hände gekommen. 
Diese Dame, ein Fräulein Karolina Klind- 
worth (von der Verwandtschaft immer Tante 
Lina genannt), gebürtig aus Göttingen, Tochter 
des Professors der Physik bei der Universität 
G. Klindworth, siedelte mit einer Jugend- 
freundin (auch Professorstochter) , die den 
portugiesischen Gesandten Grafen Oriolla 
heiratete, nach Berlin über und lebte im 
Hause des Grafen, der 1832 aus dem portu- 
giesischen Staatsdienst ausschied und preufsi- 
scher Unterthan wurde, auch nach dem Tode 
des Grafen, erst als Erzieherin der Kinder, 
dann als Freundin und Gesellschafterin der 
Gräfin bis zu ihrem Tode (1856). Lina Klind- 
worth war eine recht gelehrte echte Göt- 
tingerin, die nicht nur die lateinischen und 
griechischen Klassiker las und übersetzte, 
sondern auch mit Wolf, Böckh u. a. Gelehrten 
in Verkehr und Briefwechsel stand, eine Zeit 
lang auch nach Verabredung mit Wolf nur 
lateinische Briefe zu ihrer Übung wechselte. 
Aufser den vorhin genannten Briefen erregt 
wohl auch Teilnahme ein bisher meines 
Wissens unbekanntes kleines Gedicht von 
Wolf an Goethe, das einem dieser Briefe 
beilag, von W. mit eigener Hand geschrieben. 
Das Gedicht lautet so: 

Vor einem neuen Bildnis Goethens, von 
dem Maler Franck zu Berlin aufgestellt. 
Endlich schau' ich dich wieder, Götter- 
jüngling! 
Sei mir würdig gegrüfst, du Hochgeliebter, 
Defs so sprechendes Bild ich stets vermifste; 
Das mit Zaubergewalt um sechsunddreifsig 
Jahr 1 in eigene Jugend mich zurücktäuscht, 
Und des Alters verhafste Schwell 1 hinweg- 
hebt. 
Ja, bei längerm Beschauen fühl' ich innig 
Mich am Körper und Geist so ganz wie 

damals, 
Als zuerst ich dich sah und lieben lernte. 

Nie nun rücket dies Bild von meiner Seite: 
Es mag lindern der weiten Trennung Sehn- 
sucht; 



Freundlich weil 1 es um mich mit dieser 

heitern 
Stirn, dem sinnigen Aug 1 , und bis zum letzten 
Tage spreche sein Mund mir Lebensmut zu. 
B. d. 1 Dec. 1822. W. 

Zu diesen Versen hat Wolf folgende An- 
merkung hinzugesetzt: 

f Den Verfafser überraschte, da er eben 
vom Krankenbette aufstehend solch einer 
Freude höchst bedürftig war, dies Ölgemälde, 
das den alternden Dichter ihm fast in der- 
selben Gestalt wieder darstellte, wie er ihn 
seit 1786 aufser sich nicht gesehen hatte. 
In jenem Jahre war es, wo der Verf., in 
seinem siebenundzwanzigsten, ihn, der in 
der schönsten männlichen Kraft stralte, zu 
Jena kennen lernte auf der Büttnerschen 
Bibliothek, wo sich bald ein langes Gespräch 
über die Aufstellung der unlängst angekom- 
menen Bücher und über Bücherwesen und 
-unwesen überhaupt anknüpfte ; ein Gespräch, 
woraus ihm noch manche geistvolle Ansichten 
gegenwärtig blieben bis in die neueste Zeit, 
wo er die Jenaischen und Weimarischen Bi- 
bliotheken nach gleichen Grundsätzen ge- 
ordnet und gewifsermafsen vereinigt sah. 
Eine nähere Verbindung mit dem Dichter 
und Weisen entstand ihm erst später, die 
dann bei der Nähe der beiderseitigen Wohn- 
orte *) etliche glückliche Jahre hindurch, bis 
zu einer Freundschaft erwuchs, die nicht 
einmal eines Briefwechsels bedarf.' 

Nun mögen hier einige der Briefe von 
Wolf an Lina Klindworth, der Zeit nach ge- 
ordnet, folgen, die wegen der Person des 
Verfassers wohl ein allgemeineres Interesse 
finden werden. 

Friedenau, Mai 1899. 

Prof. Dr. Th. Preufs. 

I 
Fr. Aug. Wolf an Lina Klindworth. 
So schwer es mir auch noch wird, mufs 
ich Ihnen, theure Freundin, doch ein paar 
Zeilen vor Ihrer Abreise widmen, die Ihnen 
mein Andenken erhalten mögen. Jetzt bin 
ich ganz dafür, dafs der gute alte R. in G. 



*) Wolf ging erst 1807 von Halle nach 
Berlin. 



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Anzeigen und Mitteilungen 



299 



Ihr Kunstwerk in die Arbeit nehme 1 ), um 
es in der kleineren Form, wie er viele Göt- 
tinger und andere gestochen hat, zuzubereiten ; 
und gelingen wird es gewifs, wenn er von 
Ihnen auf die Bemerkungen Ihres Billets 
genau aufmerksam gemacht wird. Viele 
wollen aufserdem finden, dafs Ihnen die 
Nase am unteren Theile ein wenig zu stark 
geraten sei: Die Art, wie Sie sich um ein 
paar meiner schwächlichen Locken verdient 
gemacht haben, hat meinen ganzen Beifall, 
wie das Bild überhaupt. Gut wäre es indefs 
vielleicht, wenn R. es Ihnen vor der Voll- 
endung vorher zu einer kritischen Beurthei- 
lung schickte. 

Doch genug hievon! Und nun nur noch 
den herzlichen schweigenden Händedruck in 
Gedanken, der Ihnen meine besten Wünsche 
zu Ihrer wirklich bedeutenden Veränderung 
ausdrücken soll. 1 ) Erhalten Sie mir gleich- 
falls Ihr unschätzbares freundschaftliches 
Andenken. 

3 Mai 22. W. 

Für R.: Fr. Aug. Wolf, nichts sonst. 8 ) 

n 

Berlin, 18. Aug. 23. 
Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, 
theuerste Freundin, dafs ich Ihre Briefe mit 
grofsem Vergnügen lese, und also die langen 
am liebsten, aber sprechen höre ich Sie doch 
noch lieber. Möchten Sie doch darum mir 
diese Freude recht bald wieder machen! Ich 
höre, dafs Ihr Herr Graf 4 ), defsen baldige 
Rückkehr nach Berlin so viele seiner Freunde 
wünschen, am Ende des Monats wieder eine 
vorläufige Spazierreise hermachen wird. 
Grade um die Zeit, oder, noch wahr- 
scheinlicher, in den ersten Tagen des 
Septembers wird die Wilhelmine 6 ), die nur 
2 Tage unlängst hier durch nach Möglin flog, 
wieder von da zurückkommend wohl eher 
3—4 Tage hier verweilen. Und könnten Sie 

*) Gemeint ist der damals berühmte 
Kupferstecher Riepenhausen in Göttingen, ein 
Freund des KLindworthschen Hauses, der ein 
von Lina K. gezeichnetes Porträt von Wolf 
stechen sollte, derselbe, der u. a. die Hogarthi- 
schen Bilder gestochen hat, wozu Lichten- 
berg die Erklärungen schrieb. — R. hat den 
Auftrag betr. Wolfs Bildnis auch ausgeführt; 
der oben genannte Herausgeber ist im Besitz 
dieses Kupferstich-Porträts. 

*) Worauf diese Andeutung hinzielt, ist 
mir unbekannt. 

•) D. h. die Unterschrift unter dem Stich 
von Riepenhausen. 

*) OrioUa. 

*) Mir nicht erinnerlich, wer diese Dame 
war. 



es nun so anlegen, dafs Sie in eben dieser 
Zeit hier wären, so würden Sie noch jemand 
aufser mir verbinden. Ja, könnte ich noch 
zu rechter Zeit von der Zeit Ihrer Ankunft 
durch ein schön Epistelchen Ihrer Hand be- 
lehrt werden, und obendrein noch ein paar 
Tage übrig sehen, um nach M. zu schreiben, 
so liefse sich der erfreuliche Plan recht gut 
in Ausführung bringen. Was meinen Sie, 
meine Verehrteste? Was ist denn so einer 
kleinen Grazie, wie Sie sind, nicht thulich, 
wenn sie will. Und nicht wahr, Sie wollen 
ein wenig? 

Haben Sie übrigens noch Zeit, so bitte 
ich um einen schriftlichen Commentar zu 
derjenigen der Horazischen Oden, die Ihnen 
bis jetzt die liebste geblieben ist, ich meine, 
bei Ihrer Herkunft. Dann wollen wir schon 
für diese lateinische Unterhaltung eine weitere 
Abrede nehmen. 

Meine heutige grofse Kürze kann ich nur 
mit der Furcht entschuldigen, dafs ich kaum 
noch das Blättchen werde zur Post kriegen 
können. 

Von ganzem Herzen 

der Ihrige, F. A. W. 

m 

Nulla dies sine linea, dictum est seduli 
cuju8dam pictoris Graeci. Ad ejus dicti 
modum tibi, mi carissima, dictum accipe 
meum, Nulla dies sine aliquo epistolio La- 
tino. Sed unde tandem argumentum nobis 
nascetur? Ex nihilo, suaserim; satisque erit 
etiam sie ordiri, Si vales, bene est, ego valeo. 
Ac sane ego hodie paullo etiam melius valeo, 
quam soleo ex aliquot hebdomadibus dierum. 

Non dissimulabo tarnen, occasionem scri- 
bendi hodie mihi esse majorem et digniorem. 
Discupio enim, ut abs te legantur nonnulla 
scriptorum meorum, vertanturque in Germani- 
cum sermonem eum ad morem, quem nuper 
tibi in Muretinis commendavi. En igitur 
leve volumen ejusmodi, ex quo tibi inde a 
Num. HI usque ad XVI primum sumas pro- 
oemia illa, olim Halis a me lectionum indi- 
cen darum causa exarata non sine lepore 
quodam et facetiis, quales raro reperiuntur 
apud eos, qui hodie Latine scribunt. Plerisque 
enim nunc facultas deest ea eoque more scri- 
bendi, quae et quo volunt, potiusque scribunt, 
quo tenuis Latinitatis cognitio eos trahit, non 
ducit. Avocor. Vale mihique fave, 
Tuo 

d. 4. Febr. 1824. F. A. W. 

Dies scheint der letzte Brief von Wolf an 
Lina Klindworth zu sein, wenigstens der 
letzte unter den in meinen Besitz gelangten. 
Denn bereits nach einem halben Jahre, im 



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300 



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Sommer 1824, starb W. bekanntlich in Mar- 
seille. Zwar befinden sich in meiner Samm- 
lung noch einige Briefe, aber ohne Datum; 
dieselben sind sicherlich älter als aus dem 
Jahre 1824. Von diesen mögen die beiden 
folgenden noch hier mitgeteilt werden. 

IV 

Durum profecto et vix excusabile esset, 
amicissima Lina, si ego tibi priores partes 
concederem in isto, quod constituimus, com- 
mercio litterarum, id est, si ego prius abs te 
Latinam epistolam exspectarem, quam tu 
aliquam meam accepisses. Neque adeo mihi 
deest occasio scribendi: ante oculos enim 
versatur libellus Hebelianus 1 ), qui ad te 
puerosque tuos *) tandem remitti cupit. Verum 
autem ut dicam, minus mihi iste placuit, 
quam exspectaram; quippe in hoc populari 
scribendi genere haud difficile est majorem 
assequi perfectionem , et assecutus eam jam 
olim est in duobus similibus scriptis Pesta- 
lozzius. 

Misi tibi simul epistolam Latinam, heri 
modo ad me perlatam, ut, ubi ad me veneris, 
narr es, quid in ea tibi placuerit aut dis- 
plicuerit. — Doleo, quod ipso hoc temporis 
puncto per importunos hospites avocor; alio- 
quin plures plagellas a me acciperes. Vale. 

W. 
V 

So schwach ich mich auch noch fahle, 
kann ich es doch nicht aufschieben, Ihnen, 
meine liebenswürdige Freundin, ein paar 
Worte tiefempfundenes Dankes für Ihre 
gütigen Zeilen zu schreiben. Sie haben mich 
über mein häusliches Bedürfnils so schön 
aufgeklärt, dafs ich nun fast für den Kattun 
entschieden bin, wenn ich nur neben gutem 
Muster auf dauerhaften Stoff rechnen kann; 
zwei Eigenschaften, wobei freilich wieder 
ein paar Damenaugen anders wirken würden 
als die hellsten Kritiker -Augen. — Hierbei 
zugleich Ihr treffliches Kunstwerk, woran 
viele Freunde im Süden von Deutschland und 
der Schweiz sich hoch ergötzt haben, aber 
dabei viel Gold von dem Kamen abgesehen. 

Das grofse lateinische Unternehmen be- 
treffend, so werde ich Ihr edles Vertrauen 
gewifs auf alle Weise zu ehren suchen, so auch 
durch tiefes Verschweigen gegen jedermännig- 
lich. Denn leider verzeiht man Ihrem Ge- 
schlecht in unseren Tagen eher Griechisch 
als Latein. Das werden Sie mir aber doch 



zunächst erlauben, ein Viertelstundchen La- 
tein mit Ihnen zu sprechen, womit in jeder 
Sprache billig aller Unterricht anfangt Also, 
um Ihnen gleich einen Vorschmack aus dem 
Horaz zu geben, quid agis, dulcissima rerum? 
wofür es auch, wie der gelehrte Hr. Bruder *) 
Ihnen sagen wird, noch die Lesart giebt: 
dulcissima Lina! 

Vale, faveque 

Tui studiosissimo 

16 April. 1 ) F. A.W. 

Als eine Fortsetzung der im Vorhergehen- 
den mitgeteilten Briefe von Fr. A. Wolf folgen 
hier drei Briefe von F. Fapencordt an Lina 
Klindworth. Papencordt war in den 30er 
Jahren Lehrer von Deodat Oriolla, jüngerem 
Sohne des Grafen 0., gewesen, in diesem 
Amt mit Lina K. bekannt geworden und be- 
richtete nun an diese über einen Aufenthalt 
in Italien, wo er sich philologischer und 
historischer Studien wegen 1836 und in den 
folgenden Jahren aufhielt 

I** Brief 
Fraskati 30 Juli 1837. 
Empfangen Sie vor allem, verehrtestes 
Fräulein, meinen herzlichsten Dank für Ihr 
freundliches Brief chen aus dem Monat April; 
dasselbe ist mir um so angenehmer ge- 
wesen, je weniger ich einen solchen Beweis 
ferneren Andenkens durch mein langes Still- 
schweigen verdient und daher auch erwartet 
hatte. Wenn ich aber jetzt durch neues 
Zögern mit einer Antwort noch weniger zu 
entschuldigen schien, so kann ich mich in 
der That durch nichts anderes vertheidigen, 
als dafs jenes Vergehen wahrhaftig nicht 
durch Seltenheit der Erinnerung an Sie und 
Ihre Umgebung hervorgerufen ist. Im Monate 
April war ich nicht ganz wohl; dann kamen 
Bekannte von mir an, welche alle mir eben 
freie Zeit zum Herumführen u. dgl. in An- 
spruch nahmen, und endlich waren meine 



*) Es ist wohl der Rheinische Hausfreund 
gemeint. 

*) Die Zöglinge von Lina, die beiden 
Söhne des Grafen Oriolla. 



*) Gemeint ist Georg Klindworth, in sehr 
jungen Jahren philologischer Privat-Docent 
in Göttinnen, dann in den zwanziger Jahren 
in die diplomatische Laufbahn verschlagen, 
als Gesandtschafts- Sekretär an verschiedenen 
europäischen Höfen, zuletzt Geh. Staatsrat 
und Geheim -Sekretär im Ministerium des 
Auswärtigen in Paris unter Guizot, durch die 
Februar -Revolution samt seinem Chef aus 
Paris vertrieben, lebte seitdem meist in 
Brüssel, starb in Paris 1882. 

*) Die Jahreszahl fehlt. Da aber im Briefe 
von einer schweren Krankheit W.s die Rede 
ist und auch von dem von Lina kürzlich 
gezeichneten Porträt, so stammt der Brief 
vermutlich aus demselben Jahre wie der 
obige Nr. I, nämlich 1822. 



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301 



Verhältnisse so ungewifs und schwankend, 
dafs ich vor deren Festsetzung keinen Brief 
schreiben wollte, der mir wahrhaft aus der 
Seele kommen mufste. Jetzt habe ich eine 
Reise nach Neapel und Sicilien definitiv für 
dieses Jahr aufgeben müssen, da bei der 
Heftigkeit der Cholera ein solcher Plan 
wenig Nutzen bringen, ja eine Tollkühnheit 
sein würde; und ich bin jetzt wie voriges 
Jahr für den Sommer in Fraskati angesiedelt. 
Mein hiesiges Leben ist so gut, als ich 
es wünschen kann. Fraskati liegt an dem 
Berge, auf dessen Spitze das alte Tuskulum 
mit sehr bedeutenden Überresten, Theater, 
Odeum, Wasserleitung, Resten der tuskula-. 
nischen Villa des Cicero u. dgl. sich befindet. 
Die Stadt hat einige tausend Einwohner, ist 
aber rings von den schönsten, kolossal grofs- 
artigen Villen der vornehmen römischen Fa- 
milien, welche ebenso viel vollkommen 
öffentliche Gärten darbieten, umgeben. Ich 
selbst habe mit einem Freunde eine schöne 
Wohnung von mehreren Stuben und einem 
prächtigen Salon inner unsere Aussicht ist 
auf der einen Seite die Campagua mit der 
Stadt Rom, auf der anderen ein schöner 
Wald von immergrünen Eichen und Öl- 
bäumen, dann wieder Campagna, und etwa 
drei Meilen weit von hier in der Ferne das 
Meer, auf dem ich die weifsen Segel oft 
mit blofsen Augen erblicke, und von wo aus 
in diesem Augenblicke ein frischer Wind 
das Papier bewegt und jede Spur von drücken- 
der Hitze abhält. Morgens früh wird bei 
Zeiten aufgestanden, dann zu Pferde, zu Esel 
oder zu Fufs ein tüchtiger Spaziergang ge- 
macht, gearbeitet, zu Mittag gegessen, ein 
wenig geruht und wieder gearbeitet, bis es 
draufsen kühl wird. Dann wieder geschlen- 
dert, abends ein Stündchen in ziemlich an- 
genehme Gesellschaft gegangen, oder mit 
2 guten Freunden Plato gelesen, und zuletzt 
vortrefflich geschlafen. Werden Sie nicht 
neidisch, wenn Sie so etwas im märkischen 
Sande hören? Sie würden wohl auch so ein 
Glück mit doppelten Zügen schlürfen, um 
auch für die Folge davon zehren zu können. 
Schwerlich werde ich wohl je glücklichere 
Zeiten erleben, als mir der Aufenthalt in 
Italien darbietet und noch darbieten wird. 
Dabei lernt man so viel durch Anschauung 
und durch die gröfsere Freiheit des Geistes, 
dafs es unmöglich ist, nicht Fortschritte zu 
machen, nicht allein in der gröfseren Masse 
des Wissens, sondern vorzüglich an innerer 
wahrhaft geistiger Fortbildung. Den Cicero, 
Livius, Tacitus zu lesen, ist hier die an- 
genehmste Erholung beim Arbeiten. Meine 
mittelaltrigen Studien erfordern schon mehr 



Anstrengung, aber es ist ein Vergnügen, 
wenn man sich so unmittelbar auch die Züge 
dieser in so viel Spuren vorliegenden Zeit 
lebendiger macht. 1 ) 

Von Zeit zu Zeit unternehme ich zu 
diesem Zwecke besondere kleine Reisen von 
4 — 5 Tagen, um mir eine bestimmte Begeben- 
heit oder bestimmte Zustände lebhafter zu 
vergegenwärtigen. So habe ich in dem Monat 
Juni die Städte mit kyklopischen Mauern, 
wie Cora, Norba, Signia, dann Gabii, Veji, 
Ostia, Fidenae etc. besucht. Gröfsere Reisen 
mufs ich jetzt wegen der Hitze auf den 
Oktober versparen, wenn nicht unterdefs die 
Cholera ankommt und alle meine Pläne mit 
einem Mal durchkreuzt. Ich habe in München 
und Berlin die Cholera ruhig erwartet, aber 
hier denke ich mit gröfserer Furcht an 
ihre Annäherung, weil mir ein gröfseres 
Glück dadurch zerstört wird; andrerseits 
wird in Rom, wie in Neapel und Palermo 
die Haltlosigkeit, der Mangel an ordent- 
lichen Mafsregeln beispiellos sein. Bis jetzt 
sind noch keine Cholerafalle vorgekommen, 
doch mehrere Beispiele der Vorgängerin 
Cholerine, und gestern zwei andre ver- 
dächtige Fälle. Viele schicken sich schon 
zur Flucht an, und Fraskati, welches nur 
vier Stunden von Rom entfernt ist, hat schon 
alle Häuser voll. Dies wäre freilich ein un- 
glücklicher Ausgang des herrlichen Anfangs. 

Hier sehen Sie im Einzelnen, wie es mir 
geht; hoffentlich geht es auch Ihnen so gut, 
wie es in der Mark gehen kann ; denn auch 
ich habe daselbst viele angenehme Stunden 
verbracht. Wenn Ihnen der Oslos "OpriQOs 
bisweilen noch einiges Vergnügen macht, so 
wird es mir angenehm sein, davon zu hören. 
Auch den Virgil habe ich theilweise an der 
Stelle gelesen, wo Äneas nach ihm gelandet 
ist, und fast hätten die Wogen das Exemplar, 
welches zum Andenken in die salzige Fluth 
getaucht wurde, davongetragen. Von Deodat 
hoffe ich, dafs er auch fernerhin so fort- 
schreiten wird, wie er begonnen hat. Zur 
Ausbildung eines tüchtigen Menschen etwas 
beigetragen zu haben, ist mir lieber, als 
hätte ich ein weltberühmtes Buch geschrieben ; 
denn da sehe ich aen Nutzen unmittelbar 
und weifs, dafs viele Menschen mir auch 
unbekannt dafür Dank wissen. Wie gern 
sähe ich den guten Jungen mal wieder, um 



l ) Papencordt sammelte damals den Stoff 
zu einer Gesch. der Stadt Rom im M.-A., 
ein Plan, der bekanntlich nicht von ihm, 
sondern von Gregorovius ausgeführt ist. Nur 
die Geschichte der Vandalen ist von Papen- 
cordt als ein Teil jenes Planes ausgeführt. 



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302 



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ihn im Nothfalle zu stärken oder wenigstens 
meine Freude zu erkennen zu geben. Theilen 
Sie mir ja, wenn es Ihnen bequem ist, 
Einzelnheiten über sein Leben und Treiben 
mit; von Ihnen höre ich dies am liebsten, 
da wir ungefähr gleiche Ansichten über 
unseren Pflegling haben. Dem Hrn. Grafen 
und der Frau Gräfin danke ich verbindlichst 
für ihr gütiges Angedenken und bitte mich 
ihnen auch jetzt zu empfehlen, ebenso Hrn. 
Grafen Alphons 1 ), der wohl kaum mehr bei 
Ihnen sein wird. 

Ihnen sage ich über Apennin und Alpen 
weg ein herzliches Lebewohl und bitte auch 
ferner um Ihr gütiges Angedenken. 

F. Papencordt. 
Adresse: Legazione di Prussia 
in Roma. 

P. S. Wenn ich nicht durch 
Ihre gütige Nachsicht verwöhnt 
wäre, so würde ich kaum einen 
so schlecht geschriebenen Brief ab- 
zuschicken wagen. 

W* Brief 

Rom 25 April 1838. 
Verehrtestes Fräulein! 

Leider mufs ich mich wieder Ihnen gegen- 
über der Nachlässigkeit anklagen, und in 
der That mein Stillschweigen kann ich nicht 
rechtfertigen, sondern höchstens nur ent- 
schuldigen. Mir ist es nämlich immer un- 
angenehm, Briefe, welche ich aus dem Herzen 
schreibe, mit Geschäfts-, Handlungs- und 
weifs Gott welchen Briefen auf die Post zu 
geben, und obgleich ich alle 14 Tage meine 
Briefe mit dem österreichischen Courier 
wenigstens bis Wien schicken könnte, so 
suche ich für freundschaftliche Briefe immer 
eine gute Gelegenheit, und ich schreibe dann 
mit doppelter Freudigkeit. Nun hatte ich 
leider eine Gelegenheit mit unserem Courier, 
der d. 4 ten Januar nach Berlin ging, ver- 
säumt, und dessen Rückkehr, wobei ich neue 
Briefe zu erhalten hoffte, hat sich bis z. 
16 ten April verschoben, so dafs die Abreise 
des Hrn. G. R. Bimsen*) nach Berlin wieder 
die erste gute Gelegenheit ist, welche ich 
denn auch benutze. 

Ich brauche Ihnen wol nicht zu sagen, 
welche Freude mir Ihr Brief gemacht hat. 
Das Angedenken an Ihr Haus macht mir die 
Erinnerung an Berlin immer doppelt an- 
genehm, besonders da ich aus Ihrem Brief 



l ) Der ältere schon erwachsene Sohn des 
Grafen Oriolla. 

*) Bekanntlich 1827—39 preufs. Gesandter 
beim Vatikan. 



sehe, dafs man auch meiner daselbst nicht 
vergessen hat. Leider schrieben Sie mir so 
wenig über sich selbst, und ohne dafs mich 
die Natur mit einer lebendigen Einbildungs- 
kraft versehen hätte, mufs ich jetzt heraus- 
rathen, womit Sie sich beschäftigen, mir 
Ihre Umgebung, Ihren Schreibtisch u. s. w. 
ausmalen, wo ich Sie d. 12. März 1836 ver- 
lassen habe. Vergessen Sie, ich bitte sehr 
darum, das nicht in Ihrem nächsten Briefe 
zu thun. Was Sie mir über Deodat schreiben, 
ist mir außerordentlich lieb gewesen; ich 
nehme zu viel Antheil an ihm, um nicht 
seinen ferneren Lebenslauf mit der gröfsten 
Aufmerksamkeit zu verfolgen. Ich habe ihm 
eine Reihe guter Ermahnungen auch in dem 
beiliegenden Briefe gegeben, und ich hoffe, 
er wird dieselben gut aufnehmen, da die- 
selben mehr vorbeugender Natur sind, als 
dafs ich sie unmittelbar auf ihn angewendet 
hätte. Es wäre mir sehr lieb zu wissen, 
welche Punkte ich in meinen Briefen an ihn 
vorzüglich zu berühren hätte, um zu seiner 
Ausbildung auch fernerhin mitwirken zu 
können. Er ist noch der alte gute Junge: 
seinen letzten Brief hatte er in der Nacht 
geschrieben, müde und schläferig, wie er 
selbst sagt und man aus den verschiedenen 
Anstrengungen, welche er in dem Briefe 
macht, um sich wach zu halten, sieht. Das 
hat mich wahrhaft gerührt. 

Was meine eigenen Verhältnisse betrifft, 
so haben sie richtig gerathen, dafs die Zeit 
unmittelbar nach dem Abgange meines 
Briefes vom 3 ten August nicht zu den an- 
genehmsten gehört hat. Ich war zwar wäh- 
rend der Zeit der Cholera meist in Fraskati, 
auch kamen daselbst nur ein paar Cholera- 
fälle vor; aber diese trafen gerade die Frau 
und den ältesten Sohn des Hauses, worin 
ich wohnte, und es fehlte also an Unbequem- 
lichkeiten nicht. Als die Cholera im Ab- 
nehmen begriffen war, nahm ich meinen 
alten Plan, nach Neapel zu gehen, wieder 
auf, und so ging es in der Mitte Septembers 
mit angenehmer Gesellschaft von Freunden 
weiter nach Süden. Es ist das eine der 
angenehmsten Reisen, welche ich je gemacht 
habe. Zwar herrschte in Neapel auch noch 
die mifsliche Krankheit, aber die Leute 
waren daran gewöhnt, und niemand redete 
davon; aufserdem hörte sie im Oktober ganz 
auf. — Zwischen Neapel und Rom herrscht 
ein Gegensatz, dessen Gröfse man ohne 
eigene Anschauung nicht glaubt. Der Ernst, 
ja ich möchte sagen die Trauer, welche Rom 
und seine Umgegend charakterisiert, weicht 
in Neapel einem üppigen Leben. Die Natur 
ist blendend schön, ein zauberischer Effekt 



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303 



folgt dem anderen, und man kommt gar 
nicht zur Besinnung, sondern lebt vollkommen 
wie in einem Rausche. So geht es in steigen- 
der Progression von Terracina an fort, immer 
dem Meere entlang oder doch nicht in all- 
zugrofser Entfernung. In Gaeta hatten wir 
den schönsten Mondschein, und ich freute 
mich nicht wenig über das Zusammentreffen, 
dafs auch Aeneas beim Mondschein diesen 
Ort verlassen hatte, splendet tremulo sub 
lumine Pontus, sagt unser Virgil, dessen un- 
übertreffliche Wahrheit in Naturbeschrei- 
bungen man erst an Ort und Stelle zu wür- 
digen vermag. Dabei lag unser Gasthof 
grade an der Stelle, wo das Landgut des 
Cicero, auf dem er ermordet wurde, un- 
gefähr gelegen haben mufs; denn man kann 
höchstens in betreff einer Viertelstunde nach 
den Beschreibungen irren, und der fromme 
Glaube des Volkes hat ein antikes Grabmal 
in der Nähe, welches wahrscheinlich der 
Plancischen Familie gehörte, Sepolcro di 
Cicerone getauft. In Neapel selbst wohnte 
ich am Meere, Strada Sta Lucia, so dafs 
ich von der Altane des Fensters den ganzen 
Meerbusen übersah und vom Bette aus die 
Sonne über den Vesuv her sich erheben sah. 
Jeder Punkt um Neapel gewährt eine andre 
Aussicht mit so wunderbaren Effekten, dafs 
ich meiner Erinnerung oft nicht traute und 
wieder umkehrte, um mich zu überzeugen, 
dafs es wirklich so schön sei. Dies gilt 
namentlich von Bajae, Puzzuoli, Misenum 
u. s. w., wo auch die alten Römer ihre liebsten 
Landhäuser hatten. Die Stadt Neapel selbst 
macht wahrhaft den Eindruck einer grofsen 
modernen Stadt, und die Hauptstrafse , der 
Toledo, ist den ganzen Tag gewifs mit 
sechsmal so viel Menschen, Wagen und 
Pferden gefüllt, als die Königsstrafse in 
Berlin, wenn Markt daselbst ist 1 ); schade 
nur, dafs Volk und Regierung gleich tief 
gesunken sind. 

Der Zweck meiner Reise war aufser Ar- 
beiten auf einzelnen Bibliotheken mehr, mir 
im allgemeinen zu einer lebendigen Anschau- 
ung des Alterthums zu verhelfen, und in 
dieser Beziehung ist Neapel mit Rom der 
wichtigste Ort. In Rom ist alles grofsartiger, 
in Neapel dagegen besser erhalten. Viele 
kolossale Überreste des Alterthums in Rom 
versteht man erst, wenn man die kleinen 
Copien in Pompeji gesehen. Von alten Ge- 
mälden und Bronzen sieht man in Neapel 
mehr, als in der übrigen Welt zusammen ge- 



*) Man mufs sich erinnern, dafs Berlin 
im J. 1838 erst etwa 320000 Einwohner 
zählte, also weniger als das damalige Neapel. 



nommen; namentlich in ersterer Beziehung 
lernt man die Alten von einer neuen Seite 
bewundern, und selbst die gewöhnlichsten 
Wandgemälde sind, was Composition an- 
betrifft, fast durchweg ausgezeichnet im Ver- 
hältnifs zu den Leistungen der Neueren. 
Man sieht, wie in einer wahren Blüthezeit 
der Kunst auch das Handwerk künstlerisch 
wird, ähnlich wie allenthalben im XV u. 
XVI ten Jahrhundert. Auch mit dem häus- 
lichen Leben der Alten befreundet man sich 
sehr, und es macht nur in der Erinnerung 
einen sonderbaren Contrast, dafs wir uns in 
Pompeji in dem Hause eines gewissen Pansa 
zu Tische setzten und unter freiem Himmel 
in einem alten Triklinium unser bescheidenes 
Frühstück von Wein, Brod und Früchten 
verzehrten; an Ort und Stelle fanden wir es 
ganz natürlich. So ist es mir bei vielen 
Dingen ergangen. Grofs sind in Pompeji 
nur die öffentlichen Gebäude, wie Amphi- 
theatrum, Theatrum, Basilica, die Wohn- 
häuser sind sehr klein, aber die Räume sehr 
sorgfältig vertheilt. Es ist Alles nett, an- 
genehm, heimlich, aber nicht grofsartig. 

Letzteres ist dagegen vor allem der Fall 
mit den 3 Tempeln in Paestum. Einer der- 
selben aus dem Anfang des 6 ten Jahrh. vor 
Chr. G. ist der besterhaltene griechische 
Tempel in der Welt, und ohne denselben 
gesehen zu haben, ist es schwer, wenn nicht 
unmöglich, sich die absolute Schönheit und 
Harmonie eines griechischen Tempels vor- 
stellen zu können. Es ist, wie Goethe sagt: 
Die Säule tönt und die Triglyphe klingt. 
Dabei sind die Dimensionen ganz kolossal, 
und durch die Säulenkolosse hindurch sieht 
man das Element des Gottes, dem der Tempel 
wahrscheinlich geweiht war, nämlich das 
Meer des Poseidon. Ausserdem habe ich 
noch Salerno, das im M. A. so berühmte und 
einzig schön gelegene Amalfi und die Insel 
Capri besucht. 

Kurz, der Aufenthalt in Neapel ist eine 
meiner liebsten Erinnerungen, trotzdem, dafs 
auch Mifsgeschicke nicht fehlten. Schon auf 
der Hinreise hatte ich mich erkältet; aber 
in Neapel, Salerno, Paestum und Amalfi Uefa 
die Freude des Augenblickes und die damit 
verbundene Aufregung das Übel nicht zum 
Ausbruche kommen; ich liefs mir lauter Un- 
vorsichtigkeiten zu Schulden kommen, ja 
badete in Amalfi, obgleich es gegen Ende 
Septembers war, wiederholt im Meere. Dafür 
mufste ich denn auch bei meiner Rückkehr 
nach Neapel 14 Tage büfsen und litt am 
heftigsten Terzianfieber. Ich wurde zwar 
geheilt, aber nur schlecht behandelt, und so 
trat nach 3 Wochen das Übel wieder ein, 



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304 



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doch nur schwächer und kürzer. Ich liefs 
mir dadurch meine gute Laune auch nicht 
im geringsten verderben, und ohnehin stellte 
ich mich immer gleich so vollkommen wieder 
her, dafs ich selbst an den intermittierenden 
Tagen, da das Fieber nur jeden dritten Tag 
kam, ausging. — Endlich d. 19 ton November 
traf ich wieder in Rom ein. 

Hier setzte ich mein altes Leben der Ar- 
beit, des Spazierengehens u. s. w. fort und 
ich lebe in der schon früher beschriebenen 
Weise. Gesellschaft habe ich diesen Winter 
bis zur Ulihöflichkeit nicht besucht, besonders 
seitdem mir ein leichtes Unwohlsein wenig- 
stens Einen ostensibeln Grund mich zurück- 
zuziehen, geben konnte. Aufserdem betrüben 
mich die Vorgänge in Deutschland wirklich 
zu sehr, als dafs ich dabei an rauschenden 
Vergnügungen Theil nehmen könnte. Ich 
begreife auch nicht im entferntesten, wie 
die Sache für die nächste Zeit beigelegt 
werden kann. — Meine Arbeiten sind noch 
immer speciell Geschichte Roms im M. A. 
mit Bezug auf Pabst und Kaiser. Wenn mir 
mein Plan gelingt, hoffe ich damit einen 
wichtigen Beitrag zur Geschichte des M. A. 
zu geben. Bis zum August d. J. bleibe ich 
in Rom fest; dann werde ich wohl wieder 
eine gröfsere Reise machen ; über das Wohin 
habe ich nur stille Pläne, welche ich mir 
selbst noch nicht zu gestehen wage. Unter 
uns gesagt, ich denke auf ein paar Monate 
nach Athen zu gehn, oder nach Sicilien. 
Im Winter kehre ich nach Rom zurück; im 
Sommer 1839 über die Alpen nach Deutsch- 
land; aber den Finger auf den Mund ge- 
halten; denn andere Leute glauben, ich käme 
früher zurück. 

Jetzt will ich schliefsen; denn ich bin 
freilich noch nicht müde, mich mit Ihnen 
zu unterhalten, aber Sie möchten jetzt wohl 
mehr als genug meines Geschwätzes haben, 
wenn es wie Kraut und Rüben durch ein- 
ander geht, so dafs ich mich schäme, diesen 
in aller Eile geschriebenen Brief als Antwort 
auf den Ihrigen, durch Zierlichkeit in Stoff, 
Form und Schrift gleich ausgezeichneten ab- 
gehn zu lassen. Ich rechne jedoch wie 
immer auf Ihre gütige Nachsicht, und hoffe 
und bitte, dafs Sie mir ja recht bald ant- 
worten mögen. — Meine besten Empfehlungen 



an S. Excellenz und d. Fr. Gräfin und die 
beiden jungen Grafen, welche ich gesehn. 
F. Papencordt. 
Adr. Legation de Prasse ä Rome. 
(Schlufs folgt) 



ZU GOETHES EPfflGENIE 
In Heft 2. H. 1899 dieser Jahrbücher 
S. 116 will Imelmann aus den Worten des 
Pylades Akt 4 Szene 4 

führet uns hinüber, günstige Winde, 
Zur Felseninsel, die der Gott bewohnt, 
Dann nach Mycen 
folgern, dafs Goethe hier und also auch an 
den anderen Stellen, wo Delphi vorkommt, 
die Insel Delos gemeint und sie fälschlicher- 
weise Delphi (Delpho8) genannt habe. 

Es bedarf nur eines Hinweises auf die 
Quelle Goethes, die Fabeln Hygins (vgl. 
Joh. Vahlen, Wiener Akad. der Wissensch. 
phil.-hist. Klasse Bd. 76 S. 222), um den Be- 
weis zu führen, dafs der Dichter vielmehr 
immer Delphi gemeint hat. Electra de 
fratris nece Delphos sciscitatum est profecta. 
Quo cum venisset eodem die Iphigenia cum 
Üre8te venit eo . . . Cognitione itaque facta 
Mycenas venerunt steht bei Hyginus unter 
Aletes. Also genau wie in der oben citierten 
Stelle in der Goethischen Iphigenie: f . . . Dann 
nach Mycen.' So gering waren Goethes 
Kenntnisse des Altertums sicherlich nicht, 
dafs er das Delphische Orakel nach Delos 
versetzt hätte. Aus der Form Delphos bei 
Hygin erklärt sich vielleicht auch das 
Goethische Delphos für Delphi — wie er ja 
auch iv Tccvqois fälschlich in Tauria über- 
setzt. Dafs Goethe auch in der Italienischen 
Reise (Bologna d. 19. Oktober), wo er den 
Plan seiner Delphischen Iphigenie beschreibt: 
'Elektra in gewisser Hoffnung, dafs Orest das 
Bild der Taurischen Iphigenie nach Delphi 
bringen werde, erscheint in dem Tempel des 
Apollo' u. s. w. Delos gemeint habe, wird 
Imelmann wohl nicht behaupten wollen. Es 
bleibt also dabei, dafs Goethe in der mehr- 
fach citierten Stelle Delphi für eine Insel 
gehalten und nicht, wie Imelmann will, 
eigentlich Delos gemeint und es an dieser 
und den andern Stellen versehentlich Delphi 
genannt hat. 

Kabl HsnmcANN. 



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JAHRGANG 1899. ZWEITE ABTEILUNG. SECHSTES UND SIEBENTES HEFT 



AUS DER NEUNTEN JAHRESVERSAMMLUNG 
DES SÄCHSISCHEN GYMNASIALLEHRERVEREINS 

ABGEHALTEN AM 4. UND 5. APRIL 1899 IN MEISSEN 1 ) 

I 

WEGE UND ZIELE FÜR DIE ABFASSUNG EINER GESCHICHTE 

DES SÄCHSISCHEN GELEHRTENSCHULWESENS 

Von Ernst Schwabe 

Als vor drei Jahren die mit Sehnsucht erwartete zweite Auflage von 
F. Paulsens 'Geschichte des gelehrten Unterrichts' erscheinen sollte, gab man 
sich in Schulkreisen vielfach der Hoffnung hin, dafs man in diesem grund- 
legenden Werke nunmehr auch ein ausgeführtes Bild von dem Schulwesen der 
aufserpreufsischen deutschen Länder finden würde. Vor allem schien dies für 
Sachsen eine berechtigte Forderung zu sein. Jedoch sah man sich in dieser 
Hinsicht bei der Lektüre des Werkes, trotzdem dafc es vielfach erweitert und ver- 
tieft worden war, in gewissem Sinne enttauscht. Denn wenn auch dieser erste 
Kenner der Geschichte der Gymnasialpädagogik aufserordentlich häufig auf 
unsere speziell sächsischen Gymnasialverhältnisse eingeht und gewisse allgemein 
deutsche Einrichtungen und Gebräuche gerade aus sächsischem Ursprünge 



*) Durch die Zusammenstellung der folgenden vier Vorträge, von denen I und II in 
der Öffentlichen Hauptversammlung gehalten worden sind, m in der Abteilung für alte 
Sprachen und Geschichte und IV in der neuphilologischen Abteilung, versuchen wir ein 
Bild von der rührigen pädagogischen Thätigkeit des sächsischen Gymnasiallehrervereins 
zu geben. Freilich ist es nicht vollständig. Es wurde weiterhin noch in der Haupt- 
versammlung von Prof. Dr. Günther aus Plauen i. V. ein Vortrag über Naturalismus 
und Realismus im Drama gehalten, den wir dem Gegenstande nach für die Päda- 
gogik nicht in Anspruch nehmen konnten. Aufserdem erledigte die mathematische 
Abteilung folgende Tagesordnung: 1. Oberlehrer Bernhard Schmidt aus Würzen: Vor- 
führung eines Apparates zur Veranschaulichung der wichtigsten elektrischen Begriffe und 
Gesetze. 2. Prof. Dr. Reinhardt aus Meifsen: Über den elektrolytischen Stromunterbrecher 
von Dr. Wehnelt. 3. Dr. Tauberth aus Dresden (Kreuzschule): Über das Rechnen mit 
Mafseinheiten im physikalischen und mathematischen Unterricht. 4. Prof. Dr. Hü n lieh aus 
Leipzig (Königl. Gymnasium): Bericht über die ihm aufgetragene Sammlung der von den 
sächsischen Gymnasien gestellten mathematischen Maturitätsaufgaben aus den Jahren 1896 
— 1898. — Wir hoffen über den letzten Gegenstand, die Aufgabensammlung in der Mathe- 
matik, unseren Lesern später noch Mitteilung bieten zu können. Die Redaktion. 

Neue Jahrbücher. 1899. H 20 



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306 E. Schwabe: Wege u. Ziele f. d. Abfassung einer Geschichte d. sächs. Gelehrtenschulwesens 

herleitet, so kann es doch nicht geleugnet werden, dafs es auch bei ihm zu 
einem einheitlichen und deutlichen Bilde des sächsischen Schulwesens nicht 
gekommen ist. 

Es wäre jedoch mehr als ungerecht, wenn wir Sachsen dem bahnbrechen- 
den Geschichtsschreiber des deutschen gelehrten Unterrichts daraus einen Vor- 
wurf machen wollten. Es konnte gar nicht anders sein; denn Paulsen sah 
sich darauf angewiesen, überall nur aus abgeleiteten Quellen zu schöpfen. Nur 
bei wenigen Anstalten unseres sächsischen Vaterlandes lag ihm eine ausführliche 
Darstellung vor. Für die meisten Zeiten und Schulen war kein Material vor- 
handen. Vollends eine zusammenfassende Bearbeitung unseres sächsischen 
höheren Schulwesens, die auf urkundliche Belege sich stützte, ja nur eine hand- 
liche, nach historischen Gesichtspunkten geordnete Sammlung der in Sachsen 
gültig gewesenen und noch gültigen Gesetze und Schulordnungen hat ihm nicht 
vorgelegen. So ist denn das Bild, das in Paulsens Buch von unserem 
sächsischen Gelehrtenschulwesen entsteht, trotz der redlichen Bemühungen, mit 
dem vorhandenen Materiale etwas Gutes zu schaffen, lückenhaft, mit unsicheren 
Konturen gezeichnet und darum nicht recht geeignet, für unsere höheren Schulen 
und ihre Geschichte allgemeines Interesse zu erwecken und ihnen bei den Ge- 
bildeten Deutschlands den ehrenvollen Platz zu sichern, den sie verdient haben 
und der ihnen gebührt. 

Denn schon bei einem oberflächlichen Einblick in die früheren Zustande 
des sächsischen höheren Schulwesens bemerkt man, dafs sächsische Einrichtungen 
früher für ganz Deutschland und darüber hinaus mafsgebend gewesen sind. 
Und auch späterhin, als Sachsen seine Führerrolle abgeben mufste, ist sein 
Schulwesen noch immer beachtenswert geblieben; denn man ging seine eigenen 
Wege, soweit es der Druck der Verhältnisse gestatten wollte, und schliefslich 
im letzten halben Jahrhundert hat gerade Sachsens Gymnasialwesen, gegenüber 
den schwankenden Stimmungen in anderen deutschen Ländern, eine ruhigere 
Entwickelung gehabt und gleichmäfsigere Haltung bewahrt und, das bewährte 
Gute schützend, an dem Werte des klassischen Bildungsideals festgehalten. 

Wenn man aber an einzelnen Punkten tiefer eindringt, da und dort innere 
und äufsere Schulverhältnisse in ihrem Zusammenhange zu erfassen sucht oder 
einen einzelnen Gegenstand in seiner Gesamtentwickelung vom Ursprünge an 
bis auf den heutigen Tag verfolgt, so wird man mit frohem Erstaunen gewahr, 
welch unerwartete Fülle des Details freundlich auf uns herniederströmt, wie 
anmutig und farbenreich sich Zug um Zug zum Bilde unserer Vergangenheit 
fügt, wie ruhig, treu und selbstverleugnend unsere Vorgänger an den sächsischen 
höheren Schulen ihres Amtes gewaltet haben. Fast nirgends ist das Bild ganz 
trübe; denn wenn auch Sachsens politische Geschichte sich nicht immer in 
aufsteigender Linie bewegt hat, und das mehrfache Unglück unseres Landes 
seine Rückwirkung auch auf das Gelehrtenschulwesen geäufsert hat, so zeigen 
uns doch selbst die Zeiten des tiefsten Niederganges unsere Gymnasien fast 
immer in freundlichem, ja oft sogar (dieser Gunst des Schicksals dürfen wir 
uns r ühm en) in hellstrahlendem Lichte. Nach dem dreifsigjährigen Kriege war 



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E. Schwabe : Wege u. Ziele f. d. Abfassung einer Geschichte d. sächs. Gelehrtenschulwesens 307 

ein Christian Weise die Zierde der Zittauer Schule, im vorigen Jahrhundert 
lehrten Gesner, Reiske und Ernesti in Leipzig, und wenn wir an die Zeit von 
1815 — 1830, vielleicht die schmerzlichste, die unser sächsisches Gymnasialwesen 
durchgemacht hat, denken, so strahlt die Schule Gottfried Hermanns hervor, 
die in selbstloser Hingabe vieles von dem zu retten wufste, was die Not der 
damaligen Tage kleinmütig hinzugeben entschlossen war. 

Eine eingehende Betrachtung unseres höheren Schulwesens birgt aber auch 
noch einen anderen Vorteil in sich; denn bei der Betrachtung der eigentlichen 
Schulgeschichte ergeben sich ungesucht eine solche Menge von Beziehungen 
zur allgemeinen Kulturgeschichte und Geistesgeschichte unseres Vaterlandes, 
dafs das Interesse sich immer mehr steigert, je tiefer man eindringt, und ein 
Stoff, der an sich vielleicht oder auch nur im Rahmen einer gesamtdeutschen 
Schul- und Geistesgeschichte unbedeutend erscheinen könnte, an Bedeutung 
und damit an Anteilnahme auch weiterer Kreise unter den Gebildeten gewinnt. 
So ist uns beispielsweise gelehrt worden, welchen Einflufs die Zittauer Schul- 
komödien auf die Entwickelung der Poesie in sachsischen Landen gehabt haben, 
so vermag man jetzt noch zu erkennen, wie befruchtend der Bienenfleifs eines 
Schöttgen u. a. auf die Einzelforschung der sächsischen Landesgeschichte ein- 
wirkte, so wird uns eine berufene Feder das traditionelle Verhältnis zwischen 
den Vertretern der klassischen Sprachen an der Leipziger Universität und an 
den Leipziger höheren Schulen darzulegen haben. 

Darum ist es eine dankenswerte Aufgabe, einmal diese noch ungeschriebene 
Geschichte unseres sächsischen Gelehrtenschulwesens in Angriff zu nehmen. 
Freilich, die Wege, die dazu fuhren, sind weit, und das Ziel, das gesteckt ist, 
ist hoch und nicht mit einem Male und auch schwerlich von einem Manne zu 
erreichen. Es wird viel unverdrossenen Fleifses bedürfen, ehe man nur an die 
eigentliche Aufgabe selbst herankommt, da eine grofse Menge von Vorarbeiten 
erst erledigt sein mufs, und es wird noch eine ganze Reihe von Jahren ver- 
gehen, ehe ein solches Werk auf den Büchertisch der deutschen Gelehrten- 
schule und der gebildeten Welt gelegt werden kann. 

Denn wenn schon das Feld der Gymnasialpädagogik überhaupt erst seit 
verhältnismäfsig kurzer Zeit bebaut worden ist, so hat man sich wohl erst seit 
Paulsens Werk ernstlich dazu entschlossen, die Geschichte der Gymnasien und 
ihrer Thätigkeit als eine wirkliche Wissenschaft gelten zu lassen und fähige 
und fleifsige Arbeiter auf diesem Felde für voll anzusehen. Hierbei sind wir 
Sachsen, soweit es wenigstens das letztgenannte Wissenschaftsgebiet angeht, be- 
sonders im Rückstand geblieben. Freilich ist schon eine grofse Reihe von 
Einzelschriften, darunter sehr achtbare Leistungen, vorhanden und lassen uns 
das Ganze ahnen; aber das meiste ist doch noch zu thun übrig, vor allem alles 
das, was sich auf die Gesamtentwickelung unseres Gelehrtenschulwesens bezieht. 

Schon die Entwickelung der Schulgesetzgebung im Ganzen und im 
Einzelnen zu verfolgen, ist sehr schwierig. Was Preufsen an seinem Wiese- 
Kübler besitzt, diesem unentbehrlichen Rüstzeug eines jeden, der das preufsische 
Schulwesen studieren will, nämlich eine Sammlung der wichtigsten Gesetze und 

20* 



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S08 E. Schwabe : Wege u. Ziele f. d. Abfassung einer Geschichte d. sächs. Gelehrtenschulwesens 

Verordnungen, die gelten und gegolten haben (die letzteren in historischer Folge 
geordnet), das liegt dem Forscher für unser sächsisches Vaterland nicht vor. 
Schon die heute noch gültigen Gesetze und Verordnungen haben seit der jetzt 
veralteten Arbeit von Philippi keinen neuen Sammler und Bearbeiter gefunden. 
So mufs schon für den Gebrauch des Tages mit der letzten Auflage des Codex 
für das Königlich Sächsische Kirchen- und Schulrecht von 1890 gerechnet 
werden; im übrigen mufs man sich auf das Gesetz- und Verordnungsblatt und 
auf die Sammlung der im Schularchiv befindlichen Verordnungen verlassen, 
eine nicht immer leichte Aufgabe, die auch ein zuverlässiges Gedächtnis ver- 
langt. Und es wäre doch sehr zu wünschen, dafs gerade die Kenntnis des 
noch geltenden Rechts den Angehörigen des höheren Lehrerstandes erleichtert 
würde. 

Noch viel schlimmer steht es, sobald es sich um schulrechtliche Fragen 
historischer Natur handelt. Auch für den, der sich an einem grofsen Orte mit 
reichen Bibliotheksschätzen befindet, wird es nicht immer leicht sein, sich ge- 
nügend und schnell über das zu orientieren, was einmal Gültigkeit gehabt hat 
oder Brauch gewesen ist. Selbst den gröfseren Schulbibliotheken steht nicht 
immer eine vollständige Sammlung der einzelnen Bände des Codex Augusteus 
zur Verfügung, geschweige denn das gesamte Gesetz- und Verordnungsblatt 
oder die Landtagsakten. Und was schliefslich die Einzelschulordnungen an- 
geht, so ist das Werk von Vormbaum 'Evangelische Schulordnungen', wie schon 
sein Titel lehrt, zeitlich begrenzt und unvollständig. Dazu ist dieses Buch 
jetzt ziemlich selten geworden und schwer aufzutreiben. In noch höherem 
Grade selten sind die Einzelgesetze und -Ordnungen einer ganzen Reihe von 
Schulen aus späterer Zeit; sie finden sich nur hier und da in älteren Bi- 
bliotheken, bisweilen sogar nur handschriftlich, und sind dadurch schwer be- 
nutzbar. Darum hat also jeder, der mit dem Studium dieser Seite des 
sächsischen Gelehrtenschulwesens beginnen will, mit einem weitzerstreuten, 
nicht immer leicht zu beschaffenden, öfters auch schwer erkennbaren Quellen- 
material zu thun. Viel gesetzgeberische Weisheit, von Friedrich dem Weisen 
an bis auf Friedrich August den Gerechten und von Melanchthons Visitations- 
protokollen an bis zu den Ordnungen der kleinen Lyceen in der Lausitz und 
im Erzgebirge, liegt da verborgen und harrt der Hebung. Es ist darum eine 
der ersten und wichtigsten Vorarbeiten für eine Geschichte des sächsischen 
Gelehrtenschulwesens, das Gesetzesmaterial zu sammeln und zu sichten, 
um in historischer Hinsicht klar darzustellen, wie sich alles entwickelt hat; 
und es wird dabei die nützliche Nebenarbeit mit abfallen, dafs auch für das 
Bedürfnis der Gegenwart das gesammelt und in bequemer systematischer Form 
zugänglich gemacht wird, was heute noch gilt. 

Wenn schon bei der Lösung dieser Aufgabe mit vielem noch unbekannten 
Material gerechnet werden mufs, so ist das in noch weit höherem Mafse bei 
einer zweiten Vorarbeit der Fall, bei der Ausbeutung des archivalischen 
Materials. Denn das allermeiste, was sich in den Akten des Hauptstaats- 
archivs, des Kultusministerialarchivs (seit 1837) und der einzelnen Stadt-, 



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£. Schwabe : Wege u. Ziele f. d. Abfassung einer Geschichte d. sächs. Gelehrtenschulwesens 309 

Schul- und auch Pfarrarchive befindet, ist eine wahre terra incognita. Dafs 
dieses handschriftliche Material zugänglich gemacht und ausgebeutet werden 
mufs, wenn man zu einem einigermafsen sicheren Bilde unseres Gelehrten- 
schulwesens gelangen will, ist einleuchtend. Natürlich ist hierbei an eine auch 
nur annähernde Veröffentlichung der Gesamtheit dieses Materials nicht zu 
denken. Aber in einer Form ist doch diese Forderung erfüllbar, und diese 
mufs darum ins Auge gefafst werden: nämlich eine Herausgabe der aller- 
wichtigsten Urkunden, eine ganz kurz zu haltende Übersicht der 
auf den verschiedenen in Frage kommenden Archiven ruhenden Akten, und 
vor allem Regesten dazu, um es dem Einzelforscher zu ermöglichen, von 
einem gegebenen Punkte aus weiter einzudringen und sich weiter fortzuhelfen, 
so dafs es ihm gelingt, eine quellenmäfsig fundierte und darum abschliefsende 
Einzeluntersuchung darzubieten. Auch diese zweite Vorarbeit, das Urkunden- 
und Regestenbuch, wird hoffentlich auf das Studium der Geschichte unseres 
Gelehrtenschulwesens recht befruchtend einwirken, und vor allem darauf, dafs 
auch Gesamtbilder entworfen werden und die Einzelheit nicht mehr allein 
herrschend in den Vordergrund tritt. 

Denn an Einzeluntersuchungen, soweit sie mit einem beschrankten Akten- 
kreis zu thun hatten und sich auf einzelne Schulen, Zeiten, Personen und Fächer 
beziehen, ist schon eine stattliche Anzahl vorhanden. Eine der besten, die von 
Theodor Flathe über St. Afra, nennen wir mit gerechtem Stolz die unsere. 
Jedoch ist die Verteilung dieser Arbeiten über Zeit, Stoff und Art sehr un- 
gleichmäfsig. Von manchen Schulen fehlt sie noch heute oder ist so verfafst, 
dafs sie nur schwer zu lesen und zu verwenden ist. Das bedauerlichste aber 
ist, dafs es bis heute noch nicht möglich ist, auch nur einen noch so ober- 
flächlichen Überblick über diese ganze Litteratur zu gewinnen. Darum kann 
es einem arbeitswilligen Forscher auf diesem schulgeschichtlichen Gebiete leicht 
begegnen, dafs er meint, etwas gefunden zu haben und ein dankbares Thema 
bearbeiten zu können, um hinterher finden zu müssen, dafs ihm die ganze 
Arbeit an einem Orte, wo er nicht suchte, schon vorweggenommen ist — eine 
gewife wenig ermutigende Thatsache und kaum geeignet, andere zur Mitarbeit 
zu veranlassen. Viele von diesen Arbeiten, darunter eine Reihe ganz vortreff- 
licher Einzelleistungen, finden sich als wissenschaftliche Beilage den Programmen 
beigegeben; diese leicht zu erreichenden Bausteine leiden aber vielfach an dem 
Übelstand, dafs sie unvollendet bleiben mufsten, da ihnen nur ein beschränkter 
Raum zur Verfügung gestellt werden konnte. Die übrigen Veröffentlichungen 
sind aber oft grofse Seltenheiten: das erklärt sich daraus, dafs, abgesehen von 
Zeitungsartikeln, eine ganze Reihe solcher Arbeiten sich in Stadtchroniken und 
periodischen Veröffentlichungen von Geschichtsvereinen und gelehrten Gesell- 
schaften vorfinden, also nur einem sehr eingeschränkten Kreise bekannt ge- 
worden sind. Auch hier zeigt sich bei einigermafsen tieferem Eindringen in 
die Einzelheiten, dafs die Fülle des Stoffes ungeahnt grofs ist — ich selbst 
habe in kurzer Zeit und nur mit Benutzung der Afranischen Bibliothek etwas 
über 370 Titel von Einzelartikeln zusammengebracht. Anderseits wird die Ab- 



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310 E. Schwabe : Wege u. Ziele f. d. Abfassung einer Geschichte d. sächs. Gelehrtenschulwesens 

gelegenheit dieses Materials am besten durch die Thatsache bestätigt, dafs in 
Theobald Zieglers Abrifs der Geschichte der Gymnasien (einer im Citieren 
allerdings sparsamen Schrift) sich kein einziges auf sachsische Gymnasial- 
verhältnisse bezügliches Werk verzeichnet findet. Und in der viele Seiten langen 
Bibliographie in Paulsens zweitem Bande werden für Sachsen nur vier Bücher- 
titel genannt, während für Württemberg, Schleswig- Holstein und sogar die 
Schweiz die Angaben mindestens dreifach so hoch sind — von Preufsen ganz 
zu schweigen. — Deshalb ist die dritte notwendige Vorarbeit, die geleistc* 
werden mufs, ehe man an weitere Ziele denken darf, eine ausführliche, 
genaue und umfassende Bibliographie aller Druckerzeugnisse über unser 
sächsisches Gelehrtenschulwesen, von seinen Anfängen an bis auf den heutigen 
Tag, womöglich mit genauen Angaben, wo sich die zum Teil sehr seltenen 
Drucksachen vorfinden. Der Zeit nach wird aber diese Veröffentlichung die 
erste sein müssen, um Mitarbeiter anzulocken, die das angezeigte bibliographische 
Material entweder zu eigenen Studien verwenden oder aus demselben die 
Lücken in der Geschichte unseres sächsischen Gelehrtenschulwesens erkennen 
und diese aus ungedrucktem Material ausfüllen. Dadurch wird sich hoffentlich 
in kurzer Zeit ermöglichen lassen, dafs ebenso wie die Wiesesche Veröffent- 
lichung für Preufsen eine kurze, chronikartig gehaltene geschichtliche Über- 
sicht über die wichtigsten Daten für das Gesamtschulwesen und die einzelnen 
Schulen zusammengebracht und herausgegeben werden kann. 

Ob damit die Reihe der Vorarbeiten erschöpft ist, die notwendig sind, um 
an die Errichtung des Gesamtgebäudes zu gehen, das mufs die Arbeit selber 
lehren. Das Ziel aber, das auf diesen verschlungenen und nicht immer leicht 
kenntlichen Pfaden erreicht werden soll, ist eine auf die Quellen gegründete 
und rein objektiv gehaltene Darstellung der Geschichte unseres sächsischen 
Gelehrtenschulwesens. Darum müssen auch die Vorarbeiten dazu besonders in 
Angriff genommen werden, um in absehbarer Zeit zum Abschlufs zu gelangen, 
und wollen deshalb nur als Ergänzung, nicht als Konkurrenz zu dem umfassen- 
den Werke von Kehrbach, Monumenta Germaniae paedagogica, angesehen sein. 
Denn auch schon in der hier vorgeschlagenen Arbeitsweise wird ein längerer 
Zeitraum bis zum Abschlufs des Ganzen vergehen. Je breiter gegründet aber, 
je sicherer in seinen Einzelheiten dies Gebäude gebaut sein wird, desto gewisser 
wird der Verfasser und sein Leserkreis davor bewahrt bleiben, dafs das Ganze 
etwa in apologetischer Wendung zu einer Art von Rettung des Gymnasiums 
würde oder sich zu einem einseitigen Lobpreisen der klassischen Bildung ent- 
wickelte. Es kommt aber darauf an, dafs das sächsische Gymnasium (darum 
handelt es sich in der Hauptsache) dargestellt wird, so wie es wirklich ist und 
gewesen ist, mit seinen Vorzügen und Mängeln. Will man dies Ziel aber er- 
reichen, so darf die Philologie nicht allein zu Worte kommen, sondern nur da, 
wo sie herrscht, und es mufs dafür gesorgt sein, dafs alle anderen Gymnasial- 
wissenschaften, von der Religion an bis zum Turnen, in angemessener Weise 
ihre Darstellung finden. 

Damit ist gegeben, dafs mehrere Männer sich auch in die Ausführung des 



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E. Schwabe : Wege u. Ziele f. d. Abfassung einer Geschichte d. sächs. Gelehrtenschulwesens 311 

Schlufswerkes zu teilen haben. Denn man würde damit einen schweren Fehler 
begehen, wenn nur ein Fachmann diese Gesamtentwickelung darstellen und so 
gewissermafsen über Dinge mitsprechen wollte, die er nicht von Grund aus 
versteht. Aufserdem ist die Geschichte des sächsischen Gelehrtenschulwesens 
mit so tausendfachen Fäden mit der Geschichte der gesamten Kultur unseres 
Volkes verknüpft, dafs jede auch unabsichtliche Tendenz das Bild verwirren 
würde. 

Und damit komme ich zu dem dritten und letzten Punkte meiner Aus- 
führungen, zu den Mitteln, mit denen diese Geschichte des sächsischen Ge- 
lehrtenschulwesens geschaffen werden soll. 

Aus den eben dargelegten Gründen ist es hoffentlich deutlich geworden, 
dafs ein einzelner Mann, wenigstens in der oben ausgeführten Weise der Vor- 
arbeit, diese Arbeit nicht leisten kann. Es würde auch bedenklich sein — und 
hierbei kehre ich zu dem im Eingange citierten Buche von Paulsen zurück — 
wenn man das kühne, geniale Konstruieren eines solchen Werkes für ganz 
Deutschland im kleinen für unser Sachsen nachahmen wollte. Von einem 
grofsen Architekten hat noch niemand verlangt, dafs er die einzelnen Bausteine 
selbst behaut und auch eigenhändig an den rechten Fleck setzt. Wenn ihm 
sein Werk gelingt, trotzdem dafs er nicht jede Einzelheit in ihr Einzelstes 
verfolgte, dann ist er bewundernswert — aber wird gerade unsere sächsische 
Gelehrtenschulgeschichte solch einen Meister finden? Zudem ist trotz der Fülle 
des Stoffes die Aufgabe enger umgrenzt, wird mehr den Charakter einer wenn 
auch sehr ausführlichen Spezialarbeit zur deutschen Gelehrten- und Kultur- 
geschichte tragen, und darum ist der angedeutete lange und mühselige Weg 
einzuschlagen, weil man auf ihm eines gewissen Abschlusses und damit wohl 
auch Erfolges sicher ist. 

Jedoch dazu braucht es viele arbeitsfreudige Hände, und deshalb wende 
ich mich heute an die Kollegen, den natürlichen Interessentenkreis für das 
geplante Unternehmen. Ich möchte wünschen, dafs sie sich zunächst für das 
Thema selbst interessierten. Dann werden sie oft mit befriedigtem Stolze zu 
der Erkenntnis gelangen, welch eine hochachtbare Einrichtung es ist, die uns 
alle umschliefst, und den stillen, aber stetigen Fortschritt gewahren, der un- 
ablässig auch im Gesamtorganismus des Gelehrtenschulwesens vor sich geht, 
trotz des Leugnens mancher mehr überzeugter als unterrichteter Gegner. Dann, 
hoffe ich, wird auch mancher, der dieser Sache bisher fremd gegenübersteht, 
sich bereit finden, ihr seine Mitarbeit zu widmen und somit dem einen gröfseren 
Zwecke dienen zu helfen. Ferner mufs aber auch für' die Bearbeiter einzelner 
der oben genannten Vorarbeiten schon jetzt die Hilfe aller derer aufs dringendste 
angerufen werden, die in der Lage sind, aus eigenem Wissen oder infolge ihrer 
amtlichen Stellung ausreichende und zuverlässige Auskünfte zu erteilen. Zu- 
nächst richtet sich diese Bitte an die Rektoren und an die Vorstände der 
Schulbibliotheken und Schularchive. Doch kann dabei die Hilfe der grofsen 
Bibliotheken und Archive nicht entbehrt werden, und darum möge auch diesen 
gegenüber die Bitte ausgesprochen sein, dafs die an ihnen beschäftigten Herren, 



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312 E. Schwabe : Wege u. Ziele f. d. Abfassung einer Geschichte d. sächs. Gelehrtenschulwesens 

die im Staate an Interessen uns vielleicht am nächsten stehenden, hilfreich ihre 
Biand bieten mochten. 

Um äufsere Mittel brauchen wir unseren Verein nicht in Anspruch zu 
nehmen. Sie sind freilich nötig, um erst das Spiel der Kräfte zu ermöglichen, 
und darum hat sich die Staatsregierung, auf Antrag unseres Vorsitzenden in 
seiner Denkschrift vom 15. Dezember 1898, in dankenswertester Liberalitat 
entschlossen, eine jährliche Beihilfe bis auf weiteres zu gewähren, so dafs es 
zunächst möglich sein wird, die mit der Einrichtung eines solchen Unternehmens 
notwendig verbundenen Kosten zu decken. Dann wird es aber auch möglich 
sein, den Mitarbeitern, die zur Teilnahme an den Vorarbeiten sich melden oder 
dazu veranlafst werden, für ihre Arbeit ein bescheidenes Entgelt zu gewähren. 

Weit wichtiger sind jedoch, gegenüber den realen Mitteln, die idealen 
Mittel, die wir brauchen, nämlich die Anteilnahme, die der höhere Lehrerstand 
und mit ihm die Gebildeten unseres sächsischen und deutschen Volkes einer 
Geschichte seines Gelehrtenschulwesens widmen. Die Interessen der Welt haben 
sich etwas von den stillen Räumen der Gelehrtenschule abgewendet; vielfach 
weifs man nicht, selbst viele Väter wissen es nicht, wie es bei uns zugeht. 
Nur wenn es gelingt, das Interesse für diese Sache nicht nur zu erregen, son- 
dern auch zu fesseln, darf auf eine glückliche Lösung dieser schwierigen Auf- 
gabe gerechnet werden. Doch ich meine, wenn es sich nur darum handelt, so 
ist der Erfolg schon gewifs. Schon bei anderen Gelegenheiten ist noch nie- 
mals vergeblich an den wissenschaftlichen Sinn der Gymnasiallehrerschaft 
appelliert worden: so wird auch die Sympathie nicht fehlen, wo es sich um 
die Geschichte des eigenen Standes und Berufes handelt. 



n 

ÜBER DIE ERTEILUNG DER WISSENSCHAFTLICHEN 
HAUPTZENSUR BEI DER REIFEPRÜFUNG 1 ) 

Von Richakd Meister 

In der letzten Sitzung des vorjährigen Ortsvorstandes in Leipzig wies ich 
darauf hin, wie hinsichtlich der Bestimmung unserer Lehr- und Prüfungsordnung 
unter § 66 Absatz 4 2 ) über die Erteilung der wissenschaftlichen Hauptzensur 
an den sächsischen Gymnasien verschiedene Verfahren beobachtet würden, so 
dafs auf Grund derselben Fachzensuren den Prüflingen unter Umständen ver- 
schiedene Hauptzensuren erteilt werden könnten, je nachdem von der Prüfungs- 
kommission das oder jenes Verfahren zu Grunde gelegt würde. Ich war der 
Ansicht, dafs eine Erörterung darüber, ob eine Einigung der sächsischen 
Gymnasien in diesem Punkte wünschenswert und thunlich sei, am besten in 



x ) Vgl. hierzu unter Anzeigen und Mitteilungen S. 399. Die Redaktion. 
*) c Bei Erteilung der wissenschaftlichen Hauptzensur ist auf diejenigen Fächer besonderes 
Gewicht zu legen, welche in Oberprima mit einer gröfseren Stundenzahl bedacht sind.' 



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R. Meister: Über die Erteilung der wissenschaftlichen Hauptzensur bei der Reifeprüfung 313 

einer Rektorenkonferenz vorgenommen werden mochte. Es ist auch bei der 
Rektorenkonferenz im Januar dieses Jahres in Dresden diese Frage von einer 
Seite angeregt, wegen Mangels an Zeit aber wieder abgesetzt worden. Ich 
glaube deshalb, dafs im Sinne der Forderung der Angelegenheit eine kurze 
Darlegung des Thatbestandes nicht unangebracht sein wird. Um diese Dar- 
legung in jedem Punkte auf Grund authentischen Materials geben zu können, 
habe ich mich an die Rektoren mit der Bitte um Auskunft über verschiedene 
schematisch zusammengestellte Fragen gewandt und von allen den Fragebogen 
beantwortet, von vielen aufserdem durch beigelegte Schreiben erläutert zurück- 
erhalten. 

Von allen Zensuren, die das Gymnasium seinen Schülern giebt, greifen 
nur die beiden Hauptzensuren, die nach der Reifeprüfung ihnen erteilt werden, 
über den Bereich der Schule hinaus in das Studium und in das spätere Leben. 
Gewisse dieser Hauptzensuren eröffnen, andere verschliefsen den Zugang zu 
Benefizien und Stipendien während der Universitätszeit; sehr erhebliche Bei- 
hilfen, wie z. B. das goldene Stipendium, werden nur auf 1 oder l b hin ge- 
währt. Von diesen materiellen Folgen abgesehen üben, wie wir alle wissen, 
diese Zensuren einen nicht zu unterschätzenden moralischen Einflufs auf die 
Empfänger aus. Sind es doch Taxierungen ihrer Persönlichkeit, die sie vor 
der Öffentlichkeit erfahren, und mit denen sie sich später auszuweisen haben. 
Und zwar trägt insbesondere die wissenschaftliche Hauptzensur diesen 
Charakter der Taxierung. Sie charakterisiert und rubriziert die wissenschaft- 
liche Persönlichkeit des Prüflings, indem sie seine Leistungen bezeichnet als 
ersten, zweiten oder dritten Ranges. Und auf der Universität und im Leben 
fragt man nicht mehr danach, wo hast du dir diesen Rang geholt, von welcher 
Prüfungskommission ist er dir verliehen worden, sondern reiht die von den 
verschiedenen Gymnasien kommenden Studenten ohne Unterschied zusammen, 
die einen in den ersten, die anderen in den zweiten, die letzten in den dritten 
Rang, im Vertrauen auf die Gleichmäfsigkeit, mit der die entscheidende Haupt- 
zensur überall verliehen werde. Das Bestreben der einzelnen sächsischen 
Prüfungskommissionen mufs also sein, diese Gleichmäfsigkeit bei der Erteilung, 
die die Voraussetzung der gleichmäfsigen Anrechnung später bildet, nach 
Menschenmöglichkeit walten zu lassen. Wie steht es nun damit bei uns? 

Man kann die sächsischen Gymnasien hinsichtlich des Verfahrens bei der 
Erteilung der wissenschaftlichen Hauptzensur in drei Gruppen teilen. In der 
ersten Gruppe wird die Hauptzensur aus den Fachzensuren rein mechanisch 
herausgerechnet; in der zweiten werden die Prüflinge nach dem Eindrucke 
ihrer ganzen Persönlichkeit, natürlich unter Berücksichtigung der erteilten Fach- 
zensuren, von der Prüfungskommission durch Acclamatdon oder durch Majoritäts- 
beschluß in die einzelnen Zensurgrade eingeschätzt; in der dritten, die eine 
vermittelnde Stellung einnimmt, wird zuerst eine Berechnung des Durch- 
schnitts der Fachzensuren vorgenommen, dieses arithmetische Resultat aber 
nachher der Korrektur durch pädagogische Erwägungen unterworfen. 

Nach der Meinung der ersten, d. i. der rechnenden Gruppe soll die wissen- 



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314 B. Meister: Über die Erteilung der wissenschaftlichen Hauptzensur bei der Reifeprüfung 

schaftliche Hauptzensur nichts anderes ausdrücken als den Durchschnitt der 
pädagogischen Urteile, die in den Fachzensuren niedergelegt sind. Wenn daher 
die Ziffern der Fachzensuren die Urteile über die Einzelleistungen richtig aus- 
drückten, so müsse die Durchschnittszahl dieser Ziffern der richtige Ausdruck 
für die Gesamtleistung sein. Und kein Moment der Beurteilung, das nicht in 
den Fachzensuren vorgelegen hätte, dürfe in der Gesamtzensur zum Ausdruck 
kommen. Möge z. B. das Urteil über die Leistungsfähigkeit eines begabten, 
aber nicht fleifsigen Schülers noch so günstig sein, seine Hauptzensur dürfe 
doch lediglich auf dem fufsen, was er nach Angabe der Fachzensuren wirklich 
geleistet habe. Und was sonst an allgemeinen pädagogischen Momenten an- 
geführt werde, wie die Beurteilung seiner Art zu arbeiten, zu denken, sich 
auszudrücken, die Berücksichtigung seiner geistigen Reife, die Anschauung 
seiner ganzen Persönlichkeit, das sei selbstverständlich bei jeder der einzelnen 
Fachzensuren mit ins Gewicht gefallen, und dürfe schliefslich nicht noch einmal 
dazu verwendet werden, um die ziffernmäfsig aus den Fachzensuren sich er- 
gebende Durchschnittszensur hinauf oder hinunter zu drücken. Richtiger sei 
es, in dem Falle, wo etwa die ausgerechnete Durchschnittszensur nicht be- 
friedige, eine nochmalige Revision der in Rechnung gestellten Faktoren, also 
der einzelnen Fachzensuren, vorzunehmen. Das Verfahren wird von einem 
Gymnasium dieser Gruppe so angegeben: e Aus den Fachzensuren wird der 
Durchschnitt gezogen und danach die Hauptzensur erteilt. Auch in dem Falle, 
wo bei 13 Zensurziffern das Verhältnis 7 : 6 ist, und die Mehrheit der Kom- 
mission der Ansicht ist, dafs die kleinere Verhältniszahl dem Gesamteindrucke, 
den sie vom Prüflinge erhalten hat, besser entspreche, wird vom arithmetischen 
Durchschnitt nicht abgewichen, wohl aber die Frage aufgeworfen, ob in einem 
Fache eine Zensuränderung angängig sei, wo etwa der betreffende Lehrer 
zwischen zwei Zensuren geschwankt habe. Wenn diese Frage von den Lehrern, 
die die Fachzensuren gegeben haben, verneint wird, bleibt es bei der dem 
arithmetischen Durchschnitt entsprechenden Hauptzensur.' Zu den Grundsätzen 
dieser rechnenden Gruppe bekennen sich drei von den sächsischen Gymnasien. 
Sie rühmen es als einen besonderen Vorzug dieses Verfahrens, dafs mit der 
Vollendung der Fachzensuren auch die subjektive Beurteilung ihr Ende erreicht 
habe, und dafs der von Hafs und Liebe nicht beeinfiufste arithmetische Zwang mit 
der Kraft des Kausalitätsgesetzes gleichmäfsig wirke und in wohlthätiger Weise 
alle Streitigkeiten und Majorisierungen innerhalb der Kommission ausschliefse. 
Die zweite, d. i. die einschätzende Gruppe, in die fünf von den sächsischen 
Gymnasien gehören, richtet bei der Erteilung der Hauptzensur ihren Blick 
auch auf die Ziffern der erteilten Fachzensuren, vor allem aber auf den ganzen 
Menschen, dessen Persönlichkeit sie möglichst zutreffend durch die Hauptzensur 
charakterisieren möchte. c Wir überblicken', so wird von einem Gymnasium 
dieser Gruppe das Verfahren geschildert, *in der Schlufskonferenz die Zensuren 
und schätzen danach jeden Schüler, unter selbstverständlicher Betonung der 
Hauptfächer, ein; ganz selten macht sich dabei eine förmliche Abstimmung 
nötig. Wenn dann alle unter die Hauptzensuren rubriziert sind, sehen wir 



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R. Meister: Über die Erteilung der wissenschaftlichen Hauptzensur bei der Reifeprüfung 315 

uns die so entstandenen Gruppen an; scheint es nun, dafs ein Schüler in eine 
Gesellschaft geraten ist, in die er nach seiner Leistungsfähigkeit nicht pafst, 
so wird — eventuell durch kleine Änderungen der Fachzensuren — der Ver- 
such gemacht, ihm durch Versetzung in eine andere Nummer gerecht zu werden/ 
In dieser Gruppe wird also ein Durchschnitt aus den Fachzensuren nicht be- 
rechnet und die Hauptzensur von jedem arithmetischen Zwange frei den Prüf- 
lingen erteilt. 

Die dritte, d. i. die vermittelnde Gruppe, zu der die meisten sächsischen 
Gymnasien, nämlich neun, gehören, berechnet zwar zunächst einen Durchschnitt 
aus den Fachzensuren, sieht diesen Durchschnitt aber nicht als bindend, son- 
dern nur als Grundlage für eine folgende Beratung an. Doch herrscht im all- 
gemeinen in dieser Gruppe das Bestreben, möglichst das rechnerische Ergebnis 
für die wirklich zu erteilende Zensur festzuhalten und nur in besonderen Fällen 
von ihm abzuweichen. So wird z. B. von einem dieser Gymnasien berichtet: 
c Mit dem rein mechanischen Verfahren, das am ehesten etwaige Subjektivitäten 
und Unregelmäfsigkeiten ausschliefst, sind wir bisher immer noch am besten 
ausgekommen. Selbstverständlich wird die auf mathematischem Wege ge- 
wonnene Durchschnittszensur nachher in doppelter Weise kontrolliert: einmal 
durch Vergleichung mit den Zensuren der übrigen Examinanden, und sodann 
durch Vergleichung mit der Privatzensur, die wir dem Schüler nach dem Ge- 
samteindrucke, den wir im Laufe der Zeit von ihm gewonnen haben, geben 
würden. In den weitaus meisten Fällen stimmt die Sache ausgezeichnet; bleiben 
ausnahmsweise Bedenken übrig, so werden entweder einzelne Fachzensuren 
modifiziert, oder es wird der ziffernmäfsige Durchschnitt ignoriert/ 

Zu dieser Verschiedenheit kommt aber nun eine zweite hinzu bei der Ab- 
wägung der einzelnen Fachzensuren. Die Lehr- und Prüfungsordnung be- 
merkt an der oben angeführten Stelle darüber nur, dafs auf diejenigen Fächer 
besonderes Gewicht zu legen sei, die in Oberprima mit einer gröfseren Stunden- 
zahl bedacht sind. Als solche Hauptfächer gelten jetzt an den meisten der 
sächsischen Gymnasien die vier: Latein, Griechisch, Mathematik und Deutsch; 
an einem nur die drei: Latein, Griechisch und Mathematik; an einem werden 
die Fächer dem Range nach in drei Klassen geteilt: erstens Latein, Griechisch, 
Mathematik und Deutsch, zweitens Französisch und Geschichte, drittens Religion 
und Physik. Der Vorschrift, den Hauptfächern besonderes Gewicht beizulegen, 
kommt man wieder in verschiedener Weise nach. In der mittleren, d. i. der 
einschätzenden Gruppe läfst man sich bei der Wahl der Nummer, in die man 
den Prüfling einschätzt, vor allem von den Ziffern der Hauptfächer leiten. Wo 
eine Durchschnittszensur berechnet wird, also in der ersten und dritten Gruppe, 
wird das besondere Gewicht der Hauptfächer meistens dadurch zum Ausdruck 
gebracht, dafs man die Ziffern der Hauptfächer doppelt oder dreifach setzt. 
Die meisten Gymnasien dieser beiden Gruppen rechnen die lateinische Zensur 
dreifach, die griechische, mathematische und deutsche zweifach, die andern vier 
einfach, so dafs der Durchschnitt der acht Fächer aus 13 Ziffern gezogen wird; 
zwei Gymnasien sehen von der besonderen Hervorhebung der lateinischen 



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316 B. Meister: Über die Erteilung der wissenschaftlichen Hauptzensur bei der Reifeprüfung 

Zensur ab und rechnen alle Hauptfächer ; zu denen an dem einen Gymnasium 
vier, an dem anderen drei Fächer gehören, doppelt, die anderen Fächer einfach; 
an einem Gymnasium wird überhaupt keine Multiplikation vorgenommen, son- 
dern jedes Fach einfach gerechnet, den Hauptfächern aber dadurch gröfseres 
Gewicht beigelegt, dafs man sich bei gebrochenem Durchschnitt nach der Seite 
der Hauptfächer entscheidet. 

Infolge dieser Verschiedenheiten des allgemeinen Verfahrens und der Be- 
rechnung der Fachzensuren im einzelnen wird in nicht ganz wenigen Fällen 
die wissenschaftliche Hauptzensur verschieden ausfallen, je nachdem die Prü- 
fungskommission das oder jenes der geschilderten Verfahren anwendet. Viel- 
leicht ist mancher geneigt, diese Ungleichmäfsigkeit zu entschuldigen mit dem 
Hinweis auf die Subjektivität jeder Zensierung und auf die Unmöglichkeit, 
ganz gleiche Zensierungsmafsstäbe herzustellen. Aber dieser Hinweis würde 
hier nicht am Platze sein. Versetzen wir uns an das Ende der Reifeprüfung. 
Die Zensuren für die acht Fächer sind gegeben und gebucht. Sie sind selbst- 
verständlich alle gegeben worden lediglich als Würdigung der einzelnen Fach- 
leistungen ohne jede Bücksicht auf irgend ein bestimmtes Verfahren, nach dem 
schliesslich die Hauptzensur erteilt werden wird. Angesichts dieser Fachzensuren 
ist nun jede der 17 Prüfungskommissionen in Sachsen berechtigt, jedes der 
oben geschilderten Verfahren anzuwenden, um die wissenschaftliche Hauptzensur 
den Prüflingen zu erteilen, denn keines dieser Verfahren verstöfst gegen die 
Lehr- und Prüfungsordnung, jedes ist legal. Niemand würde etwas dagegen 
haben, wenn eine Prüfungskommission, die dieses Ostern nach dem einschätzen- 
den Verfahren die Hauptzensur erteilt hätte, nächstes Ostern beschliefsen würde, 
sie nach dem rechnenden Verfahren zu erteilen, oder wenn eine, die sich bisher 
streng an den herausgerechneten Durchschnitt gehalten hätte, das nächste Mal 
beschliefsen würde, in der Weise des vermittelnden Verfahrens die Durch- 
schnittszensuren, wo sie pädagogischen Erwägungen nicht zu entsprechen 
schienen, zu ignorieren. Wie gesagt, nachdem die Prüfung beendet und die 
Leistungen alle zensiert sind, hat jetzt die Kommission völlig freie Wahl, 
welches Verfahren sie anwenden will, um die wissenschaftliche Hauptzensur zu 
bestimmen, und die Abiturienten werden auf Grund derselben Leistungen und 
derselben Fachzensuren in nicht wenigen Fällen je nach der getroffenen Wahl 
bessere oder schlechtere Hauptzensuren erhalten und unter Umständen die 
Anwartschaft z. B. auf das goldene Stipendium gewinnen oder verlieren, wofür 
keineswegs die Subjektivität des Zensierens, sondern lediglich das rein technische 
Moment des angewandten Verfahrens die Schuld tragen wird. 

Bei ziemlich gleichartigen Fachzensuren werden die Ergebnisse der ver- 
schiedenen Verfahren natürlich oft übereinstimmen; wer lauter Zweien als 
Fachzensuren hat, wird bei keinem Verfahren etwas anderes als 2 in der 
Hauptzensur erhalten. Aber doch führen unter Umständen auch in diesen 
Fällen der völligen oder annähernden Gleichartigkeit der Fachzensuren die ver- 
schiedenen Verfahren zu verschiedenen Resultaten. Die Zensur 1 z. B. wird 
nach dem Verfahren der rechnenden Gruppe nur dann gegeben, wenn 1 im 



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R. Meister: Über die Erteilung der wissenschaftlichen Hauptzensur bei der Reifeprüfung 317 

Durchschnitt überwiegt, wenn also bei 13 Ziffern wenigstens siebenmal 1 steht 
gegen sechsmal l b ; die einschätzende Gruppe erteilt 1 unter Umständen schon, 
wenn einige 'bedeutsame' erste Grade in den Fachzensuren stehen, auch wenn 
der zahlenmäfsige Durchschnitt nicht 1, sondern l b ergeben würde; einige 
Gymnasien erklären, daCs sie 1 auch in dem Falle geben würden, wenn alle 
Fachzensuren gleichmäfsig auf l b lauten würden. Namentlich empfindlich ist 
die Differenz zwischen l b und 2*: ob die eine oder die andere Hauptzensur zu 
erteilen sei, wird in nicht seltenen Fällen lediglich von der Technik des an- 
gewandten Verfahrens abhängen. Wer z. B. in Latein, Griechisch und Deutsch 
l b , in den anderen fünf Fächern 2* hat, wird nach dem rechnenden Verfahren 
l b erhalten, wenn Latein dreifach, Griechisch, Mathematik und Deutsch zwei- 
fach gerechnet werden; dagegen 2*, wenn man Latein, Griechisch und Mathe- 
matik zweifach, die anderen Fächer einfach rechnet. Häufiger noch werden 
sich durch Anwendung der verschiedenen Verfahren verschiedene Resultate er- 
geben, wenn die Fachzensuren ungleichartig sind, wenn z. B. die Nebenfächer 
sehr gut, die Hauptfächer nur genügend zensiert sind, oder wenn die Haupt- 
fächer selbst auseinander gehen und etwa Deutsch und Mathematik sehr gut, 
Latein und Griechisch nur genügend zensiert sind, oder wenn bei sehr guten 
Zensuren im allgemeinen ein oder zwei Fächer, etwa Mathematik und Physik, 
mit nur genügenden Zensuren isoliert stehen. In solchen Fällen namentlich 
werden die Prüfungskommissionen, die das rechnende Verfahren anwenden, in 
günstigerer Lage sein; auch sie werden in einzelnen Fällen zu verschiedenen 
Resultaten kommen, je nachdem sie die Hauptfächer verschieden auswählen 
und bewerten, aber im Schofse jeder einzelnen Kommission wird ungestörte 
Eintracht herrschen, indem man sich dem mathematischen Ergebnis fügt, und 
kein Anlafs zur Verteidigung des Fachinteresses oder zur genaueren Darlegung 
der gröfseren oder geringeren geistigen Reife des betreffenden Abiturienten 
oder zur eingehenderen Charakterisierung seiner ganzen Persönlichkeit gegeben 
ist. Dagegen wird nach dem einschätzenden und nach dem vermittelnden Ver- 
fahren in solchen schwierigeren und zweifelhaften Fällen die Entscheidung der 
Kommission über die zu erteilende Hauptzensur gerade von der Erörterung 
solcher pädagogischen Momente abhängen, bei der die Verschiedenheit der sub- 
jektiven Beurteilung oft zu längeren und schwierig zu entscheidenden Debatten 
führen wird, die schliefslich nur durch Abstimmung und Majorisierung ihr Ende 
zu finden pflegen. 

Nach alledem darf ich wohl auf Zustimmung hoffen, wenn ich es aus- 
spreche, dafs eine Einigung der sächsischen Gymnasien über die Art der Er- 
teilung der wissenschaftlichen Hauptzensur schon im Sinne der Gerechtigkeit 
gegen unsere Schüler wünschenswert erscheint. Und wenn man mir darin 
zustimmt, so habe ich den Hauptzweck meiner Darlegung erreicht. Denn 
was nun etwa noch hinzuzufügen ist, das versteht sich, sehe ich recht, zum 
einen Teile, wenn wirklich eine Einigung zu stände kommen soll, von selbst, 
und ist zum anderen Teile wenig wesentlich, wenn überhaupt nur eine Regelung 
erfolgt. Selbstverständlich nämlich scheint mir, dafs eine Einigung nur auf 



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318 R- Meister: Über die Erteilung der wissenschaftlichen Hauptzensur bei der Reifeprüfung- 

Grundlage des rechnenden Verfahrens möglich ist, weil dieses allein für die 
Erteilung der Hauptzensur in jedem Falle einen festen Anhalt gewährt, die 
Subjektivitäten und Imponderabilien völlig ausschliefst und dadurch eine Gleich- 
mäfsigkeit des Verfahrens an allen Orten und bei allen Schülern ermöglicht; 
die Ausnahmefälle, in denen eine Abweichung von dem arithmetischen Durch- 
schnitt angezeigt erscheinen sollte, wie z. B. wenn eine 3 b in einem Hauptfach 
steht, müfsten dabei ebenfalls geregelt werden. Für wenig wesentlich dagegen 
halte ich im Vergleich mit dieser prinzipiellen Entscheidung über das Verfahren 
im allgemeinen, wie die Einzelfragen über die Durchschnittsberechnung be- 
antwortet werden, als da sind: 1) Welche Fächer sind Hauptfächer? Wenn 
es in dem schon oben citierten 4. Absatz des § 66 der Lehr- und Prüfungs- 
ordnung heilst, dafs e auf diejenigen Fächer besonderes Gewicht zu legen sei, 
die in Oberprima mit einer gröfseren Stundenzahl bedacht sind', so ist wohl 
zunächst an Latein, Griechisch und Mathematik zu denken, die mit acht, sieben 
und vier Stunden bedacht sind, während Deutsch keine gröfsere Stundenzahl 
hat als Geschichte, nämlich drei. Soll nun trotzdem Deutsch, der Wichtigkeit 
des Fachs entsprechend, unter die besonders zu betonenden Hauptfächer in 
diesem Falle aufgenommen werden, wie es an den meisten sächsischen Gym- 
nasien jetzt in der That geschieht? 2) Ist Latein, das die meisten Stunden 
hat, mehr zu betonen als Griechisch, Mathematik und Deutsch? 3) In welcher 
Weise ist das besondere Gewicht der Hauptfächer zum Ausdruck zu bringen 
— durch Multiplikation oder nur durch Entscheidung nach der Seite der 
Hauptfächer bei gebrochenem Durchschnitt? Was diese drei Fragen an- 
langt, so halte ich nur dies für notwendig, dafs sie einheitlich beantwortet 
werden, für weniger wichtig, zu Gunsten welcher der jetzt üblichen Modalitäten 
die Entscheidung getroffen werde. Und wenn ich die grofsen Schwierigkeiten 
bedenke, die einer gegenseitigen Vereinbarung der sächsischen Gymnasien über 
diese Punkte im Wege stehen würden, so möchte ich meinen, dafs es das 
wünschenswerteste sei, wenn das Königliche Ministerium durch eine authentische 
Interpretation jenes 4. Absatzes des § 66 der Lehr- und Prüfungsordnung Gleich- 
mäfsigkeit in der Beantwortung dieser drei Fragen herbeiführte. 



in 

AUS DER PRAXIS DES GESCHICHTLICHEN 
UND KUNSTGESCHICHTLICHEN ANSCHAUUNGSUNTERRICHTS 

Von Otto Eduard Schmidt 

Die Frage, ob im Gymnasialunterrichte Anschauungsmittel zu verwenden 
sind, die das Leben und die Kunst der Antike und der folgenden Epochen der 
menschlichen Kultur dem Schüler auch vermittelst des Auges näher bringen, 
gilt ohne Zweifel als entschieden, und zwar im bejahenden Sinne, obwohl vor 
dem Übermafs der bildlichen Darstellung aus Gründen, die auf der Hand liegen, 



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O. E. Schmidt : Aus der Praxis des geschieht! u. knnstgeschichÜ. Anschauungsunterrichts 31 9 

ebenso nachdrücklich gewarnt werden mufs, wie vor jenem absoluten Mangel 
bildlicher Anschauung, der noch vor fünfundzwanzig Jahren, als ich das Gym- 
nasium verliefs, durchaus die Regel war. Der Zug unserer ganzen Zeit vom 
Abstrakten zum Konkreten, von der reinen Philosophie zur künstlerisch dar- 
gestellten Idee ist so stark, dafs sich ihm auch die Schule nicht entziehen 
kann. Der bedeutende Erfolg des schrullenhaften Buches c Rembrandt als Er- 
zieher' war doch ein Symptom dafür, dafs sich im Herzen unseres Volkes ein 
tiefempfundenes Bedürfnis nach einer nationalen Kunst und nach einer An- 
leitung zum Genüsse von Kunstwerken als einem Stücke menschlicher Glück- 
seligkeit angesammelt hatte. Auf dem Gebiete der Kunst und der künstlerischen 
Anschauung versöhnt sich auch der moderne Mensch und das skeptische Eltern- 
haus am leichtesten mit dem 'Dogma vom klassischen Altertum', und wir 
Lehrer dürfen hoffen, dafs der für antikes Leben und antike Kunst gewonnene 
Schüler auch den Texten der Schriftsteller, ja selbst der lateinischen und 
griechischen Grammatik, in der auch ein Stück künstlerischer Beanlagung der 
klassischen Völker zur Erscheinung kommt, wieder ein lebendigeres und tieferes 
Interesse widmen werde: denn der Stofsseufzer Virchows am Ende des Jahr- 
hunderts, verwunderlich wegen des Mundes, aus dem er kam, gehört zwar zu 
den Zeichen der Zeit, darf aber in uns nicht im mindesten den Glauben hervor- 
rufen, dafs mit reiner Grammatik und reiner Logik das etwas ins Wanken 
geratene einheitliche deutsche Bildungsideal wiederhergestellt werden könne. 
Hier mufs sich der deutsche Schulmeister objektiver, kritischer, ja ich möchte 
sagen diagnostischer zeigen, als der grofse medizinische Doktrinär. Doch ich 
will mich nicht in Theorien verlieren, sondern von der Theorie zur Praxis 
herabsteigen. 

Denn ich möchte heute statt aller Reden für und gegen die Anschauungs- 
mittel einfach vorführen, was unsere Fürstenschule St. Afra an An- 
schauungsmitteln für die gedachten Zwecke besitzt, und wie sie 
verwertet werden. Dabei ist zu beachten, dafs unsere Geldmittel recht be- 
schränkt sind, denn unsere Objekte für den Anschauungsunterricht bilden einen 
Zweig der Schülerbibliothek, es stehen uns also zu Anschaffungen nur soviel 
Gelder zur Verfügung, als wir nach der Bücheranschaffung übrig behalten, das 
sind durchschnittlich jährlich 50 Mark. Wir können also durchaus nicht mit 
den Schülerbibliotheken der grofsstädtischen Anstalten konkurrieren, die über 
ganz andere Geldmittel verfügen. Wenn wir trotzdem das Licht der Öffent- 
lichkeit nicht scheuen, sondern die Kollegen einladen, von unserem Bilderapparat 
Kenntnis zu nehmen, so entspringt unser Mut dem Bewufstsein, dafs wir in 
den letzten Jahren mancherlei auf diesem Gebiete versucht haben, was vielleicht 
dem oder jenem Kollegen nicht uninteressant sein könnte; täuschen wir uns 
aber darin, nun so wird uns der Gedanke trösten, anderen die angenehme 
Empfindung verursacht zu haben, dafs sie daheim alles reichlicher und besser 
besitzen. 

Im vorigen Jahrgange der Ilberg-Richterschen Jahrbücher hat Dr. Wagner 
in einem sehr lesenswerten Aufsatze unter dem Titel: *Neue Hilfsmittel für den 



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320 0. E. Schmidt: Aus der Praxis des geschieht! u. kunstgeschichtl. Anschauungsunterrichts 

klassischen Anschauungsunterricht' ein Verzeichnis und eine kurze Besprechung 
der Hilfsmittel gegeben ; die ein modernes Gymnasium zu diesem Zwecke be- 
sitzen möchte. Ich kann sagen, dafs unsere Schülerbibliothek die meisten der 
dort genannten Werke besitzt; einige wenige fehlen noch, dafür aber sind 
andere da, die ich in Wagners Aufzählung vermifst habe. Luckenbachs 
Abbildungen zur alten Geschichte als das billigste derartige Hilfsmittel ist bei 
uns obligatorisch eingeführt und also in der Hand eines jeden Schülers. 
Aufserdem aber werden vom Lehrer an Werken der Lichtdrucktechnik 
namentlich verwendet Steudings ^Denkmäler antiker Kunst', zwei Exemplare 
von Baumeisters 'Denkmälern des klassischen Altertums', die neun Hefte der 
'Klassischen Bildermappe' von H. Bender, die entsprechenden Bilder des 
Bruckmannschen 'Klassischen Skulpturenschatzes', die Seemannschen 'Kunst- 
historischen Bilderbogen' und die grofsen Wandbilder desselben Verlags, der I. 
und H. Band der Spamerschen Illustrierten Weltgeschichte, ferner 
Wagners 'Rom', das in der von mir herausgegebenen Bearbeitung (VI. Auf- 
lage, 1899) auch eine vollständig neue Illustration erhalten hat, und die 
150 prachtvollen Landschafts- und Architekturbilder, die der Lübecker Photo- 
graph Nöhring unter dem Titel 'Aus dem klassischen Süden' mit einem von 
den Teilnehmern der HI. badischen Studienreise herrührenden Texte veröffent- 
licht hat. In der künstlerischen Reproduktion der Photographie leistet das 
zuletzt genannte Werk das Höchste, was ich kenne; dagegen mufs leider von 
Luckenbach, teilweise auch von Bruckmanns Skulpturenschatz gesagt 
werden, dafs manche Bilder technisch nicht ganz auf der Höhe der Zeit stehen; 
einige sind zu schwarz, andere in ungünstiger Beleuchtung wiedergegeben. 
Steudings Abbildungen sind im ganzen klar und sauber, doch haben bei 
einigen leider nicht Originalphotographien, sondern Holzschnitte als Vorlage 
gedient. 

Überhaupt kann ein Lichtdruck eine gute Photographie, namentlich eine 
solche grofsen Formats, niemals ganz ersetzen. Historische Landschaften, Werke 
der Architektur, vor allem aber Werke der Plastik machen nach meinen Er- 
fahrungen in Photographie einen ungleich tieferen Eindruck als in der besten 
Autotypie. Es ist, als ob die Photographie etwas von dem Zauber des Originals, 
insbesondere den eigentümlichen Ton des antiken Marmors widerstrahlte, was 
bei der Reproduktion verloren geht. Deshalb habe ich seit einer Reihe von 
Jahren begonnen, zur Ergänzung der genannten Werke eine gröfsere Anzahl 
von Photographien anzuschaffen und zwar, wo es sich um Kunstwerke handelt, 
immer solche, die direkt vom Original, nicht von einem Gipsabgüsse auf- 
genommen worden sind. Wir besitzen gegenwärtig fünf Bände italienischer 
Photographien des üblichen Formats (22x27 cm) und zwar: 

1) Rom und seine Umgebung. 

2) Landschaften aus Campanien, Ischia, Capri. 

3) Landschaften von der Ostküste, aus Umbrien und Toscana. 

4) Landschaften aus Unteritalien und Sizilien. 

5) Römische Büsten und Statuen; griechische Münzen. 



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O. £. Schmidt: Ans der Praxis des geschichtl. u. kunstgeschichÜ. Anschauungsunterrichts 321 

Ferner besitzen wir eine reichhaltige Sammlung von Photographien grie- 
chischer Landschaften von der Firma Barth & Hirst in Athen, andere 
griechische Aufoahmen von einer englischen Gesellschaft (The english Photo- 
graphie Co.), die noch schärfer sein sollen, werden baldigst angeschafft werden. 
Vor allem aber habe ich eine grofse Sammlung von Photographien zur 
griechischen und römischen Kunstgeschichte erworben, und zwar zu- 
meist im Anschlufs an das von Dr. Paul Herrmann und Adolf Gutbier 
zusammengestellte 'Museum der antiken Skulptur in Original-Photo- 
graphien'. 1 ) 

Die meisten dieser Photographien hält die Arnoldsche Kunsthandlung 
neuerdings vorrätig, fehlende werden noch beschafft. Die Preise sind durch- 
schnittlich nur um zehn Pfennige für jedes Bild höher als in Italien oder 
Griechenland, so dafs man also für eine unaufgezogene Photographie (21x27 cm), 
die in Born eine halbe Lira kostet, in Dresden eine halbe Mark bezahlt. Wer 
in Auswahl und Einkauf von Photographien grofse Erfahrung besitzt und 
hunderte auf einmal anschafft, wird natürlich besser thun, sich der Kataloge 
von Brogi, Alinari in Florenz, von Anderson in Rom, von Sommer in Neapel 
zu bedienen, aber bei allmählicher Anschaffung ist der Bezug durch die 
Arnoldsche Kunsthandlung entschieden vorzuziehen, da man bei diesem Ver- 
fahren jedes Bild vor dem Ankauf sehen kann und sich auch die Rechnungs- 
ablage erleichtert. 

Ein ganz besonderer Reiz liegt natürlich darin, wenn man die für den 
Anschauungsunterricht nötigen Bilder in den klassischen Ländern nach Autopsie 
der Gegenden und Kunstwerke einkaufen und mitbringen kann. An solchen 
Bildern hängen dann unsere persönlichen Erinnerungen, über solche Bilder 
vermögen wir wärmer und deshalb eindrucksvoller zu sprechen als über andere. 
Deshalb habe ich auf einer Studienreise, die ich im vorigen Jahre nach Italien 
unternahm, begonnen, an Ort und Stelle ein Album Tullianum zu sammeln, 
Aufoahmen derjenigen Landschaften und Monumente, die für Ciceros Leben 
und zum Verständnisse seiner Schriften von besonderem Werte sind. Das war, 
da es sich vielfach um Gegenden handelte, die von der Heerstrafse entfernt 
liegen, nicht so einfach, wie es scheinen möchte, aber mit Hilfe von persön- 
lichen Empfehlungen, Besuchen, Briefen habe ich schliefslich doch einen statt- 
lichen Bilderapparat zu Cicero zusammengebracht. Einige Proben daraus biete 
ich den Fachgenossen in Heft 5 und 6 der Jahrbücher zu der Monographie 
über Ciceros Villen. Es wird sich aber meines Erachtens auch empfehlen, ein 
Album Horatianum oder auch ein Thucydideum anzulegen. 

Zu den von mir für die Schule in Italien erworbenen Bildern gehört auch 
eine Sammlung der interessantesten Säulen-Kapitäle aus Pompeji, 



*) Das vortreffliche Verzeichnis zum 'Museum der antiken Skulptur u. s. w.' von 
Dr. Herrmann, dem Direktorialassistenten an der Egl. Skulpturensammlung in Dresden, 
das nach kunstgeschichtlichen Grundsätzen angeordnet ist und kurze, treffende Erklärungen 
der einzelnen Kunstwerke enthält, wird von der Arnoldschen Kunsthandlung in Dresden 
gern gratis an Interessenten abgegeben. 

Neue Jahrbücher. 1899. II 21 



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322 0. E. Schmidt: Aus der Praxis des geschieh tl. u. kunstgeschichtl. Anschauungsunterrichts 

die ich Herrn Hauptmann Lindner in Rom verdanke. Man kann an diesen 
Photographien studieren, wie sich die romische Eompositensäule aus den 
einfachen griechischen Formen entwickelte, und wie sie schließlich bis zu der 
Geschmacklosigkeit entartete, dafs man die Kopfe des Hausherrn und der Haus- 
frau als Verzierung des Kapitals anbrachte. Ich kann allen Romfahrern aus 
unserem Kreise, die sich Bilder anschaffen wollen, nur dringend raten, aufser 
den üblichen Bilderläden auch Herrn Hauptmann Lindner, einem geborenen 
Sachsen, einen Besuch zu machen, der sein Atelier im malerischen Garten der 
Casa tedesca auf dem Kapitol (Via di rupe Tarpeia 28) aufgeschlagen hat. 
Man findet bei ihm Aufnahmen, die in keiner der üblichen Handlungen zu 
haben sind; auch photographiert dieser Herr gelegentlich gegen wirklich billige 
Entschädigung in entlegeneren Teilen Italiens. 

Von den letzten Ausläufern der antiken Kunst interessieren uns natur- 
gemäfs die auf deutschem Boden hergestellten und wiederaufgefundenen Mo- 
numente am meisten. Ich habe deshalb vor mehreren Jahren Photographien 
der bekannten Neumagener Funde aus dem Mosellande erworben und durch 
einen Photographen vervielfältigen lassen in der Hoffnung, dafs auch andere 
Gymnasien eine Verwendung für diese Bilder haben würden, ich habe aber 
trotz des billigen Preises (4 Mark für 6 Bilder) fast überall eine Zurück- 
weisung erfahren. Trotzdem darf ich sagen, dafs gerade diese gut realistischen 
Bildwerke, weil in ihnen antike Kunst mit einem heimatlichen Beigeschmäcke 
erscheint, immer besonderen Eindruck auf die Schüler gemacht haben, und 
zwar nicht nur das Moselschiff mit den Weinfässern und dem an Eduard 
Grützners Bilder erinnernden Küfer, sondern auch die feinere Darstellung einer 
römischen Schule 1 ) im Mosellande, die leider sehr zertrümmerte c Heimkehr von 
der Jagd' und die ^Barbierstube'. 

Als Anschauungsmittel für den Geschichtsunterricht im Mittelalter 
und in der Neuzeit verwenden wir namentlich die Porträts, Architekturbilder, 
Landschaften, Schlachtenpläne, die in den grofsen illustrierten Geschichtswerken 
enthalten sind. Das ältere Werk dieser Art von Oncken ist neuerdings durch 
die unter Kaemmels Leitung erschienene Weltgeschichte des Spamerschen 
Verlags hinsichtlich der Reichhaltigkeit und technischen Vollendung der Bilder 
weit übertroffen worden. Für die Kunstgeschichte verwenden wir den Klas- 
sischen Skulpturenschatz (Bruckmann), das Speemannsche Museum und 
die vortrefflichen Künstlermonographien des Verlags von Velhagen & Kla- 
sing. Doch sollen mit der Zeit auch hierfür Photographien angeschafft werden. 
Die Unterweisung in der mittleren und neueren Kunstgeschichte kann man 
sich bei uns gar nicht elementar genug vorstellen. Es giebt keine besonderen 
Stunden für diese Kunstgeschichte, auch keine Systematik, sondern im Zu- 
sammenhange mit der allgemeinen Geschichte werden am Schlüsse jeder Epoche 

*) Gute Lichtdrucke des Moselschiffs und der f Schule' finden sich jetzt in der von mir 
bearbeiteten Geschichte Roms in der IQustr. Weltgesch. (Spamer) II S. 846 f. Doch bin 
ich auch heute noch erbötig, Photographien der Neumagener Funde an Fachgenossen billig 
abzugeben. 



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0. E. Schmidt: Aus der Praxis des geschieh tl. u kunstgeschichtl. Anschauungsunterrichts 323 

auch ihre wichtigsten Künstler genannt und Bilder ihrer Werke mit ganz 
kurzen Erklärungen des dargestellten Gegenstandes ausgestellt. Es kommt uns 
nur darauf an, unsere Schüler, die nicht in der Lage sind, die Schaufenster 
grofsstädtischer Kunsthandlungen zu studieren, mit einigen charakteristischen 
oder meisterlichen Werken der betreffenden Epoche bekannt zu machen. Also, 
ist z. B. in der Geschichte des Mittelalters die Zeit der Ottonen besprochen 
und den Schülern ein Begriff der ottonischen Renaissance auf dem Gebiete 
des geistigen Lebens gegeben worden, so wird im Zusammenhange damit eine 
Lehrstunde auf die romanische Kunst und auf Vorführung romanischer Bau- 
werke und romanischen kirchlichen Schmuckes verwendet; oder nach 1273 wird 
die Gothik als ein Ausflufs der Idee des Gottesstaates behandelt. Über diese 
Dinge, die doch sozusagen auch zur allgemeinen Bildung gehören, ohne bild- 
liche Demonstration reden zu wollen, wäre ein Unding. Die bildlichen Bei- 
spiele dazu entnehme ich, soweit es möglich ist, der sächsischen Heimat. 
Vorzüglichen Stoff dazu liefert das von Steche begründete Werk ^Beschreibende 
Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen', 
dessen Illustration musterhaft genannt werden darf und das in keiner Schul- 
bibliothek eines sächsischen Gymnasiums fehlen dürfte. Die Wechselburger 
Kapelle als Beispiel romanischen Stils, die Goldene Pforte in Freiberg als der 
in Stein gebildete Gottesstaat, das Grabmal des Kurfürsten Moritz im Frei- 
berger Dom und die Skulpturen der Kirche zu Lauenstein als Beispiele der 
Kunst des Zeitalters der Reformation müssen jedem sächsischen Gymnasiasten 
einmal vor Augen gestanden haben. Aber auch sonst mufs man bemüht sein, 
auf historisch oder künstlerisch wertvolle Bauten und Denkmäler unserer engeren 
Heimat aufmerksam zu machen und die Schüler zu selbständiger Beobachtung 
auf diesem Gebiete anzuregen. Dadurch wird manches Band geknüpft zwischen 
Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den jungen Herzen und dem uralten, 
heiligen, heimatlichen Boden, dadurch kann auch manche Ferienwanderung 
aus dem Schlamme der ^Bierreise* zu der reinen Sphäre künstlerischer Be- 
obachtung und historischer Betrachtung emporgehoben werden. Ich kann 
wenigstens aus meiner Erfahrung berichten, dafs mancher ehemalige Afraner 
noch als Student seine Wanderschaft nach irgend einem kirchlichen oder pro- 
fanen Monumente gerichtet hat, das ihm zunächst auf der Schule in Wort und 
Bild nahegebracht worden war; eine Postkarte mit einem Worte dankbarer 
Erinnerung an solche Unterweisung belohnt dann den Lehrer oft noch nach 
Jahren für die aufgewandte Mühe. 

Sehr schwierig ist die Frage zu beantworten, wie die Bilder den 
Schülern zugänglich gemacht werden sollen. Wir haben mancherlei 
hierzu versucht. Wir haben z. B. ein grofses Gipsmodell der Akropolis in der 
Schülerbibliothek aufgestellt, wir haben an den Wänden derselben die bekannten 
braungetönten Langischen Bilder aufgehängt, auch eine tabula Peutingeriana. 
Wir haben begonnen, den Anschauungsmitteln in den langen, öden Korridoren 
unseres Hauses ein Heim zu bieten und diese dadurch zugleich fctwas wohn- 
licher zu machen. Dazu verwenden wir neuerdings die grofsen Seemann sehen 

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324 0. K Schmidt: Aus der Praxis des geschieh tl. u. kunetgeschichtl. Anschauungsunterrichts 

Tafeln, auf Pappe gezogen und lackiert, ferner die noch grösseren Blätter, die 
das Kaiserlich Deutsche Archäologische Institut in Berlin herausgiebt (Denkmal 
der Hegeso, Alexandersarkophag). Aber dabei beobachten wir, dafs der Schüler 
solche Gelegenheit zur Belehrung und Anschauung nur wenig benutzt: das 
Interesse ist noch nicht so rege, dafs er sieht, ohne dazu angeregt zu werden. 
Überhaupt wirkt ein Kunstwerk nach meinen Erfahrungen erst dann, wenn es 
dem Schüler in einem gewissen geistigen Zusammenhange mit anderen Dingen 
erscheint, und wenn die Erklärung des Lehrers, sei sie auch noch so zurück- 
haltend und bescheiden, hinzukommt. Demnach ist der rechte Ort für die 
Pflege der Anschauung der Klassenunterricht. Es empfiehlt sich aber 
gar nicht, Bilder oder Bücher im Unterrichte herumzugeben; diese werden 
beschmutzt, und es entsteht Unruhe. Deshalb verwenden wir seit einer Reihe 
von Jahren Anschauungskästen, 1 m hoch, 60 cm breit, 10 cm tief, aus 
Holz, inwendig weifs gestrichen, mit einer Glasthür verschlossen. In jeder 
Klasse hängt ein solcher Kasten, er kostet ungefähr 8 — 10 Mark, in der Nähe 
des Katheders, dafs der Lehrer leicht damit hantieren kann, aber natürlich so 
aufgemacht, dafs gutes Licht hineinfällt. 

In diese Kästen lassen sich illustrierte Bücher selbst grofsen Formats auf- 
geschlagen ohne Schwierigkeit hineinstellen, das Umblättern wird durch ein 
über den Blattrand gelegtes, rechts und links mit Kopierzwecken befestigtes 
Leinwandband vermieden. Auch Karten, einzelne Photographien, Statuetten, ja 
sogar Zinnsoldaten, um die Bewaffnung der römischen Krieger zu veranschau- 
lichen, lassen sich gut unterbringen. Es können auch zwei Lehrer den Kasten 
zu gleicher Zeit benutzen, denn er ist in halber Höhe durch ein bewegliches 
Brett geteilt. 

Der Einwurf, dafs die im Kasten ausgestellten Dinge den Schüler in 
anderen Lehrstunden zerstreuen, ist durch unsere Erfahrung widerlegt worden: 
nach dieser Richtung ist in den acht Jahren, seitdem ich diese Kästen in 
St. Afra benutze 1 ), nicht die geringste Klage laut geworden. Die Schüler be- 
trachten den Kasten bei Schlufs des Unterrichts, während der Lehrer seine 
Einträge macht. Gelegentlich läfst sich auch eine Repetition so abhalten, dafs 
man einen Schüler an den Kasten stellt und über die dort ausgestellten Gegen- 
stände reden läfst: dabei kommen nach meinen Erfahrungen recht hübsche 
kleine Sprechübungen und mitunter auch ganz annehmbare selbständige Urteile 
der Schüler zu Tage. Das ist namentlich der Fall in der Kunstgeschichte, wo 
das fortgesetzte Schauen von Kunstwerken verschiedener Epochen und ver- 
schiedener Richtungen, auch ohne dafs eine systematische Unterweisung erfolgt, 
unwillkürlich zu Vergleichungen auffordert. Ich entsinne mich z. B. mit Ver- 
gnügen einer halb geschichtlichen, halb kunstgeschichtlichen Repetition über 
einige hervorragende Persönlichkeiten der Weltgeschichte, die ich einst in Prima 
an die Zusammenstellung der bekanntesten Reiterstandbilder (Marc Aurel — 



*) Vorher habe ich Kästen ähnlicher Konstruktion am Kgl. Gymn. zu Dresden-N. be- 
nutzt, und zwar auf Anregung meines Kollegen, des Prof. Dr. Martin Lange. 



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O. E. Schmidt: Aus der Praxis des geschichtl. u. kunstgeschichtl. Anschauungsunterrichts 325 

Karl der Grofse — Barbarossa — Colleoni — der grofse Kurfürst — August 
der Starke — Friedrich der Grofse u. s. w.) anknüpfte. 

Ein besonderes Kapitel bildet die technische Vorbereitung der Photo- 
graphien für den Gebrauch in der Klasse und ihre Aufbewahrung. 
Früher liefsen wir die Photographien; damit sie nicht beschädigt würden und 
damit sie sich gut abhöben, jede auf eine grofse Tafel graublauen Kartons auf- 
ziehen. Aber dieses Verfahren hat doch mancherlei gegen sich: eine einzelne 
Tafel verschwindet leicht, die Ecken aber bestofsen sich. Deshalb fafsten wir 
12 — 25 stofflich dazu geeignete Bilder zu je einem Bande zusammen: so sind 
die oben erwähnten fünf Bände italienischer Photographien entstanden. Aber 
eine so angelegte Sammlung braucht viel Raum und ist auch nicht sehr leicht 
zu handhaben. Deshalb lassen wir neuerdings die Photographien nur noch auf 
feine Leinwand, und zwar ohne jeden Rand, aufziehen, so dafs sich die auf- 
gezogene Photographie nur durch gröfsere Festigkeit von der unaufgezogenen 
unterscheidet. Ein mit Leinwand überzogener Pappkasten von 10 cm Höhe 
beherbergt leicht 300 — 400 so behandelte Bilder. Damit sie sich nicht rollen, 
liegt zu oberst eine papierüberzogene Stahl- oder Messingplatte. Um diese 
Photographien in der Klasse auszustellen, bedarf man einer grofsen (grau über- 
zogenen) Papptafel, auf welche leinwandgefütterte Ecken so aufgeklebt sind, 
dafs man die Ecken der Photographien unter diese Ecken hineinschiebt. Die 
von mir verwendeten Papptafeln haben Platz für vier bis zwölf Photographien, 
je nach Bedürfnis, so dafs ich also auch leicht Gruppen, z. B. archaische 
Bildwerke, die Meisterwerke des Phidias, eine Gruppe von Alexandrinischer 
Kunst u. s. w. zusammenstellen kann. Die betreffende Papptafel, auf der jedes Bild 
vom anderen durch ein 5 — 10 cm breites Intervall getrennt, also wirksam um- 
rahmt erscheint, wird dann auf einem gewöhnlichen Stativ, wie es für Wand- 
tafeln gebraucht wird, in der Klasse ausgestellt. Wir besitzen auch Papptafeln 
mit Ecken für ganz grofse Photographien, sowie für Zusammenstellung von 
Gruppen aus dem 'Klassischen Skulpturenschatz' und aus dem 'Museum', so 
dafs ich auch sofort eine Holbein-Dürer-Raffael-Gruppe für den Unterricht zu- 
sammenstellen kann. Zur Aufbewahrung des ganzen Apparates, der natürlich 
allen Lehrern unserer Schule zur Verfügung steht, aber stets von mir persönlich 
gebrauchsfertig gemacht wird, dient ein besonders konstruierter Schrank, der 
oben die Bilderkästen, unten die oben besprochenen zur Ausstellung dienenden 
Papptafeln enthält, und zwar aufrecht stehend, jede von der anderen durch einen 
hölzernen Unterschied getrennt, so dafs also z. B. eine Phidias- oder Dürer- 
gruppe unter Umständen monatelang im Schranke aufbewahrt werden kann. 
Die Bilder sind darin vor Licht und Staub vollkommen geschützt. Ich kann 
wohl sagen, dafs sich dieser Apparat recht gut bewährt hat. Er wird durch 
Neuanschaffung von Photographien immer vermehrt. Aber einen Stillstand 
giebt es auf diesem Gebiete nicht; schon mufs man sein Augenmerk auf ein 
neues Unternehmen richten, das vielleicht eine grofse Zukunft haben wird: 
bereits ist das verbesserte Skioptikon in den Dienst der Kunstgeschichte 
gestellt worden durch Franz Stödtner: Antike Kunst in Lichtbildern (Institut 



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326 A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 

für wissenschaftliche Projektionsphotographie 1898, Berlin NW. 21, Bremer- 
strafse 56). Auf diesem Gebiete könnte sich die historische Wissenschaft mit 
der Naturwissenschaft, der Geschichtslehrer und Philologe mit dem Physiker 
zum edlen Bunde im Dienste des Schönen die Hand reichen — und wer weifs, 
was uns erst das 20. Jahrh. auf dem Gebiete der Technik des Anschauungs- 
unterrichtes bringen wird. 



IV 
IST ES AUFGABE DES GYMNASIUMS, DEN FRANZÖSISCHEN 

AUFSATZ ZU PFLEGEN? 

Von Albrecht Reum 

Für die Vertreter des französischen Unterrichts auf dem Gymnasium giebt 
es ein Gebiet, das mir vorkommt wie ein fruchtbares, gelobtes Land, das man 
uns nicht allerorten gönnt, das die Unseren einst besessen, aber im Bewufstsein 
ihrer unzulänglichen Ausrüstung wieder aufgegeben haben; das uns jedoch zu- 
kommt und zufällt, wenn wir nur den festen Willen zeigen, es wieder in Besitz 
zu nehmen und mit besseren Mitteln und Kräften zu schirmen, zu verwalten 
und auszubauen als unsere Vorgänger: ich meine den französischen Aufsatz. 

Noch vor wenig Jahren gebrach es vielen unter uns an dem zu diesem 
Unternehmen erforderlichen Mute. Gar mancher erblickte in diesem Streben, 
das in Wahrheit auf Früheres zurückgreift, eine zeitraubende, unfruchtbare 
Neuerung, die überdies mit den für uns geltenden UnterrichtBvorschriften nicht 
vereinbar wäre. Vielleicht ist es unter dem belebenden Einflüsse der mehr 
und mehr an Ansehen und Boden gewinnenden direkten Methode schon vielfach 
anders geworden. Jedenfalls ist es wünschenswert, dafs über diese wichtige 
Frage allseitig Klarheit herrscht, und darum will ich es wagen, sie noch einmal 
aufzurollen, trotzdem ich mich über denselben Stoff schon einmal (im Oster- 
programm des Vitzthumschen Gymnasiums zu Dresden vom Jahre 1896) aus- 
führlich geäufsert habe. Dort wie hier ist es mein Bemühen, alle, die diese 
Unterrichtsfrage angeht, von der Notwendigkeit zu überzeugen, dafs in unserem 
französischen Sprachunterrichte noch eine wichtige Änderung vorgehen mufs, 
wenn die leider zur Zeit noch mehr besprochene als wirklich durchgeführte 
Reform ihren fordernden und befruchtenden Einflufs auf Lehrende und Lernende 
wirklich ausüben soll. Ich kann mich als ein Anhänger der direkten Methode 
mit der vorherrschenden Stellung und dem alle anderen Übungen verdunkeln- 
den Ansehen der Übersetzung nicht einverstanden erklären; denn man er- 
wartet von dieser Übung mehr, als sie leisten kann, und gefährdet durch sie 
die Erreichung des uns neuerlich gesteckten Zieles mehr, als man ahnt. Da 
sie jedoch in hohem Grade geeignet ist, Urteil und Willen zu bilden und ge- 
wisse grammatische Dinge zu erläutern, soll sie nicht ganz verdrängt, wohl 
aber durch die Pflege des Aufsatzes etwas eingeschränkt und nach mehreren 
Seiten hin ergänzt werden. 



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A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 327 

Indem ich diese Forderung ausspreche, bin ich den streng gesinnten Re- 
formern gewifs zu bescheiden und den Anhängern der grammatisierenden 
Methode zu kühn; und dennoch scheint mir dieser Mittelweg der einzige zu 
sein, der zu einem schönen und der Schule würdigen Ziele führt. 

Da es nach den seit Jahren veranstalteten und gelungenen Versuchen 
(z. B. am Königlichen Gymnasium zu Leipzig) nicht mehr nötig ist, umständlich 
die Möglichkeit französischer Aufsatzübungen an unseren Gymnasien nach- 
zuweisen, soll hier auf diesen Punkt nicht eingegangen werden; übrigens 
brauchte man aus einer Möglichkeit noch keine Notwendigkeit zu folgern. Es 
soll vielmehr ohne Rücksicht auf einzelne Versuche erwogen werden: 

1. Welche Gründe sich für die Pflege des französischen Aufsatzes an 
deutschen Schulen, insbesondere an unseren Gymnasien, geltend machen lassen? 
2. Wie der Aufsatzunterricht zu gestalten wäre, damit die anderen vorgeschriebenen 
Übungen von ihm nicht über Gebühr beeinträchtigt, sondern womöglich durch 
ihn gefördert würden? und 3. Welche Bedenken der Gegner des Aufsatzes als 
unbegründet zurückgewiesen werden dürfen? 

c Man mag Zwecke und Mittel des Sprachunterrichtes definieren wie 
man will, der Wunsch, die Sprache gebrauchen zu lernen, drängt sich mit 
natürlicher Gewalt immer auf So läfst sich v. Sallwürk in seinen jüngst 
erschienenen *Fünf Kapiteln vom Erlernen fremder Sprachen* vernehmen. 
Wenn sich aber ein Wunsch gewaltsam aufdrängt, so läfst er sich auf die 
Dauer nicht abweisen; und wenn der Wunsch natürlich ist, so wäre es un- 
natürlich, seine Verwirklichung verhindern zu wollen. Natürlich aber ist der 
Wunsch, weil er das zum Zwecke der Gedanken vermittelung Geschaffene: die 
Sprache, seiner natürlichen Bestimmung gemäfs verwenden will und alles ge- 
waltsame Daranherumbiegen und -zwängen als dem Zwecke der Sprache fremd 
und der Sprachaneignung nicht förderlich verwirft. 

Die Sprache gebrauchen kann aber nur bedeuten: sie zur Vermittelung 
dessen brauchen, was der Redende oder Schreibende ausdrücken will, um seine 
Urteile, Ansichten und Anliegen, kurz, was in ihm vorgeht, anderen mitzuteilen. 

Mitteilungen erfolgen mündlich oder schriftlich. Es mufs an den Gebildeten 
die Forderung gestellt werden, dafs er zu beidem fähig ist, und an seine 
Bildungsstätte, dafs sie beides lehrt. Das thut sie aber nicht durch Übersetzen 
französischer Schriftsteller und Einprägen der Grammatik, nicht durch Vokabel- 
überhören und Übersetzenlassen allein, denn zum Französischschreiben aus 
sich heraus gehört die Beherrschung eines ansehnlichen und in sich zu- 
sammenhängenden Sprachstoffes und die Fertigkeit, mit diesem nach 
Mafsgabe des jeweiligen Zweckes und in den dem gebildeten Franzosen ge- 
läufigen Denk- und Redeformen frei umzuspringen. Nach dieser Seite hin 
bedarf daher unser Unterricht einer notwendigen Ergänzung. 

Zu dieser drängt zunächst das praktische Bedürfnis hin. Je lebhafter 
und enger sich der Verkehr der Kulturvölker gestaltet, desto weniger genügt 
eine oberflächliche Bekanntschaft mit ihren Sprachen. Die Möglichkeit, mit 
Franzosen in mündlichen oder schriftlichen Verkehr zu kommen, ist heute 



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328 A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 

zehnmal so grofs als vor zwanzig Jahren , und das wird sich stetig steigern; 
viele Geschäftsleute müssen sich der fremden Sprachen täglich bedienen, und 
selbst unsere Schüler sind in jüngster Zeit in einen lebhaften Briefverkehr 
mit gleichaltrigen Franzosen gebracht worden und empfinden dabei deutlich, 
woran es ihnen bei unserem bisherigen Unterricht noch gebricht. 

So dankenswert und forderlich auch dieses Unternehmen ist, so ist es doch 
geeignet, die Achtung der Schüler vor dem schulmäfsigen Sprachunterricht zu 
vermindern, wenn die Schule fortfährt, dabei die Rolle einer stummen 
Zuschauerin zu spielen, statt die ihr von Rechts wegen zukommende Rolle der 
Führerin und Lehrmeisterin zu übernehmen. 

Es ist über jeden Zweifel erhaben, dafs diese Einrichtung, die von dem 
*sich mit natürlicher Gewalt aufdrängenden Wunsche, die Sprache frei ge- 
brauchen zu lernen', lebendiges Zeugnis ablegt, durch eine methodische Ein- 
führung in den französischen Stil nicht nur für die Schüler nutzenbringender 
gemacht würde, die bisher zugelassen werden, sondern dafs auch noch viel mehr 
Schüler zugelassen werden könnten. 

Ferner ist die Pflege des Aufsatzes wegen der mit ihr zusammenhängenden 
und durch sie vermittelten Bereicherung des Wortschatzes geboten. 

Auch bei den neueren Unterrichtswerken, die ihre Musterstücke mit Rück- 
sicht auf das tägliche Leben gewählt haben, läfst sich die Beobachtung machen, 
dafs der dem Schüler vermittelte Wortschatz fürs Leben nicht ausreicht; sobald 
sich die Wirklichkeit mit dem im Buche festgehaltenen Bilde oder Vorgange 
nicht Punkt für Punkt deckt, machen sich empfindliche Lücken bemerkbar. Um 
nun zunächst einmal seinen Schülern den nötigsten, den ^eisernen Bestand' von 
Wörtern aus allen naheliegenden Gebieten vorzuführen und einzuprägen, wendet 
sich der Verfasser meist mit jedem Kapitel einem neuen Vorstellungskreise zu, 
und der Wortschatz des vorigen bleibt notgedrungen lückenhaft. 

Wollte man aber in jedem Kapitel alle Möglichkeiten erschöpfen und 
z. B. bei den Wettererscheinungen nicht einen bestimmten Tag ins Auge fassen, 
sondern alle Lufterscheinungen und Niederschläge, die möglicherweise im 
Laufe des ganzen Jahres eintreten können, besprechen, so entbehrt das gebotene 
Bild der Wahrheit und Wirklichkeit und somit seines gröfsten Reizes, und die 
Aufnahme neuer Wörter und Wendungen artet wieder in trockenes, geist- 
tötendes Vokabellernen aus, das doch nun einmal in seiner Unzulänglichkeit 
erkannt ist und daher in der alten Weise nicht mehr gepflegt werden <J&rf- 
Über diesen Mangel können keine äufserlich ansprechenden Formen wie Ge- 
spräche und Briefe hinwegtäuschen; solche Kapitel geben vor, ein Stück Leben 
zu sein, sind aber langweilige Aufzählungen von unverbundenen Phrasen. Wann 
also sollen und können die notwendigerweise bleibenden Lücken im Wortschatze 
ausgefüllt werden? Durch die Lektüre? Vielleicht, und bis zu einem geringen 
Grade gewifs. Doch mufs sie so betrieben werden, dafs sie auf die An- 
eignung des Gelesenen abzielt, nicht auf eine möglichst glatte Verdeutschung. 

Mehr als die Lektüre ist zur Aneignung der für den Gedankenausdruck 
nötigen Wörter der Aufsatzunterricht geeignet und daher auch berufen. 



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A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 329 

Zwischen der Vermittelung neuer Wörter beim Lesen und beim Niederschreiben 
seiner eigenen Gedanken herrscht ein bemerkenswerter Unterschied. Lesen 
wir die Schilderung eines Vorganges oder eines Bildes, so ziehen an unserem 
Geiste die sprachlichen Vorstellungen in sehr verschiedengradiger Deutlichkeit 
und in mehr oder minder grofser Ferne flüchtig vorüber; wir sind im wesent- 
lichen Zuschauer; schreiben wir aber einen Vorgang oder die Schilderung 
eines Bildes selbst nieder, so suchen wir ein innerlich erschautes Bild in Worten 
festzuhalten, auszumalen und auszuprägen, um es anderen mitzuteilen; wir sind 
nicht stille Zuschauer, sondern Erzähler, Redner, kurz Vortragende, die sich 
mitteilen, die fesseln, die wirken wollen. Beim Schreiben sind unsere Vor- 
stellungen bewufster und lebhafter; Ding und Wort verschmelzen in der gröfseren 
Glut der Begeisterung für unseren Gegenstand auch inniger miteinander, und 
aufserdem liegt in dem Suchen des geeignetsten Ausdruckes eine kräftigere 
geistige Thätigkeit als darin, dafs die sprachliche Anschauung durch ein gelesenes 
Wort geweckt wird. Das durch eigene Denkthätigkeit herbeigewünschte und 
dann wirklich herbeigeschaffte Wort für den uns vorschwebenden Begriff ist 
Ziel und Abschlufs einer Gedankenverknüpfung, die uns lebhaft anregt und 
unsere geistige Aufnahmefähigkeit steigert. Fehlt uns aber ein Wort für einen 
uns vorschwebenden Begriff, und erhalten wir dies Wort gerade in dem Augen- 
blicke, da wir es suchen, in richtiger Aussprache und richtiger Verbindung mit- 
geteilt, so sind wir sicher, es so leicht nicht wieder zu verlieren. Und in dieser 
beneidenswerten Lage befände sich der Schüler bei dem von mir gedachten 
Aufsatzunterrichte. Das aufgewühlte Gedächtnis nimmt es auf, wie die frisch 
gezogene Furche das Saatkorn. Und versteht es der Lehrer, das Wort durch 
Anspielung auf stammverwandte und bekannte Wörter gleich zu erklären und 
dem Schüler vertraut zu machen, so ist das Erlernen noch sicherer und geradezu 
genufsreich. Bei diesen Gelegenheiten hat es Sinn und Nutzen, wenn auch in 
elementarem Sinne, auf Etymologie einzugehen; mit Spannung und Gewinn 
werden die Lernenden lauschen, während derartige Bemerkungen beim Lesen 
und Übersetzen gröfstenteils über die Köpfe unserer Schüler hin wegfliegen, da 
ihre Gedanken auf anderes, auf die Übersetzung gerichtet sind. 

Mit dieser unser Wissen erweiternden und vertiefenden Wirkung stilistischer 
Aufgaben hängt zusammen, was ich an dritter Stelle als praktischen Nutzen 
des Aufsatzunterrichtes bezeichnen möchte: ich meine die Erleichterung des 
Verständnisses der gesprochenen Sprache. 

Wir, die wir aus der alten Schule stammen und im Auslande unsere Er- 
fahrungen gesammelt haben, sind lebendige Zeugen dafür, dafs man sieben 
Jahre Vokabeln lernen, ganze Bände übersetzen und in die grammatischen 
Gesetze eingeweiht werden kann, ohne dadurch die Fähigkeit zu erwerben, sich 
in französischer Umgebung leidlich verständlich zu machen oder Franzosen 
leidlich zu verstehen. Wer von uns möchte sich noch einmal so mitleidig be- 
trachten lassen, wer möchte noch einmal das Gefühl tiefer Beschämung und 
Ratlosigkeit durchkosten, was wir seinerzeit im Auslande empfunden haben? 
Und nun erst die qualvollen Stunden im Theater! Wo alles genofs und lauschte 



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330 A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 

und lachte, safsen wir im Innersten unzufrieden und geknickt da, versuchten 
durch ein erkünsteltes — unwillkürlich halb schmerzliches — Lächeln zu ver- 
bergen, dafs wir nicht wufsten, welche geistreiche Anspielung die Lachmuskeln 
unserer Umgebung reizte, und lasen von Stund an fleifsig die Stücke daheim, 
die wir später sehen wollten. Verstanden wir dann besser, so bildeten wir 
uns ein, wir hätten Fortschritte gemacht. Im Grunde täuschten wir uns, denn 
was wir nun vom Gang der Handlung verstanden, waren Erinnerungsvorstell- 
ungen der uns durch das Lesen vermittelten Bilder; die gesprochene Sprache 
rauschte vor wie nach wirkungslos an unserem Ohr vorüber, nur einzelne 
Wörter und Sätze ragten wie verstreute Inseln aus dem Meere der unver- 
standenen Klänge empor. 

Wie erklärt sich diese Hilflosigkeit? 

Sallwürk äufsert sich folgendermafsen über diesen Punkt: f Hättest Du 
auch die sprachlichen Vorstellungen in Dir vollziehen können, die den 
Worten des Schauspielers zu Grunde gelegen haben, so hätte Deinem Ver- 
ständnisse gar nichts gefehlt/ Nur wenn wir das, was der andere spricht, 
* innerlich mitsprechen' können, indem wir die sprachlichen Anschauungen, 
auf denen seine Rede beruht, auch in uns wecken, vermögen wir ihn zu ver- 
stehen, wie wir unsere Landsleute verstehen. * Würden wir die nämlichen 
sprachlichen Anschauungen, aus denen seine Rede fliefst, auch in uns lebendig 
machen können, so würden wir an seinem schnellen Reden, das wir uns meist 
nur einbilden, kein Hindernis für unser Verständnis finden: Wer so mit einem 
Fremden spricht, denkt, wie der landläufige Ausdruck lautet, in der fremden 
Sprache/ 

Schulen wir bei unserem Unterrichte das nicht, so arbeiten wir nahezu 
umsonst. Und glauben wir, dafs die bisher üblichen Übungen heute mehr 
Wunder thun, als sie einst an uns gethan haben, so befinden wir uns im 
Irrtum. Wir müssen auf Übungen sinnen, die den Schüler nicht jede Minute 
aus der fremden Sprache herausreifsen, sondern die ihn vielmehr immer 
mehr in die fremde Sprache, in ihre Anschauungen und Denkformen hinein- 
ziehen! Ich werde weiter unten zu erörtern haben, welcher Art diese sein 
können. Mehr oder minder lassen sich alle Übungen unter diesem Gesichts- 
punkte anstellen. Keine Übung aber erfüllt diese Forderung so umfassend als 
der Aufsatz. Denn wenn wir mitsprechen lernen sollen, was ein Franzose 
spricht oder recitiert, so müssen wir uns zunächst ausdrücken lernen wie er, 
zum mindesten in derselben Weise wie er. Da nun seine sprachlichen An- 
schauungen, oder, wie sie Steinthal nennt: *die innere Wortform' durch die 
Bilder der Aufsenwelt und durch seine Empfindungen unmittelbar geweckt 
werden, so müssen wir gleichfalls lernen, an die Aufsenwelt und an unsere 
Empfindungen die französischen sprachlichen Anschauungen unmittelbar an- 
zuknüpfen, ohne uns durch die anders gearteten deutschen hindurchzuarbeiten; 
sonst wird der Franzose uns im Tempo stets voraus sein, während zum inner- 
lichen Mitsprechen gleiches Tempo erforderlich ist. 

Da aber der mündliche Gedankenausdruck wie in der Muttersprache so 



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A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 331 

auch in der fremden Sprache am besten durch den schriftlichen geschult 
und gefördert wird, so weist uns auch diese gewifs sehr schwer wiegende 
Rücksicht mit allem Nachdruck auf die Pflege des französischen Aufsatzes hin. 
Erfahrungsgemäfs darf ich hinzufügen, dafs ich erst besseres und müheloseres 
Verstehen der Franzosen erreicht habe, seitdem ich mich gewöhnt habe, soviel 
als möglich französisch zu schreiben. Und jeder wird auf Grund seiner per- 
sönlichen Erfahrungen dasselbe bestätigen. Es ist aber recht und billig, dafs 
diese Beobachtungen der jetzt lernenden Jugend zu gute kommen; ja, es wäre 
grausam, sie auf demselben beschwerlichen und nicht zum lohnenden Ziele 
führenden Weg weiter drangen zu wollen, nur weil wir ihn einst gegangen sind. 

Man hat den Vertretern der Reform vorgeworfen, dafs sie Männer der 
reinen, nüchternen Praxis seien, und dafs ihr Streben des idealen Zuges ent- 
behre. Ich darf daher auch nachdrücklich auf die idealen Gründe hinweisen, 
die sich für die Pflege des Aufsatzes geltend machen lassen. 

Ist auch das Hauptziel aller Sprachstudien das Verstehen der fremden 
Sprache, so ist es doch nicht das einzige Ziel. Der deutsche Unterricht be- 
schrankt sich selbst in der kleinsten Dorfschule nicht darauf, die Schüler 
ihre Muttersprache nur verstehen zu lehren, sondern er leitet sie zur Re- 
produktion von Vorstellungsreihen in zusammenhängender Darstellung an. Sie 
sollen sich in ihr bethätigen. Diese Stilübungen wenden sich von der wirk- 
lichen Welt allmählich höheren Vorstellungen zu und bereiten so systematisch 
das Verständnis eines höheren, eines dichterischen Gedankenfluges vor. Erkennt 
man aber dem schlichten Bauernknaben das Anrecht auf solch einen Unterricht 
in seiner Muttersprache zu, in der er acht Jahre unterwiesen wird, so sehe ich 
nicht ein, warum man es dem viel besser vorbereiteten und geistig höher stehenden 
Gymnasiasten, der auch nahezu acht Jahre französisch studiert, versagen will. 

Wie kann man übrigens der Jugend vor den Werken der grofsen Denker 
und Dichter eine bessere Achtung einflöfsen, als indem man sie anleitet, sich an 
ihren Mustern zu bilden? Kann man den Sinn für Litteraturwerke besser pflegen, 
als durch die Anregung zu eigenem Schaffen? Wer wird eine Dichtung, eine 
Symphonie, ein Gemälde mit mehr Verständnis und Genufs hören oder schauen, 
der einigermafsen mit der Technik Vertraute oder der gänzlich Unkundige? 
Darum, meine ich, ist die Pflege des Aufsatzes unter Umständen auch der 
Schlüssel zu der Pforte, hinter der die dichterischen Schätze einer Nation ver- 
borgen liegen. Hat der deutsche Schüler auch einmal versucht, ein schönes 
Bild oder einen packenden Vorgang, wenn auch in engem Rahmen, in fran- 
zösischer Form und nach französischer Auffassung darzustellen, so liest er die 
dichterischen Schilderungen der französischen Schriftsteller mit weit gröfserem 
Genüsse, mindestens mit besserem Verständnisse; und das ist ohne Frage ein 
schöner Gewinn. 

Ist es dem mit griechischen, lateinischen und französischen Übersetzungen 
geplagten jungen Manne nicht herzlich zu gönnen, wenigstens in einer Sprache 
zuweilen .ein paar Seiten schreiben zu dürfen, deren Text nicht eigensinniger 
Formen und Konstruktionen wegen zu seiner Qual ersonnen ist? Übersetzen 



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332 A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 

ist, zumal bei dem Unbegabten, eine Mosaikarbeit; die einzelnen Wörter werden 
gesucht und eingepafst wie die Steinchen ins Mosaikbild. Leider verliert bei 
dieser Arbeit der Übersetzer häufig den Überblick, und aus den verrenkten 
Sätzen spricht oft ein schiefer oder verstümmelter Sinn. Dieser ist jedoch dem 
Schüler gleichgültig; denn was er übersetzt, berührt ihn wenig; er fühlt sich 
als Handwerker, der nur zu arbeiten, nicht zu denken braucht. Wie viele 
Male habe ich mich davon überzeugt, dafs der Sinn des Übersetzten dem 
Übersetzer oft gar nicht zum Bewufstsein kommt I Diese handwerksmäßige 
Arbeit schläfert den durch den grammatischen Unterricht reichlich ermüdeten 
Schüler vollends ein; es wäre ein gutes Werk, den abgetriebenen Geist von 
Zeit zu Zeit aufzufrischen, damit er nicht verlernt, sich selbst zu regen, selbst 
Gedanken hervorzubringen und diese in eine selbstgefundene Form zu giefsen. 
Es ist nicht genug, dafs er lerne handwerksmäfsig mit der Sprache um- 
zugehen, sondern er lerne es auch künstlerisch. 

So bin ich denn der Ansicht, dafs jeder, der es mit der uns anvertrauten 
Jugend wohl meint, aus praktischen wie idealen Gründen die Pflege des 
französischen Aufsatzes auch am Gymnasium wünschen mufs. Und daher 
wende ich mich der zweiten Frage zu: Durch welche Mittel läfst sich 
dieses Ziel erreichen? 

Bei der grammatischen Methode läuft alles auf einen Vergleich der 
fremden Sprache mit der Muttersprache hinaus. Beim Vokabellernen nach 
der alten Methode wird der Schüler geübt, für das deutsche Wort rasch das 
französische einzusetzen und umgekehrt, beim grammatischen Unterrichte, 
die Formen und Satzbilder beider Sprachen nebeneinander zu halten und durch 
den Vergleich urteilen zu lernen; bei der Lektüre und bei allen schrift- 
lichen Übungen Sätze oder Satzreihen von einer in die andere Sprache zu 
übertragen. Immer also wird der Schüler nachdrücklich auf einen Vergleich 
von einzelnen Wörtern, Wortformen oder einzelnen Sätzen hingewiesen, und 
durch dieses Vergleichen hofft man, werde die neue Sprache gelernt, ob- 
wohl man doch nur folgerichtig erwarten sollte, dafs der Schüler zwei Sprachen 
vergleichen lernt. Gewifs wird ja dadurch eine gewisse Bekanntschaft mit 
oft wiederkehrenden Wörtern und Wendungen erreicht, aber eine Herrschaft 
über die fremde Sprache keinesfalls. Ist nun diese ungeniefsbare Frucht so 
vielen Schweifses wirklich wert, und hätte nicht ganz anderes erreicht werden 
können, wenn man nicht jeden Augenblick diese Parallelen gezogen hätte? 
Läfst es sich denn nicht jedem Kinde begreiflich machen, dafs ein Wanderer 
weiterkommt, wenn er auf einer Strafse munter weiterschreitet, als wenn er 
zugleich auf zweien wandeln will und jeden Fortschritt auf der einen Strafse 
auf der gleichlaufenden anderen wiederholt? 

Die grofsen Mängel dieses Unterrichtes sind oft genug hervorgehoben 
worden, z. B.: 

1) Das Auftauchen des französischen Wortbegriffes nur mit Hilfe des 
deutschen Wortes: so erklärt sich die Unfähigkeit der so unterrichteten Schüler, 
französisch zu sprechen. 



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A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 333 

2) Auftauchen des deutschen Wortes statt der französischen sprachlichen 
Anschauung: so erklärt sich die Unfähigkeit, gesprochenes Französisch un- 
mittelbar zu verstehen. 

3) Die Gewohnheit, ganze Sätze erst deutsch zu denken, diese nach 
schwierigen Regeln französisch umzudenken und dann zu übersetzen, wobei 
Germanismen und Gallicismen zu groben Fehlern verleiten. 

Aufserdem hat ein so unterrichteter Schüler nur Beispielsätze zu Regeln 
übersetzt und wagt nicht, einen schlichten Satz auszusprechen, weil er ganz 
anders aussieht als die, mit denen er sonst seine Plage hatte. 

Hieraus geht hervor, dafs Schüler, die ausschließlich auf den Vergleich 
beider Sprachen abgerichtet sind, unüberwindliche Schwierigkeiten beim freien 
Gebrauch der fremden Sprache haben müssen. Und ich verstehe vollkommen, 
wie meine Vorschläge an Schulen, wo die grammatisierende Methode herrscht, 
Kopfschütteln hervorrufen. Meine Ansicht und Absicht ist es nun auch gar 
nicht, dafs man an solchen Anstalten schon jetzt Aufsätze liefern lassen sollte, 
wohl aber, dafs man einen Weg endlich verlassen müfste, der so wenig weit 
ins fremde Sprachgebiet hineinführt und unsere Schüler nicht befähigt, eine 
gesprochene fremde Sprache jemals zur Trägerin ihrer eigenen Gedanken zu 
machen. 

Will man dieses Ziel erreichen, so mufs man den gesamten Sprachunter- 
richt anders anfassen, auf einem anderen Grundsatze aufbauen und Mittel und 
Wege finden, alle Wörter, Sprach- und Stileigentümlichkeiten des Französischen 
möglichst oder ganz ohne Zuhilfenahme des Deutschen zu lehren. Handelte 
es sich bei der Übersetzungsmethode darum, auf Schritt und Tritt aufs Deutsche 
zu verweisen, so mufs es die neue Unterrichtskunst lernen, ohne das 
Deutsche auszukommen und den Geist des Schülers mittels französischer 
Gedanken zur Hervorbringung neuer Denkprozesse anzuregen. Der Unterricht 
mufs unmittelbar ins Französische einfuhren, zum Denken in der fremden 
Sprache anleiten und zum unverfälscht französischen Gedankenausdrucke er- 
ziehen. Es mufs also nicht weniger als alles einer Reform unterzogen werden: 
Aneignung der französischen Wörter, Behandlung der Lektüre, Behandlung der 
Grammatik und der schriftlichen Übungen. Diese Übungen alle müssen weniger 
der Vermittelung einer Bekanntschaft mit der fremden Sprache, als vielmehr 
ihrer Aneignung dienstbar gemacht werden. Der Schüler soll nicht mehr 
zwei Sprachen vergleichen, sondern beide unabhängig voneinander gebrauchen 
lernen. Das scheint mir das Wesentliche an allen Reformbestrebungen zu sein. 
Diesem Ziele strebt man zu, wenn man nach der Anschauungsmethode 
unterrichtet; denn sie lehrt die neuen Wörter unmittelbar an die Vorstellung, 
nicht an das deutsche Wort knüpfen. Aber damit hat man erst den ersten 
Schritt gethan. Die überraschenden Erfolge dieses Verfahrens bürgen für seine 
Zweckmässigkeit und Richtigkeit und laden zum Weiterschreiten nach dieser 
Richtung hin ein. Mit einem auf empirischem Wege gewonnenen Wortschatze 
sollte aber nach zwei Richtungen hin weiter gearbeitet werden: einerseits 
müfste er beweglich erhalten werden und zum Ausdruck selbsterzeugter 



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334 A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 

Gedanken dienen lernen, anderseits müfste er vermöge der Wortableitung 
stetig erweitert werden. 

Es ist die Aufgabe des neuen, zeitgemäfsen Unterrichtes, die Verknüpfung 
der erlernten französischen Wörter untereinander zu festigen und zu verviel- 
fachen, damit einem, sobald man französisch sprechen oder schreiben will, das 
rechte französische Wort einfällt und nicht das deutsche! Wie das Wörter- 
lernen, so hat auch das Wörterüberhören folglich nicht mehr in der alten 
Weise zu geschehen, sondern so, dafs die neu erlernten Wörter vom Lehrer 
genannt und von den Schülern in Sätzen angewendet werden. So tauchen 
zunächst die Wortverbindungen im Gedächtnisse der Schüler auf, in denen das 
Wort zuerst vorgekommen ist. Das ist natürlich, aber gerade das ist auch 
wichtig; denn eben diese Wortverbindungen und die Summe der damit ver- 
knüpften Vorstellungen sind die unsichtbaren Fäden, an denen die Bedeutung 
festgehalten wird. Bei Worten mit engem Bedeutungskreis gebe man sich mit 
der Wiederholung des Satzes aus dem durchgearbeiteten Texte zufrieden, bei 
viel verwendbaren lasse man die Schüler in reicherer Zahl Sätze bilden. Die 
von den Schülern ausgesprochenen Sätze stellen anfänglich bescheidene, all- 
mählich immer wertvollere Gedanken dar, die desto wortreicher und flüssiger 
werden, je mehr Stoff verarbeitet wird. 

Auf diese Weise fällt beim Wörterüberhören kein deutsches Wort, und 
auf den Befehl hin: Employez le cerisier dans une phrase quelconque! ent- 
spinnt sich ein reger Wettstreit, denn jeder will seine Weisheit an den Mann 
bringen. 

Der eine sagt: Le cerisier est un arbre fruitier. 

Der zweite: Le cerisier que voici est en fleurs. 

Der dritte: En hiver, le cerisier est d^pouilh? de fleurs et de feuilles. 

Der vierte: J'aime beaucoup les cerisiers, ils nous donnent des fruits 
savoureux. 

Gewöhnlich lasse ich zu jedem Worte nur drei Sätze bilden, um durch- 
zukommen. Ist ein Wort besonders leicht verwendbar und geeignet, alle mög- 
lichen Stoffe zu verarbeiten, so benutze ich es zu einer schriftlichen Übung, 
z. B.: Employez s'amuser ä faire qch. en formant de belies phrases bien 
interessantes, bien longues! 

Und nun folgen die Andeutungen. Parlez des abeilles* ! Ich will einige 
Antworten aus den Heften meiner Schüler nebeneinander halten. 

Der eine schreibt: En ete, les abeilles s'amusent ä voler de fleur en fleur 
pour ramasser le miel, que nous aimons tous. 

Der andere: Les abeilles, r6veiU6es dfes Faurore, s'amusent ä visiter toutes 
les fleurs du cerisier. 

Der dritte: L'abeille, industrieuse et joyeuse, s'amuse ä butiner toutes les 
fleurs du jardin en bourdonnant du matin au soir. 

Dabei verwenden alle nur Bausteine, die ihnen der Lehrgang geliefert 
hat; sie setzen sie nach den ihnen eingeprägten grundlegenden Stilregeln zu 
neuen Sätzen zusammen. 



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A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 335 

Nun folgen neue Anweisungen, z. B.: Parlez des 'touristes', et employez la 
tournure: c gravir des montagnes', u. s. f. 

Die andere Aufgabe, die sich an die Aneignung von Wörtern knüpft, ist, 
was Carre* so kräftig betont, sie mit ihren Gegenteilen, mit sinnverwandten 
oder abgeleiteten Ausdrücken zusammenzustellen und dadurch den Geist an- 
zuregen, vermittelst der einen fremdsprachlichen Vorstellung eine neue zu 
wecken. So lassen sich mit der gröfsten Leichtigkeit und immer in anregender 
Weise ganze Massen neuer Wörter lehren, ohne die Muttersprache heranzuziehen, 
oft so, dafs der Schüler das neue Wort selbst findet. 

Wenn z. B. die Verben chanter, jouer, nager, plonger, danser, sauter, 
marcher, bScher, travailler, manger, parier, chasser, rfoiter dagewesen sind, und 
aufserdem das Substantiv le chasseur, und man fragt: Que fait le chanteur? 
le joueur? le nageur? u. s. w., so erhält man ohne Schwierigkeit die Antworten: 
II chante, il joue, il nage, u. s. f. 

Will man den Schüler zum Selbstfinden anregen, frage man weiter: Qui 
est-ce qui marche? Qui est-ce qui travaille? Qui est-ce qui parle beaucoup? 
So wird man die Antworten erhalten: le marcheur, le travailleur, le parleur. 

Will man sein Denken anregen und ihn zum Erklären anhalten, so frage 

man: Comment appelez-vous un homme qui chante bien et beaucoup? 

un homme qui joue beaucoup? und umgekehrt: Qu'est-ce qu'un chanteur, 
qu'est-ce qu'un joueur, qu'est-ce qu'un r^citateur? u. s. f. 

Ahnlich verfährt man mit den Ableitungen auf -ier, -iste, indem man teils 
giebt, teils fordert. So hält der Schüler leicht an chapeau : chapelier fest, an 
gant : gantier, an papier : papetier; an vitre : vitrier; an lampe : lampiste, an 
dent : dentiste, u. s. w. 

Ebenso verhält es sich mit admirer : admirable, respect : respectable, 
aimer : aimable; — peur : peureux; majeste* : majestueux; montagne : montagneux; 
pierre : pierreux; poisson : poissonneux. 

Diese neu erworbenen Wörter läfst man dann natürlich reichlich in Sätzen 
anwenden. 

Zu solchen Erweiterungen des Wortschatzes führen ferner einfach gehaltene 
Definitionen, indem man dem Gattungsbegriff noch mehrere Arten unterordnen 
läfst, zumal wenn die hierbei herangezogenen Wörter die gleiche Bildung auf- 
weisen. 

Ist agneau erklärt mit: le petit d'une brebis, so findet der Schüler 
leicht die Erklärung für perdreau, pigeonneau, lapereau, lionceau, renardeau, 
louveteau, vorausgesetzt, dafs perdrix, pigeon, lapin, lion, renard und loup bereits 
dagewesen sind. 

Ist la chevre erklärt mit: la femelle du bouc, so findet der Schüler 
leicht die Erklärung für la lionne, la chienne, la tigresse, Pänesse, la chatte, 
la dinde, u. s. f. 

Hat er für le bateau ä vapeur die Definition erhalten: C'est un navire 
pousse par une machine ä vapeur, so giebt er leicht selbst danach die De- 
finition von bateau ä voiles, bateau ä rames, moulin ä eau, moulin ä vent, 



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336 A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 

moulin ä vapeur, moulin ä cafe, und einer grofsen Zahl der mit ä gebildeten 
zusammengesetzten Wortbegriffe. 

Ich bin überzeugt, dafs man auf diesem Wege das sogenannte Tranzösisch- 
denken' in seinen Anfängen geradezu lehren kann. Die II. Auflage meiner 
Vorstufe enthält noch andere Beispiele für diese Art Erweiterung des Wort- 
schatzes. 

Die Behandlung der Lektüre wird gleichfalls mit dem neuen Zwecke 
eine andere. Ich denke hierbei vorzugsweise an erzählende und beschreibende 
Prosa. 

Das Präparieren des Textes kann unterbleiben, es sei denn, es erfolgt so, 
wie es dem neuen Zwecke dient. Danach wäre keine Verdeutschung des 
fremden Wortes einzutragen, sondern eine französische Begriffsbestimmung. 
(Hierzu empfiehlt sich das bei Armand Colin erschienene treffliche und billige 
Wörterbuch von Gazier.) Doch soll dem Schüler dadurch nichts geschenkt 
werden, nein, seine Mitarbeit in und nach der Stunde soll nur um so reger 
werden. Der Schüler hat zunächst die Wörter in dem von ihm gelesenen 
Abschnitte zu bezeichnen, die ihm unbekannt sind. Der Lehrer, der natürlich 
wohl vorbereitet sein mufs, giebt ihm eine kurze Worterklärung oder regt die 
besseren der Klasse dazu an. (Schon im ersten Jahre erwerben die Schüler im 
Definieren eine gewisse Fertigkeit, wenn sie, wie ich es in den letzten beiden 
Jahren gethan habe, dazu angeleitet werden.) In jeder Stunde werden etwa 
zehn Definitionen in das sogenannte Präparationsheft eingetragen. Diese Be- 
griffsbestimmungen sind für die folgende Stunde einzuprägen. Ist die Stelle 
schwierig, so mufs sie übersetzt werden, jedenfalls wird sie nachher, und leichte 
Stellen ohne vorherige Übersetzung, von dem Schüler bei geschlossenem Buche 
nacherzählt. Als häusliche Arbeit gebe man das Nacherzählen des ganzen 
in einer Stunde gelesenen Abschnittes auf, was dann in der nächsten Stunde 
den gewünschten Zusammenhang herstellt. Dabei ist der Lehrer nicht in Ver- 
legenheit, wie er die vorgeschriebenen Sprechübungen beschaffen soll, ausserdem 
kann er seine Kräfte schonen und zwingt doch seine Schüler zu einer entschieden 
fordernden Übung. Ich habe beobachtet — und es liegt auf der Hand, dafs es 
nicht anders sein kann — dafs die Schüler so viel bedächtiger und aufmerk- 
samer lesen und sich bemühen, den Inhalt wirklich zu einer inneren Vorstellung 
lebendig zu machen, was beim Übersetzen oft nicht geschieht, wenigstens erst 
durch die Verdeutschung, und somit in einer das französische Können nicht 
fordernden Weise. Es ist einleuchtend, dafs ein so geleiteter Unterricht in der 
Lektüre dem französischen Sprachschatze fortwährend neue Nahrung zuführt und 
die Gewandtheit im mündlichen Gedankenausdrucke fördert, während das vordem 
ausschliefslich geübte Übersetzen dem Schüler keine neuen französischen Wörter 
zuführte und nur dem Gedankenausdruck im Deutschen diente. Soll diese 
Fertigkeit geübt werden, so pflege man sie in den deutschen Stunden und gebe 
als Aufsatz zuweilen eine gut deutsche Übersetzung fremdsprachlicher Lesestoffe. 
Die wenigen uns gewährten Unterrichtsstunden aber seien in ihrem vollen Um- 
fange der Aneignung des Französischen gewidmet! 



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A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 337 

Wie verlangt ferner die Reform die Behandlung der Grammatik, die bisher 
ja vor allem von dem Prinzip der Sprachvergleichung beherrscht war? 

Was ist der Zweck jeglichen Schulunterrichtes in Grammatik? Doch wohl 
der, den Schüler bei Feststellung der Richtigkeit von Wort- und Satzformen 
zu unterstützen. Ihr kommt die Rolle einer Beraterin zu, die ihm oft zu 
sagen Gelegenheit hat: c Ja, im Französischen ist das eben anders als in 
deiner Muttersprache. Mache dich von ihr los, sonst vermagst du dir die echt 
französische Ausdrucksweise nicht zu eigen zu machen. 9 

Trotzdem wird behauptet, dafs die Hauptaufgabe des grammatischen Unter- 
richtes sei, die zu lernende Sprache mit der eigenen zu vergleichen. Erst da- 
durch erreiche man die gewünschte grammatische Schulung und die Fähigkeit, 
grammatisch richtig zu denken. 

Ich bestreite das. Ich brauche keine deutsche Grammatik, um französische 
zu lehren, und keine französische, um deutsche zu lehren. 

Was ist die Frucht der Nebeneinanderstellung von Fällen abweichenden 
Sprachgebrauchs? — Verwechselung und Unsicherheit. Ist gegen sie 
wahrlich noch nicht lange genug erfolglos gekämpft worden? 

Darum halte ich es für wichtiger und richtiger, die Gesetze der französi- 
schen Grammatik für sich zu lehren und zwar nur an französischen Beispielen. 

Ist das möglich? — Ganz bestimmt. Die grammatische Erkenntnis baut 
sich ja immer auf der Beobachtung gleicher oder ähnlicher Fälle auf. Sie 
mufs ja also immer vom Französischen ausgehen. Sodann leitet die Grammatik 
aus den beobachteten Erscheinungen die Regel ab, und Aufgabe des Schülers 
ist es, diese in ähnlichen Sätzen anzuwenden. Führt man dem Schüler anfangs 
die zu Beispielen geeigneten Stoffe zu, um die Zeit möglichst auszunützen, so 
wird er später leicht aus der Lektüre selbst Beispiele zu Regeln bilden lernen. 
Das ist alles so einfach, dafs man schon im ersten Jahre so verfahren kann 
und deshalb so verfahren sollte. Ich habe daher in der II. Auflage meiner 
Vorstufe diesen Weg eingeschlagen und habe nie gefunden, dafs ich meinen 
Quartanern zu viel zugemutet hätte. 

Indem ich eine Reihe fertiger oder nur angedeuteter Sätze nebeneinander 
stelle, bei denen bald das Adjektiv nach dem Geschlecht oder Numerus ver- 
ändert, bald der article partitif angewendet, bald Präpositionen, bald Verben, 
bald Pronomina einzusetzen sind, gewöhne ich den Schüler an das Bilden von 
Sätzen nach kurzen Andeutungen. Stöfst uns nun im Text später eine auf- 
fällige Wortverbindung auf, so genügt gleichfalls oft nur ein Wort, um den 
Schüler zu veranlassen, in einem selbst gebildeten, glatt französischen Satze 
die betreffende Eigentümlichkeit nachzubilden. Auf diese Weise übe ich schon 
im ersten Jahre wichtige Sachen aus der Lehre vom Infinitiv, z. B. apprendre 
ä faire qch., savoir faire qch., aller (venir), voir, entendre faire qch., se mettre 
ä faire qch., s'amuser ä faire qch., die Umschreibung der im Französischen 
fehlenden Causativa durch faire und inf.: faire voler, faire entendre, faire 
boire, faire aller, die Lehre von der Anwendung des Particips in verkürzten 
Sätzen, auch Stilistisches: die dem Franzosen so geläufigen attributiven 

Neue Jafarbaeher. 1899. n 22 



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338 A. Benin: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 

Relativsätze, wo wir im Deutschen ein particip. praesentis anwenden; und dies 
alles, ohne auf das Deutsche einzugehen; denn auch diese grammatischen Dinge 
wollen empirisch eingeprägt, nicht logisch begründet sein; vieles läfst sich ja 
im Sprachgebrauch überhaupt nicht begründen, am wenigsten durch die Logik. 
Denn es giebt doch nur eine Logik, aber jede Sprache hat ihre besondere, 
d. h. also Verstöfse gegen die allgemeine Logik; und da sich solche Dinge nur 
durch den Gebrauch aneignen lassen, ist es richtig, zu einem recht häufigen 
Gebrauchen anzuregen, ohne immerfort die Hindernisse zu zeigen, über die der 
Schüler stolpern kann, oder ihm gar durch das Deutsche fortwährend Steine 
des Anstofses in den Weg zu legen. 

Ob die Regel deutsch oder französisch gegeben wird, ist ziemlich gleich- 
gültig. Werden wir im inneren Ausbau der neuen Methode noch weiter sein, 
so wird man, glaube ich, der französischen Regel den Vorzug geben. Für den 
Anfang genügt die deutsche. Das Wesentliche aber ist, dafs nicht übersetzt 
und doch etwas verstanden wird. Wie viele Fehler fallen da ganz von selbst 
weg! Die leidigen Verwechselungen der Geschlechter, die Vertöfse gegen den 
Gebrauch des Artikels, die üblichen Verwechselungen von ses und leurs, die 
fehlerhafte Anwendung des Hilfszeitwortes avoir bei den verbes reflechis, die 
falschen Konjunktive in der abhängigen Rede, die unfranzösischen Konstruktionen 
und noch vieles mehr, wozu das Übersetzen fortwährend verleitet. Wie klein 
erscheint alsdann der in jedem Jahre zu verarbeitende grammatische Stoff! 
Weil die Aufmerksamkeit jedesmal nur auf einen Punkt gelenkt wird, wird 
dieser natürlich besser verstanden, und es werden weniger Fehler gemacht. 
Vor allem aber kann sich das Sprachgefühl bilden, das uns allmählich zur 
unbewufsten Befolgung der Regeln anhält. Dies ist die edelste Frucht des so 
erteilten grammatischen Unterrichtes und gelangt eher zur Reife, als man nach 
den bisherigen Erfahrungen denken sollte. 

Für den freien Gebrauch ist ein solcher grammatischer Betrieb natürlich 
von dem höchsten Nutzen, denn erstens bleibt der Schüler fortgesetzt im 
fremdsprachlichen Elemente, erfafst echt französische Satzformen und lernt 
einen gelesenen Stoff in alle möglichen neuen Formen umgiefsen. Ich weifs aber 
keine bessere Vorübung zum Aufsatz. Denn auch der Aufsatz ist in gröfserem 
Umfange ein Neuordnen und Umgiefsen von Gedanken, die wir uns im Rahmen 
der fremden Sprache hörend oder lesend angeeignet haben. 

Es bleibt noch zu prüfen, wie die Reform die Verwendung der Über- 
setzungen wünschen mufs. 

Es liegt mir ferne, Übersetzungen ganz verdrängen zu wollen, denn ihnen 
wohnt ohne Zweifel eine den Verstand und das Urteil schulende Kraft inne. 
Verlangt man also von der Übersetzerthätigkeit nichts Ungebührliches, so 
wird sie sich als nutzenbringend auch ferner erweisen. An ihren Gebrauch 
knüpfen sich aber folgende Bedingungen: 

1) Nur zusammenhängende Stücke werden zum Übersetzen vorgelegt. 

2) Diese Stücke müssen sich inhaltlich an Gelesenes anschliefsen und den 
dort erworbenen Wortschatz verwerten. 



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A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 339 

3) Sie müssen in gutem, nicht in Übersetzerdeutsch geschrieben sein. 

4) Sie müssen mündlich gemeinsam von Lehrer und Schüler vorbereitet 
werden, so, dafs der Lehrer franzosisch ihren Inhalt abfragt und auf diese Weise 
den zum Übersetzen nötigen Wortvorrat beweglich und geläufig macht. - 
Das Wörterbuch wird dann nur etwa wegen der Rechtschreibung aufgeschlagen, 
nicht aber, um die fehlenden Wörter zu finden. Denn ein selbst gesuchtes 
Wort ist, streng genommen, meist ein FehlgrüF. 

In dieser Form kann die Übersetzung dem Sprachgefühle nicht so viel 
schaden als früher, und in dieser Form wird auch diese Übung dem fran- 
zösischen freien Gedankenausdruck einigermafsen dienstbar gemacht. 

Aber nicht nur durch diese mittelbare Anleitung, sondern durch bestimmte, 
unmittelbare Schulung mufs der schriftliche freie Gebrauch der französischen 
Sprache angestrebt werden, wenn wir die gewünschten Erfolge nicht dem Zu- 
falle verdanken wollen. Wir müssen durch feste Stilregeln unseren Schülern 
die hauptsächlichsten Richtlinien geben, wir müssen sie die Gesetze des fran- 
zösischen Stiles finden, erkennen und befolgen lehren. 

Ich habe am Schlüsse des ersten Jahres der Versuchung nicht widerstehen 
können, einzelne in meinen 'Französischen Stilübungen 9 skizzierte Aufsätzchen 
schon in Quarta ausführen zu lassen, und zwar ohne dafs die Schüler das Buch 
in die Hände bekamen. Ich habe auch einen Aufsatz in der Examenarbeit 
neben einem langen Diktate verlangt. Der Erfolg war überraschend günstig. 
Keiner hatte unter II, über 50% I oder I b . Gegen die natürlich einfachen 
Stilregeln war nicht verstofsen worden, die Arbeiten lasen sich glatt und gut. 
Verglichen mit den früheren Beschreibungen der Hölzelschen Bilder waren sie 
entschieden reifer und wertvoller: ein Beweis, dafs sich die Gärtnerarbeit am 
jungen Bäumchen wirklich lohnt. 

Die Möglichkeit, schon auf der Unterstufe und mithin auch in höheren 
Klassen stilistische Übungen mit gutem Erfolge anzustellen, kann somit nicht 
mehr in Zweifel gezogen werden und von ihrer Zweckdienlichkeit ist wohl 
jeder überzeugt; denn wir handeln nur nach allgemein gültigen Grundsätzen, 
wenn wir unsere Schüler erst lehren, was wir von ihnen fordern. Wenn jetzt 
auf die von Zeit zu Zeit erlaubten kurzen freien Arbeiten bei den Halbjahrs- 
zensierungen 'ein entscheidendes Gewicht nicht zu legen' ist, so ist das ver- 
ständlich. Wir verliefsen uns ja dabei auf angeborenes Geschick der Schüler 
und auf den Zufall. Das Ansehen dieser Arbeiten steigt aber sofort, wenn wir 
unsere Schüler systematisch in den französischen Stil einführen. 

Wie ich mir die Stilvorübungen und die Vorbereitung der Aufsätze denke, 
habe ich schon ausführlich in meiner Programmarbeit dargelegt; ich gehe darum 
hier nicht wieder darauf ein. 

Ich wollte aber auch zeigen, wie der Aufsatzunterricht einzurichten wäre, 
so dafs er die übrigen Übungen nicht beeinträchtigte, sondern sie womöglich 
fördern könnte. 

In dem von mir angedeuteten Lehrverfahren werden dem Schüler in der 
That eine namhafte Anzahl wichtiger Worte mehr zugeführt und fester ein- 

22* 



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340 A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 

geprägt, denn er lernt sie, indem er sie anwendet, und indem sie dem bereits 
erworbenen Wortschatze entwachsen und sich ihm angliedern. 

In der Grammatik erfüllt dies Verfahren die vorgeschriebenen Bedingungen, 
und zwar so, dafs man die ins Auge gefafsten grammatischen Thatsachen 
durch mehr und zum grofsen Teile vom Schüler gebildete Beispiele belegt, 
welche sich um den durch Lehrbuch und Lektüre vermittelten Sprachstoff 
gruppieren. 

In der Lektüre würde von nun an mehr gelernt als nur gelesen, mehr 
definiert ab verdeutscht, weniger rasch aber dafür gründlicher gelesen werden 
ab bisher. Die Lektüre würde die ihr von Rechts wegen zufallende Aufgabe 
erfüllen, den Stoff zu Sprechübungen zu liefern, und so würde sie die Gesprächs- 
bücher mit ihrem fleifsig zusammengetragenen, aber der Wirklichkeit nur un- 
vollkommen nachgebildeten Geplauder überflüssig machen. 

Die schriftlichen Übungen endlich würden an Mannigfaltigkeit gewinnen, 
zu einer gebührenden Beschränkung der Übersetzungen und dafür zur Pflege 
des Aufsatzes führen und somit Gelegenheit geben, Wortkenntnb, grammatisches 
Wissen, Gelesenes und Selbst-Gedachtes zu verwerten und zu verweben, und 
so alle Übungen zu einer einzigen Kraftleistung zusammenwirken lassen. 

Eine gröfsere Anstrengung seitens des Lehrers aber wäre damit nicht ge- 
fordert, nur mufs vorausgesetzt werden, dafs er für seinen Unterricht im Lehr- 
buche die gehörige Stütze hat. Wird aber bei dieser Art zu unterrichten mehr 
und Besseres geleistet, so geschieht es nur infolge der treibenden, lebendigen 
Kraft, die den neuen Unterrichtsgrundsätzen innewohnt. 

Es seien nun noch kurz die Hauptbedenken der Gegner des Aufsatzes einer 
Prüfung unterworfen. Es sind ihrer vornehmlich drei: Zunächst wird behauptet, 
zur Anfertigung von Aufsätzen sei auf dem Gymnasium keine Zeit. 

Freilich ist es wahr, dab uns in den Mittel- und Oberklassen sehr wenig 
Zeit gegönnt ist, und dafs die in den beiden ersten Jahren erworbenen Kennt- 
nisse in arger Gefahr sind, von den übrigen Fächern beeinträchtigt, ja sozu- 
sagen erdrückt zu werden. 

Ich bin an einem Gymnasium angestellt, das, seiner Überlieferung treu, 
auch in den Mittel- und Oberklassen, mit alleiniger Ausnahme der Oberprima, 
dem Französischen wöchentlich drei Stunden gönnt. Ich darf behaupten, dafs 
meine Kollegen nie über Überbürdung durch das Französische geklagt haben. 
Der Grund liegt wohl darin, dab durch die neue Methode die häuslichen Ar- 
beiten beträchtlich vermindert werden, denn die Hauptarbeit: die grammatischen 
Übungen, die Durcharbeitung der gelesenen Texte, die Vorbereitungen von 
Übersetzungen und Aufsätzen werden in lebendiger Zusammenarbeit von Lehrer 
und Schüler in der Klasse geleistet. Wenn aber so durch die neue Methode 
dem Schüler wöchentlich mehrere Stunden häuslicher Arbeit erspart werden, 
die den übrigen Fächern zu gute kommen, so sollte dem Französischen füglich 
im Lehrplane eine Stunde mehr zugebilligt werden, damit die ihm zugedachten 
Aufgaben auch bei der neuen Lehrweise mit Ruhe und Sicherheit erfüllt werden 
könnten und nicht wie bisher mit Überanstrengung der Lehrkräfte und mit 



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A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 341 

einer gewissen Hast und Eile, die den Unterricht nicht zu voller Wirksamkeit 
kommen lassen. 

Zunächst aber haben wir mit den bestehenden Verhältnissen zu rechnen. 
Und da mufs von vornherein ein Grundsatz ausgesprochen werden, der wohl 
allgemeiner Zustimmung versichert sein darf: Je weniger Zeit man hat, desto 
besser mufs man sie ausnützen, d. h. einen um so leichter gangbaren und 
rascher zum Ziele führenden Weg sollte man einschlagen. Wenn aber das Ziel 
ist, sich einer Sprache mündlich und schriftlich bedienen zu lernen, so kann 
der kürzeste Weg unmöglich durch den Irrgarten der grammatischen Abstrak- 
tionen führen, sondern nur geradeswegs in das Sprachgebiet hinein. Ferner ist 
bereits angedeutet worden, wie der Unterricht in seiner Neugestaltung dies Ziel 
bei allen Übungen im Auge hat und somit eine besondere, zeitraubende Ein- 
führung unnötig macht, vielmehr selbst nach allen Seiten hin eine solche dar- 
stellt; ferner, wie eine stilistische Unterweisung zugleich in Festigung der 
Wörterkenntnis, Grammatik und Sprechfertigkeit wichtige Dienste leistet und 
somit ebensoviel giebt als sie beansprucht, kurz, daJfe es sich nur darum 
handelt, Verstreutes zu sammeln und einem einzigen Zwecke dienstbar zu 
machen. 

Und wollte mir jemand sagen, dafs wir an gewisse uns vorgeschriebene 
Abschnitte der Grammatik gebunden sind, so brauche ich nur an die Zeit- 
ersparnis zu erinnern, die uns aus der oben geschilderten Behandlung der 
Grammatik, mit vorläufiger Hinweglassung des Deutschen, erwachsen mufs. 

Wo die alte Methode 40 Sätze in einer Stunde bewältigte, liefert die neue 
mit Leichtigkeit 80 (vorausgesetzt, dalis die Stunde gut vorbereitet ist, oder 
dafs das Lehrbuch für geeignete Stoffe sorgt). Nehmen wir die früheren 
Leistungen als Normalmafs an, das wir zu erreichen, nicht zu überschreiten 
brauchen, so bleibt uns demnach von unserer Grammatikstunde genau die Hälfte 
für unsere Stilübungen. Drei solche in zwei Hälften geteilte Stunden würden 
aber vollauf genügen, einen Aufsatz von mäßiger Ausdehnung gründlich durch- 
zusprechen. Die zweite Stunde der Woche bliebe ganz der Lektüre gewidmet. 
Nun sollen ja aber im Halbjahr nur etwa drei Aufsätze geliefert werden, die 
übrigen schriftlichen Arbeiten sollten Übersetzungen bleiben. Dann wäre jene 
Teilung der Grammatikstunden im Halbjahr nur neunmal nötig; die übrigen 
31 Grammatikstunden könnten ja in voller Ausdehnung dem Studium der 
Grammatik und den Hassenarbeiten dienen. Es scheint mir demnach nicht 
stichhaltig, wenn man Mangel an Zeit anführt, um den Aufsatz zu bekämpfen. 

Der zweite Einwand, dem man häufig begegnet, ist, die Durchsicht von 
Schüleraufsätzen sei zu schwierig und zu zeitraubend. 

Unterscheiden wir hier recht genau die beiden hier möglichen Fälle: ent- 
weder ist der Aufsatz in der von uns angedeuteten Weise gewählt und vor- 
sorglich vorbereitet worden, oder es wird gegen einen oder mehrere oder alle 
von mir aufgestellten Grundsätze zugleich verstofsen und man verlangt, wie 
es seiner Zeit von uns verlangt wurde, die Darstellung eines Bildes oder Vor- 
ganges oder gar eine Untersuchung litteraturgeschichtlicher Fragen, über die 



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342 A. Beum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 

wir unsere Ausdrücke dem Wörterbuch entliehen, und die wir ohne alle 
stilistischen Winke zusammenhängten, einzig und allein vertrauend auf unser — 
leider nur allzudeutsches — Sprachgefühl. Im letztbezeichneten Falle giebt es 
keinen entschiedeneren Gegner des Aufsatzes als mich; solche Versuche sind 
des deutschen Gymnasiums nicht würdig. Und solchen mifsglückten Versuchen 
danken wir's auch, dafs wir der Freiheit, Aufsätze liefern zu lassen, verlustig 
gegangen sind. Aber wollen wir nicht so viel, vor allen Dingen keine hoch- 
trabenden Themen, keine spitzfindigen, kunstkritischen Fragen behandeln, son- 
dern schlicht erzählen, beschreiben, berichten, Gelesenes nachahmen, zusammen- 
fassen oder erweitern lassen, und das auf Grund verständiger stilistischer 
Anleitung, so stecken wir uns ein erreichbares Ziel, und so schützen wir unsere 
Schüler vor Fehlgriffen und machen uns die Aufgabe der Durchsicht ungleich 
leichter. Wir müssen, sei es in Gestalt eines stilistischen Leitfadens (das ist 
das kürzeste) oder durch eine reichliche Auswahl geeigneter, aus Altem und 
Neuem zusammengesetzter Wörter und Wendungen, unseren Schülern Gedanken 
und Ausdrücke zur Verfügung stellen und ihnen so die Lust, in diesem Falle 
das Wörterbuch zu befragen, gründlich abgewöhnen. 

Es ist klar, dafs wir keine falschen Wörter zu tilgen und durch richtige 
zu ersetzen haben werden, wenn die Schüler nur die ihnen gelieferten ver- 
wenden. Und wenn dann ein Satz mifsglückt, so genügt ein Strich, um dem 
Schüler anzudeuten, welcher Satz in der Verbesserung nochmals umzubilden 
ist. Alle übrigen Fehler aber, Verstöfse gegen Formen- und Satzlehre, haben 
die Arbeiten mit den Übersetzungen gemein, und es bleibt nur noch hervor- 
zuheben, dafs es unterhaltsamer und spannender ist, Schüleraufsätze durch- 
zusehen, als die wörtlich oder nahezu wörtlich übereinstimmenden Diktate oder 
Übersetzungen. 

In meiner Programmarbeit appelliere ich zum Schlüsse an den Idealismus 
der Kollegen und spreche die Hoffnung aus, dafs sie dem höheren Ziele auch 
gern eine Stunde mehr widmen werden. Meine Erfahrungen im letzten Jahre 
haben mich indessen dahin belehrt, dafs dies ganz unnötig war, denn ich habe 
festgestellt, dafs mich die Durchsicht eines Aufsatzes genau dieselbe Zeit ge- 
kostet hat, als die Korrektur einer gleichlangen Übersetzung. Und die Fehler 
wirken nicht so herabdrückend auf die Stimmung des Lehrers. Der deutsche 
Text verleitet nur zu oft zu denselben und mithin zu den am häufigsten und 
mit dem entsprechend wachsenden Mafse gerechten Zornes oder gelinder Ver- 
zweiflung angestrichenen Fehlern und legt dem Lehrer die Klage über Stumpf- 
sinn, Gedankenlosigkeit und Zerstreutheit seiner Schüler nahe. Der selbst ge- 
schaffene oder wenigstens nachgeschaffene französische Text weist im ganzen 
selten arge Verstöfse gegen die grammatische Richtigkeit auf, weil in diesem 
Punkte durch die Besprechung gehörig vorgebaut wird; es finden sich mehr 
Verstöfse gegen die Rechtschreibung, und vielleicht hie und da ein mifsratenes 
Satzgefüge. 

Über die Orthographie wird sich kein Philologe ernstlich ereifern, denn 
infolge seiner historischen Bildung ist er gegen diese Wildlinge in der 



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A. Eeum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 343 

Schreibung im ganzen milder als andere Menschen. Gab es doch einen grofsen 
Germanisten an der Leipziger Universität, der der Orthographie gründlich feind 
war und den Standpunkt vertrat: jeder solle schreiben dürfen, wie's ihm be- 
liebe. Und was die stellenweise verunglückten Sätze angeht, so zeigen sie den 
Schüler im Ringen mit dem fremden Elemente unter dem Einflüsse seiner 
eigenen Ideen, wobei er seinen Kräften etwas zuviel zumutet und mit dem 
besten Wollen ans Werk gegangen ist. Unterliegt er hierbei, so ist ihm im 
Grunde nicht zu zürnen, und sein mifsglücktes Bemühen hat oft etwas Komisches, 
etwas Humoristisches an sich. Welch ungeahnt erquickliche Wirkung von einer 
sonst ertötenden und darum mit Recht so wenig beliebten Arbeit! 

Doch nun noch ein Wort über das letzte Bedenken: nämlich über die 
Unvollkommenheit unserer Schüleraufsätze. Aus dem bereits Aus- 
geführten geht hervor, dafs in der von mir vorgeschlagenen Weise eine Un- 
vollkommenheit der französischen Aufsätze zuerst dem Lehrer oder dem 
zu Grunde gelegten Lehrbuche der Stilistik zur Last gelegt werden 
müfste, denn der Inhalt sowohl als der Grundstock der erforderlichen Aus- 
drücke wird ja dem Schüler geliefert oder wenigstens gehörig nahegelegt. Es 
läfst sich also mit Recht erwarten, dafs ein Mangel nach dieser Richtung hin 
sich nicht einstellen wird, solange in der Wahl der Stoffe eine glückliche 
Hand waltet. 

Aber manche fürchten vielleicht, dafs diese Stilübungen sie in anderer 
Weise nicht befriedigen würden, dafs der Schüler zu stark beeinflufst wäre, 
dafs ihm die Sache zu leicht gemacht würde, und er zu wenig eigene Arbeit 
dabei leistete. 

Darauf habe ich zu erwidern, dafs ich im wesentlichen die Unter- und 
Mittelstufe im Auge gehabt habe, wenn ich den Aufsatzunterricht schilderte, 
und dafs ich, wie in jedem Unterrichtsfache, den Haupterfolg auch des Auf- 
satzunterrichtes von dem Lehrgeschick und dem feinen Takt des Lehrers ab- 
hängig weifs und daher unbesorgt bin. Der Zeitpunkt, wo man die gründ- 
lichen Vorbesprechungen durch flüchtigere ersetzen oder sich mit kurzen 
Andeutungen begnügen darf, wird dem erfahrenen Fachmanne nicht entgehen; 
es liegt vollkommen in seiner Hand, die Aufgaben entsprechend zu erschweren 
und die Schüler zu gröfserer Selbständigkeit zu zwingen. 

Aber die dem Schüler zufallende Arbeit ist durchaus nicht zu unter- 
schätzen. Er nimmt die unter strengem Ausschlufs der Muttersprache ihm 
übermittelten Gedanken in sich auf, ergänzt sie selbstthätig, prägt sich dabei 
eine ansehnliche Reihe neuer Ausdrücke ein, baut dann in häuslicher Arbeit 
mit den ihm gelieferten Bausteinen das Aufsatzgebäude, an dem er unter An- 
wendung der ihm gegebenen Stilregeln glättet und bessert, und trägt dann 
frei, ohne das mindeste Hilfsmittel, die Arbeit aus dem Gedächtnisse in der 
Klasse ein. 

Man mag von dem Werte der Übersetzung durchdrungen sein, wie man 
will, man mufs zugeben, dafs sie unter keinen Umständen den Schüler zu 
solcher Selbständigkeit erziehen, sein Gedächtnis zu solcher Kraftentfaltung 



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344 A. Reum: Ist es Aufgabe des Gymnasiums, den französischen Aufsatz zu pflegen? 

zwingen und gleichzeitig sein ganzes Wesen zu Freudigkeit und Arbeitslust 
anregen und Geschmack und Schönheitssinn bilden kann, wie der Aufsatz. 
Und ich kann nicht glauben, dafs ein in gutem, flüssigem Französisch ge- 
schriebener, zwei bis drei Seiten langer Aufsatz, den die kleinen Tertianer vor 
den Augen des Lehrers emsig und vor Schaffensfreude strahlend aus ihrem 
Gedächtnisse nahezu ohne jeden Fehler niederschreiben, nicht mehr befriedigen 
und erfreuen würde als eine der üblichen Übersetzungen oder gar nur ein 
Diktat. Ich wenigstens bekenne offen, dafs ich diese Aufsatze immer mit 
grofser Genugthuung und Freude durchlese; ihre Durchsicht ist mir keine Last, 
sondern eine Lust. 

Aber auch meinen Schülern ist ein solcher Aufsatz eine Freude, wie ich 
mich jedesmal überzeugt habe. Warum sollen aber nicht alle dieser Freude 
teilhaftig werden? Haben sie nicht ein Recht darauf? Wäre es nicht eine 
feine Klugheit, diese Freude an der Arbeit zu unserer Bundesgenossin zu 
machen? Ein Verfahren aber, das unsere Schüler zu freudigem Erfassen des 
Dargebotenen führt, das sie zu aufmerksamen Zuhörern, zu frischen, leistungs- 
fähigen Knaben macht, kann nicht schlecht oder falsch sein. Die Mutter- 
sprache erlernen ist eine der gröfsten und reinsten Freuden unserer lallenden 
Kleinen. Wie wiederholen und üben sie täglich für sich, welche Freude strahlt 
ihnen aus den Augen, wenn sie ein neues Wort verstehen und anwenden 
lernen! Warum soll das Erlernen einer fremden Sprache sich nicht auch zu 
einer erquicklichen Geistesbeschäftigung machen lassen? Sollten uns nicht die 
verdrossenen Mienen der nur am kurzen Zügel der Grammatik gegängelten 
Knaben manchmal zu denken geben? 

Ich habe versucht, meine Ansicht über die Pflege des französischen Auf- 
satzes darzulegen und zu begründen; ich habe angedeutet, wie wir unter einem 
neuen Banner wieder in ein früher aufgegebenes Gebiet siegreich einrücken 
könnten, und hebe zum Schlufs nochmals hervor, dafs es sich hierbei nicht um 
eine äufserliche Frontveränderung handeln soll, sondern zugleich um eine durch- 
greifende Reform. Wir wollen zwar dasselbe, wie # die Früheren, aber nicht 
ohne uns zu diesem Zwecke besonders zu üben und neu zu rüsten, und zwar 
jeden Tag, jede Stunde. Unsere Frontveränderung kann zu Verschiebungen, 
soll aber zu keinen Zerreifsungen oder zum gänzlichen Bruche mit der alten 
Ordnung führen. Im Gegenteil soll es unser Streben sein, wahrhaft Taugliches 
weiter zu verwenden und zu verwerten und mit allem und mit allen im 
innigsten Zusammenhange zu bleiben. 



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FRIEDEICH SCHLEIERMACHER ALS DEUTSCHER PATRIOT 1 ) 

Für die höhere Schule dargestellt 

Von Johannes Eeinhard 

Der Geist, von dem das Zeitalter Friedrich Ernst Schleiermachers beseelt 
war — Schi, lebte von 1768 — 1834 — mutet denjenigen fremdartig an, der 
sich aus den Tagen der sozialen, der orientalischen, der ostasiatischen Frage 
und der vielen anderen, von denen wir zu reden pflegen, in jene Periode ein- 
seitiger Innerlichkeit des deutschen Lebens zurückversetzt. Dafs ein Mann der 
Wissenschaft den Angelegenheiten des heimischen Staates lebhafte Teilnahme 
widmete, war damals neu und weder durch eine eingehende Berichterstattung 
und Erörterung politischer Fragen in den Zeitungen noch durch eine Volks- 
vertretung in einem Parlamente angeregt oder ermöglicht. Lediglich auf die 
Armee und das unmittelbar beauftragte Beamtentum beschränkte sich die Mit- 
arbeit des Volkes an öffentlichen Angelegenheiten, wenn man noch als Mit- 
arbeit bezeichnen darf, was nur die Ausführung fürstlicher Willensmeinungen 
war. Die Generation Schleiermachers schuf zuerst einer selbstthätigen Ent- 
faltung vaterländischer Gesinnung von Privatleuten im Staate einen Raum und 
bahnte so den Weg zu Verfassungsformen, wie diejenigen sind, deren wir uns 
erfreuen. Versuchen wir diesen Fortschritt aus der Gesamtentwickelung des 
deutschen Geisteslebens zu erklären! Die Geschichte keiner anderen Nation 
weifs von einer so jammervollen, so sprichwörtlich gewordenen Ungleichheit 
ihrer inneren Fortschritte mit ihrem äufseren Ergehen zu sagen wie die 
deutsche. Die religiös -sittliche Gesundung unseres Volkes durch die Refor- 
mation Luthers, vereint mit der im Humanismus gegebenen Bereicherung 
seiner geistigen Potenzen, trafen auf ein zersplittertes, bald auch durch den 
grofsen Krieg aufs tiefste erschöpftes Staatswesen. Lebhaft angeregt, aber un- 
fähig, eine ihrem Werte entsprechende äufsere Stellung zu gewinnen, so wandte 
sich der Lebensdrang der Deutschen nach innen, nach den geistigen Grofs- 
mächten der Ideen und Ideale. Die Generation der Lessing und Kant begann 
damit, ein von der Erweiterung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der 
Befreiung und Vertiefung der Religion in gleichem Mafse bestimmtes Weltbild 



*) Aus der Litteratur über Schleiermacher sei hier nur auf Wilhelm Diltheys anregenden 
Aufsatz über Sch.s politische Gesinnung und Wirksamkeit im 10. Bde. der Preufs. Jahrb. 
(1862) empfehlend und dankend verwiesen 



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346 J- Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 

zu entwerfen. Den ihnen nachfolgenden Meistern der deutschen Dichtung blieb 
es versagt, grofsen Thaten einer ruhmreichen Nation die poetische Verherrlichung 
zu schaffen, wie dies den Epikern Griechenlands und des deutschen Mittelalters, 
den Dramatikern Englands und Spaniens vergönnt gewesen war, sie dienten 
ihrem Volke gleich den Philosophen als Baumeister an der idealen Welt, als 
Förderer und Befreier seiner Gedanken und Phantasien. Welche Schätze er- 
standen unter dieser gemeinsamen Arbeit! Welche Fülle geistiger Kräfte 
sammelte sich bis zu hochgradiger Spannung in unserem Volke an! Es war 
unvermeidlich, dafs sich ihre Expansivkraft, nun auch das äufsere Leben um- 
gestaltend, auslöste. Und das Geschlecht, auf das der alternde Goethe blickte, 
unternahm es. Mit dem Geiste der Poesie alle Zeitalter, Stande, Gewerbe, 
Wissenschaften und Verhältnisse durchschreitend die Welt zu erobern, das 
war, wie einer aus ihrem Kreise schreibt, das Ziel der auf die Blütezeit des 
Klassizismus folgenden Romantiker. Und zur nämlichen Zeit vollzog man in 
dem Bemühen um Verwirklichung der geistigen Errungenschaften die Über- 
windung gewisser Einseitigkeiten der vorausgegangenen Zeit. Jeder Renaissance 
haftet die Gefahr an, die geschichtlich gewordene Wirklichkeit zu verkennen. 
Die von den Klassikern ausgehende, hierin vorbereitet durch Nachwirkungen 
der eigentlich so genannten Renaissance zu Beginn der Neuzeit, die von England 
und Frankreich zu uns herüber gekommen waren, hatte in Verfolgung ihrer 
Meister aus dem griechischen Altertum die Bedeutung des Vaterlandes und der 
Kirche verkannt, das Deutschtum durch den Weltbürgersinn, das Christentum 
durch die Humanität ersetzt. Wollte man aber ihren idealistischen Erwerb 
praktisch verwerten, so mufste man sich von jenen blassen Allgemeinheiten zu 
konkreteren Gestaltungen wenden. So erfolgte im Zeitalter der Romantiker die 
Rückkehr zu einer erneuten Wertschätzung der Kirche und des Vaterlandes. 1 ) 
Zu dieser Generation gehörte auch Schleiermacher. Den Meistern in der 
idealistischen Weltbetrachtung, Kant und Goethe, ist er als jüngerer Zeit- 
genosse begegnet, die Brüder Schlegel waren seine vertrauten Freunde, dem 
von der Romantik beeinflufsten Gelehrtenkreise, dem sich im J. 1810 die neu- 
begründete Universität Berlin als Wirkungsstätte erschlofs, gehörte auch er an, 
und nicht nur seine Jugendschriften, in denen er im Tone des Rhapsoden die 
unendliche Fülle des individuellen Lebens, vornehmlich des Gemütslebens, ver- 
herrlicht, sondern ebenso die Grundgedanken seiner reifsten Werke beweisen 
wie Aufserungen seiner Briefe und gelegentlich das praktische Verhalten des 
Mannes, dafs er zeitlebens der Romantik wähl verwandt geblieben ist. 2 ) Doch 
wir thäten ihm Unrecht, begnügten wir uns mit dieser Erklärung des Wesens 
Sch.s aus dem Kreise, in dem er lebte. Irgendwo und irgendwann verrät wohl 
jeder etwas Originales, wie viel mehr eine Persönlichkeit, die zu den führenden 
Geistern gehört. Das aber war das Eigentümliche in Seh., dafs er ein aus- 



*) Vgl. zu dem Vorhergehenden die geistvolle Entwickelung in Diltheys Leben Schleier- 
machers S. V ff. 

*) Vgl. Kirn, Schleiermacher und die Romantik. 



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J. Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 347 

geprägt sittlicher Charakter war, der ebenso wie Kant und Fichte den Wert 
des Individuums in den Willen verlegte, es aber nicht durch ein farbloses 
Sittengesetz, sondern dadurch, dafs es in sich das Ewige selbst, das Leben 
Gottes spiegelt, tiefblickend bestimmt sein läfst. Als der grofse Ethiker nach 
den Dichtern und Philosophen suchte Seh. nach Lebenskreisen zur Entfaltung 
des von ihm definierten Individuums, er nennt als solche die hausliche Gemein- 
schaft — die Familie, die religiöse — die Kirche, die gelehrte — die Wissen- 
schaft, die politische — den Staat. Wiederholt treffen wir die Beachtung 
dieser Gemeinschaften in seinen Werken, am handgreiflichsten in seinem 
Leben. * Wissenschaft und Kirche; Staat und Hauswesen — weiter giebt es 
nichts für den Menschen auf der Welt, und ich gehöre unter die wenigen 
Glücklichen, die alles genossen haben', konnte er in einem Briefe ausrufen. 1 ) 
Das etwa war der Weg, auf dem Seh. zum Patrioten geworden ist. 

Fragen wir weiter, wie er diese Gesinnung bethätigt hat, so lassen sich 
in dieser Hinsicht vier Perioden seines Lebens unterscheiden: die erste bis 
zum J. 1806, die zweite, unmittelbar auf die Katastrophe von Jena folgend, 
dann die Zeit der Bemühungen um Deutschlands Wiederherstellung bis zur 
Erhebung im J. 1813, endlich die nach den Befreiungskriegen. Um aber das 
Eingehen auf zumeist höchst unerquickliche innerpreufsische Angelegenheiten 
zu vermeiden, und zugleich meinem Thema: Seh. als deutscher Patriot treu 
zu bleiben, sei es mir gestattet, von der Behandlung dieser letzten Periode 
abzusehen. 

Der Eintritt Sch.s in die litterarische Welt geschah im Frühjahr 1799. 
Als Prediger an dem Charite- Krankenhause zu Berlin veröffentlichte er seine 
*Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern', ein Werk, 
das auf viele Zeitgenossen einen mächtigen Eindruck machte und für die Folge- 
zeit von reformatorischer Bedeutung geworden ist. Denn ein Geschlecht, das 
sich gewöhnt hatte, auch die Höhen und Tiefen des göttlichen Lebens nach 
dem Malsstabe spiefsbürgerlicher Vernunftgemäfsheit abzustecken, erinnerte es 
in hinreifsender Sprache daran, dafs die Religion das Anschauen des Allgemeinen 
und Unendlichen ist, dessen Pulse in Natur- und Geistesleben mächtig und doch 
geheimnisvoll schlagen, dessen Provinz im menschlichen Geiste das Gebiet der 
Unmittelbarkeit, das Gemüt, ist. Indem der Verf. aber nach denen forscht, 
die für eine solche Auffassung der Religion Verständnis hätten, wird er zum 
Lobredner deutscher Art. Denn jene stolzen Insulaner kennt er nur auf der 
Suche nach Gewinn und Genufs, nach Holz und Masten für ihre erwerbsüchtige 
Lebensfahrt, und der Franzosen Anblick könne ein Verehrer der Religion kaum 
ertragen, weil sie bald in roher Gleichgültigkeit, bald in witzigem Leichtsinn, 
in jeder Handlung, in jedem Worte fast deren heiligste Gesetze mit Füfsen 
treten. 'Nur hier im heimatlichen Lande ist das beglückte Klima, welches 
keine Frucht gänzlich versagt, hier findet ihr alles, was die Menschen ziert, 
und alles, was gedeiht, bildet sich irgendwo zu seiner schönsten Gestalt. Hier 



*) Ans Sch.s Leben in Briefen II 191. 



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348 J. Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 

fehlt es weder an weiser Mäfsigung noch an stiller Betrachtung. Hier also 
mufs auch die Religion eine Freistatt finden vor der plumpen Barbarei und 
dem kalten, irdischen Sinne des Zeitalters/ 1 ) 

Ein gutes Wort zu einer Zeit, da die Deutschen für alles Englische und 
Französische, das zu ihnen kam, schwächlicher Bewunderung voll waren. Dieser 
zum Bewufstsein erwachte nationale Geist in Seh. regte alsbald die Flügel, im 
Leben des Staates seine Schwungkraft zu erproben. Noch war seine Stunde 
nicht gekommen. In dem Schriftchen, das Seh. dem neuen Jahrhundert als 
Neujahrsgabe bot, in den Monologen, lesen wir daher in dieser Sache nur 
Klagen, Wünsche und Hoffnungen auf eine bessere Zeit. Noch giebt es keinen 
thätigen Anteil am Staatsleben für das freie männliche Selbstgefühl. Aber er 
wird kommen. Einstweilen können ihn die Pflege gemeinsamer Sprache und 
Sitte ersetzen, an denen sich die Weisen und Guten erkennen mögen. *So bin 
ich der Denkart und dem Leben des jetzigen Geschlechts ein Fremdling, ein 
prophetischer Bürger einer späteren Welt.' 8 ) Unter den Ursachen des geringen 
Wertes des Staatslebens für den einzelnen hatte Seh. auch diejenige Betrach- 
tungsweise genannt, nach der der Staat nur ein notwendiges Übel sei, das 
man möglichst wenig zu empfinden wünscht. Um die Bekämpfung dieser Auf- 
fassung hat er sich im weiteren Verlauf seines Wirkens bemüht. Dem an- 
regenden Berliner Leben war für Seh. eine stille, arbeitsfrohe Zeit als Hof- 
prediger in dem entlegenen Pommerschen Städtchen Stolp gefolgt, dann war 
er 1804 als Professor und Universitätsprediger nach Halle berufen worden, 
nicht ohne dafs er bei dieser Gelegenheit einen Beweis der Treue gegen sein 
engeres Vaterland gegeben hätte; denn er hatte, um sich Preufsen zu erhalten, 
einen günstigeren Ruf nach Würzburg, der zur selben Zeit an ihn ergangen 
war, abgelehnt. Bereits bei der Eröffnung des Hallischen akademischen Gottes- 
dienstes erinnert der Prediger an den Staat: die Einrichtung, zu der sie ver- 
sammelt wären, beweise, dafs König und Vaterland durch das Evangelium auf 
die Gemüter einzuwirken wünschten, wie denn auch Preufsen nicht durch Über- 
flufs äufserer Hilfsmittel, sondern allein durch die Macht der Gesinnung in die 
Reihe der ersten Mächte Europas eingetreten sei. 8 ) Und ausschliefslich diesem 
Gegenstande, der ihm am Herzen lag, widmete er im Spätsommer 1806 gleich- 
falls im Gottesdienste der Hallischen Hochschule eine geistliche Rede: *wie 
sehr es die Würde des Menschen erhöht, wenn er mit ganzer Seele an der 
bürgerlichen Vereinigung hängt, der er angehört.' 4 ) Es ist im grofsen, von 
Gott gebauten Hause der Menschheit so geordnet — damit tritt Seh. den gegen 
den Staat Gleichgültigen entgegen — dafs man das Ganze nicht anders beein- 
flussen könne, als indem man als Einzelner auf das Einzelne wirkt. Und selbst 
für die zum Gröfsten erforderliche Vereinigung der Kräfte bietet sich keine 
andere Grundlage dar als die Volkseinheit. 'Wessen Kurzsichtigkeit oder Hoch- 
mut dies zu klein ist, wer, anstatt auf sein Volk und mit seinem Volke zu 
wirken, sich weiter ausstreckt und es gleich auf das Ganze des menschlichen 



*) 1. Rede. *) 3. Monolog. *)* Pred. IV 226 ff. 4 ) I 223. 



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J. Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 349 

Geschlechts anlegt, der wird in der That erniedrigt, anstatt erhöht zu werden. 
Alle dagegen, die Gott zu etwas Grolsem berufen hat, nicht nur in solchen 
Dingen, welche unmittelbar den Gewalthabern unter den Völkern obliegen in 
Zeiten der Ruhe wie des Krieges, sondern auch in solchen, die am wenigsten 
an diese Grenze gebunden zu sein scheinen, in dem Gebiete der Wissenschaften, 
in den Angelegenheiten der Religion, sind immer solche gewesen, die von 
ganzem Herzen ihrem Vaterlande und ihrem Volke anhingen und dieses fordern, 
heilen, starken wollten, solche, welche die Verbindung liebten, in der sie er- 
höhte Kraft, bereite Werkzeuge, willige Freunde notwendig finden mufsten, 
solche, die auch in sich selbst den eigentümlichen Sinn ihres Volkes für das 
Vortrefflichste hielten.' 

Diese Proben werden ausreichen, um Sch.s Entwickelung als Vaterlands- 
freund von 1799 — 1806 zu markieren: in den Reden über die Religion zeigt 
er sich zuerst begeistert achtend auf deutsche Eigentümlichkeit, in den Mono- 
logen sucht er nach geordneter Bethätigung im Staatsleben und vertröstet die 
Gleichdenkenden mit dem Hinweis darauf, dafs sie ja an ihres Volkes Sprache 
und Sitte einstweilen Anteil hätten, in den ersten Hallischen Predigten endlich 
wirkt er für den Staat durch Pflege vaterlandischer Gesinnung bei seinen Zu- 
hörern, durch die Bekämpfung des Gedankens an eine internationale Gelehrten- 
republik, der diesen geläufig war. Seine Gedanken gewinnen schrittweise an 
Klarheit und praktischer Bedeutung und dies allein durch die Logik eines 
eminent sittlichen Geistes, ohne dafs die bürgerliche Gemeinschaft ihn irgend- 
wie zu solcher Teilnahme ermutigt, ohne dafs eine Überlieferung bestimmend 
auf ihn eingewirkt, ohne dafs auch die schrillen Signale eines nationalen Un- 
glücks alle Mann an Bord zur Rettung des sinkenden Staatsschiffs gerufen und 
eine Vereinigung der Gleichgesinnten herbeigeführt hätten. Auch ohne dies 
war der Denker gereift, schweren Geschicken des Vaterlandes zu begegnen, wie 
sie noch das Jahr 1806 brachte, und unter ihnen die Kraft und Gröfse seiner 
Überzeugungen am leuchtendsten zu offenbaren. Wenn das Unglück über ein 
Volk in Wellen hereinflutet, dann brechen die Stützen, die geordnete Verhält- 
nisse den Menschen gewähren, und die Schwachen sinken mit ihnen, aber die 
Starken stehen, andern ein Halt, der Gesamtheit ein fester Grund, über dem 
eine bessere Zukunft sich erbaut. 

Seit langem schon braute sich ein dunkles Unwetter wider das nördliche 
Deutschland zusammen. Die aufgeregte Spannung im Volke wuchs. Als 
Schleiermacher in der Osterzeit des Jahres 1806 nach Berlin reiste, fand er 
die alten litterarischen Interessen in der Stadt verdrängt, aber im hellen 
Frühlingssonnenschein unter den Linden Gruppen lebhaft Politisierender. Ihn 
selbst ergriff die Ahnung grofser Entscheidungen, wie wir aus einem Briefe 
an eine Freundin auf Rügen sehen. ^Bedenken Sie, so schrieb er am 20. Juni *), 
dafs kein einzelner bestehen, kein einzelner sich retten kann, dafs doch unser 
aller Leben eingewurzelt ist in deutscher Freiheit und deutscher Gesinnung 



*) Briefe H 63 f. 



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350 J- Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 

und diese gilt es. Möchten Sie sich wohl irgend eine Gefahr, irgend ein 
Leiden ersparen für die Gewifsheit unser künftiges Geschlecht einer niedrigen 
Sklaverei Preis gegeben zu sehen und ihm auf alle Weise eingeimpft zu sehen 
die niedrige Gesinnung eines grund verdorbenen Volkes? Glauben Sie mir, es 
steht bevor, früher oder später, ein allgemeiner Kampf, dessen Gegenstand 
unsere Gesinnung, unsere Religion, unsere Geistesbildung nicht weniger sein 
werden als unsere äufsere Freiheit und äufseren Güter, ein Kampf, der gekämpft 
werden mufs, den die Könige mit ihren gedungenen Heeren nicht kämpfen 
können, sondern die Völker mit ihren Königen gemeinsam kämpfen werden, 
der Volk und Fürsten auf eine schönere Weise als es seit Jahrhunderten der 
Fall gewesen ist, vereinigen wird und an den sich jeder, jeder, wie es die 
gemeinsame Sache erfordert, anschliefsen mufs. Mir steht schon die Krisis 
von ganz Deutschland, und Deutschland ist doch der Kern von Europa, vor 
Augen. Ich atme Gewitterluft und wünsche, dafs ein Sturm die Explosion 
schneller herbeiführe; denn an Vorüberziehen ist, glaube ich, nicht mehr zu 
denken/ Und als Seh. in denselben Sommerwochen mit einer neuen Auflage 
seiner Reden über die Religion beschäftigt war, flofs ihm gleichfalls ein 
patriotisch-prophetisches Wort in die Feder, eine Antwort auf die Frage, ob 
die nächste Zukunft mit den Fortschritten des erobernden Frankreichs nicht 
auch solche des Katholizismus bringen würde. *Ich möchte herausfordern den 
Mächtigsten der Erde, ob er dies nicht auch etwa durchsetzen wolle, wie ihm 
alles ein Spiel ist, und ich möchte ihm dazu einräumen alle Kraft und alle 
List; aber ich weissage ihm, es wird ihm mifslingen und er wird mit Schanden 
bestehen. Denn Deutschland ist immer noch da, und seine unsichtbare Kraft 
ist ungeschwächt, und zu seinem Beruf wird es sich wieder einstellen mit nicht 
geahnter Gewalt, würdig seiner alten Herren und seiner vielgepriesenen Stammes- 
kraft; denn es war vorzüglich bestimmt, den Protestantismus zu entwickeln, 
und es wird mit Riesenkraft wieder aufstehen, um ihn zu behaupten.' 1 ) 

Trotz dieser Ahnungen scheint Seh. nicht damit gerechnet zu haben, dafs 
das Verhängnisvolle so bald schon hereinbrechen würde. Wohl erlebte er es, 
dafs man seine erst eröffnete Universitätskirche in ein Militärmagazin ver- 
wandelte, wohl beobachtete er aufmerksam die Ansammlung ansehnlicher 
Truppenmassen in und um Halle und teilte er die kriegslustige Stimmung der 
Armee und der Bevölkerung, aber mehr als davon handeln doch seine Briefe 
von Vorlesungen, wissenschaftlicher Schriftstellern und Plänen für künftige 
Semester. Da erfolgte am 14. Oktober 1806 die Doppelschlacht von Jena und 
Auerstädt. Mehrere Bewohner Halles schlössen aus der Richtung des ver- 
hallenden Donners der Geschütze, dafs die preufsische Armee die geschlagene 
sei, noch am selben Tage kam die Kunde von einer völligen Niederlage in die 
Stadt — für Seh. nicht überraschend, dem es fast gewifs gewesen war, dafs 
Preufsen die erste Schlacht verlieren würde 2 ) — , aber die Einwohnerschaft, die 
gemeint hatte, es würde schon der Anblick einer preufsischen Wachparade, 



*) Nachrede, am Ende. *) Briefe II 79 f. 



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J. Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 351 

hinter der ja das Gespenst des siebenjährigen Krieges drohend stünde, aus- 
reichen, um Napoleons sieggewohnte Armeen in wilder Flucht aufzulösen, ver- 
wandelte die Hiobspost in ihr Gegenteil: am 15. umjubelte man den einzigen 
französischen Gefangenen, den man, wer weifs wo aufgegriffen, durch die Strafsen 
führte, als untrüglichen Beweis des Sieges der eigenen Waffen, und noch am 
16. hielt man Napoleons Avantgarde, die vor den Thoren der Saalestadt mit 
den preufsischen Reserven handgemein wurde, für ein versprengtes französisches 
Korps, das, im Rücken von der preufsischen Hauptmacht gedrängt, nun auch 
in der Stirne aufgehalten würde, und bedauerte voll Mitleids die entsetzliche 
Niederlage der Ärmsten. Endlich zerplatzte der schillernde Schaum, den man 
sich geblasen hatte, an einer grausam harten Wirklichkeit. In völliger Auf- 
lösung ergossen sich die geschlagenen Truppen durch die Stadt, von Bernadottes 
sogenannter Schwefelbande verfolgt. Unter grofser Gefahr inmitten des Wirr- 
warrs und pfeifender Geschosse erreichte Seh., der mit Freunden vom Garten 
der Loge aus dem Auf- und Abwogen des Kampfes zugeschaut hatte, seine 
Wohnung. Aber deren geschützte Lage verhinderte es doch nicht, dafs feind- 
liche Kavalleristen eindrangen und an Geld, Wertsachen und Wäsche mitnahmen, 
was sie fanden. 

Es wäre überflüssig, den Zustand der vom Feinde alsbald besetzten Stadt 
zu schildern. Der ist überall derselbe schreckliche. Für die Hallischen Pro- 
fessoren wirkte es noch erschwerend, dafs Napoleon die Studenten als ein zu 
Demonstrationen geneigtes Völkchen auswies und diese sich die bereits bezahlten 
Kollegiengelder von ihren Lehrern zurückerbaten. Infolgedessen wies Sch.s und 
seines Freundes Steffens gemeinsamer Vermögensbestand zehn Thaler auf, mit 
denen sie den Tagen der Teuerung entgegengingen. Sie zogen darum in 
Steffen8 , kleine Wohnung zusammen, um wenigstens an Licht und Feuerung zu 
sparen. Aber schliefslich war doch der letzte eigene Pfennig ausgegeben und 
das Freundespaar auf Vorschüsse angewiesen, die ihnen wohlhabendere Freunde, 
besonders Sch.s Verleger, Georg Reimer in Berlin, längst angeboten hatten. 

Zu der äufseren Bedrängnis gesellten sich andere schmerzliche Erfahrungen. 
Das Auftreten der Franzosen freilich — die ersten hatten sich mit den Worten 
nous sommes les invincibles bei unserem Gelehrten eingeführt — machte es 
ihm gewifs, dafs an ihre dauernde Herrschaft nicht zu denken sei. Aber die 
allgemeine Auflösung, die bodenlose Feigheit und Niederträchtigkeit auf der 
eigenen Seite, von der nur wenige, das Königspaar obenan, eine rühmliche 
Ausnahme bildeten, erschütterte ihn tief, da sie auch seine düstersten Er- 
wartungen weit übertraf. Konnte doch an ihn selbst ein französischer Militär- 
beamter, durch Erfolge bei anderen ermutigt, das Ansinnen stellen, Seh. möchte 
in einem Briefe die königliche Regierung verdächtigen und Hoffnungen auf 
Napoleons heilbringende Herrschaft äufsern, ein erbärmliches Verlangen, dessen 
entrüstete Zurückweisung, wie sie ihm Seh. zu teil werden liefs, noch dazu nicht 
ungefährlich war. Unter solchen Umständen war es wohl verlockend, auf 
eine Anfrage der Stadt Bremen, die seiner als Prediger begehrte, einzugehen. 
Freunde redeten zu. Aber Seh. dachte anders: c ungerner als je würde ich mich 



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352 J- Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 

jetzt von dem Könige trennen, dem ich eine recht herzliche Sehnsucht habe, 
ein tröstliches, ermunterndes Wort zu sagen in dem Unglück, das wahrlich 
nicht durch seine Sünden über ihn und uns gekommen ist.' *Ich bin fest 
entschlossen, so lange ich noch in Halle Kartoffeln und Salz auftreiben kann, 
hier zu bleiben und das Schicksal von Deutschland hier abzuwarten/ 

Geradezu erhebend ist ein Einblick in die Gedankenwelt des Mannes, wie 
sie aus seinen in den Jahren 1806 und 1807 geschriebenen Briefen spricht. 
Da ist keine Klage um die zertrümmerte Wirksamkeit, um den Verlust seines 
Katheders, nach dem er sich sehnte, vielmehr sieht er in dem schweren Ge- 
schick eine heilsame Übung der inneren Kraft. Darum ist er auch von dem 
Verlangen nach einem Frieden um jeden Preis weit entfernt: *dafs mir der 
König keinen schimpflichen Frieden macht, das ist das einzige, woraus uns 
noch bessere Zeiten hervorgehen können. Die Zuchtrute mufs über alles gehen, 
was deutsch ist; nur unter dieser Bedingung kann hernach etwas recht tüchtig 
Schönes daraus entstehen. Wohl denen, die es erleben! — Ich fürchte nichts 
als einen schmählichen Frieden, der einen Schein — und nur einen Schein 
von Nationalexistenz und Freiheit übrig läfst. Aber auch darüber bin ich 
ruhig, denn wenn sich die Nation diesen gefallen läfst, so ist sie zu dem 
Besseren noch nicht reif, und die härteren Züchtigungen, unter denen sie reifen 
soll, werden dann nicht lange ausbleiben.' Also fafst er das gegenwärtige 
Verhängnis als ein wohl scharfes, aber notwendiges und in seinen Folgen 
segensreiches Mittel zur Erziehung seines Volkes auf: *Die Verfassung von 
Deutschland war ein unhaltbares Ding; in der preufsischen Monarchie war auch 
viel zusammengeflicktes, unhaltbares Wesen. Das ist verschwunden. — Der 
alte Schaden ist gewaltsam geöffnet, die Kur ist verzweifelt, aber die Hoffnung 
ist noch nicht aufzugeben. — Vielleicht soll Deutschland den Kelch bis auf 
die letzten Hefen leeren, damit es eine desto gründlichere Umwälzung giebt/ 
Dafs aber das Ende aller dieser Wirren die Wiederherstellung des Vaterlandes 
sein werde, diese Überzeugung bleibt ihm unerschüttert: e Ich bin gewifs, dafs 
Deutschland, der Kern von Europa, in einer schönen Gestalt wieder sich bilden 
wird. Wann aber und ob nicht erst nach weit härteren Trübsalen und nach 
einer langen Zeit schweren Druckes, das weifs Gott/ 1 ) 

Es war doch nicht die nationale Gefahr allein, an die Seh. dachte. Er 
sah nicht weniger den Protestantismus und die deutsche Wissenschaft durch 
den Eroberer bedroht, der diese beiden Geistesmächte hafste. Sie zu verteidigen, 
war er entschlossen, in die vorderste Reihe der Kämpfer zu treten, auf die 
Gefahr hin, als Märtyrer der guten Sache zu fallen. *Wenn das Äufserste 
kommt, so schreibt er am 1. Dezember des Unglücksjahres, Freund, dann lafs 
uns auf unseren Posten stehen und nichts scheuen. Ich wollte, ich hätte Weib 
und Kind, damit ich keinem nachstehen dürfte für diesen Fall/ Einstweilen 
wünscht er, es möchte der Versuch gemacht werden, Bonaparte durch freie 
Rede zu Tode zu ärgern; denn die sei für ihn das schärfste Gift. 2 ) Es ist 



l ) Briefe H 72. 78. *) S. 79. 81. 



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J. Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 353 

wohl nicht uninteressant, am Ende dieser Zusammenstellung tapferer und zu- 
versichtlicher Worte aus Sch.s Briefen eine Äufserung zu hören, in der er von 
den Mitteln handelt, durch die er sich in solcher Stimmung erhielt. Er schreibt: 
^Schwer sind die Zeiten, und frisch und munter zu bleiben ist schwer. Aber 
man mufs es doch dahin bringen. Drei kleine Kunstgriffe weifs ich dazu und 
sehr wohlfeile, die gar nicht übel sind. Was das Vaterland, ich meine Deutsch- 
land, betrifft, nur so weit hinaussehen, als möglich ist, denn nur in der Ferne 
sieht man das klare, fröhliche Licht; die Schlechtigkeiten, welche um uns her 
vorgegangen sind, nur in Masse und in ihren allgemeinen, wohlbekannten Ur- 
sachen zu betrachten, ohne zu sehr auf das einzelne zu sehen, denn das macht 
am meisten Not und Ekel, und endlich, lachen Sie nicht darüber, dem Magen 
die Augen nur auf 14 Tage hinaus zu erlauben, sonst kommen die Sorgen der 
Nahrung und in denen sitzt der gröfste Teufel.' 1 ) 

Es ist nur begreiflich, dafs es dem Patrioten Seh. nicht genügte, seine 
Gedanken in Privatbriefen auszusprechen, sondern dafs er danach verlangte, das 
Beste, was er wufste, hinauszuwerfen in das sturmbewegte Leben der All- 
gemeinheit. Hatte er schon vor dem Kriege gemeint: 'Mir ist oft so zu Mute 
gewesen, ein politisches Wort laut zu reden, wenn ich nur die Zeit dazu hatte 
gewinnen können' *), wie viel lebendiger mufste dieser Drang jetzt in ihm sein! 
Er denkt daran, r dem guten Könige ein Wort zu sagen über die Anhänglichkeit 
des besseren Teiles der Nation, über den Mut für die gute Sache des Vater- 
landes und über den Hafs gegen die Niederträchtigkeiten des Feindes,' und ein 
andermal finden wir ihn sinnend über der Möglichkeit, in das Hauptquartier 
seines Königs zu kommen, der gewifs Leute, die ganz müfsig säfsen, recht gut 
auf irgend eine Art brauchen könnte. Um so bereitwilliger und freudiger be- 
nutzte er zur Äufserung seiner vaterländischen Gesinnung diejenige Stätte 
öffentlicher Wirksamkeit, die ihm von Amts wegen zugänglich war und in jener 
Zeit infolge der Erkrankung eines Hallischen Geistlichen noch öfter aufgethan 
wurde: die Kanzel. Es ist hier nicht die Gelegenheit, auf die grofsen Gefahren, 
die mit der Behandlung politischer Stoffe in der Predigt verbunden sind, ein- 
zugehen. Die Erinnerung wird genügen, wie sehr dabei, sei es Feigheit 
und Engherzigkeit, sei es ein religiöser Chauvinismus, den Hauptzweck jeder 
religiösen Zusammenkunft: die Erbauung der Gemeinde, beeinträchtigen können. 
Die Predigten Sch.s in der Notzeit des Vaterlandes vermeiden sicher diese Ge- 
fahren, einzig bemüht, den Zuhörern den Glauben an die göttliche Leitung der 
Weltgeschichte und an die Sicherheit eines mit ihr geeinten Gemütes zu 
festigen. Seh. ist der erste politische Prediger im großen Stil geworden, den 
das Christentum hervorgebracht hat 8 ), und ist es geblieben, unerreicht bis auf 
diesen Tag. 

Als die preufsische Armee geschlagen, Halle vom Feinde besetzt war, die 
Festungen des Landes sich zumeist widerstandslos dem Sieger ergaben und die 
Verzagten nach Frieden schrien, hat der Hallische Theologe die erste dieser 



*) Briefw. mit J. Chr. Gafs. *) Briefe H 67. •) Dilthey, Preufs. Jahrb. X 246. 
Neue Jahrbücher. 1899. n 23 



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354 'J. Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 

Predigten gehalteil: dafs Übertill, wo öoft waltet, Friede *ein mufs. Es 
sei in Natur und Geschichte ein leitendes Gesetz, däfs jeder Übergang Vom 
Unvollkommenen zum Vollkommenen sich durch Streit vollziehe. Darum sei 
es Pflicht, in Zeiten, die kriegerische sein sollten nach göttlicher Bestimmung, 
die unruhvolle Entwickelung nicht auftuopferti einem trägen Rühebedürfois, 
sondern sie sich zu wahrem, vollem Leben gereichen zu lassen. Könne dach 
der innere Friede auch unter äußerem Streit bewahrt bleiben, ja erst röcht 
errungen werden durch die Arbeit am eigenen Selböt: 'die Festigkeit n&inlich, 
die Besonnenheit, die Ruhe, welche mitien im Streit und in den Verwirrungen 
des Lebens zu bewahren leicht die höchste Tugend des Mannes sein mag/ 1 ) 

Am 23. November hat er wieder gepredigt, inmitten des laufen Klagfens 
des aus seiner Ruhe atifgeschreckten Volkes, über den Text aus dein J feömer- 
brief: wir wissen, dafs denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besteh diefien. 
Di&ftir will und kann er nicht Bürgschaft leisten, was von den Verlorenen Gütern 
£um Genufo des Lebens werde wiedergefunden werden. Es Wäre 'frevelhaft, die 
Hoffnung auf sie im Namen des Christentums zu begünstigen. Aber zur Selbst- 
erkenntnis und zur Gotteserkenntnis könne das Unglück gereichen. Dehn wie 
des Staates Fehler und Mifsgriffe, so würden jetzt auch die Mängel des ein- 
zelnen Bürgers offenbar. Aber auch schlummernde Kräfte, unvetförene Tugenden 
erwachten im Volke: Geduld, Mut, Gewandtheit, Entschlossenheit und rascher 
Überblick. Und ist die Züchtigung nicht feine Offenbarung Gottes, wenn durch 
sie in die Behandlung der öffentlichen Angelegenheiten Strenge und Ernst, 
Aufmerksamkeit und freier Sinn gebracht werden, wenn auch die Schw&chen 
ungeahnte Stärke beweisen, wenn kein Keim des Guten verdirbt, nein! Ver- 
antwortlichkeit, Begeisterung und Eifer für das Gute aus dem Leiden hervor- 
gehen? Noch liebt Gott das Volk der Deutschen. Dafs nur diöse die Ein- 
tracht, Anhänglichkeit und Treue immer mehr die Oberhand gewinnen liefsen, 
nur alle schlechten Mittel zur Selbsterhaltung, Lug, Verrat, Kriecherei und 
Ungerechtigkeit verabscheuten und zeigten, dafs es unter ihnen etwas Heiliges 
gäbe, worauf sie unverbrüchlich hielten, dafs sie noch immer dasselbe Volk 
seien, dessen schönster Beruf es immer gewesen ist, die Freiheit des Geistes 
und die Rechte des Gewissens zu beschützen und durch ein solches grofses 
Beispiel unter den Völkern, wenn auch erst für künftige Zeiten, der Mittelptmkt 
zu werden, um den sich alleö Gute und Schöhe vereinige. 2 ) 

Das Jahr der Verluste, 1806, ging zu Ende. 'Dafs die letzten Zeiten nicht 
schlechter seien als die vorigen', war Sch.s Thema am letzten Sonntage im 
alten Jahre. 8 ) Bisher hätten viel Gleichgültigkeit, Schlaffheit, Selbstsucht 
und Mifstrauen am öffentlichen Leben der Deutschen gehaftet, und nur grofse 
Erschütterungen könnten eine gründliche Heilung bewirken. Trete sie ein, 
dann sei der Verlust nur scheinbar und die Ausbildung aller Fähigkeiten und 
in den bisher schlaffen Gemütern ein Geist der Kraft und Liebe der wahre 
Gewinn, mit dem man durch die gegenwärtigen Zeiten hindurchgehe zu besseren. 



») Pred. I 239 ff. ») S. 251 ff. ») S. 266 ff. 



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J. Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 355 

Am Morgen des Neujahrstages 1807 tritt er vor die Gemeinde mit der 
Frage: was wir fürchten sollen und was nicht? 1 ) Das allein wertvolle Leben 
— dasjenige des Geistes — sei über alle Gefährdung durch äufsere Gewalten 
erhaben. Darum sei Mut eine Pflicht, Verzagtheit schlimir^er als jeder Verlust, 
schlimmer , als der Tod. Von ihr frei zu werden durch die richtige Erkenntnis 
der geistigen Werte sei .jetzt wichtiger als die Entfernung der Feinde, ein 
rühmlicher Friede und die Wiedererstattung aller Verluste. Dagegen solle man 
den Herrn fordeten, indem man auf seine Stimme höre ur^d den yon ihm ge- 
ordneten Lauf, der Welt achte. Und auf Grund eigener Erfahrung bezeugt der 
Predige* den Segen der von ihm empfohlenen Gesinnung; *Wie auch jedem die 
äufsere Wirksamkeit zerrüttet; die wohlausgeführten Werke zerstört und alles 
Leibliche seines Thuns und Seins verwundet oder getötet werde: wir werden 
unter, allen Zerstörungen jene göttliche Kraft in uns fühlen, vermöge deren 
der .Geist überall seinen Leib, seine Glieder, seine Werkzeuge wiederherstellt 
oder neu erschafft] und so werden wir mutig und heiter, tüchtig und unbesiegt 
der Welt zum Trotz, Gott zum Preise, uns selbst zur Zufriedenheit .dastehen.' 

Stellen wir diesen grofsen, besonnenen Gedanken die Verwirrung der Ver- 
hältnisse und die Haltlosigkeit vieler Verzagten gegenüber, nehmen wir dazu, 
dafs sie in einer ebenmäfsig dahinfliefsenden, an den erhabenen Stil des grie- 
chischen Dichterphilosophen erinnernden Sprache,, mit ebensoviel äufserer 0e- 
, messenheit wie tiefer innerer Ergriffenheit vorgetragen .wurden, so begreift sich 
die Gewalt, die sie über die Gemüter besafsen. Wir besitzen den Bericht eipes 
studiosus medicinae darüber in einem Briefe an seine Eltern. Da heilst es: 
e Man wundert sich über Soh.s Kühnheit, mit den eindringlichsten Worten die 
Zuhörer an ihr Vaterland und arj ihren König zu erinnern, und jeden > der 
fähig ist, das alte Glück des Landes zu befördern, im Guten zu bekräftigen. 
Er schliefet dergleichen jedesmal in sein Schlufsgebet ein und weifs dabei so 
eindringend zu reden, dafs mancher davon entflammt wird und jedeg Auge seine 
Rührung nicht verbirgt/ Fürwahr, viel wiegt in kritischen Zeiten ein Mann, 
sonderlich an geweihter Stätte, wo mit der Besonnenheit «ejnes Wesens sich 
noißh verbindet das heilige Schweigen der Ewigkeitswelt, in fler wie das Lärmen 
des Tages so aueh das Toben der Völker verhallt! 

Schliesslich wurde Seh.- auch diese Wirksamkeit genommen, die er immer 
als eine Wohlthat, bei der man sich und andere stärken könne, empfunden 
hatte: durch den Tilsiter Frieden war das Königreich Westfalen errichtet und 
Halle ihm einverleibt worden. Die Folge war, dafs das Kirchengebet für den 
neuen König Jerome und dessen Gemahlin verordnet wurde. Seitdem hat Seh. 
die Kanzel nicht mehr betreten. So war es Zeit zu dem Entschlufs, den 
Wanderstab zu nehmen unfl das deutsche Vaterland da zu suchen, wo ein 
Protestant leben konnte und Deutsche regierten. 2 ) Er siedelte dahin über, wo 
je länger je mehr vaterlandsliebende Männer sich sammelten in der Hoffnung 
besserer Zeiten: im Dezember 1807 nach Berlin. Das Werk, das er für 



*) S. 281 ff. ■) Briefe II 106. 

23* 



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356 J* Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 

Preufsen und Deutschland dort gethan, noch in wenigen Zügen vorzuführen, ist 
das letzte Stück meiner Aufgabe. 

Die Berliner Anfänge des privatisierenden Gelehrten waren die denkbar 
bescheidensten. Durch Vorlesungen über griechische Philosophie, die er vor 
wifsbegierigen Jünglingen und Männern hielt, erwarb er einen — freilich langst 
nicht ausreichenden — Beitrag zu seinem Lebensunterhalt. Aber seine kleinen 
Verhältnisse verschwanden ihm ganz neben dem grofsen welthistorischen Schau- 
spiele. Das Kleinste, so meint er, was in diesem wirken könnte, würde ihn 
mehr freuen als das gröfste in seinem besonderen Kreise. 1 ) Und er beschliefst 
das Jahr 1807 mit dem in einem Briefe ausgesprochenen Vorsatze: 'Mutig sein 
und ausdauern, froh geniefsen, was übrig ist, lebendig hoffen auf das, was ich 
nicht mehr erleben werde, daran mufs ich mich recht halten.' 2 ) Allmählich 
befestigte sich jedoch seine Existenz: 1809 übernahm er das Pfarramt an der 
Dreifaltigkeitskirche und begründete er seinen Hausstand, 1810 trat er bei der 
Stiftung der Universität, an deren Vorbereitung er einen Hauptanteil hatte, an 
erster Stelle in die Zahl der ordentlichen Professoren der Theologie, er wurde 
Mitglied der Akademie der Wissenschaften und arbeitete während einiger Jahre 
als Rat im Ministerium des Innern. So konnte er sich in ruhigerem Wirken 
und gleichmäfsigem Streben dem ersehnten Ziele zuwenden, das er nie aus den 
Augen verloren hatte, der Wiederherstellung Deutschlands. 

'Es war eine Zeit der Dämmerung. Frischer Morgenwind verkündete das 
Nahen eines schönen Tages, doch die Formen und Massen der jugendlichen 
Welt traten im unsicheren Zwielicht noch nicht scharf und klar auseinander' 
— so beurteilt der Verfasser der Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert die 
Jahre der Stein- und Scharnhorstschen Reformen und die bangeren des Mi- 
nisteriums Altenstein -Dohna. Jedenfalls war Sch.s Glaubenszuversicht auf die 
endliche Rettung des Vaterlandes nach wie vor vonnöten. Dafs sie ihm nicht 
verloren gegangen war, bezeugen wieder seine Briefe: 'Niemals kann ich dahin 
kommen, am Vaterlande zu verzweifeln; ich glaube zu fest daran, ich weifs es 
zu bestimmt, dafs es ein auserwähltes Werkzeug und Volk Gottes ist. Es ist 
möglich, dafs alle unsere Bemühungen vergeblich sind und dafs vor der Hand 
harte und drückende Zeiten eintreten — aber das Vaterland wird gewifs herr- 
lich daraus hervorgehen in kurzem. Es ist eine herrliche Gabe Gottes, in einer 
Zeit zu leben wie diese, alles Schöne wird tiefer gefühlt und man kann es 
gröfser und herrlicher darstellen.' 8 ) Freilich sanken seine Hoffnungen tief, als 
gegen Ende des Jahres 1809 Freiherr v. Stein vom Hasse Napoleons gestürzt 
wurde. Seh. gratulierte dem Geächteten, denn das sei die gröfste Ehre, die 
einem Privatmann widerfahren könnte, für einen Feind der grofsen Nation 
erklärt zu werden. 4 ) Aber als die Steinschen Reformen mehr und mehr ein- 
schliefen, als die Regierung sich nicht entschliefsen konnte, wie die Patrioten 
im Lande einmütig verlangten, am österreichischen Kriege 1809 teilzunehmen, 
vermifste er auf das schmerzlichste die starke, mutige Hand, die vom Ruder 



l ) S. 106. *) S. 106. *) S. 196. <) S. 210. 



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J. Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 357 

des Staatsschiffes entfernt worden war. Und im Sommer 1811 schreibt er an 
Stein nach Prag 1 ): r Es ist nicht zu verkennen, dafs die gegenwärtige Administra- 
tion Ihre Spur ganz verlassen hat 9 , und warnt ihn, mit seinem Ansehen das 
Verfahren der zur Zeit in Berlin einflufsreichen Staatsmänner zu decken, die 
seinen Namen nur beschmutzten. * Woran konnte mir mehr liegen, als dafs 
Ihr gesegneter Name ebenso rein auf jedermann und auf die Nachwelt käme, 
als er vor denen dasteht, welche Sie selbst und Ihr öffentliches Leben zu 
kennen das Glück haben.' Und einige Monate später schreibt er an einen 
Freund 8 ): *Gott mag wissen, was noch aus unseren politischen Verhältnissen 
herauskommt. Mir scheint alles, was geschieht, so verkehrt, dafs ich lieber 
gar nicht daran denken und mich gar nicht darum kümmern mochte.' 

Unterdessen stand er doch auch in aufbauender Arbeit. Während die von 
Napoleon sorgfältig überwachte und gehemmte Regierung in der Vorbereitung 
eines Aufstandes gegen die Fremdherrschaft fast gänzlich gehindert war, traten 
im Lande verschiedentlich Patrioten zu gemeinsamer Thätigkeit zusammen. 
Beobachtung des Feindes, Vereinigung der Entschlossenen, Kräftigung der Ver- 
zagten, kurz Vorbereitung eines Volkskrieges war ihr Ziel. Fichte, Niebuhr, 
Seh. gehörten zu einer dieser geheimen Gesellschaften, Stein und Dohna, 
Scharnhorst und Gneisenau standen ihr nahe. Sek beschreibt sie später ein- 
mal 3 ): 'Man trat nicht hinein und nicht heraus, da war keine Aufnahme, keine 
Obern, keine Formel, keine Statuten, keine Insignien, keine Papiere. Die Leute 
waren nur durch Vaterlandsliebe und durch gegenseitiges Vertrauen verbunden, 
und solch idealistisches Gesindel ist entsetzlich schwer auseinander zu bringen/ 
Für die Zwecke der Patrioten Vereinigung war der besonnene, 'kluge Schleier', 
wie sie ihn nannten, eine überaus wertvolle Kraft. Er unternahm mehrere 
Reisen in dieser Angelegenheit: 1808 nach Halle, nach Königsberg und nach 
Dessau, 1811 nach Schlesien. Aufserdem fand eine lebhafte Korrespondenz 
statt. Vor allem setzte der Minister Alex. v. Dohna, Seh. eng befreundet, 
diesen, wie er meint, in rasende Bewegung, indem er posttäglich Briefe und 
Berichte von ihm erwartete. Ein solcher Schriftenwechsel war bei dem fran- 
zösischen Spionagesystem nicht ungefährlich, erhielt doch Sch.s Braut eine 
Zeit lang die Briefe ihres Verlobten aufgeschnitten. 4 ) Darum bedienten sich 
die Gesinnungsgenossen einer ausgebildeten Geheimsprache. Zunächst waren 
die Namen vertauscht: König Friedrich Wilhelm III. tritt unter dem gut 
pommerisch klingenden Namen Quednow auf, Stein wird Christ genannt, 
Gneisenau Kall, Scharnhorst Mansfeld, und für Napoleon hat man die sinnige 
Bezeichnung 'der liebe Mann' gewählt. Doch geht die Wörtervertauschung 
noch weiter: die Staatsangelegenheiten werden meist als landwirtschaftliche 
Massnahmen besprochen. Jedenfalls bemerkt der Nichteingeweihte an diesen 
Briefen nichts Auffallendes, es müfste denn der Umstand sein, dafs in Schleier- 
macherschen und Steinschen Briefen sonst nicht so banales Zeug wie die Mit- 



l ) Briefe IV 181. *) An Gafn S. 103. 

•) Samtl. Werke zur Philo*. I 668. 4 ) Briefe H 139. 



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358 J- Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 

teilungen über Gtiterkäufe und schöne Landschaften zu stehen pflegt, die jetzt 
durch die Geheimsprache zu stände kommen. Eine wunderlich wirre Zeit , die 
den Ehrlichsten nötigte, sein Wesen zu wandeln und seinen Gedanken die 
Worte als Masken anzulegen! Doch werden wir der eigenen Meinung Sch.s 
beistimmen können: *Es ist durchaus eine würdige, schöne, tadellose Rolle, die 
ich spiele, und was kann es Schöneres geben, als dafs ich den Zustand der 
Dinge, auf denen das Glück unseres Gebens beruhen mufs, selbst kann leiten 
und herbeiführen helfen,' 1 ) 

Das Wesentliche an seiner Arbeit für das Vaterland haben wir aber mit 
dem eben Dargelegten noch nicht erreicht. Die Umstände verlangten ein Auf- 
gebot aller Mitteilungsformen. Während E. M. Arndt mit zornigen Liedern, die 
von Mund zu Mund gingen, sein Volk bestürmte, Pichte in seinen Reden die 
deutsche Nation zu ihrer Erneuerung zu führen suchte, fuhr Seh. fort, mit 
seinen politischen Predigten die schlafenden Geister zu wecken. 'Ich beneide 
jeden, der das Glück hat, in irgend einem Sinne eine politische Person zu sein. 
Leider kann ich nichts thun für die Regeneration als predigen. 9 Aber seine 
Wirksamkeit war grofs, dichte Scharen sammelten sich in dem dürftigen 
Rundbau der Dreifaltigkeitskirche, um ihn zu hören. 'Bunter ist überhaupt 
wohl kein Fischzug als mein kirchliches Auditorium — so beschreibt er es 2 ) — : 
Herrnhuter, Juden, getaufte und ungetaufte, junge Philosophen und Philologen, 
elegante Damen* u. s. w. Und einer seiner Zeitgenossen 8 ) berichtet: 'Es giebt 
keinen, der wie er die Gesinnung der Einwohner hob und regelte, und in allen 
Klassen eine nationale, eine religiöse, eine tiefere geistige Ansicht verbreitete. 
Berlin ward durch ihn wie umgewandelt und würde sich nach Verlauf einiger 
Jahre in seiner früheren Oberflächlichkeit kaum wiedererkannt haben. Was 
ihm den grofsen Einflufs verschaffte, war dieses: dafs er Christ war im edlen 
Sinne, fester unerschütterlicher Bürger, in der bedenklichsten Zeit kühn mit 
den Kühnsten verbunden, ein Mensch in der tiefsten Bedeutung des Worts, 
und doch als Gelehrter streng, klar, entschieden. Sein Entschlufs, sich für das 
schmachvoll gedrückte Vaterland zu opfern, hatte damals eine ansteckende 
Gewalt und unterhielt die kühne Gesinnung, die entschlossen war, nicht blofs 
bessere Zeiten unthätig zu erwarten, sondern auch, wo sich die Gelegenheit 
darbot, durch die That herbeizuführen. Sein mächtiger, frischer, stets fröhlicher 
Geist war einem kühnen Heere gleich in der trübsten Zeit/ 

Da über die Hauptgedanken der politischen Predigt Sch.s schon bei seiner 
Hallischen Zeit gehandelt wurde, so können hier ausführlichere Mitteilungen 
über die in Berlin gesprochenen wegbleiben. Nur einige Themata 4 ) seien citiert 
zur Andeutung der Gedankenbahnen, auf denen er seine Zuhörer führte: Über 
den heilsamen Rat, zu haben, als hätten wir nicht — Über die Beharrlichkeit 
gegen das uns bedrängende Böse — Wie wir eine zwischen grofsen Ereignissen 
liegende Zeit anwenden sollen — Wie sich in grofsen Wendepunkten mensch- 
licher Dinge die Würdigen beweisen. Seinen Predigten verdankte er es auch, 



l ) 8. 122. *) IV 156. *) Steffens. «) Pred., Bd. I. 



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J. Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 359 

dafs er eines Tages vor den Marschall Davoust gefuhrt und als Unruhe- 
stifter verwarnt wurde. Poch that man ihm nichts weiter an. 

Die Saat ging endlich auf. Das Ersehnte und Vorbereitete, die Erhebung 
von 1813, trat ein» Die gewaltige Erregung, welche des Königs Aufruf an sein 
Volk hervorgerufen hatte, erfüllte Berlin. Wieder stand Seh. an der Spitze der 
Bewegung im Volke: ein Brief Scharnhorsts 1 ) aus den ersten Wochen dar Kriega- 
rüatungen dankt ihm, der sich für die schnelle Fortführung der Kriegsfrei- 
willigen den Staat verpflichtet hätte. Zu gleicher Zeit rief Seh. gemeinsam mit 
Niebuhr u. a. eine Zeitung, den Preufsischen Korrespondenten, ins Leben, um 
durch ihn auf einen weiteren Kreis einwirken zu können, und versah eine Zeit 
lang <Jie Redaktion des Blattes. Jetzt klingt der ganze Jubel des treuen Mannes 
aus den Worten eines Briefes heraus: man müfste doch in Freude und Wonne ver- 
gehen über die so herrlich sich entwickelnde Zeit, die auch Menschen, die schon 
ganz hoffnungslos waren, einen neuen, Geist einhauchte. 8 ) Und am 28. März 
feiert er im Gottesdienste den Anbruch der grofsen Zeit. 3 ) An das vergangene 
Schwere erinnert er und als Rückkehr zur Wahrheit begrüfst er die eingetretene 
Veränderung, die sich besonders in der allgemeinen Opferfreudigkeit und der 
Vereinigung von Armee und Volk kundthue. Dann spricht er die Warnung 
vor Selbstüberschätzung und Übermut, die Mahnung zu verdoppelter Treue und 
Sorgfalt aus. Und er schliefst: e Keiner erfreue sich eines ungestörten Ansehens 
in der Gesellschaft, der noch Mutlosigkeit oder Gleichgültigkeit durch Wort 
oder That predigt oder geneigt scheint, den vorigen Zustand mit Ruhe den 
Kämpfen um einen bessern vorzuziehen! Keiner bleibe unbeobachtet und un- 
entlarvt, welcher meint, je mehr aller Augen nach aufsen gewendet wären, unj 
desto sicherer und verborgener könne er einer jetzt mehr als je frevelhaften 
und verräterischen Selbstsucht fröhnen. Keiner bleibe ungezüchtigt, der etwa 
in dem thörichten Wahn, für den Fall eines unglücklichen Ausgangs sich selbst 
ein leidlicheres Schicksal zu bereiten, irgend die kräftigen Mafsregeln hemmen 
oder sich von ihnen ausschliefsen wollte, die unumgänglich notwendig sind, um 
einen glücklichen Ausgang herbeizuführen. Ja, sollte sich Engherzigkeit und 
Verworfenheit dieser Art gar im Grofsen oder Kleinen in die öffentliche Ver- 
waltung einschleichen wollen, dann lafst uns, weil die Gefahr doppelt ist, auch 
doppelt ankämpfen und nicht ruhen, bis wir siegen!' — *So stehe jeder auf 
seinem Posten und weiche nicht! So halte sich jeder frisch und grün im 
Gefühl der grofsen heiligen Kräfte, die ihn beleben! So vertraue jeder Gott 
und rufe ihn an!' 

Die Wechselfälle des nun ausbrechenden Krieges haben, bald erhebend, 
bald beängstigend, auch auf Sch.s Stimmungen eingewirkt. Doch gab er sich 
ihnen keineswegs thatenlos preis. Vielmehr trat er dem zur Verteidigung 
Berlins gebildeten Landsturme bei. Und in welchen Feuereifer blicken wir 
hinein, wenn wir in einem der Briefe an seine in Schlesien geborgene Frau 
lesen 4 ), wie er nach der Morgenarbeit im akademischen Berufe und in pfarr- 



*) Briefe IV 190. *) H 266. ») Pred. IV 87. *) H 269. 



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360 J. Reinhard: Friedrich Schleiermacher als deutscher Patriot 

amtlichen Geschäften drei Stunden lang exerziert, eine Sitzung des Pres- 
byteriums abhält, endlich am Abende ein Landwehr-Bataillon einsegnet. Es 
ist begreiflich, dafs ein Mann von solcher Gesinnung alle Nachrichten vom 
Kriegsschauplatze mit Spannung verfolgt, und als sie nach Niederlagen im An- 
fange von Siegen zu melden wufsten, sie mit Freude begrüfst hat. Unbegreif- 
lich dagegen wird es bleiben, dafs schon während des Krieges ein erbärmliches 
Denunziantentum und eine argwöhnische Regierung einen so bewährten Vater- 
landsfreund mifstrauischer, kränkender Behandlung hat aussetzen können. An- 
statt darauf einzugehen, ziehen wir es vor, den Vorhang fallen zu lassen über 
das weitere Wirken und Leiden dieses Patrioten, das ihm der treue Dienst fürs 
Vaterland noch gebracht hat. Der bedeutende Geist mifst mit anderem Ma&e 
als die Kleinen und mufs ihre Rache dafür empfinden, dafs er ihnen un- 
verständlich ist. Wie weitblickend aber ein Seh. gewesen, das mag zum Schlufs 
eine Stelle aus einem inmitten der Kriegsunruhen an Friedr. Schlegel gerichteten 
Briefe erweisen, wo er dem alten Freunde sein politisches Glaubensbekenntnis 
erstattet 1 ): r Die Stammes Verschiedenheiten — heifst es da — wie die Spuren 
der alten einzelnen politischen Konkreszenzen sind den Deutschen zu stark auf- 
gedrückt, als dafs man sie sollte vernichten wollen dürfen. Nur sollen sie 
nicht über die gröfsere Nationaleinheit dominieren. Darum ist nach der Be- 
freiung mein höchster Wunsch auf ein wahres deutsches Kaisertum, kräftig 
und nach aufsen hin allein das ganze deutsche Volk und Land repräsentierend, 
das aber wieder nach innen den einzelnen Ländern und ihren Fürsten recht 
viel Freiheit läfst, sich nach ihrer Eigentümlichkeit auszubilden und zu re- 
gieren. Aber jenes ist nur möglich, wenn kein dem deutschen Kaisertum zu- 
gehöriger Fürst Länder hat, die demselben nicht angehören, und dieses ist nur 
möglich, wenn in die inneren (nicht militärischen und diplomatischen) An- 
gelegenheiten der einzelnen Staaten der Kaiser sich ja nicht mischt/ 

! ) Briefe m 428. 



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DIE PHANTASIE 

Eine psychologisch -ästhetische Studie 

Von Alfred Biese 

Die Phantasie ist zwar, wie Goethe sagt, das ^Schofskind* Juppiters, nicht 
etwa trotz, sondern gerade wegen der 'Launen der Thörin', aber sie ist auch 
zugleich das Stiefkind der modernen Pädagogik, der modernen, physiologischen 
Psychologie. Diese weifs, im Grunde genommen, herzlich wenig mit dem 
'ewig beweglichen 9 , 'seltsamen 9 Wesen anzufangen, das chamäleonartig seine 
Gestalt wechselt und überall bei der Bethätigung des Menschengeistes sich mehr 
oder weniger zur Geltung bringt. Es ist aber eine wunderbare und doch wieder 
in der verwickelten Eigenart der menschlichen Psyche begründete Thatsache, 
dafs, welche seelische Kraft auch immer wir zu eindringender Betrachtung 
herausheben — sei es nun das Fühlen oder Wollen oder Vorstellen, sei es 
die Erinnerung, das Gemüt, die Phantasie — gerade die, auf welche wir unser 
Augenmerk richten, uns auch als die bedeutsamste, wirkungsvollste erscheinen 
will. So erhebt denn auch in dem bunten Stimmengewirre der Psychologen 
der eine für den Willen, der andere für das Fühlen, der dritte für das Ver- 
mögen zu vergleichen und sich zu erinnern u. 8. f. seine Stimme und erklärt 
es für die wichtigste Seelenregung, ohne die alle übrigen nicht gedacht werden 
könnten. Und sonderbar genug, jeder hat recht. Die menschliche Seele gleicht 
einem vielstimmigen Orchester, bei dem jedes Instrument seine eigene Berechti- 
gung hat und seine Bestimmung erfüllt, bei dem aber auch bald dieses, bald 
jenes die Führung Übernimmt. Und so ist es individuell verschieden, ob Ver- 
stand oder Wille, ob Gemüt, ob Phantasie im besonderen Mafse ausgebildet 
ist und die Herrschaft in Lebensanschauung und Lebensbetnätigung gewinnt. 1 ) 

Piaton, der phantasiereiche Philosoph oder philosophische Dichter, stellt 
yavtaöCa und atödyöig (d. i. die Wahrnehmung) eng zusammen; sie ist für 
ihn die Auffassung der Bilder der sinnlichen Wahrnehmung; das künstlerische 

*) Aber es könnte gerade in unseren Tagen, wo auch in den höheren Schulen daa 
Verstandesmäfsige, vom Nützlichkeitsstandpunkt Diktierte, das Schematische u. s. w. fast 
die Alleinherrschaft führt, nicht schaden, wenn Phantasie und psychologische Vertiefung 
der Probleme, wenn philosophische Durchdringung, wenn ferner warmes GrfÜhl und lebendige 
Anschauung die natürlichen Forderungen des Herzens der Jugend in höherem Mafse be- 
friedigten. — Die folgenden Blätter möchten nicht nur zum psychologischen Unterricht in 
Prima, sondern überhaupt zur Verinnerlichung der pädagogischen Thätigkeit, besonders 
auf dem Gebiete des Deutschen, einen Beitrag liefern. 



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362 A. Biese: Die Phantasie 

Schaffen dagegen ruht auf der Einbildung, der dxaöCa } und das Kunstwerk 
ist das gereinigte (idealisierte) Bild der Wirklichkeit, eine Nachahmung des 
Phantasiebildes, des Ideals; die göttliche Kraft des Dichters ist eine &e£cc pccvicc, 
ein göttlicher Wahnsinn. 

Aristoteles beschränkt den Begriff q>avtaö(a ebenfalls auf die Sinneswahr- 
nehmung, er nennt sie 'eine sinnliche Wahrnehmung ohne Stoff, d. h. sie ge- 
staltet das rein innerlich Geschaute nicht ajs Gedanken, sondern in Formen, 
die der Wirklichkeit entsprechen (De an. III 8); er hebt aber auch die Fähig- 
keit hervor, sich lebhaft alles im Innern gleichsam als Bild vor den inneren 
Blick zu stellen (Poet. c. 17), und fordert vom Dichter, er müsse sich alles 
biß ins einzelne so lebendig veranschaulichen, als sei er bei dem Vorgange 
selbst gegenwärtig gewesen und habe es mit eigenen Augen gesehen; Ein- 
bildungskraft mufs sich also — wie wir heute sagen würden — mit Ein- 
fühlung verbinden; Aristoteles bezeichnet diese Kraft des Dichters, sich selber 
in den zu schildernden leidenschaftlichen Zustand zu versetzen, als Folge des 
lebhaften Temperaments, als natürliches Genie; die Klarheit des Gestaltens 
mufs sich mit Wärme der Begeisterung verbinden; die Ekstase, die geistige 
Trunkenheit, geregelt durch Besonnenheit, ergiebt die schöpferische Dichter- 
gabe. Die Phantasie in Beziehung zur Kunst unterschied von der niederen 
Einbildungskraft erst der Sophist Philostratus. — Cicero folgt (Tusc. I 62 £) 
den Stoikern, wenn er die Kraft zu erfinden und zu ersinnen (inventio atque 
excogitatio) als göttliche Anlage, als caelestis mentis instinctus preist, ohne 
den kein Kunstwerk entstünde. — In der neueren Zeit waren es besonders die 
Engländer (Bacon, Hobbes), welche die Poesie auf Einbildungskraft gründeten; 
Addison rühmt die Neigung zum Phantastischen, die dem englischen Volke 
eigentümlich sei (fanciful); er bezeichnet das Gesicht als einen erweiterten 
Tastsinn, die Phantasie als einen erweiterten Gesichtssinn, ein Gesicht für Un- 
gegenwärtiges. Hutcheson fand den Geschmack in der Fähigkeit des inneren 
Vergleichens u. ä. m. Während die Franzosen das Prinzip des Nützlichen, 
Regelmäfsigen vorwalten lassen, heben die Engländer (z. B. Burke und Home) 
das Gefühl, das Gemüt, die Sympathie hervor. 

Unsere deutschen Klassiker leben und weben in der Verherrlichung der 
Phantasie; Schiller nennt sie in den 'Künstlern' 'die schöne Bildkraft*, er 
richtet die Forderung an den Dichter: 

Dafs dein Leben Gestalt, dein Gedanke Leben gewinne, 
Laus die belebende Kraft stets auch die bildende sein. 

Jean Paul trennt die Einbildungskraft, die auch die Tiere besäfsen ('weil sie 
träumen und fürchten') und die Phantasie, die ihm etwas Höheres, 'der 
Elementargeist der übrigen Kräfte' ist, denn sie 'mache alle Teile zum 
Ganzen'. Bei den Philosophen — wie Schelling und Solger — wird die 
Phantasie, in nebelhafter Mystik, ein 'aktiv-passives Erkennen', eine 'bewufst- 
unbewufste Thätigkeit', eine Erleuchtung, bei der das Menschenhirn gleichsam 
ein passives Gefäfs für Aufnahme des gottlichen Offenbarungsstrahls werde. 



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A. Biese: Die Phantasie 363 

Auch für Weifse ist die Phantasie etwaö ^sohit-Geistiges*, welehes r den end- 
lichen Geist und seine Besonnenheit "beherrscht und nur in ein£r höheren Be- 1 
sonnenheit, nämlich in der des Genius, als Moment oder als Kraft aufgehoben 
zu werden vermag*; *in dem Begriff 'der Phantasie, welcher die unmittelbare 
Substanz der Schönheit ist, sind zwei Momente gesetzt, deren Wechselbeziehung 
die Wirklichkeit der Schönheit ausmächt, nämlich die Empfindung (Seligkeit) 
und die Anschauung (das Beseligende) 9 . Die Systeme Hegels und Vischert sind 
nicht minder durch den schwerfälligen Begriffspanzer und die dunkle Aus- 
drucksweise entstellt, aber hindurch blitzen überall leuchtende, geniale Gedanken. 
Vischer ist durchdrungen von dem Phantasievermögen; er nennt es daß *un- 
bewufst verwechselnde*, leihende' Anschauen, eine < symholisch beseelende Kraft*, 
die auf *Zurückverlegung des empfindenden und selbstbewufsten Leböns hinter 
sich in die blinde Natur* beruhe. Robert Vischer, Lotee, Portlage, Siebeck, 
Volkelt, Groos, Ziegler u. a; haben diesen fruchtbaren Begriff der Anpassung 
des Menschlichen, sei es des Thantasieleibes' oder der Menschenseele selbst, 
an die Dinge weitergeführt. 1 ) Fechner machte die Assoziation der Vorstellungen 
zum Grundstein der Ästhetik, während nüchtern armselige Anschauung bei 
Zimmermann, mathematischer Pormalismus bei Herbart waltet, äo dafs alle 
Symbolik, alle Phantasiethätigkeit sich verflüchtigt. Schopenhauer und v. Hart- 
mann werden nicht müde, die Phantasie als die Triebkraft der Kunst zu 
schildern; sie ist für Schopenhauer *der wesentliche Bestandteil der Genialität'; 
freilich weifs er: *alle Menschen besitzen Phantasie, d. i. das Vermögen, in den 
Dingen die Ideen zu erkennen und eben damit sich ihrer Persönlichkeit augen- 
blicklich zu entäufsern; der Genius aber hat vor ihnen nicht nut den viel 
höheren Grad und die anhaltende Dauer jener Erkenntnisweise voraus, sondern 
behält bei derselben auch jene Besonnenheit, die erforderlich ist, um das so 
Erkannte in einem willkürlichen Werk zu wiederholen. Solche Wiederholung 
ist das Kunstwerk'. 

Während dann Frohschammer die Phantasie zum Grundprinzip des Welt- 
prozesses erhob, schuf das Emporblühen der Naturwissenschaften eine gewaltige 
Ernüchterung. Wundt weist sie aus der Psychologie aus: 'Die intellektuellen 
Funktionen in der Form der Phantasiethätigkeit fallen der Ästhetik zu', heilst 
es in den 'Vorlesungen über Menschen- und Tierseele' (3. Aufl. S. 359). — Weit 
mehr gerecht wird der Phantasie das scharfsinnige Lehrbuch der allgemeinen 
Psychologie von Joh. Rehmke (1894 Hamburg u. Leipzig, Leop. Vofs). 

Aus Sinneseindrücken setzt sich die Wahrnehmung, aus Wahrnehmungen 
die Vorstellung zusammen; aber wie verwickelt ist wiederum der physiologische 
Vorgang einer Sinnesempfindung; unterscheiden wir doch in ihm die drei Stufen 
des Reizes, der Nervenerregung und eines Gehirnzustandes und anderseits die 
sechs Kreise: Gesicht, Gehör, Geschmack, Geruch, Hautempfindung und Muskel- 
empfindung, und jeder dieser Kreise schliefst auch wieder eine Reihe verwickelter 

! ) Ich selbst in der f Philosophie des Metaphorischen 9 (Hamburg u. Leipzig, Leop. 
Vofs 1893). 



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364 A. Biese: Die Phantasie 

Erscheinungen in sich. Wir können uns die psychologische Stufenleiter von 
Empfinden, Wahrnehmen, Vorstellen am einfachsten mit den lateinischen Aus- 
drücken videre, cernere, intellegere klar machen; videre ist das sinnliche Sehen, 
das &qüv, das noch nicht zum Bewufstsein zu kommen braucht, cernere ist 
schon ein Unterscheiden der Gegenstande voneinander; ein Wahrnehmen des 
Einzelnen, (pgcifcöd-cu, und intellegere, coguoscere (griechisch etöevcu, (pqeöl 
voalv) schliefst die Scheidung der ungleichartigen und die Zusammenfassung 
der gemeinsamen Merkmale eines Gegenstandes, d. i. eine Vorstellung in sich 

Und was ist nun die Phantasie? 

Der Stamm des griechischen Verbums <patv(o, also <pav-, bedeutet sicht- 
bar, offenbar machen, zeigen, die Iterativform tafa die häufige Wiederholung; 
(pavxa6ia ist daher im griechischen Sprachgebrauch die aktive Fähigkeit, 
Sinneseindrücke zu empfangen, Vorstellungen zu bilden, aber auch passivisch 
das Vorgestellte, die Vorstellung selbst, die Einbildung (neben (pavxaöpa), dann 
besonders die Fähigkeit, Dinge als wirklich, als gegenwärtig sich vorzustellen, 
welche nur im menschlichen Geiste vorhanden sind oder die in der Ferne des 
Raumes oder der Zeit sich fanden oder finden. 

Phantasie ist Bildkraft; die Aufsenwelt wird zu inneren Bildern und das 
seelische Erleben formt sich in der Kunst auch wieder zu Gebilden; so sagte 
Goethe zu Eckermann die prächtigen, viel citierten Worte: 'Ich empfing in 
meinem Innern Eindrücke, und zwar Eindrücke sinnlicher, lebensvoller, lieb- 
licher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir 
darbot; und ich hatte als Poet weiter nichts zu thun, als solche Anschauungen 
und Eindrücke in mir künstlerisch zu runden und auszubilden und durch 
eine lebendige Darstellung so zum Vorschein zu bringen, dafs andere dieselben 
Eindrücke erhielten, wenn sie mein Dargestelltes horten oder lasen.' — Das 
Bilden, das Gestalten, das Schaffen tritt als eine Grundkraft der Seele in der 
Phantasie besonders hervor, und es beruht auf dem Umformen des Gegen- 
standlichen, des im Bewufstsein Vorhandenen, cL i. der Wahrnehmungen und 
Vorstellungen, zu etwas Neuem, zu einer besonderen Einheit. 

Während das Vorstellungsvermögen der Seele einen Inhalt wieder bietet, 
den sie bereits früher in sich verarbeitet hat; während das Denkvermögen der 
Seele bisher Unbestimmtes, Ungesichtetes als etwas Bestimmtes liefert, schafft 
die Phantasie dagegen ein Neues, nicht zwar hinsichtlich des Stoffes selbst, 
wohl aber hinsichtlich seiner Einheit, hinsichtlich der Verbindung (Kombination) 
von Erfahrungen sinnlicher oder gedanklicher Art. Mag uns der Traum, mag 
die Illusion, Vision, Hallucination oder die Komik, der blitzartig von einer 
Sphäre auf die andere übertragende Witz u. s. w. noch so kühne Gestalten 
annehmen: sie sind doch nichts als die wundersame Vermischung von Wahr- 
nehmungen und Vorstellungen. 

Aber es ist ein besonderes Neues, eine eigenartige Angliederung einer 
Vorstellung an die andern, die wir bei der Phantasie wahrnehmen, reden wir 
von der lachenden Sonne oder dem scharfen Geiste, von rasendem Feuer oder 
bitteren, nagenden Sorgen, oder gaukelt uns das Märchen Däumlinge und Riesen, 



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A. Biese: Die Phantasie 365 

Zuckerhäuschen oder Siebenmeilenstiefel, goldene Äpfel, redende Tiere u. s. w. 
vor. Thätigsein und Umbilden bezeichnet überhaupt das innerste Wesen der 
Seele; wir wollen immer geistig beschäftigt, angeregt sein; die menschliche 
Seele mufs immer zu schaffen haben, sie lechzt nach Belebung und Erschütte- 
rung, nach dem Thätigsein. Und dies ist schon auf der niedrigsten Stufe 
ein Gestalten, ein Trennen oder Verbinden, kurz ein Umbilden. 

Die Welt der Wahrnehmungen ist ein Gebilde unserer Sinnesorgane; was wir 
als Schwingung der Luft objektiv bezeichnen das wird in unserem Sinnesnerv, 
je nachdem dieser geartet ist, zur Wärme, zum Licht, zum Ton, zur Farbe. So 
ist also schon das Aufnehmen des sinnlichen Eindrucks ein Umformen, sind 
Empfindungen und Töne Lebensakte der fühlenden Innerlichkeit, denn Luft- 
und Atherwellen sind an sich ton- und lichtlose Bewegungen im Raum; der- 
selbe elektrische Strom kann den säuerlichen Geschmack, den phosphorhaften 
Geruch, das Prickeln der Haut, den Funken im Auge und das Knistern im 
Ohre erregen. Unsere Sinne sind nicht Spiegel, welche die Aufsendinge auf- 
fangen, sondern die Empfindungen und Wahrnehmungen sind Bethätigungen, 
Erzeugnisse unserer Seele. — Aber nicht nur unser Wahrnehmen, sondern 
auch alles Aufmerken, alles Begreifen ist Thätigkeit; auch im Vorstellen ist 
die Einbildungskraft wirksam; setzen wir die einzelnen Wahrnehmungen zu- 
sammen, so schaffen wir ein Bild; erneuern wir die Vorstellung, so kommt 
diese nimmermehr unverändert wieder empor, auftauchend über r die Schwelle 
des Bewußtseins', sondern — wie Wundt uns lehrt a. a. 0. S. 517 — *jede 
erinnerte Vorstellung ist in Wahrheit ein neues Gebilde, das aus zahlreichen 
Elementen verschiedener früherer Vorstellungen zusammengesetzt ist'. Heben 
wir das Allgemeine aus dem Einzelnen zu einem logischen Begriffe heraus, so 
schaffen wir ein Bild. Immer bilden wir das Gegebene um und leben somit 
in einer Welt selbstgeschaffener Gestaltungen. 

Aber obwohl unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen nur Vergeistig- 
ungen des Körperlichen, Synthesen von Geist und Welt, Erzeugnisse transcenden- 
taler Ursachen und der umformenden Thätigkeit unserer Seele sind, so über- 
tragen wir doch (metaphorisch) verallgemeinernd das, was nur für uns — nun 
einmal so, wie wir sind, geartete Wesen — gilt, als Eigenschaften auf die Dinge 
selbst und benennen sie, indem wir das Teilhafte, d. i. das Charakteristische für 
das Ganze setzen. Unsere Phantasie schaltet und waltet daher metaphorisch. In 
meiner Thilosophie des Metaphorischen' habe ich daher diesen Begriff zu einem 
Grundbegriff erhoben. — Unterscheiden wir nämlich die beiden uns ledig- 
lich bekannten Sphären: das Innere und das Äufsere, so beobachten wir, wie 
die Phantasie im Wahrnehmen, Vorstellen, Begriffebilden (Denken, Urteilen, 
Schliefsen), in der Sprache u. s. w. immer von der einen Sphäre auf die andere 
überträgt, das Sinnliche auf das Geistige oder umgekehrt oder wechselseitig. 

Das Schaffen der Phantasie ist — wenn wir es auf eine ganz kurze 
Formel bringen wollen und alles, was es für uns giebt, in Sinnliches und 
Geistiges scheiden — vor allem ein Vergeistigen des Sinnlichen oder ein 
Versinnlichen des Geistigen. Das Versinnlichen des Sinnlichen führt zur 



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,366 A, Biese : Die Phantasie 

Veransehaulichuflg, da» Vergeistigen des (geistigen zur Vertiefung in den 
künstlerischen , Gebilden, — Das Auge der Phantasie beseelt das Gegenständ- 
liche ? und 4^8 innerlich Empfundene und Gedachte wandelt «die schöpferische 
tKraft «üer Phantasie; in Gestalt. Das tritt uns in den mannigfaltigen Wirkungs- 
gebieieii, der Phaptasie entgegen. Und das ist auch nur. natürlich. Sind wir 
doch selbst eine Einheit von Innerem und Äufserem, ,von Leib und. Seele, 
.wissen wir doch nicht, wo der eine aufhört und die andere beginnt, und so 
«entsteht für uns die innere Nötigung, unser Wesen zum Mafae aller Dinge zu 
machen, das Äußere, also das an sich Fremdartige durch das einzig wohl Be- 
kannte, d, i eben unser eigenes inneres und äufseres Leben, uns zugänglich, 
begreifbar zu machen und. anderseits unser Inneres mit allen seinen Regungen, 
Gedanken und Empfindungen auszugestalten in der Sprache und in der Kunst, 
in der Religion und m dar Philosophie. 

., Die Kraft des Bildens, des Beseelens ist das Wesen der Phantasie. Sie 
macht sich. nicht nur — wie man oftmals wähnte — beim Schaffen jener 
neuen Gebilde, die nur im Geiste des Menschen bestehen, wie Riesen, Däum- 
linge, Centauren, Hexen, Kobolde u. s. f. geltend, sondern sie waltet allüberall 
im Leben /der Seele; nicht nur sinnliche, sondern auch geistige Farbe leiht 
sie den Dingen; das Starre und Tote gewinnt Bewegung, gewinnt ein lebens- 
volles Sein; die Linien der Berge, die Formen der Baume streben zur Höhe, 
weil wir in unbewufster Phantanethätigkeit die Thätigkeit unseres nach- 
eilenden Auges in jene hineinprojizieren; die Felsen scheinen mit Trotz 
Sonne und Sturm stand zu bieten, der Giefsbach mit Jauchzen sich hinab- 
zustürzen, das Feuer zu rasen, die Flut zu toben, der Sturm in Leiden- 
schaft zu wüten il s. f. Und alles das ist nicht nur bildliehe Bede; es ist 
naturnotwendige metaphorische Phantasievorstellung, die erwachsen ist auf 
demselben Boden, auf dem unsere Wahrnehmung, unsere Vorstellung über- 
haupt erwächst, d. h. auf dem Boden der Umformung, die unsere Seele mit 
allem, was die Sinne ihr zufuhren, vornehmen mufs,. Wer will scheiden, 
was lediglich Wahrnehmung im engeren Sinne und was ästhetische. Illusion 
ist? Es ist immer ein Neues, das die Seele bildet, und diese Thätigkeit 
in ihr nennen wir eben Einbildungskraft, nennen wir Phantasie. Dabei ist 
es. selbstverständlich, dafs auch diese Kraft nirgends allein wirkt, sondern 
wie sie Wahrnehmungen und Vorstellungen als den Stoff ihrer Gebilde 
voraussetzt, so erweist sie sich auch niemals ohne jene beiden anderen 
Grundkrafte, ohne Gefühl und Willen, thätig; vom Denken, vom Verstände 
unterscheidet sie sich darin, dafs bei jenem das Trennen, bei ihr das Ver- 
binden das erste ist. 

Verstand und Phantasie haben denselben Stoff gemeinsam, und das Denken 
mag man ein 'Bilden' von Urteilen nennen, aber es ist nachts als Phrase und 
führt irre, die Thätigkeit der Phantasie ein 'Denken in Bildern* zu nennen; 
das Wesentliche bleibt: ein Neuschaffen von Wahrnehmungen, Anschauungen, 
Vorstellungen durch Übertragung, durch Angliederung der einen an die andere; 
leiht die Phantasie dem Baume, dem Strauch, der Säule, dem Dach ein Leben, 



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A. Biese : Die Phantasie 367 

ein seelisches Regen und Streben, go gliedert sie ebeü der gbhliohten, objektiven 
Anschauung ein geiätigefc, menscJüiches- Einpfinden anytind es ist nicht unser 
geringstes, nöin, es ist unser köstlichstes Vermogeri, die Dinge der Aufsenwelt 
in den Strom unserer Seele zu tauchen y sie' dürchgeisiigen', Bytnbolisch um- 
gestalten zu können. Aber nicht minder köstlich ist das Vermögen/ das wogende 
• Leben des Innern* in feste Gestalt^ in Wärt und Bild oder in cten flüchtigen Ton 
umwandeln fcu können. • — Hierauf beruht das Schöpferiödhe/ d. i. das Geniale 
•im Mensfchen. ^— Die Phantasie verwebt und versdhmifat Inneres <uiid Äü&eres, 
sie ist die Sinnliches vergeistigend* und Ghefetige^ tettinnli'chende, kurz die 
metaphxDTi8öbe Büdkrkfl det S^ele, •>'■■■ ' .»«!.■ 

Das ! Gebiet der Phantasie ist natürlich die gafczä Welt 'der Erscheinungen ; 
wir können Aber ihre' ThäfcigkeSt scheiden i» psychologischer und in ästtietiseher 
Hinsicht. ; " "' v •' •-.•■'..■'' :•-,'•• '.;•;,*.' - r-. -. 

Das Bilden der Seelfr ist frei* je meto aber dar organisierende Verstand, 
je mfchr das Gegenständliche in dem Gedächtnisse »zur Herrschaft gftkugt» d&to 
gebundener wird es. Am freiesten ist das Spiel der Phantasie im Traum und 
im Kändesleben des Einzelnen und der Völker* gebunden wird es in de^ Erinne- 
rung und Sehnsucht und Purcht und Hoffnung, in der Kunst, in der Wissenschaft. 

Im Traum, wo das Bewufstsein, wenn nicht erloschen, so doch stark be- 
schrankt ist, wo dei* ordnende Verstand, der die Fäden der Vorstellungen straff 
festhält und jede Verknotung und Zerrung hemmt, -sein Reich abgegeben hat 
an die Phantasie, da entfaltet diese zügellos ihre Macht; an den äufseren Reiz 
der Nerven knüpft sie ein buntes Gewebe von Vorstellungen: verschiebt sich 
die Decke des Traumenden, hat er das Gefühl der Kälte, an den Pftfsen, so 
wandelt er durch einen TPlufs, an den Händen, so wird er von kalten Fäusten 
gepackt; liegen die Kniee aufeinander, so wähnt er zu feilen; schläft er in 
enger Schiffskoje und stofst mit dem Kopf gegen die Decke , so versetzt ihn 
die Traumphantasie in die marternde Angst des Lebendigbegrabenen. Fällt 
ein Lichtstrahl in Sein Auge, so wähnt er sich im hellerleuöhteten ITestsaal, 
oder er träumt, auf dem Rigi den Sonnenuntergang zu geniefsen. Noch 
häufiger sind die Traume symbolische Abspiegelungen innerer, körperlicher oder 
seelischer, Zustande. Üppige Speisen, feurige Weine geben der Phantasie Flügel, 
die uns in ferne, niebetretene Gegenden tragen, in Palmenhaine, in herrliche 
Moscheen und Tempel; leicht wie ein Vogel, geschwind wie die Wolken schweben 
wir über Ldnd und Meer dahin, oder auch wilde Bestien richten ihren unheim- 
lichen Bück auf uns, zum Sturze bereit. Und wie plastisch anschaulich er- 
scheinen uns die Bilder, wie zusammenhangsvoll die kühnen Gedanken, die wir 
noch kurz zuvor am Schreibtisch nicht finden konnten und nun weiter epinnenl 
Leider folgt dann meistens die Ernüchterung mit dem kahlen, bleichen Tages- 
lichte, und alle die schönen Gedanken und Systeme zerfliefsen wie die Morgen- 
nebel, wie flüchtige Schemen in nichts; denn es waren Trugbilder, wilde, wirre 
Assoziationen, mit denen uns die Phantasie umgaukelte; der Begeisterung > dem 
Schwünge fehlte die Besonnenheit, fehlte das wache ordnende Verstandes- 



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368 A. Biese: Die Phantasie 

bewufstsein, die Konzentration der Aufmerksamkeit — Aber wundersam sind 
die Empfindungen, die uns beschleichen. Bald ist die Traumphantasie lyrisch, 
weich, gefühlvoll: wir schwelgen in Mitgefühl, in Rührung, wir schmelzen in 
Reue und Verzweiflung; bald ist sie episch: wir erleben eine lange Geschichte, 
wir sind auf Reisen, sehen die Züge dahinbrausen, weilen an fremden Orten 
mit fremden Menschen, die uns erzählen u. s. w. Bald ist sie dramatisch be- 
wegt: wir halten Dialoge, wir zanken, streiten — und auf all das Gaukelspiel 
sieht vielleicht das herrschende Bewufstsein blitzartig scharfsichtig herab, und 
mitten im Traume gestehen wir uns, dafs doch alles nur ein Traum sei, um 
dann doch lustig oder traurig weiter zu träumen. Und das Wundersamste ist 
die Fülle und die rapide Schnelligkeit, in der die Phantasie dann arbeitet; wir 
glauben oft stundenlang geträumt zu haben, und unsere Uhr belehrt uns, wenn 
wir wieder in Angstschweifs gebadet oder mit hellem Lachen aufwachen, dafs 
es nur Sekunden oder Minuten gewesen. In Krankheitszuständen wird der 
Traum, in Hallucinationen, im Wahnsinn wird die Phantasie zu den tollsten 
Ausgeburten, zu den furchtbarsten Beängstigungen, zu dem ausschweifendsten 
Jubel führen. 

Man nennt den Traum einen Dichter, und in der That ist die Traumphantasie 
der künstlerischen verwandt; aber auch wachend ist ja jeder Mensch, wenigstens 
eine Zeit lang, ein Dichter; ich meine nicht nur die Schwärmerei der ersten 
grünen Liebe, sondern die selige Kindheit. Das Kind ist ganz Phantasie. Und 
es ist oft erstaunlich, wie die bildnerische Kraft der Seele mit dem geringsten 
Vorrat von Wahrnehmungen und Vorstellungen zu schalten und zu walten weifs, 
wie sie kühne Gebilde, nicht blofs Wortformen und Wortverbindungen, sondern 
auch Gebilde der Anschauung sich neu schafft. Die kindliche Phantasie ist 
durchaus metaphorisch, d. h. die Dinge mit ihrem Mafse messend, das Kindes- 
wesen auf sie übertragend. Allem Gegenstandlichen leiht das Kind sein Leben, 
sein Begehren, sein Empfinden: dem Stuhl, dem Tisch, der Puppe u. s. f. Was 
ihm neu und fremd ist, zu dem schlägt die Analogie des Gekannten die Brücke; 
der Mond ist ein grofses Licht, das brennt oder ausgelöscht ist, die Blitze 
rühren von Streichhölzern her, die der liebe Gott anreifst u. ä. m. Welche 
Wunderwelt schafft sich des Kindes Phantasie im Spielt Das ärmlichste Kind 
ist beglückt mit dem Brettchen oder Stöckchen oder Läppchen; denn die 
gütige holde Fee Phantasie breitet ihren goldigen Schimmer über das Alltäg- 
lichste und Dürftigste, wandelt die Hütte in einen Palast, den Stock in ein 
stolzes Rofs. — Des Kindes Welt ist eine Märchenwelt. — Der Spieltrieb ist 
die Wiege der Kunst; er ruht auf einer phantasievollen Vertauschung und 
Umwandlung der Wirklichkeit, auf einer zum Teil bewufsten Illusion, und zu- 
gleich auf jenem Thätigkeitsdrange, den auch der kleine, junge Mensch schon 
beständig befriedigen will; die Seele mufs eben Stoff haben zum Umformen, 
zum Neubilden von Vorstellungen; es ist ihr eine Lust, ihren Stempel allen 
Dingen aufzudrücken, sie durch Seelisches umzuformen, sie sich so näher zu 
bringen, vertraulich auch mit dem Leblosen Zwiesprache zu pflegen, wie es das 
Kind thut mit dem Tisch, mit den Bausteinen, mit Ball und Knäuel u. s. f. 



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A. Biese: Die Phantasie 369 

Aber auch die Tiere spielen! Haben auch diese Phantasie? Wenn Goethe 
den 'alten, hohen' Vater preist, 'der solch eine schöne, unverwelkliche Gattin 
dem sterblichen Menschen gesellen mögen', der 'uns allein sie mit Himmels- 
band verbunden', da fährt er voll Mitleid mit den minderbegabten Wesen fort: 
'Alle die andern armen Geschlechter der kinderreichen, lebendigen Erde wandeln 
und weiden in dunkelm Genufs und trüben Schmerzen des augenblicklichen 
beschränkten Lebens, gebeugt vom Joche der Notdurft.' 

Betrachten wir die kunstvoll gearbeiteten Nester der Vögel, das Spiel der 
Katzen oder der Hunde, bedenken wir, welche Klugheit, welch Gedächtnis, 
welche Treue und Anhänglichkeit, welche Eifersucht, Mifsgunst und Hinterlist 
in solcher Tierseele wohnen kann, so will es uns scheinen, als ob sie auch 
Phantasie besitzen milfsten. Und im niederen Grade ist sie gewifs ijmen nicht 
abzusprechen. Erinnerungsbilder, Assoziationen der Vorstellungen haben auch 
sie, aber keine Begriffs- und Urteilsbildung, keine freie, erfinderische, vom 
Willen geleitete Phantasie; wohl handeln sie zweckthätig, aber ohne Bewufst- 
Bein des Zweckmäfsigen; im Genufs und im Leiden ist ihr Bewufstsein um- 
flort, ihr Seelenleben ist ein vages Spiel von Assoziationen (vgl. Wundt, S. 399 f.). 

Auch ihre Spiele erheben sich nie 'zu jenen erfinderischen Spielen, in denen 
planmäfsig und von einer einheitlichen Gesamtvorstellung aus der Verlauf des 
Spieles geregelt wird'. Erst der phantasievolle Tierpsychologe pflegt seine 
eigenen Motive und Ideen, Berechnungen und Empfindungen in jenes hinein- 
zutragen und es so umzudeuten; sehr natürlich, denn da das Tier durch Leben 
und Bewegung und Geffihlsäufserung uns so nahe gerückt ist, liegt die Ver- 
suchung nahe, die trennenden Schranken hinwegzuräumen und die Grenzlinien 
zu verwischen. Eine planmäfsige, einheitliche Verknüpfung von Vorstellungen 
zu neuen Gebilden ist den Tieren versagt, und dies ist doch das wesentlichste 
Merkmal der menschlichen Phantasie, während die wirre Einbildungskraft des 
Traumes, das unwillkürliche Spiel der Assoziationen auch den Tieren eigen ist. 

Doch ist dies noch ein wenig aufgeklärtes Gebiet 1 ); wir werden aber 
kaum irre gehen, wenn wir bei den Tieren ein mehr trieb- und reflexartiges 
Thun, instinktive Nachahmung als eigene Wahl und intellektuelle Überlegung 
voraussetzen und ihr primitives psychisches Leben dem unsrigen in Parallele 
setzen, wie z. B. die Zelle sich verhält zum entwickelten Organismus. Aber es 
liegt in der Richtung der Zeit begründet, das Tier dem Menschen ganz nahe 
zu rücken, als ob seine Intelligenz von der unsrigen sich nur durch den Mangel 
der Sprache unterschiede, und anderseits den Menschen wieder dem Tiere an- 
zunähern und sogar, wie Wundt (S. 416) will, auch bei ihm weit mehr asso- 
ziatives Vorstellen als wirkliches Denken zu finden; 'ich bin geneigt' — sagt 
er — 'anzunehmen, dafs der Mensch eigentlich nur selten und wenig denkt'. 
Das klingt wenig erbaulich, dürfte aber wohl nicht ganz unzutreffend für die 
Mehrzahl sein. — So wenig auch die Spiele der Tiere und der Kinder von- 
einander entfernt zu sein scheinen, so ist doch schon unverkennbar, wie viel 



x ) Vgl. Karl Groos, Das Spiel der Tiere. Jena 1896. 

Nene Jahrbücher. 1899. II 24 



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370 A. Biese: Die Phantasie 

planvoller, erfinderischer das junge Menschlein verfahrt als das älteste Haus- 
tierchen. 

Auf einer kindlichen Stufe zeigt sich unB die menschliche Phantasie im 
Jugendalter der Völker, in der Sagenschöpfung und besonders in der Mythen- 
bildung. In ihr wandelt sich Glauben und Reflexion, Empfinden und Ahnen 
überweltlicher Wesen in Poesie. Das Denken tritt vor dem Dichten zurück; 
Lebendes und Lebloses werden nicht geschieden; vielmehr alles ist beseelt; alle 
Bewegung in der Natur, im Flufs,- im Meer, in den Wolken, im Blitz, im 
Sturm ist Wirkung, Lebensausstrahlung eines unsichtbaren Wesens, das der 
kindliche Naturmensch sich nach seinem eigenen Bilde, sei es in Dankbarkeit 
und Hoffnung, sei es in Furcht und Zagen milde und gütig oder grausam und 
unerbittlich gestaltet. Oder welche Tiere ihm furchtbar dünken, welche ihm 
Entsetzen einflöfsen wie Schlange oder Tiger, welche er im grimmen Kampfe 
miteinander beobachtet: alle die werden ihm zur Analogie zu den fremdartigen 
Vorgängen am Himmel oder auf der Erde; er deutet sie sich um, übertragt 
Sinnliches oder Seelisches auf das Sinnliche, das Elementare, und so ergeben 
sich in seiner Phantasie neue Vorstellungsgebilde; die Naturereignisse werden 
zu Thaten handelnder Wesen. Wenn die Wolken das segenspendende NaJfe ent- 
führen und die Erde dürsten mufs, so wandelt sich dies in den Mythos von 
dem Widder mit dem goldenen VlieXs in der Argonautensage; der den Eis- 
panzer der Erde lösende Frühlingsstrahl wird zum Sigurd^ der die Brunhild 
befreit; vor allem das Gewitter wird von den Naturvölkern in der mannig- 
fachsten Weise durch die metaphorische Phantasie gedeutet und zu dramatisch 
bewegten Vorgängen umgestaltet, Im Donner hört der Angstvolle die drohende 
Stimme dessen, der ihn geschaffen hat, der Krieger den Ton der Drommete 
oder den Hufschlag göttlicher Rosse, der Hirte das Brüllen einer Kuh, ein 
anderer das Dröhnen des Hammerschlages oder den wilden Aufschrei des 
Wolkendrachens, dem der Gott das Haupt zerschmettert; der Bauer sagt noch 
heute: Uns 1 Herrgott smitt Brot in de Eisten, oder hört Petrus mit den Englein 
Kegel schieben. — r Himmel und Erde werden zu Vater und Mutter der Welt, 
Sonne und Mond Geschwister, die Sterne werden zu Kindern des Mondes, die 
Milchstrafse zu der Wohnung von Seelen oder die Strafse der Vögel oder der 
weifsen Elefanten; der Regenbogen wird zur Brücke oder Schärpe oder Schlange 
oder Waffe. Genug, was nur irgend an Vorstellungen sich im Geiste der 
Naturmenschen gebildet hat, es wird angepafst den neu und fremdartig auf 
ihn eindringenden Eindrücken, und diese prägt die Phantasie um zu Gebilden 
und zu ausgesponnenen Thaten und Wirkungen im Verborgenen handelnder 
Wesenheiten. Das ist der Grundzug der mythischen Phantasie bei allen 
Völkern, die wir kennen; sie lösen die Rätsel durch die Analogie, durch 
glaubensvolle Dichtung; denn alle Seelenkräfte stehen noch ganz im Banne 
der Phantasie. 

Doch die Phantasie treibt nicht nur im Traum, in der Kindesseele und 
im Blütenalter der Menschheit, in der mythenbildehden Z$it, ihr Wesen, son- 



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A. Biese: Die Phantasie 371 

dem die ist eine elementare Kraft der Seele, deren Wirksamkeit sich niemand 
entziehen kann und mag. Wie beseligend ist sie zunächst für den von seiner 
Arbeit Ausruhenden, für den der Erinnerung an glückliche Standen sich Hin- 
gebenden! Die Phantasie ordnet die Assoziationen, die aus der Erinnerung 
hervorquellen; sie bringt Leben, Form und Farbe in die Bilder, und das Gefühl, 
das Verlangen: 'ach könntest du noch einmal geniefsen, was längst vergangen!' 
durchdringt die Bilder mit Wärme und Innigkeit. So wird die Kindheit zu 
einer goldenen Zeit verklärt, die Heimat zu einer Insel der Seligen. Die Ge- 
stalten und Ereignisse der Vergangenheit tauchen wie gegenwärtig, anschaulich, 
greifbar auf; alles, was uns einst durchbebte, erwacht buntbewegt, veredelt, 
rein von den Schlacken des Augenblickes, von allem, was den Genufs trübte, 
schwächte, störte. Welcher Zauber liegt in solchen Stunden des Sinnens, des 
Gedenkens an genossene Freude! Dann hebt die Phantasie das reine Gold 
heraus aus dein tiefen Schachte des Gedächtnisses. Aber sie mildert auch das 
Leid. Es überkommt uns sanft- Selige Wehmut, zumal in den Stunden der 
Dämmerung, wenn alle Linien um uns her ineinander schwanken, wenn die 
Umrisse immer unbestimmter werden, wenn mit dem Schwinden des Tages- 
lichtes zugleich unser Bewufstsein desto heller in uns erwacht und nun ge- 
schäftig ihre Fäden spinnen die Erinnerung und die Sehnsucht im Dienste der 
Bildnerin, der Zauberkünstlerin Phantasie. Wem Schnee des Alters den Scheitel 
deckt, der wird unter ihrem Wunder wirkenden Stabe wieder jung; die Zeit 
wandelt sich, er lebt noch einmal in Tagen knospenden, reifenden, sich er- 
füllenden Menschenglückes. Oder es sausen da draufsen am grauen Wintertage 
die Stürme, da entführt uns der Zaubermantel in die Herrlichkeit des Sommers, 
wo man am Dünenhange, umflutet von Sonne, umrauscht vom Wellenschlage, 
sich dehnte in innigstem Behagen. Ihre Bilder machen zum bleibenden, be- 
seligenden Besitze, was einst das Herz aufjauchzen liefs. 

Wer je gelebt in Liebesarmen, 
Der kann im Leben nie verarmen; 
Und müfttf er sterben fern, allein, 
Er fühlte noch die selige Stunde, 
Wo er gelebt an ihrem Munde, 
Und noch im Tode ist sie sein. 

Aber die Phantasie hält auch die grausen Bilder, die bitteren Stunden der 
Vergangenheit mit unerbittlicher Grausamkeit fest; du kannst es nicht ver- 
gessen, wie du am ersten Sarge standest, wie ein Rifs durch die sonnige Welt 
zu gehen schien, du kannst es nicht vergessen: jenes schmerzliche Bild, den 
Vater, die Mutter auf dem Totenbette; du kannst auch nicht vergessen jene 
Stunde, wo du zuerst erfuhrest: Freundesliebe ist selten so stark, dafs sie über 
Neid und Eifersucht triumphiere, dafs sie Schmerzliches mit dir trage ohne 
den Schimmer von Schadenfreude, dafs- sie über gerechte Anerkennung ohne 
den leisesten Anflug von Mifsgunst sich mit dir freue. Du kannst nicht ver- 
gessen die Wunden, die dir das Leben schlug; sie vernarbten, um immer 
wieder aufzubrechen; und in solchen Stunden, wo du es empfindest, es giebt 

24* 



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372 A. Biese: Die Phantasie 

kein Kraut gegen diese Schwäche der Seele, gegen die unauslöschlichen Bilder, 
da verwünschest du wohl die entsetzliche Phantasie. Ja, wie manchen hat sie 
schon in Verzweiflung und Irrsinn getrieben! 

Der Erinnerung an vergangenes Leid und an vergangene Freude leiht die 
Phantasie Schwingen, und sie beschwört längst entwichene Gestalten wieder 
herauf, aber sie beflügelt auch die Furcht und die Hoffnung, so dafs Zukünftiges 
vor dem inneren Auge ersteht. 

Was ist es, das in sorgenvoller Nacht am Bette des Kranken, in düsterer 
Vorahnung schrecklicher Begebenheit uns die Minuten zu Stunden, die Stunden 
zu Nächten dehnt, das uns martert in der bangenden Ungewifsheit, uns foltert 
in der Angst des Herzens, das uns die furchtbaren Gebilde des Möglichen 
schon wie greifbare Wirklichkeit vor die Seele stellt? Es ist die entsetzliche 
Phantasie im Bunde mit der bleichen Furcht. 

Goethe nennt im e Faust ' Furcht und Hoffnung die beiden *gröfsten 
Menschenfeinde'. Der gemeinsame Begriff beider ist die Erwartung; so kann 
ikxCg bei den Griechen die Ahnung des Unheilvollen, die Furcht, wie auch die 
Sehnsucht nach Glück, die Hoffnung, bezeichnen. — Die Furcht ist wahrlich 
eine arge Menschenfeindin, denn sie lähmt die Thatkraft, sie schwächt das 
Selbstgefühl, versetzt in Unruhe, raubt den Mut, stört das Gelingen, sie macht 
feige. — Und die Hoffnung? Baut sie nicht auch trügerische Luftschlösser, 
verführt sie nicht zu süfsen, aber thatlosen, thörichten Träumen, deren Folgen 
nur namenlose Enttäuschung und Verbitterung sind? Raubt sie nicht die Be- 
sonnenheit, setzt sie nicht Unmögliches als möglich oder das zu Leistende 
schon als gethan, als mühelos errungen hin? — Was stachelt den Ehrgeizigen 
und Habsüchtigen? Ist es nicht das Wahngebilde der entsetzlichen Phantasie, 
die ihn mit Hoffnungen, mit leeren Schemen äfft, die ihn ohne Rast und Ruh, 
ohne Genufs der Gegenwart, ohne Freude am Errungenen durch das Leben 
peitscht? Umstrahlt von Illusionen gaukelt auf der rollenden Kugel die 
trügerische Glücksgöttin vor dem Unglücklichen her, um ihn in den Abgrund 
zu locken. — Aber die Furcht kann auch eine Menschenfreundin sein, wenn 
sie auf kluger Erwägung möglicher Schwierigkeiten und Irrungen ruht, wenn 
sie zwischen Tollkühnheit und Feigheit die Mitte halten lehrt, wenn sie Gottes- 
furcht ist. — Und derselbe Goethe, der die Hoffnung als verführerische Feindin 
hinstellt, hat nicht minder recht, wenn er sie 'die ältere, gesetztere Schwester' 
der Phantasie und seine 'stille Freundin , nennt, ja, wenn er fleht: c O dafs die 
erst mit dem Lichte des Lebens sich von mir wende, die edle Treiberin, 
Trösterin, Hoffnung!' Und fürwahr, wer möchte sie entbehren, sie, die da das 
Vertrauen belebt, den Mut schärft, die da den Schmerz lindert, die tröstet, vor 
Verzagen schützt, die Lebensflamme immer von neuem nährt und die Thatkraft 
entfacht? — Und was schafft der Furcht, was der Hoffnung ihre Bilder? Es 
ist die Phantasie mit ihren rosigen, mit ihren düsteren Farben. Sie macht 
das Ferne sichtbar. So gaukelt sie dem nach seinem Vater verlangenden 
Telemach schon die Heimkehr des Ersehnten vors innere Auge; Zööbxoi iv fpgsöiv, 
d. h. im Geiste, mit dem Blicke der Phantasie sieht er den Odysseus landen 



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A. Biese: Die Phantasie 373 

und die Freier vertreiben. Und will derselbe Homer uns das Heimweh des 
Verschlagenen anschaulich machen, so hebt er nicht nur hervor, er sehne sich 
die Heimat wiederzusehen, sondern er wandelt den Gedanken in ein Phantasie- 
bild, er möchte den Bauch sich erheben sehen aus den Dächern seiner Heimat- 
insel; mit diesem Bilde steigen die Umrisse des Gehöftes, des Hauses, die 
Linien der Berge und Ufer deutlich vor ihm auf; er glaubt sich daheim. 

Die gröfsten Gaukler im Dienste der Phantasie, aber auch zugleich des 
Verstandes, des Scharfsinns, sind der Witz und die Ironie. Sie sind gutmütig 
und neckisch oder böswillig, frech und verletzend. Sie kuppeln die ungleich- 
artigsten Vorstellungen aneinander, kombinieren die wundersamsten Gebilde, 
werfen aber auch oft helle Schlaglichter auf Dinge und Personen; sie verblüffen 
durch das Verkehrte, Sinnwidrige; sie reizen durch den Kontrast zum herz- 
lichsten Lachen, aber auch durch die Bitterkeit zum heftigsten Zorn. Sie sind 
gefahrliche Waffen, sowohl für den, auf den sie gerichtet sind, als auch für 
den, der sie führt. 

Wie aber überhaupt eine hohe Geistesbeanlagong mit grofsen Rechten 
auch schwere Pflichten, ja tiefe Konflikte in sich schliefst, so ganz besonders 
die Phantasiebegabung. Goethe ist ein seltenes Beispiel von innerlich aus- 
geglichenen Gaben; er hegte ein Pandaimonion unsichtbarer Geister in Kopf 
und Herzen, und wie haben ihn seine unvergleichlichen Gaben beglückt, und 
wie hat er auch unter ihnen gelitten! Goethe war ein grofser Lebenskünstler, 
ein Weltweiser, und doch giebt es aufser dem 'Faust* und 'Werther* wohl 
kaum eine Dichtung, in der so viel eigenstes, schmerzlichstes Erleben steckt, 
als den 'Tasso', diese Tragödie der Phantasie und des überweichen Gemütes. 
Nur Selbst- und Welterkenntnis, nur Selbstüberwindung und Weltbezwingung 
schaffen wahres Glück; nur ein starkes Herz voll Menschen- und Weltliebe 
kann den Widerstreit von Idee und Wirklichkeit, den Kampf mit Enttäuschungen 
bestehen und verwinden. Aber all das fehlt dem Tasso. Er ist eine pro- 
blematische, eine phantastische, eine tragische Natur. Wie sehr der Mensch sein 
gröfster Feind ist, welch ein Danaergeschenk eine grofse einseitige Phantasie- 
begabung, welches Leid neben allem inneren Reichtum ein empfindsames Herz 
in sich schliefst, wie der Lorbeer mehr ein Zeichen der Schmerzen ist als des 
Glücks, der Ruhm 'ein Sonnenstrahl, der sich in Thränen bricht': das lehrt 
uns der 'Tasso*. Tasso läfst sich hätscheln und hätschelt sein Herz selbst wie 
ein krankes Kind; er ist Gefühls- und Phantasiemensch und leidet daher un- 
säglich unter dem Widerstände der harten Wirklichkeit, die er nicht zu meistern 
im stände ist. Sein Genie wie sein Verderben liegt darin, dafs er ganz 
Empfindung, ganz Seele, Phantasie ist. Wohl hat er in der Einsamkeit sich 
vertieft, wohl sind ihm die Schwingen der dichterischen Kraft gewachsen, aber 
zugleich umgiebt ein solches Schwelgen in einsamem Selbstgenusse die Phan- 
tasie mit tausend Gefahren; hinter der Einsamkeit, in der Entfernung und 
Entfremdung von den Menschen lauern die Gespenster des Argwohns und 
des Mifstrauens gegen andere und gegen sich selbst, der Verzagtheit und Ver- 
zweiflung. Wen immer die Phantasie zwingt, durch die Erscheinungen hindurch 



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374 A. Biete: Die Phantasie 

die Ideen dea Ewigen und Schönen hindurchleuchten zu sehen, der verachtet 
zu leicht jene und büfst dies dadurch, dafs er ihr Opfer wird, dafs er in dem 
Lebenskampfe unterliegt. Das weiche Herz führt ihn zur Empfindlichkeit und 
Empfindsamkeit, zum Argwohn und zur Selbsttiberschätzung. Wer nur ein 
Gemüts- und Phantasieleben führt, wer nur Illusionen und Wahnbilder sich 
schafft, der verliert den Boden der Wirklichkeit unter den Füfsen, der fällt 
von einer Enttäuschung, von einer Niederlage in die andere, der verzehrt sich 
selbst, der gelangt nie zu jenem inneren Gleichgewicht, auf dem des Menschen 
Heil beruht. Was nützt Gcistesgröfse, wenn sie mit Willensschwäche, mit 
Kleinheit gegenüber den widerstreitenden Verhältnissen sich paart? Wie der 
Strom den Ertrinkenden, so reifsen ihn diese dahin. Begeisterung darf nicht 
zur haltlosen Schwärmerei, zur Phantastik führen, sie mtifs sich einen mit 
Besonnenheit Kopf und Herz müssen gleichmäfsig ausgebildet sein, wo wahres 
Glück wohnen soll. 

Doch wie selten ist dies! In der Welt triumphiert zumeist der nüchterne, 
superkluge Verstand; und die gar zu weichen, zu herzlichen, vertrauensseligen, 
von überströmendem Gefühle beseelten Naturen leiden und gehen unter ab 
Märtyrer des Herzens und der Phantasie. 

Aber so alt der Streit ist zwischen Verstand und Phantasie, er wird 
immer wieder von neuem zu schlichten sein. Und so grofs auch die Aus- 
artungen und Verirrungen der Phantasie sein können, sie bleibt doch eine 
holde Fee, wenn man sie zügelt, wenn sie dem Menschen nicht ein Irrlicht, 
sondern eine wärmende Flamme ist, an der er die Begeisterung für alles Ideale 
entzündet. So mahnt Goethe: 'Begegnet ihr lieblich, Wie einer Gehebten! 
Lafst ihr die Würde Der Frauen im Haus! Und dafs die alte Schwiegermutter 
Weisheit Das zarte Seelchen ja nicht beleid'geP — Ja, was wäre die Welt, 
wenn wir sie nur mit den Augen des Verstandes anschauten? Sie wäre kalt> 
kahl, stumpf. 

Gehe an einem Sommerabend, wenn die Sonne sich neigt, an die male- 
rischen Ufer eines Flusses (z. B. der Mosel, des Rheins), und du siehst alles in 
wunderbaren Farben strahlen: die Höhen der Berge und die Wolken sind in 
rosigen Duft gebadet, das Thal selbst und die niederen Gründe der Berge 
liegen in gedämpftem Blau, ja Blauschwarz, und so auch der Hintergrund des 
Flusses, aber die Wellen spiegeln die Wolken und ziehen in rosigem Scheine 
dahin. Alles ist ein Bild voll Schönheit und Poesie. Und warum? Die Phan- 
tasie sieht in dem Bilde Frieden, und sie deutet das holde Schweigen dieser 
idyllischen Abendlandschaft als wunschloses Glück. — Und dann, eine halbe 
Stunde später, ist all der zauberische Duft zerflossen, die Wolken, die so goldig 
oder purpurn oder violett leuchteten, wandern dahin in stumpfem Grau, die 
Schatten breiten sich alles verwischend aus. Da ist es dir, als ob du von 
der Poesie heraus in die nüchterne Prosa geworfen seiest. — Was wir eben 
geistig deuten können, was unsere* Phantasie anregt und belebt, so dafs sie in 
dem Rosenschimmer der Wolken ihren durchgeistigenden Duft wieder zu er- 
kennen meint, dafs alles ihr zum Symbol des Seelischen, der Stimmung, des 



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A. Biese: Die Phantasie 375 

Gemütes wird, das ist — poetisch. Die graue Einfachheit der Dinge ohne 
den Widerschein des Geistigen ist stumpf, ist prosaisch. 

Es ist und bleibt die Hauptsache: die Phantasie beseelt und durchgeistigt 
die Aufsenwelt; sie wandelt die Dinge menschlich, d. h. seelisch um; das 
Schauen ist vom Beseelen unzertrennlich. Ohne Symbolik kommt kein inneres 
Bild zu stände. 

In der Sphäre der Phantasie ist die Sonne nicht mehr — wie der Ver- 
stand uns lehrt — der Zentralkörper, um den sich die Erde dreht, nicht ein 
ungeheurer Feuerball, der zwanzig Millionen Meilen von uns entfernt ist, son- 
dern hier ist sie die Lebenspenderin, mit der unser Fühlen und Handeln auf 
das innigste verbunden ist; hier küfst sie den Frühling wach und lockt Blatt- 
und Blumenschmuck hervor; hier weckt sie das Leben, wenn am Morgen ihr 
Feuer am Horizont hervorblickt; hier giefst sie Frieden über das Gefilde und 
die Geschöpfe, wenn sie am Abend ihren Lauf vollendet hat und unter den 
Himmeisrand hinabsinkt Hier ist der Wald nicht blofs eine Anzahl verschie- 
dener Baume, sondern er ist ein Gottesdom, wohin das von Sorgen belastete 
Gemüt sich aus der tobenden Welt flüchten kann, und wo es in der seligen 
Waldeseinsamkeit die erquickende Stimme des Ewigen, in den Wipfeln Frieden 
rauschen hört 

Das Licht wird zum Symbol des Frohen, Guten, Schönen, das Dunkle zum 
Sinnbilde - des Bösen, Schweren und Traurigen. Das Halbdunkel ist ahnungs- 
voll; nicht nur das Auge labt sich an der Dämmerung des Waldes, sondern 
die Seele senkt sich in unerforschte Tiefen der Ahnungen und verhüllten Ge- 
fühle, während das Lieht wie ein Bewufstsein der Natur von sich selber, wie 
ein Denken ihrer eigenen Formen erscheint. Die Stimmung der Farben wird 
offener, heller und milder, je mehr sie gegen das Weifte zunehmen, und ge- 
drängter, energischer, je mehr sie sich dem Schwarzen nähern. Die Luft erfreut 
durch das reine Lebensgefühl, das die lebendigen Wesen in ihrem allverbreiteten, 
erhaltenden und labenden Elemente geniefsen; im zartbewegten Laube flüstern 
die Winde, im Sturm ertönt ein Brüllen der Wut, ein Geheul der Verzweiflung. 
Das Feuer mit seinen flackernden Flammenzungen, mit dem beständigen Über- 
gehen der Linien ineinander spiegelt eine Unruhe des Verzehrens, einen leiden- 
schaftlichen Affekt wider. — Das Bauschen des Wassers weckt das Gefühl 
einer immer frischen Lebendigkeit; die Quelle weckt die geheimnisvolle und 
dankbare Empfindung eines aus der Tiefe gespendeten, erfrischenden Segens; 
der muntere Bach scheint sich in schäumender Lust zu überstürzen, deör Fluft 
mit leisen Tritten durch die Ebene hinzuschleichen, der Strom im Vollgefühle 
der Kraft majestätisch dahinzuziehen. Der vom Walde eingeschlossene Teich, 
in welchem sich die Wolken des Himmels, das Licht der Sonne, die Schatten 
und umrisse der Bäume spiegeln, hat uns etwas Heimliches, Trautes; und das 
hat nicht nur im unmittelbaren Eindrucke der Abgeschiedenheit, der feierlichen 
Stille, den weichen Linien im Wasserspiegel seinen Grund, sondern wir deuten 
die Spiegelung sogleich um in ein Sichselbstbeschauen der Natur; wir leihen 
ihr ein dämmerndes Selbstbewußtsein, das sich selbst geniefst; wir legen gleich- 



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376 A. Biese: Die Phantasie 

sam, was träumerisch und ahnungsreich in unserer Seele lebt, hinein in die 
ruhige Wasserfläche mit ihren zarten Formen, mit dieser ineinander rinnenden 
und verschmelzenden Doppeltsetzung der Erscheinungen. Nicht anders beim 
Meer, das uns bald Anmut, Frieden, schmeichelnde Lockung, bald Kraft, Gröfse, 
Leidenschaft, List und Tücke, Groll und Wut zu atmen scheint, das uns bald 
durch Ewigkeitsgedanken über die enge Sphäre des Menschlichen erhebt, bald 
uns in abgrundtiefe Schwermut der Vergänglichkeit versenkt. 

Mit den Augen der Phantasie gesehen ist der Tau ein glänzendes Ge- 
schmeide, der Schnee ein Leichentuch; das Gebirge ist nicht blofs eine Stein- 
masse, die sich über die Ebene erhebt, sondern der erhabene Zeuge gewaltiger 
Kräfte und Erdrevolutionen, gegen die das winzige Menschenkind ein Nichts 
ist. — Bei der Pflanze, diesem saugenden, von Leben strotzenden Wesen, haben 
wir den Eindruck des Atmens, des Strebens nach Selbsterhaltung; und wir 
leihen ihr eine Seele, sei es nun die schlummernde Kindesseele oder die auf- 
strebende des Mannes; in den Waldesriesen denken wir die Empfindungen des 
Greises hinein, der Jahrhunderte an sich vorübergehen sah. Und hören wir 
die Blätter rauschen oder erzittern, oder neigt sich im Winde die Blume, so 
erscheint uns diese äufsere Erscheinung als das Widerspiel eines inneren Vor- 
ganges — ein lieblicher Gedanke schaukelt ihr Köpfchen hin und h«r. Der 
eine Baum atmet Anmut, der andere Kraft, ein dritter Wehmut und Trauer. 
Das Laub giebt dem Baume seine Stimmung u. a. m. 

Wie aber mit den einzelnen Naturformen, so steht es auch mit deren 
Gruppen, mit ganzen Landschaften. Sie wirken nur, wenn der Beschauer mit 
den Augen der Phantasie und des Gemütes sich in sie versenkt, wenn er selbst 
eine innere Welt von Gedanken und Empfindungen in sie hineinlegen kann, 
wenn er den elementaren Anregungen und Reizen, welche die Linien und 
Farben erzeugen, nachgehen und das Einzelne durch das Band der eigenen 
seelischen Stimmung verknüpfen kann, sei es nun im Einklänge oder im Wider- 
spruche. Nur wer Geist und Herz, nur wer Phantasie besitzt, versteht die 
Sprache der Natur. Dem erscheint sie als das, was sie in Wahrheit ist für 
den Menschen, als das grofse Geheimnis, dessen Schleier zu lüften zwar die 
Menschheit mit wachsendem Erfolge unternommen hat, das jedoch dem er- 
schaffenen Geiste, der in ihr Innerstes eindringen will, ein ewiges Ignorabitis 
zuruft. Was aber der Wissenschaft, dem Verstände unmöglich ist, gelingt der 
Phantasie. Sie entsiegelt jenes ewige Rätsel, das in dem All schlummert; sie 
webt Menschengemüt und Natur in eins, so dafs ein Herz in ihr klopft, ein 
Geist aus ihr redet. 

Die Phantasie durchgeistigt die Natur; sie versinnlicht ferner das Geistige. 
Wer will das Wesen der Seele selbst ergründen? Wir stehen vor einer Wellen 
schlagenden, in Gekräusel wallenden Meeresfläche, deren Tiefe unergründlich 
und dunkel ist; alle Bethätigungen des Geistes, ob * vorstellen', 'fassen', *be- 
greifen' u. s. w. können wir nur metaphorisch, d. i. durch Übertragung aus 
dem Sinnen leben deuten; die Phantasie ist darin allezeit rege gewesen; ich 



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A. Biese: Die Phantasie 377 

erinnere an das Gespann mit den beiden ungleichen Pferden im Phädrus des 
Piaton, an die beiden Uhren bei Leibniz, an die 'Seelenvermögen' der Wölfischen 
Schule, an die 'Seelensubstanz', an die Herbartsche 'Schwelle' und 'Klemme* 
und 'Verwachsung* der Vorstellungen u. a. m. Die Phantasie umkleidet alles 
Unkörperliche mit dem Schein des Fafsbaren, Anschaulichen. Selbst die Träume, 
so wesenlos (ifievriva) sie sind, auch bei Homer (Od. XIX, 560), sie schweben 
doch als Schatten-, als Dunstgestalten durch die Pforten, und wie diese geartet, 
ob aus Hörn oder Elfenbein, gehen sie in Erfüllung oder nicht. 

Ja, die Phantasie selbst, dies rätselvolle Vermögen der Seele, wird vor 
ihren eigenen Richterstuhl gerufen; in Tiecks Thantasus' wird sie — in wenig 
passender Tropik — zu einem wunderlichen, grämlichen, kindischen oder launigen 
und launischen Alten, über den die Vernunft am Tage Wache hält; in der 
Nacht aber, wo die Vernunft zu Bett gebracht ist, stehen Schlummer und 
Schlaf aus ihrem Winkel auf, und der Schlaf schleicht zum Alten, den Pflicht, 
Verstand und Vernunft bisher gefesselt haben, löst ihn, und jener schüttelt 
sich vor Freude, breitet den weiten Mantel aus, und aus seinen Falten ent- 
gleiten die wundersamsten Sachen der Traumwelt. — Bei Rückert heifst es: 

Phantasie, das ungeheure Riesenweib, Safs zu Berg, 
Hatte neben sich zum Zeitvertreib Witz, den Zwerg — 
Der Verstand Seitwärts stand, 
Ein proportionierter Mann, 
Sah das tolle Spiel mit an. 

Im Geiste der Alten, denen die Harmonie zwischen der Idee und der Ge- 
stalt das höchste war, schuf Goethe das köstliche Gedicht 'Meine Göttin'. 
'Welcher Unsterblichen Soll der höchste Preis sein? Mit niemand streit* ich, 
Aber ich geV ihn Der ewig beweglichen, Immer neuen, Seltsamen Tochter 
Jovis, Seinem Schofskinde, der Phantasie.' 

Wie die Kräfte der Seele gestaltet die Phantasie alle abstrakten Begriffe 
zu anschaulichen Wesen um, ob den Schnitter Tod, ob Frau Sorge, ob den 
Geier Schmerz, das süfse Kind, die Hoffnung, die alte Vettel Zeit, die Vagantin 
mit dem Wackelköpfchen, ob die rote Rose Leidenschaft, des Glückes empor- 
hebende Flügel, ob Frau Sehnsucht mit den grofsen verträumten Augen, ob 
den Genius unter dem Bilde des Stromes u. ä. m. 

Aber die Phantasie wandelt auch im Innern Erlebtes, Anschauungen, 
Empfindungen, Ideen in sinnliche Form, in Marmor, in Farben, in Worte, in 
Töne um: ihr ureigenstes Reich ist die Kunst. Da wird das Sinnliche durch- 
geistigt, das Sinnliche versinnlicht, das Geistige vergeistigt. Alle Kunst ist 
symbolisch, metaphorisch, eben eine Geburt der Phantasie, welche Aufseres 
und Inneres, Natur und Geist in eins verwebt; denn Kunst ist durch die 
Seele, durch eine Persönlichkeit hindurchgegangene, von ihr durchsättigte 
Natur. Anschaulichkeit soll sich mit Innerlichkeit durchdringen; ein Bild 
soll vor das innere Auge gestellt werden, und unser Herz, unser Geist, unsere 
Phantasie mufs angeregt, erwärmt, erhoben oder erschüttert werden. Nur dann 
haben wir wahre Kunst. 



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378 A. Biese: Die Phantasie 

Die künstlerische Phantasie ist es vor allem (und der ist zu bedauern, in 
dem nicht auch etwas vom Künstler lebt/ der nur Verstand sein will), die 
Phantasie ist es, die, wie es im c Wallenstein' heilst, ( um die gemeine Deutlich- 
keit der Dinge den goldenen Duft der Morgenröte webt'. Es ist der 'Morgen- 
duftf in der Goethischen 'Zueignung*, d. h. die Jugendfrische, die verklärende 
Macht der Phantasie, die sich mit 'Sonnenklarheit' des Wirklichen, mit dem 
Klar- und Weitblick des in die Welt schauenden Genies vereinen soll. Wahrer 
Lebensgehalt, in den reinen Äther der Schönheit, der Idee erhoben, das ist 
Kunst; 'das Leben, gefafst in Reinheit und gehalten im Zauber der Sprache': 
das ist Poesie. So empfing Goethe 

'Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit 

Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit/ 

Die 'Wahrheit' hält den 'reinsten Schleier' in Händen; sie reicht ihn dem 
Dichter; er braucht ihn gleichsam nur in die Luft zu werfen — . wie Leukothea 
über den Odysseus — , und er fühlt sich über alle Bedrängnis des Lebens er- 
hoben. Und diese göttliche Zauberkraft birgt in sich die Phantasie, die be- 
freiende, beseligende, die das Unebene ebnet, das Rauhe glättet, die Schwüle 
des Herzens bannt wie ein säuselnder Abendwind mit seiner linden Kühle 
und mit Blumen- und Würzgeruch den Besänftigten umhaucht. 

Es schweigt das Wehen banger Erdgefühle, 
Zum Wolkenbette wandelt sich die Gruft, 
Besänftiget wird jede Lebenswelle, 
Der Tag wird lieblich, und die Nacht wird helle. 

Das ist die erlösende und beglückende Wirkung der künstlerischen Phan- 
tasie, wie sie uns entgegenstrahlt aus den Meisterwerken der grofsen Künstler 
aller Zeiten; mag sie in Worten oder Tönen zu uns reden, mag sie die stumme 
Sprache des Steines und der Farbe wählen, mag sie heiter gestimmt mit 
blühenden Farben des alles Unebene ausgleichenden Humors und des kecken 
Witzes zeichnen und aus den Blüten des Daseins den Stoff zu ihren Gebilden 
ziehen, oder mag sie düster und schwerblütig die Romantik des Sturmes oder 
der Nebel oder der Eisgebirge, mag sio Abgründe suchen, Schrecknisse im 
Menschenleben; sie ist reich an Mannigfaltigkeit, launisch in ihrem Wechsel, 
ewig fesselnd, ewig berückend. 

'Sie mag rosenbekränzt Mit dem Lilienstengel Blumenthäler betreten, 
Sommervögeln gebieten Und leichtnährenden Tau Mit Bienenlippen Von Blüten 
saugen; Oder sie mag Mit fliegendem Haar Und düsterm Blicke Im Winde 
sausen Um Felsenwände Und tauBendfarbig, Wie Morgen und Abend, Immer 
wechselnd, Wie Mondesblicke, Den Sterblichen scheinen.' 

Und dies tritt nicht nur in den Äuüserungen der Phantasie bei den ein- 
zelnen Künstlern (man denke an Shakespeare, an Goethe, an Beethoven), son- 
dern auch bei den mannigfachen und so überaus charakteristischen Unterschieden 
der Kulturvölker hervor; man denke an die kolossalen und grotesken Ausgeburten 
der ägyptischen und indischen Kunst, an die gottbeseelte, in die Weite schweif 



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A. Biese: Die Phantasie 379 

fände Phantasie der Hebräer, an den plastischen Sinn der Hellenen, oder man 
vergleiche germanische und romanische und slavische Art zu denken, zu 
empfinden, zu gestalten. Die Kunst ist immer im Geiste des Menschen um- 
geschmokene Wirklichkeit, und ihre Prägsfötte ist die Phantasie, diese un- 
erschöpfliche Bildnerin. 

Der Künstler vermählt Seele mit Stoff, er breitet Geist über die Materie; 
er fühlt sich ein in die Dinge und Verhältnisse der Welt, die er gestaltet; er 
lebt sich hinein in die Geschöpfe seiner Phantasie und stellt sie hin wie ein 
schaffender Gott, auf daJ3s sie zeugen von seiner Kraft, von seinem Genius, 
seiner Weltliebe, seinem alle Gegensätze in Harmonie lösenden Humor. Aber 
nicht nur der Künstler bedarf der Gestaltungskraft; auch das Geniefsen der 
Kunst seist ein inneres Bilden, ein Nachschaffen voraus, wenn es in die Tiefe 
dringen, nicht an der Oberfläche des sinnlichen Eindrucks haften bleiben will. 
Daö Schöne giebt es ja doch nur in der Seele, in der Phantasie des Menschen; 
daher ruht der Genufs des Schönen auf dem Zusammenrinnen des Innern, 
d. h. der Stimmungen, Ahnungen, Empfindungen, und des Äußeren, das uns 
der Künstler vor Auge oder Ohr gestellt hat. Mitklingen mufs unser Herz, 
mitschwingen müssen seine Saiten, wenn uns ein Kunstwerk packen soll, wenn 
ein harmonischer Eindruck zu stände kommen soll Und wie lebhaft weifs der 
wahre Poet, der grofse Dramatiker oder Lyriker, wie lebhaft der musikalische 
Genius die Einbildungskraft zu wecken! Unser ganzes Innere erzittert, und 
zugleich tauchen auf und schweben dahin luftige, wundersame Gestallten; oder 
wir glauben die Vorgänge der Tragödie mitzuerleben, wir versenken uns ganz 
in den gewaltigen Helden, sind fortgerissen von der Gröfse seines Wollens, 
und fällt er, so ist es uns, als würde uns selbst der Dolch ins Herz gestofsen. 
Es ist die Phantasie, die ein Echo aller Gefühlstöne in unserm Innern weckt. 

Die Phantasie ist das innere Auge der Seele; es sieht tiefer als das leib- 
liche; es sieht Zusammenhänge, wo sonst nur lose Teile erscheinen; es ist 
etwas Ahnungsreiches r Deutungsfähiges, Schöpferisches in ihr. Was an Bild- 
stoff die Anschauung, was auch die Erkenntnis darbietet, das überschaut das 
Auge der Phantasie mit raschem Blick, Lücken ausfüllend. Wie der plastische 
Künstler schon in dem Marmorblock die zu bildende Gestalt ahnt, wie er sie 
im Geiste sieht: nicht tot, sondern lebendig, als ob die Stirne, als ob das 
Auge, der Mund sich herausarbeiteten aus der Fläche, die Brust sich wölbte, 
die Glieder sich reckten, das Leben pulsierte, so steht auch vor dem genialen 
Staatsmann schon das Gebäude seiner Thaten, vor dem genialen Erfinder und 
Forscher das Gebäude seiner Gedanken fertig da, ehe er alle einzelnen Steine 
hat zusammentragen können. 

So ist der Phantasie auch ein dem Schaffen vorauseilendes Ahnungs- 
vennögen eigen. Jede Hypothese ist gleichsam die Vorwegnähme, das Bild 
einer streng wissenschaftlichen Lösung des Problems. So sagt Goethe in den 
Sprüchen: 'Der denkende Mensch hat die wunderliche Eigenschaft, dafs er an 
die Stelle, wo das unaufgelöste Problem liegt, gerne ein Phantasiebild hinfabelt, 



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380 A. Biese: Die Phantasie 

das er nicht los werden kann, wenn das Problem auch aufgelöst und die Wahr- 
heit am Tage ist/ 

Da unser Denken an die Anschauung gebunden ist, 'Begriffe ohne An- 
schauungen leer* sind, diese aber durch die Sinne und die Phantasie zu Bildern 
umgeformt werden, da ferner die Sprache durchaus metaphorisch, d. h. jedes 
Wort nicht nur ein Symbol des Gedankens ist, sondern auch die ursprüng- 
lichsten Wurzeln als den letzten Begriffsinhalt menschliche Thätigkeit in sich 
schliefsen, so kann auch das wissenschaftliche Denken weder der Macht der 
Analogie, der Übertragung von einer Sphäre auf die andere, noch der Ein- 
bildungskraft überhaupt entraten. Diese macht sich das reiche Wissen unter- 
than und formt es zu wissenschaftlichen Theorien, zu philosophischen Systemen. 
Selbst dem strengen Logiker, dem scharfen Denker mischt sie in sein so sorg- 
sam gefügtes System ihre Farben hinein; er wähnt, nur der Gedanke leite ihn, 
alles Bildliche bleibe ihm fern; aber wie auf Anschauung alles Vorstellen 
beruht, so kann auch kein System so abstrakt sein, dafs *es nicht Anschauung, 
nicht Bild, nicht Gleichnis darböte. So lehrt die Geschichte der Philosophie 
die Macht der metaphorischen Phantasie. 1 ) 'Alles Vergängliche ist nur ein 
Gleichnis', aber noch mehr ist nur im Bilde, im Gleichnis uns fafsbar: das 
Unvergängliche, das Übersinnliche. So hat ein philosophisches System das 
andere, eine Metaphysik die andere abgelöst, indem der Nachfolger dem Vor- 
gänger Phantasiebilder nachwies, sei es nun Aristoteles den Platonischen Ideen, 
sei es der Kritizismus eines Locke, Hume, Kant dem Dogmatismus gegenüber, 
sei es, dafs man den metaphorischen Gehalt in den Begriffen der Substanz bei 
Cartesius und Spinoza, der Leibnizschen Monade, des Kantischen 'Dinges an 
sich', des materialistischen 'Atoms', des Schopenhauerschen 'Willens* oder des 
'Grofsen Unbekannten', des 'Unbewufsten' bei v. Hartmann erkannte; doch die 
philosophische Phantastik hat in dem kranken Hirn des trotz alledem genialen 
und sprachgewaltigen, aber mehr als Poet und Prophet denn als Denker mäch- 
tigen Nietzsche ihren Höhepunkt erreicht; sein System ist ein 'soziologischer 
Roman', an dem nicht nur moralische Brutalität, sondern auch eine üppig 
wuchernde, glühende Phantasie gearbeitet hat. 

Die grandiosesten Gedankendichtungen — ich meine vor allem die Systeme 
eines Piaton in der alten, eines Hegel in der neueren Zeit — zeigen nicht 
minder als die Religionssysteme, dafs das Höchste, was der Mensch denken 
und empfinden kann, sich kleiden mufs in die Form menschlicher Einbildungs- 
kraft, dafs Poesie und Philosophie das gemeinsame Band in der Phantasie be- 
sitzen, d. i. in der Verkörperung des Geistigen und in der Vergeistigung des 
Sinnlichen. Wo die Logik ihre Grenze findet, da fordern die Phantasie und 
der Wille und der Affekt die göttlichen Intuitionen zu Tage; wo die physika- 
lische Erklärung der Welt die Schranke des Ignorabimus erreicht, da setzt das 
ethisch-religiöse Moment ein und fordert Ideen, Ideale und baut über der realen 



') Vgl. das 6. Kap. der 'Philosophie des Metaphorischen': 'Das Metaphorische in der 
Philosophie.' 



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A. Biese: Die Phantasie 381 

eine ideale Welt auf. Wir erkennen diese nur im Abbilde, im Gleichnis — 
ßkdito[i£v di* i<fÖ3ttQov iv alv Lysate — aber das Abbild weist auf das Urbild, 
in dem Vergänglichen erblicken wir den Schein des Ewigen; Phantasie und 
Gemüt lassen, was der Verstand nicht ergründet, ahnen sub specie aeternitatis. 

Wie Paust in der Morgenfrühe die Bergesriesen im Sonnenglanze erglühen 
sieht und jubelt: 'Sie tritt hervor!', da — getroffen von der Fülle und Kraft 
des Lichtes — klagt er: c Leider schon geblendet, Kehr* ich mich weg, vom 
Augenschmerz durchdrungen/ 

Er deutet dies symbolisch, und so will er sich bescheiden mit dem Um- 
schleierten, Verhüllten, wie es unser Erdenleben bietet: 

Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend, 
Ihn schau' ich an mit wachsendem Entzücken. 
Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in tausend, 
Dann abertausend Strömen sich ergie&end, 
Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend. 
Allein wie herrlich, diesem Sturm entsprießend, 
Wölbt sich des bunten Bogens Wechsel-Dauer, 
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfliefsend, 
Umher verbreitend duftig kühle Schauer! 
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben. 
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer: 
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben. 



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MATERIALIEN ZU EINER REPETITION ÜBER AFRIKA 

Von Rudolf Haxncke 

Würde Ulrich von Hütten noch einmal auf die Erde zurückkehren und 
den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erleben, so könnte er mit vollster 
Überzeugung seinen Ruf wiederholen: Jahrhundert, es ist eine Lust, in dir 
zu leben! Denn ebenso wie beim Anfang des sechzehnten Säkulums macht 
sich der Anbruch eines neuen Kulturzeitalters mit bedeutend erweitertem 
Horizonte in unseren Tagen geltend. Wir entdecken zwar nicht neue Erdteile 
und Seewege wie ein Kolumbus und Vasko de Gaxna, aber es haben die 
geographisch-merkantilen Riesenprojekte unserer Zeit und die Voraussicht ihrer 
zukünftigen Wirkung entschieden etwas Analoges mit den geographischen 
Thaten Europas um das Jahr 1500. Schon naht sich der Riesenbau der 
sibirischen Eisenbahn seiner Vollendung, Nordamerika ist von Schienensträngen 
durchquert, und ihnen ganz ebenbürtig oder vielleicht noch staunenswerter be- 
schäftigt ein neues kolossales Eisenbahnprojekt die Aufmerksamkeit Europas, 
nämlich die Kap-Kairobahn zur Durchmessung des gesamten Afrikas von Nord 
nach Süd. Ahnlich wie die angeblichen Kanäle des Mars durchschneiden die 
Schienen dieser Riesenbahnen ganze Kontinente, und wenn diese Bauten 
vollendet sind, wird die moderne Menschheit auf die bautechnischen Grofsthaten 
des Altertums mit ihrer mühsamen Zusammenfügung von Steinmassen wie auf 
die Arbeiten von Pygmäengeschlechtern stolz herabsehen können. Das, was dem 
neuen Eisenbahnprojekte noch das besonders Interessante verschafft, ist die 
Richtung der Baulinie. Zum erstenmale ist ein solches Riesenprojekt geplant 
in der Richtung des Längengrades, durch 70 Breitengrade hindurch und quer 
über den Äquator. Wer sich in Kairo auf die Bahn setzt, sieht nachts am 
Sternenhimmel den grofsen Bären funkeln, und wenn er endlich in der Kap- 
stadt anlangt, strahlt ihm das Kreuz des Südens in mächtigem Glänze ent- 
gegen. Desgleichen kann er die schon von Herodot bei Erwähnung der Um- 
schulung Afrikas durch die Phönicier ausgesprochene Verwunderung teilen, 
dafs während der Reise die Sonne ihre gewohnte Bahn zu verlassen scheint; 
in Nordafrika beschrieb sie südlich ihren Tagesbogen, in Südafrika dagegen 
nördlich. Überhaupt kommt der Reisende in Afrika aus den Rätseln und 
der Verwunderung gar nicht heraus. Flüsse, Temperatur, Regenzeit, Flora 
und Fauna bieten so viel Staunenswertes und Unerklärliches, dafs noch heute 
der Zuruf der alten Römer gelten kann: Quid novi ex Africa? Der ganze 
Erdteil macht den Eindruck des Ungeschlachten, wozu auch hauptsächlich 
die geringe Zugänglichkeit der Küste beiträgt. Schon Sallust spricht von 



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R: Hänncke: Materialien zu einer Eepetition über Afrika 383 

dem •ungestümen, h&fenlosen' Meer um Afrika herum, an der Westseite der 
Sahara treibt der Passat den Fingsand in das Meer, so dafs mau hier wie 
bei dem dänischen Skagen von einem Grab der Schiffer sprechen möchte; an 
der Küste von Guinea tobt eine unbändige • Brandung, und das röte Meer ist 
westwärts eingesäumt durch gefährliche Korallenriffe. — Die Flüsse haben 
ferner meist die fetale Eigentümlichkeit der Wasserfälle und Stromschnellen, 
und grösstenteils stellen sieh die Fälle nahe der Flußmündung ein; denn Afrika 
erscheint mit seinem Hoehlandspanzer wie eine riesige Schildkröte; vom Hoch- 
lande, herab ergie&t sich der Strom in Fällen zum Rande und ist also für die 
Schiffahrt unbrauchbar geworden. Zudem war man bis vor kurzem über 
Ursprung und Lauf de* Flüsse völlig im Unklaren, Nicht allein der Nil er- 
schien als sphinxartig, so dafs das Caput Niü qnaerere geradezu die Bedeutung 
bekam, sich den Kopf mit unergründlichen Dingen zermartern, sondern auch 
der Niger galt als der c Flufs der Rätsel'. Der Gegensatz der trockenen und 
der Regenzeit trug viel zur Verwirrung bei. Bald erschienen Flufsverbindungen, 
die spater nicht mehr vorhanden waren, und man war im Ungewissen, ob nun 
wirklich der Benue zum Tschadsee abfliefse, ob Zambese und Kongo eine 
Bifurkatiön hätten und Schari und weifser Nil in Zusammenhang stünden. — 
Staunenswert waren die Temperaturexzesse. Bei Murzuk, dem ^lutofen', war 
das Wärmemaximum vorhanden, man fand also das Wortspiel für Afrika 
tivcv ppäty? (ohne Frostschauer) sehr glaubhaft — und doch war wieder in den 
Nächten die Abkühlung so stark, dafs man diese Nächte als den 'Winter der 
Tropen' bezeichnen konnte. Drei Viertel des Erdteils lagen in der Tropen- 
zone, und dabei der Mangel an Wasser. Allerdings mutmafst man ja richtig 
in der Wüste das 'Meer unter der Erde', also das Quellwaseer, und die 
Franzosen sprechen es ganz deutlieh aus, dafs man Afrika mit dem Bohrer er* 
obern müsse. Das hervorsprudelnde Nafs erscheine den verschmachtenden 
Negerstämmen als überzeugendste Kulturthat, und der Tuareg, der in seinen 
blauen Shawl sein Antlitz vergräbt, damit doch nur nicht die Feuchtigkeit des 
Atems entweiche, schone das liquid gold, das Wasser, wie eine Zaubergabe 
und reinige sich nur mit Sand. 

Denken wir nun, das Riesenprojekt des Cecil Rhodes, also die grofse 
Transversalbahn von Kairo bis zum Kap, wäre bereits vollendet, — wirklich 
macht sich ja der energische Engländer anheischig, die Bahn in fünf Jahren 
herzustellen 1 ) — und fahren auf dieser Zukunftsbahn von Norden nach Süden, 
um so die geographischen Eigentümlichkeiten des schwarzen Erdteils in kon- 
kretester Weise kennen zu lernen l 

In Kairo, 'der Perle des Orients', wird gerade das Fest der Schleusen^ 
Öffnung gefeiert. Um die Mitte des August ist der Nil bei seiner jährlichen 
Überschwemmung so hoch gestiegen, dafs die Schleuse des grofsen Kanals 
durchstochen werden kann. Es ist das ein für Ägypten hochbedeutsames Fest; 



') Die Neger sollen sich recht untüchtig und ungeschickt als Arbeiter anstellen. Alles" 
tragen sie auf dem Kopfe, selbst die Karre, wenn sie sie entleert haben' umd aawückkehren. 



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384 & Hanncke: Materialien zu einer Repetition über Afrika 

Denn bekanntlich sind ja Ägypten und Nubien eigentlich Wüsten mit Oasen- 
stellen, d. h. sie fallen in die Region des grofsen regenarmen Wüstengürtels, 
der sich vom atlantischen Rande der Sahara über Arabien, Innerpersien bis 
zur Gobi hinzieht. Diese Lande entbehren also fast ganzlich den wohlthätigen 
Regen, und Kairo selbst, mehr aber noch Suez machen sich in der Bauart 
ihrer Häuser diese klimatische Eigentümlichkeit zu nutze. Denn da man darauf 
rechnen kann, dafs es z. B. in Suez im Jahre durchschnittlich nur eine Viertel- 
stunde regnet, hat man die Häuser aufs schlechteste aus ungebrannten Steinen 
zusammengefügt, und bei tagelang anhaltendem Regenwetter müfsten ganze 
Dörfer und Städte in sich zusammenstürzen. Die einzige Rettung für das 
ägyptische Nilthal, dem Wüstenelend zu entrinnen, liegt also darin, dafs 'Vater 
NiP durch seine Überschwemmung die staubigen Lande erquickt und fruchtbar 
macht. Wenn die tropischen Regengüsse den oberen Nil erfüllen, beginnt in 
Ägypten das Wasser des Stromes zu schwellen, Mitte August aber ist der 
kritische Augenblick gekommen, wo man ersieht, ob der Strom hinlänglich ge- 
stiegen ist, um die Inundation zu ermöglichen. Die Munadis 1 ) eilen in den 
Kanal, vieltausendstimmiger Jubel erfüllt die Luft, und endlich sind die letzten 
Spatenstiche geschehen, der Strom stürzt brausend durch die Schleusen. — 
Eine Eisenbahnfahrt durch Ägypten um diese Zeit läfst das ganze Land als 
einen grofsen See erscheinen, wenig später beginnt dann die dem zweiten 
Gleichnis des bilderreichen Arabers entsprechende Erscheinung, wo die Gegend 
wie ein lachender Garten aussieht, um zuletzt wieder den trostlosen Charakter 
der Wüste anzunehmen. In der Zeit der üppigen Vegetation macht Ägypten, 
da vorher das befruchtende Nafs überall durch Kanäle und Sakien (Schöpf- 
räder) hingeleitet ist, einen gesegneten Eindruck. Getreide- und Baumwollen- 
felder reifen der Ernte entgegen, und Sykomoren und Datteln bilden die 
charakteristischen Bäume. Die Behausungen der Fellachen »ind zahlreich um- 
hergestreut, und es ist unglaublich, wie kümmerlich der durch harte Steuern 
gedrückte Fellah leben mufs, — heilst es doch, 'die Taube wohnt in Ägypten 
besser als der Mensch*. Dabei hat das Land eine Volksdichtigkeit, wie sie 
selten beobachtet wird. Auf einem Räume so grofs etwa wie Pommern leben 
gegen 7 Millionen Menschen. Sonst ist das ägyptische Wüstenklima nicht un- 
gesund, und gerade Brustkranke finden hier Genesung. Der feine Staub in der 
Luft erzeugt allerdings anderseits die berüchtigten ägyptischen Augenkrankheiten. 

Bei Assuan erreicht der Bahnzug die Landesgrenze. Hier sind die Strom- 
schnellen, die jetzt durch grofsartige Strombettregulierungen beseitigt werden 
sollen, und wir betreten, indem wir stromaufwärts fahren, das zweite Stufen- 
land des Nil, Nubien. 

Hier tritt der Charakter der Wüste viel augenfälliger zu Tage. Es fehlen 
die einengenden Gebirgszüge, die Ägypten das Ansehen eines Sarges geben, 
ihm aber auch zugleich die segenspendende Überschwemmung ermöglichen; das 
Land ist breiter gelagert und liegt schon südlich vom Wendekreise. Die Hitze 



l ) 'Nüausrufer'. 



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R. Hanncke: Materialien zu einer Repetition über Afrika 385 

ist daher der Art grofs, dafs man Eier im glühenden Sande kochen kann. Die 
Bahn hat die Umwege der S-artigen Schleifen des Flusses abgekürzt und sucht 
in gerader Richtung Berber zu erreichen, von wo ein Schienenstrang nach 
Suakin am roten Meere projektiert ist. Hier in diesen Strichen hat der Islam 
die letzten verzweifelten Anstrengungen gemacht, um seine Vorherrschaft über 
die Neger dem Christentum gegenüber zu behaupten, und zweimal haben die 
Englander mit den ägyptischen Truppen schwere Kämpfe gegen die Scharen 
des Mahdi bestehen müssen, unter Gordon und zuletzt unter Lord Kitchener. 
Während im westlichen Sudan die Pulbe oder Fellata mit Energie und Erfolg 
den Islam unter die ackerbautreibenden Neger getragen und überall Despotien 
aufgerichtet haben, ist hier im Osten der Mahdi erstanden, der gestützt auf 
die angebliche Prophezeiung Muhameds, dafs im dreizehnten Jahrhundert der 
muhamedanischen Zeitrechnung ein Mahdi erscheinen und den Islam wieder 
beleben werde, wirklich im Jahre 1300 oder 1882 der christlichen Ära unter 
fanatischen Verheifsungen für die Kämpfer des Propheten 'den Engel des 
schwarzen Todes', das Banner des Halbmondes 1 ), unheimlich flattern liefs. 
Östlich von diesen blutgetränkten Gefilden liegt die afrikanische Schweiz, das 
Alpenland Abessinien mit seiner semitischen, christlichen Bevölkerung. Es 
sind hier ebenso wie in Armenien Urformen eines monophysitischen Christen- 
tums vorhanden, und leider haben die modernen Missionsbestrebungen der 
europäischen christlichen Völker von diesen versteinerten Kirchengemeinschaften 
in Afrika keine Unterstützung zu erwarten. Der 'Löwe vom Stamme Juda', 
wie sich der äthiopische Kaiser nennt, betrachtet im Gegenteil occidentalisches 
Christentum mit dem gröfsten Mifstrauen. 

Von Berber an schliefst sich die Bahn wieder enger an den Nil und 
überschreitet den Atbara in grofsartigem Brückenbau. Wenn die Sprengungen 
bei Assuan vollendet sind, so ist der Nil weithin aufwärts für Dampfschiffe 
zugänglich. Er ähnelt darin unserer Donau, die von Donauwörth an von Dampf- 
schiffen befahren wird, und die ebenfalls in dem jetzt regulierten Pafs von 
Oreova ihre Stromenge hatte. Allerdings hat die Nilfahrt ein erhebliches 
Hindernis zu überwinden, wie sie die Donau in unseren gemäfsigten Klima- 
strichen nicht kennt. Das ist die verfilzte metertiefe Pflanzenbarre des Sszedd 
die bei der jahrelangen Vernachlässigung zu einem recht bösen Hindernis der 
Dampfschiffahrt sich ausgewachsen hat. Jedenfalls hat der Neger hier auf dem 
Flusse doch schon längst den Zeugen und Träger unserer abendländischen 
Kultur, den gehorsamen Boten des allmächtigen Königs Dampf bewundern 
können, eben das Dampfschiff, und ebenso werden Niger und Benue und sogar 
der Kongo zwischen Stanley- und Livingstonefällen von den Rädern unserer 
europäischen Dampfschiffe durchfurcht; auf letzterem sollen schon vierzig dieser 
modernsten Leviathane verkehren. 

Bei Chartum vereinigen sich der weifse und der blaue Nil. Chartum, in 
dessen Nähe sich Omdurma, wohlbekannt aus der Geschichte des Mahdi, be- 



*) Die grofse schwarze Fahne des Mahdi. 
Neue Jahrbücher. 1899. II 25 



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386 R Hanncke: Materialien zu einer Repetition Über Afrika 

findet, ist zur Zeit des ersten Aufstandes zerstört worden. Etwas oberhalb am Nil 
liegt Faschoda, bis zu dem die Franzosen von Westen her vorgedrungen waren, 
und noch weiter aufwärts ist Redjaf nennenswert, wo die Kongoleute den Nil 
zu erreichen suchen. Denn der ^heilige Strom* ist hier, wie das Meer im 
hanseatischen Mittelalter, der heifsersehnte Zielpunkt der Europaer, seine 
riesige Handelsstraße erscheint als Inbegriff verheifsungsvollster Zukunfts- 
träume. Während aber England dem Kongostaat gegenüber ein Auge zu- 
drückt, das Vordringen stillschweigend geschehen läfst, ist es bei Frankreich 
voll wachsamen Argwohns gewesen, und Faschoda hat den Anlafs zu sehr 
gereizten diplomatischen Erörterungen gegeben. — Der eine Quellarm des Nil 
wird also der weifse genannt wegen des milchigen Wassers, und ostwärts er- 
giefst sich in ihn der von Abessinien herabströmende blaue Nil mit schlamm- 
reicher grüner Farbe. Über Sennaar und Fasogel leitet uns dieser letztere 
Flufs in das Gebiet einer ganz anderen Flora und Fauna. Bisher bildeten 
Dattelpalme und Kamel die charakteristischen Typen der Landschaft, jetzt 
kommen wir in den Tropengürtel, wo die riesigen Adansonien und die echt 
afrikanischen Erscheinungsformen der Pachydermen sich als Vertreter der 
durchwanderten Gebiete darbieten. Die Adansonien oder Affenbrotbäume, 
Baobabs, gehören zu den kolossalsten Pflanzen, man nennt sie den Elefanten 
unter den Gewächsen und kann dies malvenartige Pflanzengebilde ebenso wie 
die Mammutbäume in Kalifornien und die 300 m langen Algen der Oceane 
unter die Zeugen einer staunenswerten Schaffenskraft vegetativer Natur rechnen. 
Man mifst den Umfang der Baobabs bis zu 24 m, den Durchmesser der kurzen 
Stämme bis zu 8 m und hat an einzelnen Exemplaren 5 — 6000 Jahresringe 
aufgefunden. — Dort wo sich die hamitischen Bewohner mit den eigentlichen 
Negerstämmen, zuerst den Haussanegern und weiter südlich den Bantus be- 
rühren, begegnen uns auch schon Sterkulien, die kakaobaumähnlichen Kola- 
oder Gurunuüsgewächse, die den c Kaffee von Sudan* liefern. Die Kolanüsse 
zeichnen sich durch ihren starken Gehalt an Koffein aus (sie übertreffen darin 
den stärksten Javakaffee), und dienen den Negern als unentbehrliches An- 
regungsmittel, das sie z. B. wach erhält, wenn sie ihre nächtlichen Orgien 
feiern. Wie unser Wegerich den Indianern als c Fufs des weifsen Mannes* gilt 
und westwärts den Europäer als Kulturpionier begleitet, so ist die Kolanufs 
überall da zu finden, wo Neger wohnen, also auch in Brasilien. Sie bildete 
in Innerafrika einen wichtigen Handelsartikel und wurde buchstäblich mit Gold 
(Sudan war vor Entdeckung der südamerikanischen Goldländer der ergiebigste 
Fundort) aufgewogen. — Zu erwähnen ist ferner die Negerhirse oder Durra, 
das afrikanische Hauptgetreide. Der träge Neger baute bisher so unzulänglich 
das Getreide, dafs Afrika, obschon es 57 mal so volkreich ist wie Australien, 
dem Welthandel nicht so viel Ware bietet wie dieser meist dürre Erdteil. — 
Den Riesen des Pflanzenwuchses entsprechen die Vertreter der Fauna. Schon 
quantitativ mufs diese Fauna imponieren, denn Afrika ist der säugerreichste 
Erdteil, aber auch die Qualität der einzelnen Arten erfüllt uns mit staunender 
Verwunderung über dies seltsame Spiel einer strotzend fruchtbaren Naturkraft. 



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R. Hanncke: Materialien zu einer Repetition über Afrika 387 

Elefanten, Rhinocerosse und Nilpferde ragen durch ihre Kolossalität hervor, 
Krokodile, Giraffen, Riesenschlangen, Löwen und Straufse dienen weiter dazu, 
das Tiergewimmel des tropischen Afrika recht huntscheckig zu machen, und 
dazu kommen dann in den westafrikanischen Urwäldern die seltsamen Vertreter 
der Affenwelt, der Schimpanse und der Gorilla. — Nur ein zur Nahrung so 
notwendiges Mineral hat die Natur diesem östlichen Afrika versagt, nämlich 
das Salz, und so bildet hier das Salz der Wüste Sahara die übliche Tausch- 
ware. In Abessinien ersetzen Steinsalzstabe das nötige Courantgeld und er- 
innern in der unmittelbar verwertbaren Nützlichkeit an die ursprüngliche Form 
und Bedeutung des griechischen obolos und des römischen as (Bratspiefs und 
Stangen, also Stabe von Metall, die zerteilt werden konnten). 1 ) 

Die Bahn soll den Nil aufwärts begleiten und befindet sich bei Lado, von 
wo der Nil schiffbar wird, in echt tropischem Sumpfland, 'das zur Zeit der 
Überschwemmung meilenweit mit Wasser bedeckt ist/ Hier wohnen zwischen 
Nil und Kongo die hochentwickelten Niam-Niam und Mongbuttus, die aber 
trotz ihrer Intelligenz und manuellen Geschicklichkeit Menschenfresser sind und 
in dem Glauben stehen, sich durch die entsetzliche Mahlzeit die Kraft der ge- 
fallenen Feinde anzueignen. — Bald ist der Äquator erreicht, und südostwärts 
liegt der Wunderberg des Kilimandscharo. Der Rübezahlberg (oder Berg = 
kilima des Dämons der Kälte) steigt kegelartig empor und ragt mit seinem 
Schneehaupte Kibo bis zu einer Höhe von 6000 m. Anschaulich schildert 
uns Dr. Hans Meyer — der den Gipfel bestiegen hat — die Eindrücke, wenn 
man nach Durchwanderung der Steppen der Njikawüste zuerst den Berg- 
riesen wahrnimmt. 'Unten die Glut des Äquators und tropisches Leben, neben 
uns der nackte Neger und vor uns Palmenhaine am Rande des Tawetawaldes; 
dort oben die Eisluft der Pole, die überirdische Ruhe einer gewaltigen Hoch- 
gebirgsnatur, ewiger Schnee auf erloschenen Vulkanen!' Hier kann man recht 
erkennen, welche Fülle des Segens Schneeberge in sich bergen, zumal in einem 
tropischen Klima, und man versteht den Stofsseufzer des Geographen, c wie 
anders würde es um Afrika stehen, wenn seine Gebirge von Schnee belastet 
wären*. Der Schnee speist die Bäche und Rinnsale, und es entwickelt sich die 
entzückende Vegetation der Dschaggaländer, die diesen Erdenfleck zu einem 
'Garten Gottes' stempelt. Der Reiz der Gegend wird erhöht durch die Pflanzung 
der Bananen oder des Pisangs, dessen Beeren ja Millionen Menschen der heifsen 
Erdstriche die mehlreichen Getreidearten des Nordens ersetzen und dessen 
Stämme, wie Humboldt sagt, den Menschen seit der frühesten Kindheit seiner 
Kultur begleiten. 

Die Bahn ist jetzt überhaupt in das äquatoriale Seengebiet Afrikas ein- 
getreten, und man will bekanntlich Afrika den Erdteil der gröfsten Binnenseen 
nennen. In ziemlicher Nähe von dem Schienengeleise liegt der Viktorianyanza 
von der Gröfse Bayerns, der also an Flächenraum wenig dem oberen See 



l ) Im Sudan selbst bilden die Kauris, die kleinen Muscheln der indischen Porzellan- 
schnecken, das Tauschgeld. Ein Huhn kostet etwa 250 Kauris, also ungefähr 30 Pf. 

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388 & Hanncke: Materialien zu einer Repetition über Afrika 

Amerikas, dem gröfsten Binnensee, nachsteht. Seine Ufer sind meist flach, 
und darin unterscheidet er sich von den schlauchartigen südlichen Seen des 
Tanganyka und Nyassa, von denen ersterer eine Reliktenfauna beherbergen soll, 
was auf ursprünglichen Zusammenhang mit dem Meere hindeuten würde. Das 
Zwischenland dieser Seen ist Deutschostafrika in der Gröfse des gedoppelten 
Deutschlands, und durch seinen Westrand soll die projektierte Eisenbahn hin- 
durchgelegt werden. In dem Lande kann man wie in allen dem Äquator be- 
nachbarten Breitengraden nicht von eigentlichen Jahreszeiten sprechen, dies 
sind klimatische Erscheinungen unserer gemäfsigten Zone. Über dem Äquator- 
bewohner steht die Sonne zweimal im Jahre senkrecht oder direkt im Zenith, 
das ist an unseren Tag- und Nachtgleichen des 21. März und 23. September, 
in den zwischenliegenden Zeiten beschreibt sie zuerst nordwärts ihren Tages- 
bogen, und dann südwärts. Für die heifse Zone gilt das Gesetz, dafs c die 
Regen dem Zenithstande der Sonne folgen', und demnach müfsten diese Gegenden 
wenigstens in unmittelbarer Nähe des Äquators zweimal Regenzeiten haben. 
Dies klang auch aus einer neuerlichen beweglichen Bitte der Zeitungen heraus, 
wonach für unsere Kolonie gesammelt werden sollte, weil, wegen Ausbleibens 
der kleinen Regenzeit und anhaltender Dürre Mifs wachs und Hungersnot ein- 
getreten sei. Das Fatale ist, dafs Afrika gröfstenteils Hochland ist, und dafs 
z. B., was unsere Kolonie Ostafrika betrifft, die regengeschwängerten Monsuns 
bereits an den Küstenrändern zerreifsen und sich ihrer Segensfülle entladen 
(ganz wie an der Ostküste Australiens), so dafs in den Trockenzeiten höchstens 
an den das Land durchstreichenden Gebirgszügen Steigungsregen (wie in Heidel- 
berg) sich findet und üppigeres Wachstum zuläfst. Daraus erklärt sich in dem 
östlichen Afrika das Park- und Savannenähnliche der Landschaft, die für den 
Europäer etwas Ödes und Fremdartiges in sich schliefst. Statt unseres weichen 
Rasens sprossen büschelähnlich zusammenstehende harte und steife Halmgräser, 
und nur vereinzelt wachsen Strauch- und Baumarten, die lange Trocknis aus- 
halten, wie Dornsträucher und kaktusähnliche Euphorbien (Wolfsmilchgewächse). 
Hier sind die Jagdgründe und Tummelplätze der Antilopen, Giraffen und Straufse, 
und die Uferwälder an dem Sickerwasser der Flüsse ^ziehen sich wie dunkel- 
farbige Schlangen durch die fahle Steppe*. 

Lange Zeit wurde in diesen Gebieten scheufslicher Sklavenraub getrieben. 
Überhaupt schien der Erdteil schon seit dem grauesten Altertum dazu verdammt 
zu sein, als vornehmste und fast einzige Ausfuhrware das Ebenholz, wie die 
ihrer Freiheit beraubten, unglücklichen schwarzen Menschen genannt wurden, 
zu liefern. Karthago schickte seine Karawanen südwärts, die Araber des Mittel- 
alters legten dem Hinterlande schonungslos diese Blutsteuer auf, und als 
Amerika entdeckt war und Las Casas seine menschenfreundlichen Vorschläge 
machte, kam der Skaventransport aus dem unglücklichen Kontinente erst recht 
in Flor. Man will nachrechnen, dafs bisher in etwa zweieinhalb Jahrhunderten 
40 Millionen Menschen Afrika entzogen seien, und staunt über die trotzdem 
schier unerschöpfliche Menschenfülle (man schätzt die Einwohnerzahl Afrikas 
auf etwa 170 Millionen). Das Los der amerikanischen Neger war ja traurig 



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R. Hanncke: Materialien zu einer Repetition über Afrika 389 

genug — man erinnere sich der Schilderungen aus Onkel Toms Hütte — , aber 
scheufslicher noch waren die Sklavenjagden hier in Ostafrika. Wenn die 
arabischen Handler ihren nichtswürdigen Einkauf oder Raub gemacht hatten, 
so trieben sie die Neger in den Dschebas erbarmungslos zur Küste, und dann 
ging es an die Verpackung in den Dhaus, aus denen endlich die zu Toten- 
gerippen abgemagerten Überlebenden — und waren es auch nur fünfzig Pro- 
zent — an der asiatischen Küste herauskletterten, um auf die Sklavenmärkte 
gebracht zu werden. Die Besitzergreifung des Landes durch Deutschland hat 
diesen entwürdigenden Jagden ein Ende gemacht, und der ostafrikanische Ab- 
delkader, der Araber Buschiri, hat seinen Aufruhr und Widerstand gegen die 
deutsche Humanität mit dem Tode am Galgen büfsen müssen. Statt des Eben- 
holzes wird jetzt Elfenbein zur Küste gebracht, das von hier aus im stärksten 
Prozentsatz als Ausfuhrware in den Handel kommt, und charakteristisch wie 
die langen Kamelreihen in der nordafrikanischen Wüste und die Ochsenwagen 
in Südafrika erscheinen hier als einzig mögliche Art des Transportes die mit 
ihren Lasten bepackten, einzeln hintereinander in den schmalen Steppenpfaden 
einherschreitenden schwarzen Träger. Es ist eben die einzig mögliche Art der 
Fortschaffung der Lasten, denn die Haustiere Europas oder Nordafrikas können 
entweder das heifse Klima nicht vertragen oder fallen als Opfer der hier ein- 
heimischen giftigen Tsetsefliege. 

Zwischen Tanganyka- und Nyassasee, wo die Eingeborenen eine Art 
Mückenkuchen wie unseren Kaviar verzehren, verläfst die Bahn deutsches 
Gebiet und bleibt nun, ebenso wie nordwärts bis an den Äquator der Einflufs 
Englands reichte, ausschliefslich auf englischem Territorium. Es ist das eine 
stolze Genugthuung für den energischen Kolonisationsgeist des angelsächsischen 
Volkstums, in so breiter Lagerung von Nord nach Süd durch einen gewaltigen 
Erdteil hin den Einflufs seines Namens und seiner Flagge gewahrt zu wissen 
und sich nur für eine kurze Strecke genötigt zu sehen, mit den Dutchmen sich 
zu vereinbaren. Es war ja in den letzten Jahrzehnten auch keine allzuschwere 
Aufgabe, sich hier gröfsere Territorien zu erwerben, und unter etwas veränderten 
Verhältnissen schienen die mittelalterlichen Zustände der fränkisch-byzantinischen 
Zeit des Archipelagus aufgelebt zu sein, wo mühelos die occidentalischen Grafen 
und Barone im Kreuzzugszeitalter sich Herzogtümer und Königreiche erwarben 
und Dynastien begründeten. Im wesentlichen verdankt aber England diesen 
neuen Zuwachs seiner Macht hier südwärts vom Äquator der Thatkraft eines 
Mannes, den die Presse daher nicht mit Unrecht den Napoleon Südafrikas ge- 
nannt hat, eben des Cecil Rhodes, von dem auch das grandiose Eisenbahn- 
projekt herrührt, das uns bisher beschäftigt hat. Die Bahn läuft also jetzt in 
den Steppen und Waldungen des neu erworbenen und fast ganz un gekannten 
Rhodesia, und allmählich wird der Reisende, je weiter er südwärts fährt, den 
Einflufs einer geänderten Jahreszeit gewahr werden. Der Nordrand Afrikas 
hatte seine Sommerzeit vom Mai bis September, in Südafrika umgekehrt tritt 
die begünstigte Jahreszeit vom November bis Mai ein. Noch komplizierter 
wird ja der Gegensatz zweier Punkte auf der Erdoberfläche, wenn zu dem 



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390 R- Hanncke: Materialien zu einer Repetition über Afrika 

Unterschiede der Jahreszeiten noch der der Tageszeiten tritt, so dafs man 
sich das Maximum dieses gegensätzlichen Zustandes derart konstruieren kann: 
wenn wir zwölf Uhr mittags im heifsen Sommer haben, ist es für die Leute 
auf den Antipodeninseln bei Neuseeland Mitternacht und obenein Winterszeit. 

— Die Bahn nähert sich jetzt dem Zambese, dem viertgröfsten unter den 
afrikanischen Strömen. Natürlich hat auch dieser Flufs in den Livingstoneschen 
Viktoriafällen seinen Absturz, und besonders prächtig, denn über dreifsig 
Meter tief stürzt sich das breite Wasser in eine enge Spalte, und mächtige 
Dampfsäulen verkünden bis auf zehn Kilometer den gewaltigen Naturvorgang, 

— aber es geht ihm wie den anderen Flüssen in Afrika, für die Schiffahrt ist 
er gröfstenteils unbrauchbar. Die oft majestätische Breite des Strombettes be- 
hindern wiederholt Sandbänke und Katarakte, und namentlich die Mündungs- 
arme sind leider fast wie verstopft. So hat er die Erwartungen, die man an 
seine Entdeckung knüpfte, nicht erfüllt. Während die zweiundzwanzig Mün- 
dungsarme, die 'Olflüsse' des Nigers oder Kworras einen intensiven Handel mit 
Palmöl ermöglicht haben, ist das Zambesedelta unbewohnt und ungesund ge- 
blieben. Etwa fünf Grad südlich vom Zambese liegt Buluwayo, die Hauptstadt 
von Rhodesia, bis zu dem von der Kapstadt her schon die Bahn fertig und im 
Betriebe ist. Je mehr sich der afrikanische Kontinent nach Süden zuspitzt, 
desto schroffer, kann man sagen, werden die klimatischen Gegensätze. Die 
Ostküste hat reichlichen Regen, üppige Vegetation und alle Mängel eines tro- 
pischen Klimas, wie denn die Delagoabai durch ihre Mangrowe Waldungen und 
ihre Sumpffieber berüchtigt ist. Binnenwärts auf den Hochflächen haben wir 
ein überaus trockenes Klima und die Erscheinung der Regenflüsse, die also nur 
bei Regenzeit sich mit Wasser füllen; ja man will behaupten, dafs in Südafrika 
in den letzten Jahrzehnten sich der Wasserstand noch erheblich gemindert hat. 
Das Land trocknet also immer mehr ein, und wenn nicht die civilisatorische 
Anpflanzung der Kulturgewächse Südafrika aufhilft, werden die Lebensbedin- 
gungen dort ungünstiger werden. Früher konnte man doch den Ngamisee 
nachweisen, dessen Wasser allerdings ein periodisches Einschlürfen beobachten 
liefsen — die Eingeborenen sagten, das Wasser ziehe sich zurück, 'um zu 
fressen' — heute soll er beinahe verschwunden sein, ebenso wie die Salzpfannen 
auch solche ehemaligen Seemulden darstellen. Also das ausgesprochene Kon- 
tinentalklima und die Dürre prägen hier dem südlichen Erdteil gröfstenteils 
den Charakter der Steppe oder geradezu der Wüste auf, wie das die grofse 
Kalahariwüste im Inneren des Landes bezeugt. Bei dem Vorherrschen de9 
Busches oder des 'Niederwaldes', eines niedrigen strauchartigen Gehölzes, macht 
sich der Mangel an Holz und Brennmaterial sehr empfindlich geltend, und man 
wartet sehnsüchtig auf die Entdeckung von gröfseren Steinkohlenflözen. In 
den Breiten der Kalahari tritt der klimatische Gegensatz der einzelnen durch 
die Längengrade geschiedenen Gürtel und Vegetationstypen recht augenfällig 
zu Tage. An der Ostküste liegt das englische Natal, benannt nach dem Tage 
seiner Entdeckung durch Vasko de Gama, dem Weihnachtstage 1497. Hier an 
dem feuchtheifsen Uferstriche gedeiht neben Kaffee und Baumwolle sogar das 



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R. Hanncke: Materialien zu einer Repetition Über Afrika 391 

Zuckerrohr, und der Regenmesser zeigt die erstaunliche Fülle der Niederschläge 
von .5 m an. Überboten wird diese Regenmenge wohl nur von Assam in 
Hinterindien, wo 570" (also etwa 15 m) Niederschläge stattfinden sollen, 
während wir in Deutschland nur 700 mm messen. Aber diese Entleerungen und 
Güsse der mit Wasserdunst übersättigten Wolken bringen andererseits auch 
zahlreiche Gewitter mit sich, und wir entsinnen uns, dafs Bartholomäus Diaz 
die Südspitze Afrikas das Cabo tormentoso nannte, wobei Gewitterstürme wohl 
auch eine Rolle gespielt haben. — Nach Westen zu folgen die beiden Boeren- 
republiken mit gemäfsigterem Klima, dann die Ealahari und endlich am Rande 
des atlantischen Ozeans unser deutsches Südwestafrika mit seiner fast vegeta- 
tionslosen Stranddünenküste. Die Ealahari trägt den Namen einer Wüste, ent- 
behrt doch aber nicht ganz des Pflanzenwuchses. Der Boden ist hier und da 
bekleidet mit verschiedenen Salzpflanzen, den Aasblumen und Eispflanzen, und 
namentlich charakteristisch ist das absonderliche Gebilde der Welwitschia, einer 
polypenartig an der Erde hinkriechenden Pflanze, die den Stamm als Wurzel in der 
Erde stecken hat und an der Oberfläche zweimeterlange Blätter treibt. Während 
sich also die Pflanzenwelt von diesen Strichen zurückgezogen hat, sind sie um 
so mehr der Tummelplatz zahlreicher Tiere geworden, die aus den bewohnten 
Gegenden leider vertrieben sind. Antilopen, Straufse und Giraffen haben hier 
ihre Jagdgründe, und auch der Löwe ist noch zu finden. Und gleichermafsen 
wie die klimatischen Verhältnisse sich hier nach Ost und West scheiden, so 
haben wir auch bedeutsame ethnologische Unterschiede. Die Ostküste zeigt 
noch bis Natal in den schönen Sulukaffern die letzten Ausläufer der Bantu- 
neger, so wie im Nordwesten die Duallavölker in Kamerun als letzte nördliche 
Vertreter erscheinen. In den Wüsten der Ealahari und weiter südwestlich 
finden wir dagegen die Betschuanen, Buschmänner und Hottentotten mit ihren 
Schnalzlauten (nach denen sie benannt sein sollen), wahrscheinlich die Über- 
bleibsel der Ureingeborenen Afrikas, wie man auch in den zwischen die 
Neger eingestreuten kümmerlichen Zwergvölkern in den äquatorialen Strichen 
diese Ureinwohner erkennen will. Diese Stämme Südafrikas stehen auf der 
untersten Stufe der Gesittung, sind überaus faul, diebisch und bis zu er- 
schreckendem Grade bedürfnislos in Bezug auf Nahrung und Wohnung, wie 
man denn sagt, der Buschmann kenne keine anderen Haustiere als den Hund 
und die Laus. 

Die Bahn umgeht geflissentlich das Gebiet der beiden südafrikanischen 
Republiken, und das hat seinen guten Grund. England ist neidisch auf das 
Emporblühen dieser beiden Boerenstaaten, des Oranjefreistaats und der Trans- 
vaalschen Republik, und legt ihnen gern Hindernisse in den Weg, scheut auch 
vor offenen Gewaltstreichen nicht zurück, wie das Cecil Rhodes bewiesen hat. 
Die holländischen Boeren haben aber eine gewaltige Zähigkeit und Thatkraft 
und bauen sich im Lande ihre eigenen Eisenbahnen, von denen die wichtigste 
die Hauptstadt Pretoria mit dem viel umstrittenen Delagoahafen verbindet. 
Die Bewohner der Republiken sind Bauern und Viehzüchter, zwei Fundobjekte 
haben aber dem Lande weit über Afrika hinaus eine grofse Bedeutung und 



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392 R Hanncke: Materialien zu einer Repetition über Afrika 

Anziehungskraft verliehen, das sind die Diamanten und das Gold. Das Dasein 
der sogenannten 'Vaalgesteine' war insofern von grofser Wichtigkeit, als in sie 
die kostbaren Diamanten eingebettet lagen. Man fand sie durch Waschen 
und Sortieren entweder in den River -Diggings, also im Flufsbett des Vaal 
selbst — in den Ufergelanden arbeiteten unzahlige 'Wiegen' — , oder man grub 
sie auf den erworbenen 'Claims* in den schnell berühmt gewordenen 'Diamant- 
kratern', vor allem in Kimberley, wo die Vertiefungen der in den Gruben 
schürfenden Arbeiter übersponnen waren mit einem Spinnenwebennetz von 
Drahtseilen, an denen die Eimer herabgelassen und heraufgezogen wurden. 1 ) 
Berühmt geworden ist c der Stern von Südafrika', ein Diamant von 83 Karat, 
für den einst ein Preis von 500000 Mark gezahlt wurde. Die Diamanten haben 
mehrfach einen Stich ins Gelbliche und imponieren durch ihre Gröfse, so dafs 
man bereits einen Stein von über 900 Karat gefunden hat. — Eine zweite an- 
sehnliche Rolle im Wirtschaftsleben der Erde spielt das Gold der Transvaal- 
bergwerke, dessen Ausbeute gegenwärtig die bedeutendste in der Welt ist, so 
dafs Amerika überflügelt ist, wenn nicht noch Clondyke allmählich reichere 
Erträge liefert. Nach einer neuerlichen Berechnung ist die Gesamtausbeute an 
Gold auf der Erde 350000 kg, was einem Wert von einer Milliarde Mark 
gleichkommt. Afrika liefert eine viertel Milliarde an Wert. 2 ) Ein Viertel der 
gesamten Goldgewinnung findet im Kunstgewerbe Verwendung, das übrige 
wandert in die Münzen. 

Da die Geographen in Afrika sehr freigebig mit signifikanten Vergleichen 
gewesen sind und wir z. B. c ein afrikanisches Rom' in Timbuktu und ein 
c London Afrikas' in dem sudanischen Kano besitzen, so könnten wir eigentlich 
für Transvaal den alten halb mythischen Begriff 'Eldorado' wieder aufleben 
lassen. 

So überschreitet nun endlich die Bahn den letzten grofsen afrikanischen 
Strom, den Oranjeflufs; wir durchfliegen die Wüstengebiete, darunter die Carroo, 
die durch Freiligrats Gedicht 'Der Löwenritt', das allerdings alle möglichen 
geographischen und zoologischen Verstöfse darbieten soll, hinlänglich bekannt 
ist, und befinden uns am Ziel unserer Fahrt, in der englischen Kapkolonie. 
Wenn wir Ende August uns in Kairo auf die Bahn gesetzt haben und eine 
solche Transversierung des Erdteils doch wohl zwei bis drei Wochen Zeit 
beansprucht, so langen wir demnach im September in der Kapstadt an. Dort, 
wo wir abfuhren, war es Spätsommer, hier wo wir eintreffen, ist es Beginn 
des Frühlings mit dem Reiz der erwachenden guten Jahreszeit. Man nennt 
den September hier am Kap den Blumenmonat, und alle Pracht der berühmten 
kapischen Flora ist hier zu schauen. An den 'Kindern der verjüngten Au' 
sind die Verheifsungen der Ceres in vollstem Mafse erfüllt: 

Euer Kelch soll überfliefsen 

Von des Nektars reinstem Tau, — 



*) Jetzt ist in Kimberley der Betrieb grösstenteils im Besitz der de Beers Gesellschaft. 
*) Nach neuester Berechnung 28% % alles jährlich produzierten Goldes. 



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R. Hanncke: Materialien zu einer Repetition über Afrika 393 

Tauchen will ich euch in Strahlen, 
Mit der Iris schönstem Licht 
Will ich eure Blätter malen 
Gleich Aurorens Angesicht. 1 ) 

Die Wunder einer farbenreichen Vegetationskraft sind am besten auf der 
Rückseite des Tafelberges zu beobachten, da, wo die alte Burgunderrebe hier 
den feurigen Kapwein erzeugt. Unter dem Geäste der Proteaceen, der Silber- 
bäume und Zuckerbüsche erglühen die Polster der Eriken und die mannshohen 
herrlichen Pelargonien. Noch ist nicht die heifseste Zeit da, der Januar und 
Februar — f wo Metallgegenstände so heifs werden, dafs man sie kaum in der 
Hand halten kann und wo dunkle Wollenkleidungen einen Geruch verbreiten, 
als wären sie versengt* — , noch ist es herrliches Frühjahr, wo der Südost- 
passat mit seiner auffrischenden antarktischen Luftströmung als 'Kapdoktor' 
seine Herrschaft angetreten hat. Überhaupt will man der Kapstadt das ge- 
sündeste Klima der Welt zuerkennen und ihr Klima dem des paradiesischen 
Neapel gleichsetzen, nur dafs eine gewisse Erschlaffung des Thätigkeitstriebes 
als unwillkommene Beigabe mit in den Kauf genommen werden mufs., — Alle 
diese südafrikanischen Staaten, auch unsere Kolonie Westafrika, sind gewaltige 
Viehzüchter, und namentlich in der Schafzucht (1875 in der Kapkolonie zehn 
Millionen Schafe!) wird Südafrika nur von Australien und den La Platastaaten 
überholt, so dafs Wolle neben den Erträgen der Straufsenzucht die hauptsäch- 
lichste Ausfuhrware bildet. 

Wohl bei keinem andern Erdteil hat der Zeitraum der letzten dreifsig 
Jahre eine solche Bereicherung der Kenntnis gebracht, ein solches Eindringen 
in das äufsere und innere Leben des Landes. Vor dreifsig Jahren brauchte 
man den Vergleich, Afrika wäre wie ein Trauermantel, der nur an den Rändern 
seiner Flügel licht erscheint; heute überzieht man den Erdteil mit Telegraphen- 
drähten, und die Bewegungskraft des Dampfes soll die entmutigende Schwer- 
fälligkeit des inneren Ausgleichs und der Beziehungen der einzelnen Landschaften 
zu einander besiegen. Vielleicht ist auch der Negerrasse noch einst ein intensiver 
Anteil an dem Ausbau der Menschenkultur beschieden. 



*) Fritech, Südafrika S. 127. 



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ANZEIGEN UND MITTEILUNGEN 



BRIEFE VON F. A. WOLF UND F. PAPEN- 
CORDT AN LINA KLINDWORTH 

(Schluß) 
in ter Brief von Papencordt an Lina 
Klindworth. 
Rom 10 December 1838. 

Besten Dank, verehrtestes Fräulein, für 
Ihren letzten Brief vom 8 ten August, welchen 
ich aber erst d. 28 November erhalten habe, 
wie Ihnen Deodat wohl schon gesagt hat. 
Wir tauschen Briefe aus, wie Glaukos und 
Diomedes beim Homer ihre Rüstungen; ich 
gebe Erz und bekomme Gold dafür wieder: 
XQvascc xccXkhcqv kuccxopßoi ivvtccßouov, und 
ich würde Ihnen öfter schreiben, wenn ich 
mich nicht schämte, zu oft einen ungleichen 
Handel zu machen. — Alle Nachrichten, 
welche Sie mir über Ihr Leben und Treiben 
in Waldow 1 ) geben, haben mich sehr inter- 
essiert; ich wollte Ihnen gern einen Theil 
meiner Mufse zu Lieblingsarbeiten abtreten, 
wenn dies nur anginge. Vielleicht oder 
hoffentlich gewifs bringt Deodats Rückkehr 
in das elterliche Haus eine angenehme 
Störung in Ihre allzugrofse Gewissenhaftig- 
keit; so sehr ich auch die Aufopferung an- 
erkenne, mit der Sie Sich der Erziehung der 
Kinder Ihrer Freundin widmen *), wäre Ihnen 
doch wohl etwas mehr Rücksicht auf Sich 
Selbst anzurathen, so dafs Ihnen mehr die 
Oberleitung und anderen das Detail anheim- 
fiele. Ähnliches erinnere ich mich Ihnen 
auch schon mündlich gesagt zu haben. Doch 
Sie werden dies am besten wissen, und ich 
bin weit entfernt, mir ein Urtheil, ja kaum 
einen guten Rath anmafsen zu wollen. 

Also unser Deodat ist jetzt Studiosus ge- 
worden; ich war ganz überrascht und hatte 
gedacht, er würde auf der Schule bis Ostern 
bleiben. Er schreibt mir einen sehr liebens- 



*) Ein Landgut des Grafen Oriolla in der 
Nieder-Lausitz, wo die Familie im Sommer 
zu leben pflegte. 

9 ) Die Gräfin 0. hatte aufser den Söhnen 
auch eine Tochter Luise, später Palastdame 
bei der Kaiserin Augusta. Lina Kl. liefs es 
sich nicht nehmen, mit den jungen Grafen 
die lateinischen und griechischen Klassiker 
selbst zu lesen. 



würdigen Brief voll der besten Vorsätze; und 
ich habe mein Bestes gethan, ihn darin zu 
bestärken. Oder mufs ich fürchten, dafs er 
freundschaftliches Predigen nicht gut auf- 
nimmt? Ich habe ihm vor allem gerathen, 
wenigstens in einem Theil seiner Arbeit 
unverbrüchliche Ordnung zu halten; ferner 
habe ich ihn dringend ermahnt, die klassi- 
schen Studien fortzusetzen. Ohne diese Fort- 
setzung wäre alle frühere Arbeit ihrem Wesen 
nach verloren ; vielleicht wäre es am besten, 
er nähme wöchentlich noch etwa 3 Privat- 
stunden über alte Sprachen bei einem tüch- 
tigen Philologen; sonst hat das Fortarbeiten 
doch keine rechte Art, wie ich an so vielen 
Beispielen gesehen habe. Der Vortheil davon 
ist ein gewisser Zwang und eben die Ge- 
legenheit, sich immer Raths zu erholen. 
Bitte, schlagen Sie dieses gütigst dem Herrn 
Grafen vor, wenn Sie selbst damit ein- 
verstanden sind. Ich bin kein sonderlicher 
Freund der Engländer, aber ich habe deren 
doch eine grofse Menge hier gesehn und 
bewundere ihren Sinn für klassische Bildung, 
nicht nur unter den Civilisten, sondern auch 
unter den Officieren der Landmacht. Es ist 
mir wiederholt vorgekommen, dafs ich einem 
colonel oder major-general vorgestellt bin, 
welcher in allen Welttheilen gedient hatte 
und dabei die Klassiker kannte, wie ein 
Philolog von Profession es gewöhnlich nicht 
thut; bei den Juristen und Parlaments- 
Mitgliedern ist es durchweg der Fall. Dabei 
haben sie einen aufserordentlichen Eifer zum 
lernen; und z. B. einer meiner Bekannten 
liest griechische Klassiker mit einem alten 
Generalleutenant, welcher seine Universitäts- 
studien hervorgesucht hat. So etwas wünschte 
ich auch bei Deodat zu sehen und ich rechne 
sehr auf Ihre Unterstützung dabei. 

Was mich betrifft, so habe ich bald, 
nachdem ich Ihnen geschrieben, im Juni eine 
kleine Reise in die Abruzzen gemacht und 
die alten Wohnsitze der Volsker, Marser, 
Samniten, Aequer und Sabiner besucht. Es 
ist dies eine der interessantesten Reisen, die 
man machen kann, da das Volk noch nicht 
durch die Reisenden verderbt ist, und man 
weniger zu Wagen, sondern nur zu Fufs 
oder zu Pferde reisen kann. Ich war in 



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Anzeigen und Mitteilungen 



395 



Anagni, Ferentinum, Alatri, Arpinum, der 
Geburtsstadt Ciceros und Markts', wo ich an 
die Leser von Cicero de lege Manilia gedacht 
habe; dann Sora, lago di Fucino mit dem 
Schlachtfelde Conradins, Celano, Corfinium, 
Aquila, Rieti. So lange es die Hitze erlaubte, 
blieb ich dann in Rom bei meiner Arbeit, 
im August war ich auf dem Lande, und 
d. ll ten September reiste ich dann nach 
Sicilien. Die Überfahrt von Neapel nach 
Messina war sehr glücklich, denn ich hatte 
während 27 Stunden auch kaum einen Anfall 
von Seekrankheit, welche ich sehr fürchte. 
Auch die Reise selbst war wunderbar glück- 
lich. Jeder rieth uns wegen der vielen 
Räuberbanden ab, überhaupt oder ohne Be- 
deckung zu reisen ; mehrere Reisende kehrten 
in den Hafenplätzen wieder um, und unsere 
Gesellschaft, bestehend aus 4 Deutschen, hat 
auch nicht eine Spur von Räubern gesehen, 
selbst nicht in den berufensten Gegenden. 
Weder in Palermo, noch in Neapel oder hier 
will man uns dieses glauben und denkt, wir 
sagten es nur nicht aus Furcht vor allen 
Weitläufigkeiten. Aus diesem Grunde und 
wegen des anhaltend guten Wetters ging 
alles prächtig von statten; solche Äufserlich- 
keiten haben in Sicilien besonderes Gewicht, 
da man % des Weges und mehr blos zu 
Maulthier machen kann. 

Wir nahmen den Weg über Messina,Catania, 
Leontini, Syracus, Noto, Modica, Terra nova, 
Sicata, Girgenti, Castelvetrano, nach Selinunt, 
Segesta, Palermo. Am meisten entsprochen 
haben mir Syracus, Girgenti, Palermo. Der 
erste Ort ist nächst Griechenland für grie- 
chische Geschichte der klassischeste Ort, und 
ich habe wahrhaft im Thucydides geschwelgt, 
den ich an Ort und Stelle gelesen und da 
erst ganz verstanden habe. Auch die Gegend 
hat einen ganz besonderen Reiz und weicht 
von den italienischen ab. Man fühlt sich 
weit mehr im Süden, und allen Erzählungen 
nach mufs Griechenland gerade so aussehn. 
Von Kunstdenkmalen sieht man in Syracus 
nur noch sehr wenig; der Minerventempel 
ist jetzt die Domkirche, aber in seinen Ver- 
hältnissen der schönste dorische Tempel, 
welchen ich kenne. Die Arethusa ist ein 
Schmutzloch ohne Gleichen und der Ort, wo 
die scheuslichsten Weiber waschen und das 
Vieh zur Tränke geführt wird. Die alten 
Latomien gewähren einen aufserordentlich 
grofsartigen Anblick; es sind ungeheure 
Steinbrüche, die man in aller möglichen 
Weise zugehauen hat. Am schönsten sehen 
diejenigen aus, wo man ungeheure Pfeiler 
zur Stützung der Decken hat stehen lassen, 
und die auch am wahrscheinlichsten zu den 



berüchtigten Gefängnissen dienten. Habe 
ich das Lokal gesehen, so lebe ich ganz 
anders in der Geschichte des Ortes. — In 
Girgenti sah ich aufser der höchst inter- 
essanten Lage der Stadt und ihrer Umgebung 
die weltberühmten Tempel. Der noch stehende 
ganz unversehrte ist kleiner, als der grofse 
in Paestum, aber besser erhalten und daher 
aufserordentlich belehrend. Von der Gröfse 
des Jupitertempels kann man sich freilich 
bei dem besten Willen kaum einen Begriff 
machen; es ist wirklich wahr, was schon 
Diodor sagt, dafs man in einer Cannellierung 
stehen kann; mein nicht sehr schmaler 
Rücken pafste vortrefflich hinein, und die 
Ecken standen noch weit über. Selinunt ist 
nur ein ungeheurer Trümmerhaufen; denn 
nur zwei Säulen stehen noch von 6 kolossalen 
Tempeln. In Sogest ist das Theater ganz 
nach griechischen Principien gebaut, wunder- 
schön gelegen und sehr belehrend : die Sitze 
des unteren Stockes waren in den Felsen 
gehauen und sind noch ganz gut erhalten. 
Auch der Tempel daselbst ist sehr grofsartig, 
war aber selbst im Alterthum nicht vollendet. 
Palermo ist der Mittelpunkt Siciliens wäh- 
rend des Mittelalters und der neueren Zeit. 
Die Lage ist prachtvoll, wohl noch schöner, 
wie die von Neapel. Unter den Sehens- 
würdigkeiten aus dem Alterthum sind die 
Metopen, welche man unter den Tempeln 
von Selinunt gefunden hat, von dem höchsten 
Interesse, ja von alter Kunst vielleicht mit 
den Sachen vom Parthenon das Interessanteste 
in der Welt. Es sind ihrer neun an der 
Zahl, welche 3 verschiedenen Kunstepochen 
der vorphidianischen Zeit ganz bestimmt 
entsprechen. Es ist ein Tod des Actaeon 
darunter, welcher das Schönste ist, was mir 
von antiker Kunst im Original vorgekommen 
ist. Durch Betrachtung acht griechischer 
Kunstwerke wird einem eine ganz neue Welt 
aufgeschlossen, und ich sage nur meine 
innigste Oberzeugung, wenn ich behaupte, 
dafs die besten Bildwerke römischer Zeit, 
z. B. der Apollo des Belvedere, der Meleager, 
der sterbende Fechter, Laocoon sich zu den 
acht griechischen Kunstwerken verhalten, 
wie Virgil zum Homer. Man mufs sich ganz 
von neuem daran gewöhnen, wenn man eine 
Zeit lang unter den Griechen gelebt hat. — l ) 



l ) Hiermit hört der Brief auf der 4. Seite 
des Bogens auf; ohne Zweifel befand sich 
der Schlufs auf einem beigelegten und ver- 
loren gegangenen Blatte. 

Friedenau, Mai 1899. 

Prof. Dr. Th. Preufs. 



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396 



Anzeigen und Mitteilungen 



ZUR AUSSPRACHE DES LATEINISCHEN 
Nach der Bemerkung der lateinischen 
Metrik, dafs eine auf kurzen Vokal aus- 
lautende letzte Silbe vor mehrfachem kon- 
sonantischen Anlaute kurz bleibe, möchte es 
scheinen, als wenn in der lateinischen 
Sprache die Anlehnung der Wörter an- 
einander, wodurch eben eine Silbenverstär- 
kung würde herbeigeführt werden können, 
nicht in gleich ausgedehntem Mafse wie in 
der griechischen stattgefunden habe. Das 
ist aber durchaus nicht der Fall. 

Es stehen sich im Lateinischen nämlich 
zwei Grundsätze gegenüber, einmal der, dafs 
im Verse die Konsonanten im Anlaute eines 
Wortes auf die Endsilbe des daran an- 
gelehnten vorhergehenden ebenso wirken, 
wie im Inlaute auf die vorhergehende Silbe, 
und der andere, dafs auf kurzen Vokal aus- 
lautende letzte Silben zu schwach sind, um 
durch eine solche Anlehnung verstärkt oder 

— wie der gewöhnliche Ausdruck ist — 
verlängert zu werden. 

Hierbei wird vorausgesetzt, dafs die 
Schlufssilbe diesen offenen Auslaut behält 
und nicht, wie z. B. in necesse "st, alta 'st, 
eine neue, geschlossene Silbe entsteht. 

— Ferner ist zu bemerken, dafs das an- 
gefügte que nicht als schwache Schlufssilbe 
aufzufassen ist, sondern von den Römern als 
ein dem Sinne nach selbständiges Wort, 
wenn auch ohne selbständige Betonung, 
empfunden wurde. Wenn also von zwei 
aufeinander folgenden que bei Dichtern das 
erste Öfters in der Arsis erscheint, so ver- 
8töf8t das durchaus nicht gegen den obigen 
Grundsatz. 

Aus jener erwähnten Zwangslage ziehen 
sich nun die lateinischen Dichter dadurch, 
dafs sie es vermeiden, durchaus Positions- 
länge bildende Konsonantenverbindungen, 
wie sc, st, sp, sq, auf eine solche schwache 
Endsilbe folgen zu lassen. Blofs einfache 
Konsonanz oder nicht notwendig Positions- 
länge bildende Konsonantenverbindung (ge- 
wöhnlich ungenau als muta cum liquida 
bezeichnet, in Wirklichkeit Verbindung von 
muta oder f mit r oder 1) ist als Anlaut 
danach statthaft. Statthaft ist also z. B. im 
lateinischen Verse die Wortfolge ille parat 
oder ille placet oder ille fremit; unstatthaft 
aber z. B. ille studet oder ille seiet oder ille 
squalor. 

Vor Fremdwörtern ist keine Anlehnung 
nötig. Wie der Dichter ohne Anstand sagt 
in Actaeo Aracyntho (Verg. ecl. II 24) und 
pati hymenaeos (Verg. georg. III 60), so 
läfst er auch unbedenklich den Doppel- 



konsonanten z auf schwachen Auslaut folgen 
in 'nemorosa Zacynthos' (Verg. Aen. Iü 270). 
Ferner lesen wir uni Crassicio se credere 
Zmyrna probavit in Versen, welche Sueton 
de gramm. 18 anführt, und distineta zma- 
ragdo bei Lucan (Phars. X 121). 

In dem Verse 
horrida squamosi volventia membra draconis 
aber, der als Beweis für die Wirkungslosig- 
keit mehrfacher Konsonanz auf vorhergehende 
Schlufssilbe im lateinischen Verse angeführt 
zu werden pflegt, liegt der hiatusähnlichen 
Trennung des daktylischen horrida von dem 
nächsten Worte offenbar malerische Absicht 
zu Grunde: es wird dadurch die ruckweise 
Bewegung des Untieres veranschaulicht, das 
hastig voranschnellt und dann, wie die 
langen Silben des folgenden squamosi zum 
Ausdruck bringen, in langgezogenen, schlep- 
penden Zügen mit seinem schuppigen Leibe 
über die Erde hinschleifend sich wiederum 
ringelt und zu neuem Vorstofse ansetzt. — 
Zu vergleichen ist der Hiatus in femineo 
ululatu, worin sich der abgerissene, stofs- 
weise Wehruf der Frauen darstellt. 

Ganz gewifs haben die lateinischen 
Dichter in dieser Anlehnung der Wörter an- 
einander nur den freieren Gebrauch der 
Sprache des gewöhnlichen Lebens zur Regel 
erhoben. Eine ganz enge Verbindung aber, 
unter Aufgabe des eigenen Worttones, haben 
wir in der Prosa bei den Präpositionen und 
Konjunktionen, die mit dem folgenden Worte 
gewissermafsen zu einem Worte ver- 
schmelzen, so dafs z. B. in den vatikanischen 
Fragmenten von Sali. hist. HI am Zeilen- 
8chlus8e abgetrennt wird contra s-peetatam 
rem, quo-m oraret. 

Eine Folge von dieser proklitischen An- 
lehnung ist die Verkürzung der mit inde, 
ve und que zusammengesetzten Konjunk- 
tionen deinde, proinde, exinde, sive, neve, 
atque und neque in dein, proin, exin oder 
exim, seu, neu, ac und nee; und zwar ist 
diese Veränderung eingetreten vor kon- 
sonantischem Anlaute. Vokalischer 
Anlaut nämlich würde bei Elision oder 
Synizese des auslautenden e den vorher- 
gehenden Konsonanten geschützt haben. 
Anders aber ist es, wenn vor konsonantischem 
Anlaute das e durch Aphärese abfällt. Man 
vergleiche z. B. dein — d'alii mit einem un- 
aussprechlichen dein — d'ceteri! Dem ent- 
spricht auch die Analogie von ab und (im 
älteren Latein) von haud, deren auslautender 
Konsonant sich an vokalischen Anlaut be- 
quem anlehnt, während er vor konsonan- 
tischem, namentlich da, wo sich eine harte 
Verbindung ergeben würde, abfällt, bezw. 



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397 



abfallen kann. — Ferner stimmt mit der 
Entstehung solcher Formen wie dein, seu, 
deren, wenn auch bei den einzelnen Schrift- 
stellern verschiedene, so doch überwiegende 
Art der Verwendung. 

Zu bemerken ist noch, dafs in exin 
aufserdem eine Verflüchtigung des n ein- 
treten kann, so dafs sein Laut dem des 
Schlufs-m in lateinischen Wörtern entspricht. 
Daraus erklärt sich die Schreibung exim. 

Was ferner den Umstand anlangt, dafs 
sich wohl nee, aber (in der klassischen 
Sprache wenigstens) nicht ac vor Konsonanten 
findet, so hat dies seinen Grund wohl in der 
volkstümlichen Aussprache des qu als c. 
Bei eintretender Elision wurde hierbei neque 
dem durch Aphärese (vor Konsonanten) ent- 
standenen nee in der Aussprache gleich, und 
es war also einerlei, ob man z. B. neque ille 
oder nee ille schrieb. Anders lag die Sache 
aber bei atque. Atque ille z. B. lautete in 
diesem Falle at-cille (c selbstverständlich 
= k); zu einer Umwandlung lag also kein 
Grund vor. Bei konsonantischem Anlaute 
dagegen, z. B. in atque primo, entstand (falls 
nicht atque blieb) nach Aphärese des e — 
da ein at-eprimo nicht möglich — : ac-primo. 
Gustav Fasterding. 



Adolf Bartels, Die deutsche Dichtung 
der Gegenwart. Die Alten und die Jungen. 
Zweite Auflage. Leipzig 1899, Ed. Ave- 
narius. 272 S. geh. 
Schon häufig ist in diesen Blättern die 
Frage angeregt worden, wie weit die Lit- 
teratur der Gegenwart in den deutschen 
Unterricht hineingezogen werden könne und 
dürfe. Dafs die Zeit nur für sehr sum- 
marische Behandlung ausreicht, dafs ferner 
gelegentliche Anregungen zur Lektüre und 
Anschaffungen für die Bibliothek der oberen 
Klassen zumeist genügen müssen, dürfte den 
Einsichtigen feststehen. Wie aber bei der 
Fülle des gewaltigen, ewig sich neu gebären- 
den Stoffes sich selbst orientieren? So wird 
mancher fragen, dem ein selbständiges Stu- 
dium der neueren und neuesten Litteratur 
entweder bei der Last der engeren Berufs- 
arbeit unmöglich war oder auch nach Rich- 
tung seiner ganz dem 'Klassischen' zu- 
gewandten Seele unwürdig schien. Da bietet 
nun wirklich das Buch von Bartels sich als 
trefflicher Wegweiser dar. Es ist durchweg 
eine fleifsige, brauchbare Arbeit, die Belesen- 
heit mit Geschmack, sicheres eigenes Urteil 
mit Gewandtheit des Ausdrucks verbindet, 
die anregt und zugleich aufs beste orientiert. 
Die erste Auflage, die vor zwei Jahren er- 



schien, hat so viel Anklang gefunden, dafs 
es wohl wert schien, die damalige Skizze 
jetzt durch — enger gedruckte — Exkurse 
über Leben und Dichten der einzelnen füh- 
renden oder geführten Geister zu einem 
stattlichen, gut ausgestatteten Bande zu er- 
weitern. Wer des Verfassers witzige Satire 
'Der dumme Teufel oder die Geniesuche' 
(Dresden, Verlags-Anstalt 1896. 1 Mk. 60 Pf.) 
kennt, der sieht auch hier, wie die Begabung 
B.s mehr auf der Seite des scharf spürenden 
Verstandes als auf der einer eigenartigen, 
mit sich fortreifsenden intuitiven Geistes- 
kraft ruht, dafs er sich daher vor allem 
schematisch die Sache zurechtzulegen und 
nun nach Klassen einzuteilen liebt: die einen 
(Goethe, Shakespeare, Dante, Cervantes) sind 
ganze Genies, andere sind 'partielle Genies', 
grofse Talente, gewaltige Persönlichkeiten 
(Schiller), Universalgröfsen (Herder) oder nur 
Talente schlechtweg; man glaubt eigentlich, 
die Zeit sei vergangen, wo man noch über 
die Unterschiede von Genie und Talent — 
wie über Ballade und Romanze — haar- 
scharf stritt. Etwas Geniales, Schöpferisches 
liegt in jeder echten Künstlernatur; die 
Dauer der Wirkung ihrer Produktivität 
dürfte der letzte Prüfstein sein, und wo sie 
bleibt, ob in der Welt, ob in einem Volk, 
ob in einer Landschaft. Es giebt eben 
gleichsam zeit- und volklose, ewige Geister 
— die werden nur alle paar Jahrhunderte 
einmal geboren — und enger nationale, 
enger landschaftliche Geister, die auch er- 
heben und erlösen, und deren Kunstwerke 
für die Glieder ihres Stammes Offenbarungen 
sind und auf lange Zeiten bleiben. 

B. setzt besonders ins rechte Licht die 
an grofsen Talenten reichen 25 Jahre nach 
1840, die Zeit des aufstrebenden Liberalis- 
mus, erkennt scharfsinnig schon von der 
Mitte der 60er Jahre den Beginn des Ver- 
falls infolge des Kapitalismus (Materialismus 
und Pessimismus) und unterscheidet denn 
eine Früh-, Hoch- und Spätdekadence, die 
mit dem konsequenten Naturalismus ihren 
Gipfelpunkt, im Symbolismus ihren Rück- 
schlag ins andere Extrem findet und teils 
vom Nietzschetum , teils vom Sozialismus 
beeinflufst wird. Freilich kann es bei einer 
solchen zahlenmäfsigen Konstruktion von 
Epochen nicht ausbleiben, dafs die Schemata 
zu willkürlicher Zahlenmystik werden und 
die einzelnen Dichter auf ein Prokrustes- 
bett kommen; denn manche sind recht 
langlebig und erreichen ihre Höhe erst im 
Alter. Und ferner tritt auch bei diesem so 
gediegenen Buche die Schwierigkeit, ja Un- 
möglichkeit hervor, die Geschichte seiner 



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Zeit sine ira et studio zu schreiben; es kann 
eben niemand aus seiner Haut heraus, d. h. 
au 9 seinen Sympathien und Antipathien, aus 
Urteilen, die auf zufällige Dinge zurück- 
zuführen sind. Wäre B. nicht geborener 
Wesselburener, wäre ihm Hebbel nicht von 
Jugend auf als Idealgestalt erschienen, er 
würde ihn nicht in so überschwenglicher 
Weise, fast auf jeder Seite verherrlichen; 
nur noch der Hebbel verwandte Thüringer 
Otto Ludwig und der Schweizer Jeremias 
Gotthelf erhalten eine gleich liebevolle, 
gleich bewundernde, über alle übrigen er- 
hebende Würdigung, während, je näher wir 
der unruhig flutenden Gegenwart kommen, 
auch das Urteil B.s immer mehr von Gunst 
oder Ungunst persönlichen Geschmackes ge- 
trieben wird und nicht selten mit recht 
üblen Zensuren verfahrt, die nicht mehr den 
frei über seinem Stoffe schwebenden Künstler 
und Kritiker verraten, sondern die rein sub- 
jektive Abneigung des Schriftstellers. 

Aber das erscheint fast als psychologisch 
selbstverständlich und giebt zugleich auch 
wieder Farbe und Ton der ganzen Arbeit, 
die in summa nur als vortrefflich gekenn- 
zeichnet werden kann. Alfrkd Bikbe 

J. Koch, Römische Geschichte. 8°. 206 S. 

Zweite Auflage. Göschensche Sammlung. 

Leipzig 1898. 

Die Neubearbeitung dieses Kompendiums 
der Römischen Geschichte, das in erster 
Auflage von Bender herausgegeben worden 
war, zeichnet sich vor allem durch gewissen- 
hafte Beobachtung der neueren einschlägigen 
Forschung aus. Die Königszeit ist mit 
gröfster Kürze behandelt, Republik und 
Kaiserzeit sind gleichfalls zu ihrem Rechte 
gekommen, während die letztere bisher in 
den meisten Büchern dieser Art recht stief- 
mütterlich behandelt zu werden pflegte. Der 
Inhalt reicht bis zum Untergange des Reiches 
im J. 476; der Prinzipat des Augustus, die 
Neuorganisation Diocletians, die Verhältnisse 
unter Conutantin sind ausführlicher behandelt, 
Christenverfolgungen und Völkerwanderung 
in ihrem natürlichen Zusammenhang dar- 
gestellt. Die vorausgeschickte Litteratur- 
angabe und die Quellenübersichten vor den 
einzelnen Abschnitten können die Brauch- 
barkeit des Buches nur erhöhen, das übrigens 
trotz der Einteilung in Kapitel und Para- 
graphen in fortlaufender Darstellung geschickt 
und warm geschrieben ist. Die Behandlung 
von Streitfragen ist mit Recht vermieden; 
Verfasser giebt kurz derjenigen Auffassung 
Ausdruck, für die er sich entschieden hat. 
In Einzelheiten wird der Fachgenosse je 



nach seinem Standpunkte zustimmen oder 
anderer Meinung sein, ohne der Ansicht des 
Verfassers ihre Berechtigung absprechen zu 
wollen. Die vorkommenden Ortsnamen sind 
durch die modernen Bezeichnungen oder 
durch die Angabe benachbarter örtlichkeiten 
erläutert, wodurch der Schauplatz der Er- 
eignisse dem Leser näher gerückt wird. Das 
Buch wird nicht nur der gebildete Laie mit 
Genufs in die Hand nehmen, sondern es 
wird auch den Schülern der oberen Klassen 
des Gymnasiums gute Dienste leisten, für 
die es jeden anderen Leitfaden ersetzen kann. 
In den preufsischen Schulen, wo die neuen 
Lehrpläne nur eine flüchtige Behandlung der 
alten Geschichte gestatten, wird es den Vor- 
trag des Lehrers zu ergänzen und das Ver- 
ständnis der historischen Entwickelung des 
römischen Volkes zu fördern besonders ge- 
eignet eein. GEo. 8 «Am,. 

Grundzüge deb Sächsischen Geschichte füb 
Lehber und Schüler höherer Schulen von 
Prof. Dr. Otto Kaemmel, Rektor des 
Nicolaigymnasiums in Leipzig. Zweite ver- 
besserte und ergänzte Auflage. Dresden 
1898, Huhle. 

Zum zweitenmale kehrt das anmutige 
und einem dringenden Bedürfnis dienende 
Büchlein in alle sächsischen Schulen, Semi- 
narien und gewifs auch in viele Familien 
ein. Die neue Auflage zeigt neben allen 
Beiner Zeit gerühmten Vorzügen (N. Jahrb. 
f. Phil. u. Päd. n. Abt. 1893. S. 160) der 
ersten nicht nur zahlreiche Verbesserungen 
— nur schade, dafs auf der Stammtafel des 
Hauses Wettin Johann Georg I. noch als 
Sohn statt als Bruder Christians II. auf- 
geführt ist — , sondern auch eine sehr wert- 
volle Ergänzung. In drei Paragraphen giebt 
K., nicht mit byzantinischen Lobsprüchen, 
sondern in unwiderleglichen Zahlen und 
Thatsachen, den Beweis von der erbaulichen 
Entwickelung des äufseren und inneren 
Wohlstandes unseres Vaterlandes unter der 
gesegneten Regierung unseres teuren Königs 
Albert und schliefst mit dem erquicklichen 
Worte: f So wurde Sachsen ein glänzendes 
Beispiel der untrennbaren Verbindung 
zwischen warmer Heimatliebe und deutscher 

Gesinnung. ' ^ 

^ Dix8TEL. 

Zu Richard Meister: Über die Fest- 
stellung DER WISSENSCHAFTLICHEN HaüPT- 
ZENSUR FÜR DAS RED7EZEUGNI8 AN DEN 
SÄCHSISCHEN GYMNA8D2N. Vgl. S. 312. 

Ich bekenne mich dazu, dafs ich als 
sächsischer Gymnasialrektor bei der Fest- 
stellung der Hauptzensur für die Leistungen 



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der Abiturienten das Äufserste des mecha- 
nischen Verfahrens vertrete und bisher in 
meinem Bereiche durchgeführt habe, also 
reine Berechnung des Durchschnitts der Fach- 
zensuren und dabei auch noch gleiche Be- 
wertung sämtlicher Fächer, so dafs z. B. die 
Zensuren in Physik und Geschichte als 
Rechnungsfaktoren gleich wirken mit denen 
im Deutschen und Lateinischen. Nur wenn 
der Durchschnitt eine gebrochene Zahl er- 
giebt, wird zu Gunsten der sogenannten 
Hauptfächer entschieden, und wenn in irgend 
einem einzelnen Fache eine Notzensur ge- 
geben worden ist, hart am Durchfallen vor- 
bei, nicht durch eine andere kompensiert, 
bei uns in Sachsen markiert durch die 
Nummer 3 b , die nach der Prüfungsordnung 
überhaupt nur einmal auf dem Zeugnis als 
Fachzensur erscheinen darf, dann wird unter 
Umständen die Gesamtzensur unter den 
Durchschnitt hinabgedrückt, damit sie auf 
der dritten Stufe, der Stufe des Nur Genügend 
(3 oder 3») bleibt. 

Gegenüber der scheinbar vernünftigeren 
Methode, für die Gesamtzensur die ganze 
Persönlichkeit des Prüflings einzuschätzen, 
möchte ich zunächst den grofsen Unterschied 
geltend machen, ob man nur zehn oder 
vierzig und mehr Abiturienten zugleich mit 
Zensuren zu versorgen hat. Die in dieser 
Beziehung wie in mancher anderen glück- 
lichen minder frequenten Schulen können 
sich eher den pädagogischen Luxus ge- 
statten, nach all den umständlichen Prüfungs- 
prozeduren schliefslich Gaben, Leben und 
Thaten jedes Schülers noch einmal* in ein- 
gehendem Meinungsaustausch durchzuspre- 
chen und dabei einen Ausgleich zwischen 
dem bestehenden Präjudiz über den Wert 
des Schülers und dem wirklichen Ergebnis 
seiner Prüfung zu suchen. Wenn man aber 
eine Prüfungskommission von etwa fünfzehn 
Mitgliedern vor sich hat und ungefähr vierzig 
Abiturienten, die in zwei völlig getrennten 
Parallelen vorgebildet worden sind, jede Ab- 
teilung in der Regel von anderen Lehrern, 
dürfte es sich schon zur Vermeidung end- 
loser und fruchtloser Debatten empfehlen, 
dafs man auf jenen wohlgemeinten Versuch 
des corriger la fortune verzichtet und die 
eiserne Notwendigkeit des arithmetischen Ge- 
setzes wirken läfst. Aber es sprechen auch 
noch andere und gewichtigere Gründe dafür. 

Die Fachzensuren selbst beruhen ja schon 
auf einer Durchschnittsrechnung, insofern sie 
für Religion, Deutsch und Geschichte aus 
zwei Nummern (Halbjahr und Prüfung), für 
Griechisch, Französisch und Mathematik aus 
dreien (Halbjahr, schriftlicher und münd- 



licher Prüfung) und für Lateinisch bei 
unseren zwei schriftlichen Prüfungsarbeiten 
aus vier Nummern entstehen. Hier bietet 
sich nun reichlich Gelegenheit, die mannig- 
faltigsten pädagogischen Erwägungen und 
Rücksichten zur Geltung zu bringen. Der 
Fachvertreter wird bei Berechnung der Halb- 
jahr szensur alle einschlagenden Momente ab- 
wägen, namentlich auch das der Vergleichung 
zwischen allen Schülern der Klasse und des 
gemeinsamen Grundmafsstabes für alle, und 
er wird dabei um so gewissenhafter und 
vorsichtiger verfahren, je sicherer er weifs, 
dafs die Halbjahrszensur unabänderlich fest- 
steht, ehe noch die Prüfung beginnt. Er 
wird aber dann auch die überwiegende Be- 
deutung dieser Zensur bei abweichenden 
Prüfungsergebnissen in Rechnung stellen 
können. Die anderen Mitglieder der Prü- 
fungskommission können dagegen bei der 
Zensur auf die schriftlichen Arbeiten und 
die mündlichen Leistungen in der Prüfung 
ihre Stimme wirksam für Erhöhung oder 
Herabsetzung erheben; namentlich werden 
bei Parallelen die beiden Examinatoren jedes 
Faches sich wechselseitig kontrollieren und 
über ihre Zensurvorschläge einigen, bei den 
schriftlichen Arbeiten am besten dann, wenn, 
wie es ohnehin das Natürliche ist, beiden 
Abteilungen dieselben Aufgaben gestellt 
werden. Nach dieser gründlichen Durch- 
arbeitung der Fachzensuren , die denn doch 
einige Gewähr für die Richtigkeit der Be- 
urteilung bietet, will es mir nicht geraten 
und des bis dahin geübten Zensorenamtes 
nicht recht würdig erscheinen, wenn nun zu 
guter Letzt noch auf Grund von Impondera- 
bilien und mehr gefühlsmäfsig als erkenntnis- 
mäfsig das gewonnene Resultat irgendwie 
verschoben und willkürlich geändert wird. 
Wer soll denn die Kosten einer solchen Ver- 
änderung tragen, welches Fach, welcher 
Zensor? Ich persönlich würde mich nicht 
leicht dazu verstehen. Und dazu kommt 
noch etwas Hauptsächliches. 

Im Reifezeugnisse erscheinen neben der 
Gesamtzensur die einzelnen Fachzensuren. 
Das beides mufs sich hier, wo nun die Ein- 
schätzung urkundlich geworden ist, voll- 
ständig decken, so dafs der Inhaber des 
Zeugnisses, seine Kommilitonen und alle, die 
das Zeugnis einzusehen berechtigt sind, die 
Übereinstimmung der Hauptzensur mit den 
Einzelzensuren nachrechnen können. Oder 
sollte es wünschenswert sein, dafs folgende 
Frage möglich würde: Ihre Fachnummern 
ergeben eine erste Zensur, warum haben Sie 
nur eine zweite erhalten? und dafs diese 
Frage unbeantwortet bliebe oder mit der 



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üblichen Schulkinderei beantwortet würde: 
Ja, ich habe schlechter bei den Lehrern ge- 
standen als meine Nachbarn? 

Diese letzte Erwägung bestärkt mich auch 
in der Forderung, dafs für die Gesamtzensur 
nicht eine Berechnung nach Points, sondern 
durchaus gleiche Bewertung sämtlicher Fächer 
zu Grunde gelegt werden sollte. Lateinisch, 
Griechisch und Mathematik haben lange ihr 
Übergewicht genossen und die anderen Dis- 
ziplinen haben manchmal den Druck davon 
empfunden; das hat schulpädagogisch seine 
gute Berechtigung, worüber hier nicht weiter 
geredet werden kann. Jetzt aber bei dem 
entscheidenden Schlufsakt, wo der Schüler 
nicht mehr für Schulzwecke, sondern vor 
der Öffentlichkeit, für das Leben und für 
sein künftiges Berufsstudium charakterisiert 
wird, sollten alle wissenschaftlichen Pflicht- 
fächer gleiches Recht und gleichen Bang 
haben. Für den künftigen Theologen haben 
die Kenntnisse in der Religion unmittel- 
bar mehr Wert als die in der Mathematik, 
für den Juristen die in der Geschichte mehr 
als die im Griechischen, für den Neuphilo- 
logen die im Französischen mehr als die im 
Lateinischen. Und es scheint mir nicht un- 
erhebliche moralische Bedeutung zu haben, 
wenn sich bei der Schlufszensierung die 
Facheifersucht nicht regen kann, und wenn 
die kleinen Musen der Reifeprüfung nicht 
in Versuchung kommen, sich durch extreme 
Zensuren auf ihrem Gebiete dafür schadlos 
zu halten, dafs ihre grofsen Kolleginnen jede 
zwei oder drei Stimmen haben. Übrigens 
haben mich statistische Erhebungen, die ich 
für mehrere hundert Reifezeugnisse habe 
anstellen lassen, gelehrt, dafs zwischen dem, 
was bei Berechnung nach Points, und dem, 
was bei gleicher Bewertung der Fächer 
herauskommt, der Unterschied gering zu 
sein pflegt und sich darauf beschränkt, dafs 
eine kleine Zahl von Prüflingen (15%) um 
einen Grad besser (l b statt 2», 2» statt 2 
u. s. w.) zensiert werden; diese Gunst aber 
wird sachverständige Humanität, welche die 
Schwierigkeiten der Reifeprüfung zu wür- 
digen weifs, den Abiturienten gern gönnen. 
Der Sicherheit wegen, um Mifsdeutungen zu 
vermeiden, will ich auch noch ausdrücklich be- 
merken, dafs ich selbst nicht etwa in einem 
der sogenannten Nebenfächer, die ich besser 
honoriert wünsche, Unterricht erteile, sondern 
nur in den alten Sprachen und im Deutschen. 

Über das Deutsche möchte ich in diesem 
Zusammenhange nach meiner langjährigen 



Erfahrung noch eine Bemerkung hinzufugen. 
Selbstverständlich halte ich dieses Lehrfach 
nicht nur für dankbar und reizvoll, sondern 
auch für wichtig und wertvoll. Aber ich 
bin entschieden gegen jeden Versuch, ihm 
beim Abgange und bei der Schlufszensierung 
in irgend einer Form ein Übergewicht zu 
geben. Es ist zwar ein Kaiserwort, aber es 
ist nach meiner Beobachtung doch ein 
Irrtum, was auf der Berliner Dezember- 
konferenz ausgesprochen worden ist: 'Wenn 
Einer im Abiturientenexamen einen tadel- 
losen deutschen Aufsatz liefert, so kann man 
daraus das Mafs der Geistesbildung des 
jungen Mannes erkennen und beurteilen, ob 
er etwas taugt.' Ich finde im Gegenteil, dafs 
die gröfsere und geringere Stilgewandtheit 
des Oberprimaners, wie sie sich in den 
deutschen Aufsätzen und namentlich bei der 
extemporalis audacia der Klausurarbeit des 
Examens bekundet, zu den späteren Leistungen 
im Berufsstudium und im Berufe selbst in 
einem ganz unsicheren und unberechenbaren 
Verhältnis steht. Die jugendliche Stilreife 
ist das Individuellste von allen Arten der 
Reife, die wir beim Abgang zusprechen; sie 
hängt am wenigsten von unserem Unterrichte 
ab ; ich will nur daran erinnern, wie mancher 
einen verhältnismäfsig hohen Grad solcher 
Reife den sonst sehr zweifelhaften mit- 
erziehenden Faktoren verdankt, dafB er 
fleifsig das Theater besucht und emsig 
besser geschriebene Romane gelesen hat; 
mancher gewinnt diese Stilreife in sehr be- 
friedigender Weise, aber nur später als in 
Oberprima; mancher gewinnt sie nur nicht 
auf dem Gebiete der litterarisch-ästhetischen 
Erörterung, aus dem die Schulthemata ge- 
nommen zu werden pflegen, wohl aber auf 
anderen, für seine Lebensarbeit bedeutungs- 
volleren Gebieten. 

Die vorstehenden Auslassungen bilden, 
wie jeder Leser erkennt, nicht einen Wider- 
spruch zu Meisters trefflichen Ausführungen 
über die Hauptzensur in der Reifeprüfung, 
sondern nur eine Ergänzung dazu und eine 
Zustimmung zu seinem Wunsche, dafs in 
dieser Beziehung Gleichmäßigkeit bei uns 
in Sachsen durch die Schulbehörde herbei- 
geführt werden möchte. Allerdings möchte 
ich das dahin verschärfen, dafs das rein arith- 
metische Prinzip zur Grundlage der Gleich- 
mäfsigkeit dienen sollte. Das würde sich 
auch für die gesetzliche Vorschrift durch un- 
zweideutige Klarheit und Schärfe empfehlen. 
Richa&d Richter. 



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JAHRGANG 1899. ZWEITE ABTEILUNG. ACHTES HEFT 



DIE PÄDAGOGIK DER JESUITEN UND DER PIETISTEN 

Von Georg Mertz 

Man hat schon oft die Pietisten die Jesuiten in der protestantischen 
Kirche genannt. Und in der That finden sich auch bei beiden religiösen Ge- 
meinschaften vielfache Beziehungspunkte. Dagegen sind auch wieder die prin- 
zipiellen Unterschiede so grofs, dafs von einer Identifizierung nicht die Rede 
sein kann. 

Besonders auf pädagogischem Gebiet läfst sich bei allen Verschiedenheiten 
auffallende Ähnlichkeit nachweisen. Die folgende Vergleichung soll dies darlegen. 
Dabei wird Nebensächliches, das zur allgemeinen Schulpraxis gehört, nicht 
erwähnt werden. Es sollen vielmehr nur die Hauptpunkte hervorgehoben 
werden, an denen sich zugleich nachweisen läfst, zu welchen Folgen die Grund- 
sätze beider auf dem Gebiete des Unterrichtswesens führten und wie gerade 
gewisse Einrichtungen im Schulwesen im engsten Zusammenhange standen mit 
dem in beiden Gemeinschaften herrschenden Geiste. 

Schon in der Lebensführung der Männer, die als Begründer der Schul- 
anstalten bei den Pietisten und Jesuiten angesehen werden müssen, trifft man 
auf einen Punkt, der für beide bestimmend war, ihr Augenmerk auf die Er- 
ziehung der Jugend zu richten. In der richtigen Erkenntnis der Bedeutung 
der Erziehung hofften nämlich beide, ihren neuen Lebenszweck am besten da- 
durch zu erreichen, dafs sie sich der Jugend vergewisserten und schon in den 
Jahren hingebender Empfänglichkeit dem kindlichen Geiste das Gepräge auf- 
drückten, das nach ihrer Ansicht für den Gnadenstand und die Seligkeit un- 
bedingt nötig war. Den Weg, den sie dabei die Zöglinge zu führen hatten, 
zeigte ihnen die eigene Bekehrung. Beide gingen darauf aus, den Schüler 
durch methodische Anweisung dazu zu bringen, den Ent wickelungsgang ihrer 
eigenen Person durchzumachen. 

Ignatius war aus der militärischen Laufbahn hervorgegangen. Da er 
wegen seiner Verwundung nicht hoffen konnte, Lorbeeren auf dem Schlachtfelde 
und auf dem Turnierplatz zu erwerben, sann er auf Mittel und Wege, ander- 
wärts Ehre zu gewinnen. Seine durch die Lektüre geistlicher Ritterromane 
erhitzte Phantasie liefs ihn Erscheinungen der Jungfrau Maria sehen, die ihn zu 
ihrem Ritterdienste aufforderte. Zum Ritterdienst der Himmelskönigin, der Schutz- 
patronin der katholischen Kirche, erzog er seine Schüler. Es ist deshalb nicht 
Zufall, dafs die jesuitischen Erziehungsprinzipien, Disziplin und Ehre, überein- 
stimmen mit denen des modernen Offizierskorps. Denn die Absicht des Stifters 

Nene Jahrbacher. 1899. II 26 



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402 G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 

des Jesuitenordens war, der Kirche eine auserlesene Schar Anfuhrer im Kampf 
mit der Häresie und Welt zuzuführen. 1 ) 

Bei Francke war es die Stimme des Gewissens, die ihn auf die Verantwort- 
lichkeit des Predigtamtes aufmerksam machte. In seiner Gewissensangst kam 
er zu Lüneburg bei der Ausarbeitung einer Predigt über Joh. 20. 31 zur Er- 
leuchtung und Erweckung. Er wollte deshalb seine Schüler durch Reue und 
Bufse zur Bekehrung bringen, wie er sie selbst an sich erlebt. 

Für beide war die Beschäftigung mit der Jugenderziehung der Anfang zur 
Verwirklichung ihrer Lebensaufgabe. 

Ignatius hat nicht allein selbst sofort nach seiner Wahl zum General 
46 Tage lang Kinder in religiösen Dingen unterrichtet, sondern bestimmte auch 
in Const. IV c. 4, 2, dafs jeder Jesuit sich eine Zeit lang dem Unterrichte zu 
widmen habe. 

Francke hatte sich zwar schon früher mit Unterrichten abgegeben; aber seine 
Hauptarbeit auf diesem Gebiete fällt doch erst in die Zeit nach seiner Bekehrung. 

Auf dem Weg zum Ziele liefsen sich beide durch nichts irre machen. Sie 
herrschen als unbeschränkte Machthaber in ihrem Gebiet. Weder staatliche 
noch kirchliche Organe hatten irgendwelchen Einflufs auf ihr Schulwesen. Die 
Lehrordnungen und Schuleinrichtungen erhielten sich noch lange Zeit nach 
dem Tode Franckes in unveränderter Weise an den pietistischen Anstalten in 
Halle fort, bis die Kirche selbst ihrer Aufgabe sich besann und das Schulwesen 
in die Hand nahm. Erst dann fanden auch Neuerungen in den Hallischen 
Anstalten Eingang. In den Jesuitenschulen ist es bis heute noch beim alten 
geblieben. 'Im grofsen und ganzen sind die drei Redaktionen eine und die- 
selbe Ratio Studiorum, die von Anfang bis heute in Geltung geblieben ist. Es 
wäre daher nicht entsprechend, von Schulordnungen der Gesellschaft Jesu zu 
sprechen. Der Orden hat nur eine einzige Studienordnung, die auf dem 
vierten Teile seiner Constitutionen aufgebaut ist; die etwaigen Modifikationen 
sind blofs neue Zweige des nämlichen Baumes/ Pachtler S. J. Vorrede zu Bd. H 
der Ausgabe der rat. stud. in Mon. Germ. Päd. 

l ) Allerdings darf man nicht wie Duhr f Die Studienordnung der Gesellschaft Jesu' 
S. 30 f. einen Unterschied machen wollen zwischen der Erziehung der Schüler, welche in 
den Orden eintreten, und derjenigen, welche blofs ihre Erziehung bei dem Orden empfingen. 
So lange Duhr nicht genauer nachweist, was von der Ratio studiorum für die Scholastici 
Soc. Jesu und im Unterschied von ihnen für die Scholastici externi gilt, ist sein Vorwurf 
der Unkenntnis und verblüffenden Kritiklosigkeit gegen 'manche gelehrte Leute' wie 
Wagenmann und Weicker nicht stichhaltig. Der Unterschied, welcher in dieser Hinsicht 
in dem IV. Teil der Constitution und in der Rat. stud. in den beiden kleinen Abschnitten 
'Regeln für die Scholastiker unserer Gesellschaft' und 'Regeln für die auswärtigen Schüler 
der Gesellschaft' gemacht wird, ist gerade ein Beweis dafür, dafs im allgemeinen die in 
der Const. und der Rat. aufgestellten Grundsätze für alle Schüler gelten. In den Aus- 
nahmeregeln wird gar nicht auf dieselben in unterscheidender Weise eingegangen. Ebenso 
verkehrt wäre es, einen Unterschied machen zu wollen zwischen den pietistischen Schülern, 
welche speziell für das Lehr- und Predigtamt erzogen wurden, und denen, die nur ihre 
Erziehung in den Schulen der Pietisten genossen (vgl. Mertz 'Die Pädagogik der Jesuiten' 
Heidelberg, 1898 S 24 ff.) 



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6. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 403 

Der Grundstimmung des Herzens beider Männer entsprechend, konnte das 
von ihnen begonnene Erziehungswerk nicht anders sich gestalten als einseitig 
religiös. 

Const. IV c. 17, 3 wird der Zweck der Gesellschaft Jesu bei der Erziehung 
wie bei allen anderen Thätigkeiten folgendermafsen angegeben: c Derselbe 
(General) aber wird in eigener Person oder durch einen anderen nach Er- 
wägung aller Umstände das festsetzen, was nach seinem Urteil zur gröfseren 
Ehre und zum Dienste Gottes und zum allgemeinen Besten gereicht; denn dies 
ist unser einziger Endzweck bei dieser und bei allen anderen Sachen.' Dafs 
unter dem 'allgemeinen Besten' nichts anderes bei dem Unterricht bezweckt 
wird als die religiöse Unterweisung, beweist Const. IV c. 5, 1 : 'Weil der Zweck 
der in unserer Gesellschaft zu lernenden Wissenschaften der ist: dem eigenen 
und fremden Seelenheil unter Gottes gnädiger Hilfe zu nützen, so mufs 
dies im allgemeinen und bei jedem Einzelnen den Mafsstab liefern, nach dem 
unsere Studierenden sich auf bestimmte Fächer verlegen und bis zu einem ge- 
wissen Grade fortschreiten/ 

Den gleichen Zweck, die Förderung der Ehre Gottes bei der Erziehung, 
hatte sich Francke gesetzt. 'Die Ehre Gottes mufs in allen Dingen, aber ab- 
sonderlich in Auferziehung und Unterweisung der Kinder, als der Hauptzweck 
immer für Augen sein, sowohl dem Präceptori als den Untergebenen selbst.' 
(Kurzer und einfältiger Unterricht, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit 
und christlichen Klugheit anzuführen sind, ehemals zu Behuf christlicher In- 
formatoren entworfen und nun auf Begehren zum Druck gegeben. I. Teil [Von 
der Anführung zur Gottseligkeit] § 1. Denselben Zweck giebt § 19 des 
H. Teiles [Von der Anführung zur Klugheit] der genannten Schrift an: 'Alle 
Klugheit, sie habe Namen, wie sie wolle, mufs Gottes Ehre zum Ziel und 
Zweck haben und mufs alle anderen Dinge brauchen, solchen heiligen Zweck 
zu erreichen.') 

In der Auffassung 'der Ehre Gottes' gehen zwar beide auseinander. Bei beiden 
zeigt sich jedoch in diesem Punkte eine Beschränkung des biblischen Christentums. 

Nach jesuitischer Ansicht konzentriert sich die Ehre Gottes in der katho- 
lischen Kirche. Die Schüler zu Gliedern derselben zu machen, war darum zu 
allererst ihre Absicht. So sagt der Verfasser des Landshuter Erziehungsplanes: 
'Das ganze Bestreben ihrer Schule ging dahin, die Jünglinge der einen wahren 
Kirche treu anhänglich zu machen. Solches tendierten sie im Gröfsten wie im 
Kleinsten.' 

Gelehrt wird darum in den Ordensschulen auch nur, was die Kirche billigt 
und was zur Bestärkung des katholischen Glaubens beiträgt. 'Im Lehrvortrage 
mufs man vor allem für Bestärkung des Glaubens und für Wachstum der 
Frömmigkeit sorgen. Deshalb soll niemand bei Fragen, welche der heilige 
Thomas nicht eigens behandelt hat, etwas lehren, was mit der Ansicht der 
Kirche und den allgemein angenommenen Überlieferungen nicht gut überein- 
stimmt und was irgendwie die Grundlage der echten Frömmigkeit erschüttert 
(Rat. stud. reg. prof. theol. 5). Auch bei geringfügigeren Dingen mufs die 

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404 & Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 

Tradition und die Lehrmeinung der von der Kirche approbierten Dogmatiker 
hochgehalten werden (Rat. stud. reg. comm. prof. 8up. fac. 6). Selbst auf Aufser- 
lichkeiten, die den Glauben nicht berühren, wird Wert gelegt, wenn Gefahr be- 
steht, dafs die Kirche an Ansehen verlieren kann. So verlangt Const. 4c, 6, 5 die 
Verteidigung der in der katholischen Kirche geltenden Übersetzung der Vulgata. 

Bei der Verherrlichung der katholischen Kirche mufs natürlich der Orden 
den Schüler für den Kampf mit der protestantischen Kirche erziehen. So 
fordert die Errichtungsbulle des Collegium Germanicum in Rom a. 1552, welches 
för alle deutschen Kollegien vorbildlich war, eine Anzahl talentvoller, gottes- 
furchtiger und religionseifriger deutscher Jünglinge zu erziehen und zu unter- 
richten, damit sie dereinst als unverzagte Kämpfer für den Glauben in ihre 
Heimat geschickt werden könnten, um dort durch Beispiel, Predigt, Unterricht 
und Seelsorge Gottes Ehre zu fordern, das Gift der Ketzerei zu vernichten, 
den Glauben zu verteidigen und aufs neue zu pflanzen, wo er ausgerottet sei. 
Dasselbe betonen Rat. stud. reg. prof. hist. eccles. 4 und andere Stellen. Und in 
der That hat auch die Schulthätigkeit des Jesuitenordens am meisten zur Rettung 
der katholischen Kirche im 16. und 17. Jahrhundert beigetragen. 'Die grofsen 
Offensivbewegungen des Katholizismus in dem Jahrhundert, das zwischen dem 
Passauer Vertrag und dem westfälischen Frieden liegt, wurde durch die Jesuiten- 
schulen teils vorbereitet, teils gesichert. Aus ihnen sind die geistlichen und 
weltlichen Fürsten hervorgegangen, die in den österreichischen und bairischen 
Ländern, in den fränkischen und rheinischen Bistümern den Protestantismus 
ausgerottet haben. Die meist mit Gewalt, mit Exekutionen und Vertreibung 
begonnene Wiedereroberung wurde dann durch die stille und beharrliche Thätig- 
keit der Jesuiten in Kirche und Schule vollendet und gesichert. (Paulsen, Ge- 
schichte des gelehrten Unterrichts, Bd. I. S. 389). 

Es könnte aber fast scheinen, als ob der Orden seine Pflicht, die Ehre der 
katholischen Kirche zu fordern, einzig durch seinen Kampf mit der Häresie 
erfüllen zu können glaubte. Denn abgesehen von diesem Kampfe nimmt er 
ihr gegenüber eine ziemlich freie Stellung ein. Bekanntlich gilt der heilige 
Thomas in der katholischen Kirche als der Dogmatiker, mit dem sie steht und 
fällt. Der Orden hat nun allerdings ihn auch hochgehalten — wenn es ihm 
recht war. Andernfalls trug er kein Bedenken, trotz der kirchlichen Autorität ihn 
fallen zu lassen. Schon im ersten Entwurf der Rat. stud. a. 1586 fanden sich 
in dem Abschnitt *De opinionum delectu in Theologiae facultate' Sätze des 
heiligen Thomas, die nicht allein nicht zu verteidigen sind, sondern denen so- 
gar widersprochen werden darf. Und wo besondere Gründe vorliegen, da darf 
auch nach Rat. stud. a. 1832 Reg. prof. sanct. script. 6 im Gegensatz zu den 
Canones der Päpste oder Konzilien gelehrt werden. Zur offenen Feindschaft 
mit der Kirche läfst er es jedoch nicht gern kommen. 'Weifs man, dafs ge- 
wisse Ansichten eines beliebigen Verfassers die Katholiken in einer Provinz 
oder auf einer Akademie schwer verletzen würden, so lehre und verteidige man 
sie dort nicht', Rat. stud. reg. prof. Theol. 6. 

So hat schliefslich der Orden doch nur sein eigenes Interesse im Auge. 



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G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 405 

Und wo er für die Ehre Gottes und für die Ehre der Kirche eintritt, schiebt 
er die eigene Ehre unter. Da nach seiner Ansicht die Gesellschaft Jesu die 
katholische Kirche in ihrer vollkommensten, gottwohlgefälligsten Gestalt darstellt, 
so hat er auch ein Recht, die Schüler für seinen Zweck zu erziehen. So erklart es 
sich auch, dafs der Orden nicht damit zufrieden war, der Kirche treu ergebene 
Glieder zu gewinnen, sondern mit allen Mitteln darauf hinarbeitete, dafs seine 
Schüler auch Mitglieder oder wenigstens Freunde des Ordens wurden. Der Orden 
durfte allerdings diese Absicht nicht offen aussprechen. Ein unkluges Vorgehen in 
dieser Hinsicht wird ausdrücklich in Rat. stud. reg. comm. prof. cl. inf. 6 ver- 
boten. Besser und unauffälliger wirkte hier der Beichtvater, an den nach dieser 
Stelle die verwiesen wurden, bei denen man Lust zum Eintritt in den Orden 
voraussetzte. Weil der Orden sich aus den Schülern rekrutierte, war er auch 
bei der Auswahl der Erziehungsobjekte vorsichtig und zurückhaltend. Mit der 
Erziehung des gemeinen Volkes gab er sich nicht ab. Es wird zwar in 
Const. IV 12 declar. die Erziehung des gemeinen Volkes als eine Liebespflicht 
hingestellt, aber trotzdem, angeblich aus Mangel an geeigneten Kräften, dieselbe 
nicht befohlen. Eine andere Stelle, Ex reg. provincialis 29, verbietet geradezu 
die Errichtung von Volksschulen, *am allerwenigsten eröffne er neue Schulen 
zum Unterricht im Lesen und Schreiben, was nicht einmal privatim angeht.' 
Den wahren Grund für die Vernachlässigung, ja Verachtung des Volksschul- 
wesens giebt Decr. 21 der 20. Generalkongregation a. 1820 an, durch welches 
die Warnung vor Errichtung von Volksschulen begründet wird mit dem Hin- 
weis auf die Gefahr des Verlustes eines höheren Gutes. Ebenso ablehnend ver- 
hielt sich der Orden den Realschulen gegenüber. Beiderlei Schulen brachten 
ihm eben keinen Gewinn. Nur die gelehrten Schulen bildeten Redner heran, 
welche der Orden zur Erreichung seines Zweckes bedurfte. Wer sich diese 
Bildung aneignen konnte, der war 'idoneus* im Sinne der Rat. stud. reg. praef. 
stud. inf. 11 und 12 und Const. IV 4, 3 declar. und ersetzte durch seine Anlagen, 
was ihm etwa an Ansehen uud Reichtum abging. Immerhin war es dem Orden 
angenehm, wenn seine Zöglinge auch durch ihre weltliche Stellung ihren Ein- 
flufs für ihn geltend machen konnten. Er erzog deshalb mit Vorliebe die 
Söhne der Reichen und Vornehmen. Reg. rect. 75. 

Auch die Pietisten sehen die Ehre Gottes in einer äufserlichen religiösen 
Gemeinschaft verwirklicht. Sie hatte aber nichts gemein mit der bestehenden 
protestantischen Kirche. Im Gegenteil, die offizielle Kirche war für sie ein 
Babel, durch welches die Ehre Gottes gefährdet war. Sie sahen es deshalb als 
ihre Pflicht an, die Kirche aus dem Sumpfe, in den sie geraten war, heraus- 
zuziehen und sie wieder zur Annäherung an das Reich Gottes zu bringen. c In 
Summa, es ist dieses der Weg, wodurch dem verfallenen Kirchen- und ge- 
meinen Wesen, wo nicht gänzlich aufgeholfen, doch dergestalt beigestanden 
werden kann, dafs man sich einer augenscheinlichen Besserung in allen Stücken 
zu versehen haben wird.' (Nutzen, so aus denen zur Erziehung der Jugend 
und Verpflegung der Armen zu Glaucha bei Halle gemachten Anstalten ent- 
steht Vier Blätter veröffentlicht a. 1698.) 



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406 ö- Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 

Bis zu einer allgemeinen Erneuerung der Kirche gaben sie sich zufrieden 
mit der Herstellung einer *ecclesiola in ecclesia', in der vorerst die Bekehrten 
sich vereinigen konnten zur Darstellung der Ehre Gottes auf Erden. Es war 
darnach selbstverständlich, dafs sie die Jugend zunächst für ihre Gemeinschaft 
erzogen. Hier reichen sich die Jesuiten und Pietisten wieder die Hand. 

Verkehrt aber wäre es, wollte man beiden Gemeinschaften Selbstsucht oder 
seelenmörderische Absichten bei der Erziehung vorwerfen. Beide handelten 
vielmehr im guten Glauben an ihre göttliche Mission und in der festen Über- 
zeugung, ihren Schülern das Beste zu bieten. 

Wie bereits erwähnt, sehen die Jesuiten in ihrer Gesellschaft die voll- 
endetste Darstellung der katholischen Kirche. Aufser der Kirche giebt es kein 
Heil. Die Zugehörigkeit zu ihr ist die Bedingung zur Seligkeit. Das Bearbeiten 
und Gewinnen der Zöglinge für den Orden war daher die gröfste Liebes- 
erweisung und die edelste Nächstenliebe, die sie einem Menschen erzeigen 
konnten. Der Orden konnte somit seine Thätigkeit darauf beschranken, missio- 
nierend der Kirche und sich selbst die Schüler zuzuführen und sie bei der- 
selben zu erhalten. Durch jede Neugewinnung wurde dem Ehrendenkmal Gottes 
ein neuer Stein zugefügt, und der Baustein selbst hatte seinen Zweck erfüllt 
Es blieb dem Aufgenommenen nur noch übrig, die guten Werke der Kirche 
zu vollbringen. Dazu bedurfte es aber bei ihm keiner weiteren Gnadenwirkung, 
denn die Glaubensrechtfertigung ist nach jesuitischer Ansicht nichts anderes als 
die Kirchenrechtfertigung. Als auf dem Konzil zu Trient im Jahre 1545 ge- 
legentlich der Frage von der Rechtfertigung Stimmen laut wurden, die sich 
für den biblischen Rechtfertigungsbegriff aussprachen, gaben die Jesuiten Lainez 
und Salmeron den Ausschlag, so dafs im scholastischen Sinne die Rechtfertigung 
identifiziert wurde mit der Wiedergeburt, d. h. mit dem Entschlufs, der Kirche 
anzugehören, und zuletzt wesentlich auf die guten Werke zurückgeführt wurde. 
Und in dem delectus opinionum der Rat. stud. a. 1586 gestattet Aquaviva den 
Jesuiten, gerade von den Sätzen des heiligen Thomas abzuweichen, in denen 
er sich der Glaubensrechtfertigung des Augustin nähert. Nach jesuitischer An- 
sicht vermag sich der Wille des Menschen zu allen Akten zu disponieren, denn 
der Mensch ist von Natur nicht so verdorben, dafs er sich nicht frei für das 
Gute entscheiden kann. Der Begriff der Sünde wird ausdrücklich in der 
kölnischen Censur vom Jahr 1560 auf die wissentliche und freiwillige Über- 
tretung des göttlichen Gebotes beschränkt. 

In dieser Hinsicht hat auch die pietistische ecclesiola in ecclesia bedenk- 
liche Ähnlichkeit mit der alleinseligmachenden Kirche. Hat ein Mensch den 
Schritt der Bekehrung hinter sich, so bürgt ihm die Zugehörigkeit zur eccle- 
siola die Seligkeit. Der heilige Geist, der den Bekehrten in Besitz genommen, 
wirkt auf eine solche Weise auf ihn ein, dafs er zum Ziele der christlichen 
Vollkommenheit auf Erden gelangen mufs. Die Erbsünde hat für ihn ihre Be- 
deutung verloren. Nur der unbekehrte Mensch ist von Natur ganz verdorben 
und untauglich zu guten Werken, § 2, Sect. H der Ordnung und Lehrart des 
Paedagogiums. Ist aber auf Grund der Reue und des Schmerzes über die Sünde 



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G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 407 

die Gnade einmal zum Durchbruch gekommen, so folgt aus der Gottseligkeit 
'ein nicht geringer Teil der wahren christlichen Klugheit gar leichtlich/ Die 
gesteigerte Betonung der Heiligung erklärt bei den Pietisten die Indifferenz gegen 
das Dogma und die Trübung der Rechtfertigungslehre im katholisierenden Sinn. 

Nach dem Dargelegten ist es natürlich, dafs bei beiden Gemeinschaften 
eine allseitige wissenschaftliche Ausbildung der Schüler nicht bezweckt wurde. 
Die Wissenschaft tritt hinter die Frömmigkeit zurück. 

Bei den Jesuiten wird zwar betont, dafs die Schüler zu wissenschaftlichen 
und gesitteten Menschen erzogen werden sollen. So heilst es in Übereinstimmung 
mit Const. IV 16,4 und anderen Stellen in Rat. stud. reg. comm. prof. class. 
inf. 1 'die Jünglinge, die man der Gesellschaft Jesu zur Erziehung anvertraut 
hat, unterrichte der Lehrer so, dafs sie zugleich mit den Wissenschaften be- 
sonders die eines Christen würdigen Sitten gewinnen.' Die Erklärung dazu giebt 
aber im obengenannten Sinn Rat. stud. reg. comm. prof. sup. fac. 1, 'die besondere 
Absicht des Lehrers sowohl in den Vorlesungen bei passender Gelegenheit als 
aufserhalb derselben gehe dahin, dafs er seine Schüler zum Dienst und zur 
Liebe Gottes und zur Übung der Tugenden, durch welche wir ihm Wohl- 
gefallen sollen, begeistere und sie bestimme, dieses als einziges Ziel ihrer 
Studien im Auge zu behalten/ Die beschrankt wissenschaftliche Ausbildung 
seiner Schüler liefs der Orden sich nur angelegen sein, soweit es für seinen 
Zweck erforderlich war. Offen ausgesprochen findet sich dies in Rat. stud. reg. 
prov. 1: c Da es eine der wichtigsten Dienstleistungen unserer Gesellschaft ist, 
alle zu unserem Institut passenden Wissenschaften den Nebenmenschen derart 
vorzutragen, dafs dieselben hierdurch zur Erkenntnis und Liebe unseres Schöpfers 
und Erlösers aufgemuntert werden.' Dafs die Liebe zum Orden dabei mehr 
ins Gewicht fällt als die Kenntnis in den Wissenschaften, beweist Const. IV, 4,2: 
*Wenn sie aber nach der Prüfungszeit studieren, so mufs man einerseits acht- 
geben, dafs über dem Eifer im Lernen nicht die Liebe zu gründlichen Tugenden 
und zum Ordensleben sich abkühle/ 

Die Wissenschaft gänzlich beiseite zu stellen, verbot dem Orden sein wohl- 
verstandenes Interesse. Im Landshuter Erziehungsplan heifst es: ^Prüfung des 
Buchstabens, Forschung, folglich Wissenschaft, war der Hauptcharakter dieser 
Häresie. Der Orden, welcher die Völker vor dieser Irrlehre bewahren und in 
dem alten Glauben bestärken sollte, mufste die gleiche Waffe, das ist Wissen- 
schaft, ergreifen und sich damit rüsten, wenn er mit ihr den Kampf glücklich 
aufnehmen wollte/ Aus dem hier angegebenen Grunde suchte auch der Orden 
seine Zöglinge einseitig auszustatten für das praktische Leben. So erklärt sich 
bei ihm das Wertlegen auf feines Benehmen und Weltklugheit. Hätte er dies 
und die Wissenschaft gänzlich vernachlässigt, so hätte er niemels die Erziehung 
der höheren Stände, die für seine Zwecke von besonderer Wichtigkeit waren, 
an sich reifsen können. 

Auch bei Francke ist die wissenschaftliche Ausbildung der Schüler Neben- 
sache. Er ist zwar durchaus kein Feind derselben. In § 25 der Anführung 
zur christlichen Klugheit sagt er: c Da zwar nötig ist zu erinnern, dafs man 



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408 G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 

notwendig einen rechten und festen Grund in den Wissenschaften, Künsten und 
Sprachen selbst legen müsse, ehe man könne angewiesen werden, wie man die- 
selbe mit zu Klugheit anwenden solle/ Als Hauptzweck verwirft er sie je- 
doch. *Wer nur deswegen die Jugend unterrichtet, dafs er sie gelehrter mache, 
siehet zwar auf die Pflege des Verstandes, welches gut, aber nicht genug ist, 
denn er vergifst das Beste u. s. w.' § 3 der Erziehung der Jugend zur Gott- 
seligkeit. In diesem Sinne ist auch das Wort Franckes zu verstehen: *Ich 
sehe nun, dafs Glaube wie ein Senfkorn mehr gilt als hundert Säcke voll Ge- 
lehrsamkeit.' Der Grund, warum er dennoch die wissenschaftliche Ausbildung 
nicht aufser acht liefs, ist in seiner Ansicht von der Würde des Menschen zu 
suchen. Mit ihr vertrug sich Rohheit und Unwissenheit nicht. Weil er im 
Menschen das Ebenbild Gottes sieht, sucht er seine Schüler so weit mit Kennt- 
nissen zu versehen, dafs sie ein menschenwürdiges Dasein führen und ihre 
gottgewollte Stellung in der Welt ausfüllen können. 

Die Jesuiten sowohl als auch die Pietisten erzogen also die Schüler ein- 
seitig für eine bestimmte religiöse Gemeinschaft. Beide mufsten daher auf 
gleiche Weise bedacht sein, alles von ihnen fern zu halten, was dem Geiste 
der Gemeinschaft widersprach und was im stände war, die beabsichtigte Herzens- 
richtung zu durchkreuzen. Für beide empfahl sich zu diesem Zwecke die 
Institutserziehung, bei der nicht allein die Möglichkeit gegeben war, durch 
Unterricht auf die Schüler in ihrem Sinne einzuwirken, sondern auch durch 
eine feste Lebensordnung dem Gemüte derselben das geistige Gepräge der Ge- 
meinschaft aufzudrücken. 

Die Erziehungsanstalten der Jesuiten sind zugleich Internate. Wenn auch 
sogenannte Externe, die nicht in der Anstalt wohnen, am Unterrichte teil- 
nehmen konnten, war es doch Regel, dafs die Schüler zugleich Pensionäre 
waren. Denn die feste Ordnung und stramme Disziplin als Haupterziehungs- 
mittel des Ordens konnte nur bei den Schülern, die stets unter Aufsicht waren, 
die beabsichtigte Wirkung ganz hervorbringen. Musterhaft war auch in der 
That auf allen Gebieten die Ordnung in den Kollegien. In keinem Stücke 
durfte von derselben abgewichen werden. *Von allgemeinem Nutzen ist eine 
genaue Ordnung der Zeit in Studien, Gebeten, Messen, Vorlesungen, Essen 
Schlaf und allen übrigen Dingen. Darum gebe man in den festgesetzten 
Stunden ein Glockenzeichen, bei dessen Klang alle sofort, ohne auch nur einen 
Buchstaben zu vollenden, sich zu dem verfügen, wozu sie gerufen werden.' 
Const. IV 10, 9. Abgesehen von der Hausordnung gab es für alle Schüler 
bestimmte Gesetze. Für die Internen bestanden die c regulae scholasticorum 
nostrorum.' Die Externen hatten sich nach den 'Regulae externorum auditorum 
Societatis' ^u richten. Die Lehrer hatten nach rat. stud. reg. comm. prof. class. 
inf. 39 ihre Hauptsorge darauf zu richten, dafs die Schüler ihre Regeln genau 
inne hielten. Ebenso war nach derselben Regel für Ruhe und Ordnung in 
Kirche und Schule gesorgt. Auch aufserhalb des Hauses standen die Schüler 
unter steter Aufsicht. Ohne Erlaubnis der Oberen durften die Schüler über- 
haupt nirgends hingehen als in die Schule. Auf dem Hin- und Rückwege zu 



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G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 409 

ihr müssen sie stets miteinander und f mit jener inneren und äufseren Sittsam- 
keit gehen, die ihrer eigenen Erbauung und jener der Nebenmenschen ansteht.' 
Const. IV 4, 6. 

Francke ging von Aufang seiner Erzieherthätigkeit an darauf aus, alle Schüler 
in eigenen Erziehungshäusern unterzubringen. Es kommt ihm darauf an, sie 
möglichst jedem nicht pietistischen Einflufs und Umgang zu entziehen. Er 
sieht es nicht einmal gern, dafs die Schüler auch nur für kürzere Zeit dem 
Einflufs ihrer pietistischen Umgebung entrückt wurden. Ordnung und Lehrart 
des Päd. 46. Für seine verschiedenen Anstalten arbeitete er Lehrordnungen 
aus, in denen er nicht allein Vorschriften für die Unterrichts weise, sondern 
auch für das Verhalten und die Beaufsichtigung der Schüler giebt. Ohne Auf- 
sicht waren auch bei ihm die Schüler niemals. 'Die Kinder müssen allezeit 
unter sorgfältiger Inspektion gehalten werden, es sei in der Stube, auf dem 
Hofe, auf dem Speise- oder Bettsaale, beim Kleiderwechseln oder beim Reinigen, 
oder wo es auch sein mag, und sind ohne Not auch nicht auf eine kurze Zeit 
allein zu lassen.' Instruktion oder Regeln für die Präceptoren der Waisen- 
kinder, § 8. Ähnlich lauten die Vorschriften für die Beaufsichtigung der 
Schüler des Pädagogiums, § 20 der Ordnung und Lehrart des Päd. 

Bei beiden waren die Schüler an der freien Bewegung gehindert. Die 
Beaufsichtigung artete in ein förmliches Spioniersystem aus. Beiden kam es 
hierbei darauf an, nicht allein stets über Fleifs und Aufführung der Schüler 
unterrichtet zu sein, sondern auch die Gedanken und die innersten Regungen 
ihres Herzens kennen zu lernen. Was die psychologische Beobachtung betrifft, 
sind wohl weder die Jesuiten noch die Pietisten von irgend welchen Schul- 
männern übertroflfen worden. 

Die genaue Kenntnis der Herzensstimmung war eben für beide die Voraus- 
setzung der Anwendung und des Erfolges ihrer religiösen Erziehungsmittel, 
durch welche sie dieselben zu unbedingtem Gehorsam und zur geeigneten Ge- 
mütsverfassung brachten. 

Bezeichnend für den willenlosen Gehorsam bei den Jesuiten ist Const. 
IV 10, 5: *Die Insassen des Kollegs sollen ihren Rektor hoch in Achtung und 
Ehre halten, als den Stellvertreter Christi unseres Herrn, sollen ihm die freie 
Verfugung über ihre Person mit aufrichtigem Gehorsam überlassen, vor ihm 
nichts verschlossen halten, nicht einmal das eigene Gewissen, das sie ihm in den 
festgesetzten Zeiten und noch öfters, wenn ein Grund es erfordern würde, er- 
öffnen müssen; sie sollen ihm nicht widersprechen, in keiner Weise ihr eigenes 
Urteil als dem seinigen entgegengesetzt zeigen.' 

In Übereinstimmung damit verlangt Francke in der Ordnung und Lehrart 
der Waisenhausschulen 9: c Nichts soll nach eigenem Willen, sondern alles in 
kindlichem Gehorsam gegen die Vorgesetzten geschehen, welche als Väter in 
allen Stücken sollen geehrt werden.' 

Um diesen willenlosen Gehorsam zu erzielen und die Herzen für ihre Ab- 
sichten empfänglich zu machen, schlugen beide den gleichen Weg der Ge- 
wissensforschung und der religiösen Andachtsübungen ein. 



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410 G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 

Nach Const. IV 4, 3 wird bei den Jesuiten täglich eine Stunde auf Messe- 
hören, Rosenkranz und Gewissensforschung verwendet. Wird die Stunde da- 
durch nicht ganz ausgefüllt, so sind noch einige Gebete beizufügen. Täglich 
fanden bei Tisch lateinische und griechische Deklamationen über religiöse Gegen- 
stande statt, Rat. stud. reg. rect. 11. Es wird streng darauf gesehen, dafs 
die Schüler regelmäfsig den Gottesdienst besuchen, wobei jedoch das An- 
wohnen der Messe der Predigt vorgezogen wird, Rat. stud. reg. comm. prof. 
class. inf. 3. Ebenso werden die Privat- und Hausandachten gepflegt. Zum 
Gebet werden die Schüler stets ermuntert und angeleitet. Jede Vorlesung und 
Unterrichtsstunde begann mit einem Gebet, das ein Schüler sprach, während die 
Lehrer und die anderen Schüler 'barhäuptig und gesammelt' zuhörten, Rat. stud. 
reg. comm. prof. sup. fac. 2 und 3. Aber was wurde gebetet? Nach der erst- 
genannten Stelle sollen zwar solche Gebete gesprochen werden, die auf den 
Unterrichtsgegenstand Bezug haben. Insoweit waren sie wenigstens freie Ge- 
danken. Im übrigen aber waren es nur vorgeschriebene Gebete und Litaneien, 
welche die Schüler an Gott und ein ganzes Heer von Heiligen zu richten 
hatten. Bezeichnend hierfür ist Reg. extern, audit. 14: 'Gott dem Herrn aber 
(die Ratio a. 1832 fügt hinzu: 'dem heiligen Herzen Jesu'), der heiligen Jung- 
frau und Gottesmutter, den übrigen Heiligen sollen sie recht oft und innig 
sich empfehlen, die Hilfe der Engel und besonders des Schutzengels beständig 
anflehen/ Besonders betont wird die Verehrung Marias. Jeden Sonntag abend 
wird die Litanei der seligen Jungfrau in der Klasse vorgebetet, oder die Schüler 
werden zur gemeinsamen Anbetung in die Kirche geführt, Rat. stud. reg. comm. 
prof. class. inf. 7. An derselben Stelle findet sich die Mahnung, c er rate aber 
den Schülern sorglich die Andacht zu Maria und dem heiligen Schutzengel.' 
Die Kongregation von Maria Verkündigung, die sich die besondere Verehrung 
Marias zur Pflicht gemacht, soll aus dem römischen Kolleg in allen Kollegien 
eingeführt werden, Rat. stud. reg. rect. 22. Diese vielen Andachtsübungen und 
Gebete steigerten auf der einen Seite unnatürlich die Phantasie des Schülers, 
so dass der Wille dadurch betäubt wurde, auf der anderen Seite erdrückten 
sie auch wieder die wahrhaft religiösen Gefühle und machten den Schüler 
gleichgültig gegen das, was ihm das Höchste sein sollte. Es konnte gar nicht 
ausbleiben, dafs das Gebet in Geplapper ausartete, die religiösen Übungen lastig 
fielen und die Schüler am Ende nur gewohnheitsmäfsig thaten, was der Vor- 
gesetzte von ihnen verlangte. 

In denselben Fehler verfiel Francke. Er selbst hatte eine 'Schriftmäfsige 
Anweisung recht und Gott wohlgefällig zu beten* geschrieben. Darnach soll 
bei der Anleitung zum Gebet nicht allein auf den Inhalt desselben, sondern 
auch auf die äufserliche Stellung und andächtigen äufserlichen Gebärden ge- 
sehen werden. Er warnt zwar vor dem Geplapper und verlangt kurze, aus 
dem Herzen gesprochene Gebete. 'Ordnung und Lehrart der Waisenhausschulen 
11 und 13/ Er will auch einen geordneten Stufengang beim Beten eingehalten 
wissen in seiner Schrift 'Von der Anführung der Kinder zum Gebet'. Die 
Häufung der Gebete mufste jedoch auch eine nachteilige Einwirkung auf das 



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G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 411 

Gemüt und den Willen seiner Schüler haben. Es wurden nämlich nicht allein 
alle Unterrichtsstunden mit Gebet angefangen und geschlossen, sondern sie 
wurden auch durch ein Gebet um Gottes Beistand bei einer Aufgabe unter- 
brochen. Gebetet wurde nicht allein in Kirche, Schule und Zimmer, sondern 
auch auf dem Spaziergang unter freiem Himmel. ^Instruktion für die Präceptoren 
der Waisenkinder 14/ Die Kinder mufsten über ein gegebenes Thema beten, 
ob sie in der Stimmung dazu waren oder nicht. Auch der häufige Besuch des 
Gottesdienstes liefs nichts zu wünschen übrig. 

Bedenklicher noch als das Verfahren bei Gebet und Andachtsübungen waren 
bei beiden Gemeinschaften die Anleitungen der Schüler zur Gewissensforschung 
und Beichte. 

Nach Rat. stud. reg. comm. prof. class. inf. 5 und Reg. comm. prof. sup. fac. 3 
haben die Jesuitenschüler jeden Abend nach ganz bestimmten Regeln eine Ge- 
wissensforschung mit sich vorzunehmen. Dabei haben sie sich alles zu vergegen- 
wärtigen, was sie den Tag über gethan, und sich zugleich die Strafe für ihr Thun 
vorzustellen. Eine Gewissensforschung in höherem Grad bildeten die Exerzitien, 
bei denen sich der Büfsende wochenlang abquälte und ängstigte. Durch derartige 
Übungen mufste Phantasie und Gefühl das eigene Urteil betäuben und den 
Willen mitfortreifsen. Die Zerknirschung vollendete der Beichtvater. Täglich 
hatten nach Const. IV 4,3 die Zöglinge zu beichten und das Abendmahl zu 
empfangen. An den Beichtzetteln wurde genau kontrolliert, wer gebeichtet 
hatte. Rat. stud. prof. class. inf. 9 und Reg. extern, audit. 3. 

Verwandt damit sind die Grübeleien und Gewissensforschungen, zu denen 
die pietistischen Schüler angehalten wurden. Vorschriften zur Selbstprüfung 
enthält die Schrift Franckes Thilantropia dei u. s. w/ mit der steten Auf- 
forderung: ^Betrachte*. Die Folgen der Sünde sich auszumalen, leitete den 
Schüler die andere Schrift Thilotheia , an. Den gröfsten Fehler machte Francke 
dadurch, dafs er durch derartige Übungen den Schüler schon im Anfang seiner 
Entwicklung zur Bekehrung bringen wollte, während doch die Erkenntnis des 
eigenen Herzenszustandes, die Hingabe an Gott, gleichen Schritt halten soll mit 
der natürlichen Entwickelung. 

Immerhin zeichnet sich Francke bei den religiösen Übungen vor den Jesuiten 
dadurch aus, dafs er in ihnen kein opus operatum sah und mehr auf das religiöse 
Verständnis Wert legte. 

Gröfser ist der Unterschied in den Mitteln, die sie zur Handhabung der 
Zucht und zur Anregung des Fleifses und der Aufmerksamkeit anwandten. 

Bei den Jesuiten treten die Strafen ziemlich in den Hintergrund. Es 
scheint fast, als ob sie eine Abneigung gegen dieselben gehabt hätten. Jeden- 
falls hofften sie durch Anstachelung des Ehrtriebes und durch die Furcht vor 
Schande mehr zu erreichen als durch Strafen. Rat. stud. reg. comm. prof. class. 
inf. 39. Wegen häuslicher Vergehen wird nur selten und nur aus gewichtigen 
Gründen in der Schule gestraft. Rat. stud. reg. praef. stud. inf. 38. Liegt ein straf- 
würdiger Fall vor, so soll der Lehrer nicht vorschnell und bei der Untersuchung 
nicht peinlich sein. 'Er drücke lieber, wo er es ohne fremden Schaden kann, 



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412 G- Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 

ein Auge zu.' Zur Strafe wird auch erst geschritten, wenn gute Worte und 
Ermahnungen nichts fruchten. Rat. st. reg. praef. stud. inf. 38. Helfen die Er- 
mahnungen nicht, so soll der Lehrer mit einer gelinden Strafe einschreiten. 
Körperliche Züchtigung tritt nur bei groben Verbrechen ein. Diese Strafe 
darf aber der Lehrer nicht selbst vollziehen. Rat. stud. reg. comm. prof. class. 
inf. 40. Dazu ist ein eigener Korrektor anzustellen, der nicht Ordensmitglied 
sein darf. Ist ein solcher nicht vorhanden, so soll der Lehrer eine andere 
Weise ersinnen, den Schuldigen gebührend züchtigen zu lassen. Eine härtere 
Strafe ist die Entfernung aus der Schule, die erst dann verhängt wird, wenn 
keine Besserung, sondern Verführung der Mitschüler zu erwarten ist. Ist auch 
die Entfernung keine genügende Sühne, so berichtet der Präfekt an den Rektor, 
der die weltlichen Gerichte anzurufen hat. R. st. reg. praef. stud. inf. 41. Man 
sieht aus dem ganzen Verfahren, dafs das Odium von Lehrer und Orden fern- 
gehalten wird. Die Schüler sollen durch Strafen keine Abneigung gegen den 
Orden bekommen. Die Strafe bezweckte die Besserung des Übelthäters und die 
Abschreckung der Mitschüler. 

Eine andere Auffassung von der Strafe hatten die Pietisten. Für sie traten 
keine Heiligen und Fürbitter mit ihrem Verdienste bei Gott ein. Der Glaube, 
gegründet auf Bufse und Reue, verhalf zur Vergebung. Reue empfindet aber 
nur der, welcher zum Schuldbewufstsein gekommen ist. Über die Strafe handelt 
c. 16 der Erziehung zu Gottseligkeit und ^Instruktion für die Präceptoren, was 
sie bei der Disziplin wohl zu beachten*. Kein Kind darf gestraft werden, das 
nicht von seinem Unrecht überzeugt ist und sein Vergehen eingesteht. Der 
Lehrer soll, wenn er auch von der Strafwürdigkeit eines Schülers überzeugt ist, 
von der Strafe absehen, wenn der Schuldige hartnäckig sein Vergehen in Ab- 
rede stellt. Denn von einem solchen Kinde wird die Strafe nicht als eine Wohl- 
that angesehen, wofür es nach Franckes Meinung danken und durch Handschlag 
Besserung geloben kann. Auch sonst will Francke die Strafe lieber vermeiden. 
So viel immer möglich, soll die Auferziehung nicht mit Strenge und Härtigkeit, 
sondern mit Sanftmut und Süfsigkeit geschehen. Wenn es nötig ist, scheut er 
jedoch nicht vor ihr zurück. Ein Kind, das dreimal gewarnt und mündlich 
zurechtgewiesen wurde, wird wegen Bosheit, nicht aber wegen Unfleifses körper- 
lich gezüchtigt. Dabei ist jedoch im Einverständnis mit den Eltern und mit 
Rücksicht auf die Gesundheit des Kindes zu verfahren. Die nächsthöhere 
Strafe ist die Anzeige des Präceptors beim Rektor, der die Schuldigen vor die 
Spezial-Konferenz nimmt, in Gegenwart anderer Präceptoren ermahnt und zu- 
weilen auch straft. Die Art der Strafe bestimmt der Inspektor auf Grund des 
Straf büchleins, in das alle Vergehen umständlich eingetragen werden. Die 
Strafe wird sofort und zwar von dem Präceptor des zu Strafenden vollzogen. 
Nur in dem Fall, wo es sich um eine eigene Angelegenheit des Präceptors 
handelt, soll er nicht selbst strafen, um den Schein der Rachsucht zu vermeiden. 
Vor jeder körperlichen Züchtigung mufs der Strafende sich durch Gebet vor- 
bereiten und zu Gott seufzen, dafs er ihm die Gnade gebe, nicht aus fleisch- 
lichem Zorn, sondern in erbarmender Liebe zu strafen. Aus dieser Umständ- 



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6. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 413 

lichkeit des Strafverfahrens geht schon allein hervor, dafs die Pietisten der 
Strafe eine andere Bedeutung beilegten als die Jesuiten. Die Strafe ist Sühne 
und Genugthuung für das Vergehen. 

Am meisten unterscheiden sich die beiden Gemeinschaften in der Anwen- 
dung des Ehrtriebes bei der Erziehung. 

Bei den Jesuiten war die Anstachelung desselben ein Haupterziehungs- 
mittel. Es mufs ihnen zum Vorwurf gemacht werden, dafs sie methodisch den 
Ehrgeiz in den Schülern erweckt und grofs gezogen haben, obwohl sie sich in 
Const. IV 15, 4 dagegen wehren. Man kann es ihnen allerdings nicht verargen, 
dafs sie die Erregung des Ehrbewufstseins bei ihren Schülern als Erziehungs- 
mittel angewandt haben. Aber die Art und Weise, wie sie dabei vorgegangen 
sind, mufs getadelt werden. Es handelte sich bei ihnen nicht allein darum, 
dafs der Schüler Ehre und Prämien erlangte, sondern dafs er seinen Mitschüler 
um jeden Preis überflügelte. Jedem Schüler wird ein Mitbewerber, Aemulus ge- 
nannt, zur Seite gestellt, der den Gegner auf Schritt und Tritt beobachtet, seine 
Übertretungen zur Anzeige bringt und seine Schwächen ausbeutet, um dann im 
Besitze des Preises noch stolz auf den Zurückgebliebenen herabschauen zu 
können. Rat. stud. reg. comm. prof. class. inf. 35. Als Siegespreis winkten dem 
Ehrgeize die Schülerwürden, Rat. stud. reg. comm. prof. class. inf. 35, die Prämien, 
leges Praemiorum 1, die Aufnahme in die Akademie, Rat. stud. reg. Acad. 8 u. 9. 
Nicht unerwähnt darf hier die Art und Weise der Preisverteilung bleiben. 
Unter grofser Feierlichkeit mit Trompetenschall wird der Name des Siegers 
öffentlich genannt, und vor versammeltem Publikum erhält er die Auszeichnung. 
Rat. stud. reg. rect. 13 und andere Stellen. Die Waffen in dem Kampf um Ehre 
und Preis bilden in den niederen Klassen die sogenannten Konzertationen, an 
deren Stelle in den oberen Klassen die Disputationen treten. Es ist nicht 
leicht verständlich, wie an manchen Stellen solche Wettkämpfe edel genannt 
werden können, denn sie mufsten ja in den Schülern unedle Leidenschaften ent- 
flammen. Auf der einen Seite tritt das Bestreben auf, durch alle Schliche den 
Gegner zu übertölpeln; auf der anderen Seite folgt auf die Niederlage Selbst- 
verachtung und Hafs. 

Haben die Jesuiten zu viel in dieser Hinsicht gethan, so haben die Pietisten 
zu wenig das Ehrgefühl als Erziehungsmittel beachtet. Nirgends wird an das- 
selbe appelliert. Francke sieht in seiner Anregung nur einen Schaden für die 
Schüler und unterdrückt es auf alle Weise. *Wenn aber die Kinder meinten, 
sie müfsten um deswillen die Sprachen und Wissenschaften erlernen, damit sie 
dermaleins für alle Welt hochangesehene und berühmte Leute würden und da- 
mit sie einen unsterblichen Namen erlangten u. s. w., wäre der Informator ver- 
bunden, ihnen die Nichtigkeit solcher antreibenden Ursachen zu zeigen und 
bessere und wichtigere Ursachen an die Hand zu geben, dadurch nicht ihr 
eigener Ehrgeiz gesättigt, sondern Gottes Ehre befördert würde*. Von der An- 
führung zur Klugheit 26, 4. Ähnlich lautet auch: Von der Anführung zur 
Gottseligkeit 2. Zur Verhütung des Ehrgeizes gab es keinerlei Auszeichnungen. 
*Kein Kind mufs über das andere ungebührlich erhoben werden noch ein Kom- 



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414 6. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 

mando über andere verstattet werden. Instruktion für die Präcept. der 
Waisenkinder 27. 'Ein Schüler ist gar nicht zum Observatoren derer, so 
deutsch reden oder sonst wider die Ordnung peccieren, zu bestellen', Nach- 
erinnerung zu der verb. Methode des Paedag. 18. Francke fürchtete, es 
möchte dadurch die Liebe der Kinder in Neid ausarten, und sie möchten ver- 
gessen, dafs vor Gott alle gleich seien. Von der Information der Waisenkinder 
insonderheit 9. Die Kinder selbst sollen es nicht einmal gern hören, wenn sie 
gelobt werden (Philotheia). Auch die Informatoren sollen sich jedes Lobes 
enthalten. 'Informatoren sollen nicht die Kinder, welche sich wohl anlassen, 
mit unzeitigem Lob stolz machen, sondern sollen ihnen die Verheifsung, welche 
die Gottseligkeit hat und die Liebe Christi vor Augen malen. Auch die Un- 
gezogenen sollen durch dergleichen evangelische Gründe zum Guten angeführt 
werden'. Was von den Informatoren zu observieren 11. Durch Lob und Ver- 
heifsung dagegen wird nach Franckes Ansicht den unschuldigen Kinderherzen 
der Hoffartsgeist gleichsam mit Gewalt eingeprägt. Von der Erziehung zur 
Gottseligkeit 11. 

Gerade bei diesem Erziehungsmittel war der dogmatische Standpunkt beider 
Gemeinschaften mafsgebend. 

Die Jesuiten glauben an die Verdienstlichkeit guter Werke, wegen deren 
besonders die Heiligen eine Ehrenstellung bei Gott einnehmen. Wie Gott die be- 
sonders auszeichnet, welche Hervorragendes geleistet haben, so zieren die Jesuiten 
auch die, welche sich durch besondere Leistungen hervorthun. Und wie nicht 
püe Menschen Heilige werden, so können auch nicht alle Schüler an erster 
Stelle stehen. Eines Unrechts waren sich die Jesuiten bei ihrem Verfahren 
nicht bewufst. Bei Francke dagegen kommt alles auf die Gnade Gottes an. 
Der Mensch kann im unbekehrten Zustande nichts Gutes leisten. Er verdient 
darum auch kein Lob. Und auch die Bekehrten haben keinen Anspruch darauf, 
denn sie verdanken alles der Wirkung des heiligen Geistes. Stolz konnten die 
Menschen nur sein auf den Adel ihrer Seele und auf die Gemeinschaft mit 
Gott. Ein Grund zur Bevorzugung des einen vor dem anderen lag hierin nicht 

Die rigorose Lebensauffassung Franckes war auch der Grund, warum er 
fast alle Erholungen und Vergnügungen den Schülern vorenthielt, während die 
Jesuiten sie ihnen in reichlichem Mafse gewährten. 

Bei den Jesuiten war jeder Überanstrengung der Schüler vorgebeugt, 
Const. IV 4, 1; 13, 5. Keiner soll über zwei Stunden sich am Lesen oder 
Schreiben anstrengen, ohne das Studium eine kurze Weile zu unterbrechen, 
Bat st. reg. schol. nostr. 10 und Const. IV 6, 1. An Vakanztagen und Ferien 
war kein Mangel, sie wurden in überreichem Mafse gegeben. Bat stud. reg. 
prov. 37, 1 — 11. Zum Baden, Beiten, Turnen, zu Ausflügen u. s. w. hatten 
die Schüler reichlich Gelegenheit. Erinnerungen eines Jesuitenzöglings S. 127. 

Dem mönchischen Ideal kommt Francke bei der Erziehung näher als sie. 
Freie Zeit hatten eigentlich seine Schüler kaum. Nicht einmal die Sonntage 
wurden ihnen freigegeben. Sie mufsten an ihnen zur Schule kommen und wurden 
in den Gottesdienst geführt 'damit sie nicht verwilderten'. Freie Nachmittage 



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G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 415 

gab es nicht. Ferien galten als Zeitverschwendung. Die in den einzelnen Lehr- 
ordnungen erwähnten Freistunden waren Arbeitsstunden, in denen sich die 
Schüler durch die sogenannten Rekreationsübungen Kenntnisse in den ver- 
schiedenen Handwerkszweigen verschaffen mufsten. Ordnung und Lehrart der 
Präceptoren 31. Solcher Art waren fast alle Erholungen. 'Der Informator soll 
auf Dinge bedacht sein, darinnen die Kinder zwar ausruhen, aber die Zeit da- 
mit nicht unnützlich vertreiben, noch ihre ohnedem flatterhaften Sinne in alle 
Welt zerstreuen\ Von der Erziehung zur Gottseligkeit 12, 2. Spiele wurden 
nur mit sehr vorsichtiger Auswahl gestattet und durften nur unter Aufsicht 
der Lehrer ausgeführt werden, e damit sie dadurch nicht Gelegenheit zu allerlei Mut- 
willen und Zerstreuung des Gemütes bekommen mögen'. Ordnung und Lehrart des 
Paedag. 31. Die einzige Erholung bildete die sogenannte Motion, d. h. Spazier- 
gänge und Ausflüge, bei denen das Gebet jedoch nicht vergessen werden durfte. 

Bei den Unterrichtsgegenständen zeigt sich deutlich der prinzipielle Gegen- 
satz zwischen Jesuiten und Pietisten. 

Die ersteren erziehen für den Orden. * Als Mitglieder eignen sich aber nur 
Gelehrte oder Reiche und Hochgestellte. Mit den Gegenständen des Elementar- 
unterrichts beschäftigten sie sich nicht. Ihre Schulen waren gelehrte Studien- 
anstalten, in denen fast ausschliefslich die Bildungselemente des Humanismus 
gepflegt wurden, denn nur im Besitze der Beredsamkeit konnten sie ihren Zweck 
erreichen. Alles andere, was nicht mit ihr zusammenhing und was nicht un- 
bedingt zum Fachstudium der Theologie gehörte, schlössen sie vom Unterrichte 
aus, Const. IV 5, 1. Die meiste Zeit wurde in den 'Studia inferiora' auf 
Latein verwendet. Die Schüler sollten so weit gebracht werden, dafs sie die 
lateinische Sprache schriftlich und mündlich beherrschten. Es kam dabei nicht 
auf die Aneignung einer klassischen Bildung an. Denn an den Schriftstellern 
wurde nur die formelle Seite hervorgehoben. Latein brauchte der Orden, weil 
es nicht allein die wissenschaftliche Universalsprache, sondern auch die Kirchen- 
und Ordenssprache war. Deshalb hält auch der Orden an dem Betrieb des- 
selben, den er anfangs mit allen Schulen gemein hatte, fest bis in die 
neueste Zeit. Der lateinischen Sprache gegenüber treten alle anderen Sprachen, 
besonders die Muttersprache, fast gänzlich zurück. In den Konstitutionen wird 
sie nur für die Predigt empfohlen. In der Rat. stud. a. 1586 und 1599 wird 
sie zwar als nützlich bei der Erklärung des Unterrichtsstoffes angeführt, aber 
im übrigen verboten, 'daher sei der Gebrauch der Muttersprache in den ver- 
schiedenen Schulsachen niemals gestattet', Rat. stud. 1599 reg. comm. prof. class. 
inf. 18. Erst in der Rat. stud. 1832 hat man ihr notgedrungen eine Stelle an- 
gewiesen. Die Zeit, welche für sie bestimmt wurde, ist jedoch äufserst be- 
grenzt. Ebenso stiefmütterlich wird der religiöse Unterrichtsstoff behandelt. 

In den Const. IV 16, 2 wird nur vorgeschrieben, dafs wöchentlich an einem 
Tag Christenlehre im Kolleg gehalten werde, in der die jüngeren Schüler den 
Katechismus lernen und hersagen. 'Die Erwachsenen sollen ihn womöglich 
kennen'. In der Rat. stud. wird der Katechismus zwar mehr berücksichtigt. 
Nach Reg. comm. prof. class. inf. 4 soll er in den drei Klassen der Grammatik 



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416 Cr. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 

und wenn nötig auch in den anderen Klassen Freitags und Samstags hergesagt 
werden. Im ganzen wird aber nur 1 Stunde wöchentlich darauf verwendet. 
Dafs dabei auch nach der Rat. stud. 1832, die im Unterschied von der Rat. stud. 
a. 1599 auf Verständnis des Katechismus dringt, wenig Zeit für die Erklärung 
desselben übrig blieb, kann wohl nicht bestritten werden. Den religiösen 
MemorierstofF ersetzten die religiösen Übungen und Andachten. Auf gleiche 
Weise wurden die Realien vernachlässigt. Was davon unter der Bezeichnung 
Erudition getrieben wurde, ist kaum der Rede wert. Es wird zwar in Rat. 
stud. a. 1832 Reg. prov. 23, 3 Geschichte, Geographie und Mathematik für die 
unteren Klassen empfohlen. Die Behandlung der Geschichte aber, die nach Rat. 
stud. reg. prof. class. Hum. 1 Von Zeit zu Zeit die Schüler auffrischen und 
unterhalten soll', zeigt, dafs auch die anderen Realfächer nur geringer Pflege 
sich erfreuten. Nach Reg. praef. stud. inf. 8, 11 der Rat. stud. a. 1832 bleibt es 
sogar dahingestellt, ob Geschichte, Geographie und die Grundzüge der Mathe- 
matik in den Schulen gelehrt werden sollen. 

Auch in den Schulen Franckes, d. h. in der Lateinschule und in dem Päda- 
gogium, wog Latein bei weitem vor. Da es aber seine Hauptabsicht war, seine 
Schüler zum lebendigeu Christentum, das sich einzig und allein auf die Bibel 
gründet, zu erziehen, so mufste er schon aus diesem Grund dem Griechischen 
und Hebräischen, als den Grundsprachen der Bibel, einige Aufmerksamkeit 
schenken. Aus dem gleichen Grunde mufste er sich die Muttersprache an- 
gelegen sein lassen. Denn wer aus der Bibel seinen Glauben schöpfen soll, 
mufs dieselbe in der Muttersprache lesen können. Im engsten Zusammenhang 
damit stand die Forderung des Unterrichts im Katechismus. Und weil alle 
Menschen Mitglieder des Reiches Gottes werden sollen und alle für den gleichen 
Zweck erschaffen sind, so haben auch alle Anspruch auf Bildung, die zum Ver- 
ständnis des Ratschlusses Gottes und zur Ergreifung des Heils im Glauben 
nötig ist. Dieser Anschauung entsprang bei Francke die Idee einer allgemeinen 
Volksbildung, bei der auch die Kenntnis der Realien nicht aufser acht gelassen 
werden kann. Bezeichnend hierfür ist § 7 der Information der Waisenkinder 
insonderheit: *Weil auch einer, der nicht studieret, dennoch die Principia Astro- 
nomiae, Geographiae, Physicae, Historiae und was seines Ortes oder Landes 
Polizeiordnung sei, zu wissen wohl vonnöten hat, wo er ein verständiger und 
dem gemeinen Wesen nützlicher Mann werden will, wird ihnen auch aufser 
denen ordentlichen Schulstunden neben dem, dafs sie zum Stricken angehalten 
werden, gleichsam spielender Weise von allen diesen Wissenschaften das Nötige 
beigebracht, dafs sie zum Exempel lernen, wie sie Gott aus der Natur erkennen 
und sich durch seine Werke zu seinem Lobe reizen lassen sollen, wie sie ein 
Land vom andern unterscheiden, wie sie reisen sollen, wie sie einen Acker 
messen oder teilen, wie sie den Kalender brauchen sollen u. s. w/ 

(Schlufs folgt) 



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ÜBER KLASSISCHE STUDIENREISEN 

Von Johannes Teufer 

Die Anschauungsmethode ist das Schofskind der heutigen Gymnasial- 
pädagogik. Nicht nur dafs sie in ausgedehntestem Mafse die Grundlage der 
realen Unterrichtsfächer bildet, sie beherrscht auch den neusprachlichen Unter- 
richt und klopft gelegentlich selbst bei den abstraktesten Disziplinen an, Ein- 
lafs begehrend. Auch für die altklassischen Fächer hat sie eine früher un- 
bekannte Bedeutung gewonnen. Zwar ist die lateinische Bilderfibel, die in 
Nachahmung der 'neuen Methode' auf neusprachlichem Gebiete den lateinischen 
Unterricht schon für den Anfänger um einige hervorragende Darstellungen aus 
dem klassischen Altertume konzentrieren will, als eine verfehlte Anticipatio zu 
bezeichnen, die auf einer Verwechselung der unterschiedlichen Bildungs werte 
der alten und der modernen Sprache beruht und das Interesse des lateinischen 
ABC -Schützen, dessen Kräften die Bewältigung der fremden Sprachform allein 
durchaus genügt, zu Gunsten einer oberflächlichen, frühreifen Vielseitigkeit zer- 
splittert. Dagegen sind die mannigfachen Bestrebungen unserer Zeit, dem 
fortgeschritteneren Schüler das Altertum nach Möglichkeit im Bilde vorzuführen 
und ihm besonders das Verständnis für die Ziele und Aufgaben der antiken 
Kunst zu wecken, nur freudig zu begrüfsen, so wenig harmonisch mit ihrem 
idealen Inhalte auch die nüchterne Forderung anmutet, die Archäologie für den 
Kandidaten der Philologie unter die obligatorischen Prüfungsfächer einzureihen. 
Denn indem die bildende Kunst das Streben des griechischen Geistes nach dem 
xcdbv xiyad'öv zur augenfälligen Darstellung bringt, trägt die Beschäftigung 
mit ihr nicht wenig dazu bei, den klassischen Unterricht zu beleben und im 
eigentlichen Sinne der humanistischen Bildung fruchtbar zu gestalten. 

Auf diese Erkenntnis gründet sich die gröfsere oder geringere Liberalität, 
mit welcher die Regierungen der meisten deutschen Bundesstaaten alljährlich 
eine Anzahl ihrer altphilologischen Gymnasiallehrer in stand setzen, die Heimat 
des klassischen Altertums oder wenigstens Italien auf einer längeren oder 
kürzeren Studienreise zu besuchen. Der Zweck solcher Mission liegt natürlich 
nicht in der Lösung bestimmter wissenschaftlicher Aufgaben, sondern ihre Teil- 
nehmer sollen unter sachverständiger Anleitung die wichtigsten Stätten und 
Denkmäler des alten Kulturlebens kennen lernen, um die gewonnene An- 
schauung in den Dienst der heimatlichen Lehrthätigkeit zu stellen. Der Wert 
dieser Autopsie bedarf nicht erst einer ausführlichen Begründung. Bezüglich 
der Topographie und Architektur ist er um so gröfser, als der gewöhnliche 

Neu« Jahrbücher. 1899. II 27 



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418 J. Teufer: Über klassische Studienreisen 

Bildungsgang des klassischen Philologen ihm wenig Gelegenheit bietet, sein 
räumliches Anschauungsvermögen besonders zu üben. 

Wie ist, um ein einfaches Beispiel zu gebrauchen, selbst bei einer durch 
Beschreibung und Abbildung so allgemein bekannten Lokalitat wie dem Forum 
Romanum der Augenschein geeignet, die vorgefafste Vorstellung zu ergänzen, 
ja richtig zu stellen. Zwar wer sich gewöhnt, nackte Zahlenangaben durch 
eine Vergleichung mit bekannten Verhältnissen in das ausdrucksvolle Gewand 
der Realität zu kleiden, wird vor der naheliegenden Versuchung bewahrt 
bleiben, im Hinblick auf die spätere Gröfse der Welthauptstadt die Ausdehnung 
dieses Raumes weit zu überschätzen. Vielmehr wird ihm nicht selten schon 
die deutsche Mittelstadt unter ihren freien Plätzen ein passendes Vergleichungs- 
objekt darbieten. 1 ) Dagegen gehört — um von der Unzulänglichkeit der 
Photographien ganz abzusehen — eine seltene Fertigkeit im Kartenlesen dazu, 
um sich die eigenartige Lage des Forums in der Einsenkung zwischen dem 
Mons Palatinus, Capitolinus und Esquilinus wirklich anschaulich vorzustellen 
und in ihrer Bedeutung zu würdigen. Denn diese Lage ist ein ausschlag- 
gebender Faktor für die Topographie der alten Stadt gewesen. Sie erklärt 
uns die frühzeitige Existenz von künstlichen Entwässerungsanlagen, macht aber 
zugleich den Ausbau des Forums von der Besiedelung des Esquilin abhängig 
und setzt somit die Benützung eines anderen Marktplatzes (Boarium) für die 
allerälteste Zeit als notwendig voraus. Einen klaren Überblick über diese 
Bodenverhältnisse und überhaupt über das Gebiet der Siebenhügelstadt ge- 
winnen wir vom Palatin aus, der sich ebensowohl durch seine historische Be- 
deutung als Sitz der ersten Uransiedelung wie wegen seines von modernen 
Bauwerken fast völlig freien Plateaus vorzüglich zum Orientierungspunkte 
eignet. Indes konnte ein Markt- und Versammlungsplatz von der beschränkten 
Ausdehnung des Forums den wachsenden Anforderungen der Kapitale auf die 
Dauer nicht genügen. Schon in republikanischer Zeit von Göttertempeln, 
Staatsgebäuden, später auch von Basiliken eingerahmt, bedeckt sich in der 
Kaiserzeit das Forum selbst mehr und mehr mit Monumenten und wird so 
allmählich zu einem Museum der vaterländischen Geschichte und selbst zu 
einem ehrwürdigen Denkmal der Urzeit. Dies fortgeschrittene Entwickelungs- 
stadium repräsentiert uns sein heutiges buntes Trümmerfeld. In seine ursprüng- 
liche Bestimmung traten die Kaiserfora ein, unter denen das weitaus gröfste, 
das Forum Trajani, nur zu einem kleinen Teile erst wieder blofsgelegt worden 
ist. Wir verschaffen uns durch den ungehemmten Umblick auf der Trajans- 
säule leicht einen Begriff von seiner ehemaligen Gröfse. Derselbe Punkt läfst 
uns den besonderen Zweck des Forum Trajani als eine Verbindung zwischen 
dem Forum Romanum mit der Neustadt im Marsfelde, d. i. den Durchstich 
zwischen Mons Capitolinus und Quirinalis, deutlich erkennen. 

Ist das Beispiel des Forum Romanum dazu angethan, unserer Vorstellungs- 
kraft einen Zügel anzulegen, so läfst uns der Mafsstab unserer heutigen Bau- 

') In Leipzig giebt der Hauptmarkt die Länge des Forums wieder, dessen Breite er 
noch um ca. 16 m übertrifft. 



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J. Teuf er: Über klassische Studienreisen 419 

weise in vielen Fällen der überlegenen Gröfse des Altertums nicht gerecht 
werden. So giebt es kein modernes Amphitheater oder auch Theater, das nach 
seiner Geräumigkeit auch nur einen annähernden Vergleich mit dem Kolosseum 
oder selbst der Arena zu Verona aushielte. Unsere Badeanstalten werden an 
Grofsartigkeit bei weitem übertroffen von den Thermen des Caracalla, deren 
prachtvolle Hallen ihr Vorbild allerdings nicht in den bescheidenen städtischen 
balineae, sondern in den hellenistischen Gymnasien finden. Ihre Einrichtung 
erinnert uns daran, welchen uns unbekannten Wert man einer geregelten und 
umständlichen Badeprozedur in Verbindung mit gymnastischer Körperpflege 
beilegte. Während die palatinischen Kaiserwohnungen, auf dem vornehmsten 
und ehrwürdigsten Flecke der Altstadt gelegen, hinsichtlich der Gröfse ihres 
Grundrisses im Vergleich zu neueren Stadtschlössern nichts Auffallendes bieten, 
stellt die Villa Adriana bei Tivoli, in ihrer Vollendung zugleich als ein Wunder 
antiker Baukunst gerühmt, schon durch die Weitläufigkeit ihrer Anlage, die 
sich die Nachbildung weltberühmter Bauten und Gegenden zur Aufgabe ge- 
stellt hatte, wohl alle modernen fürstlichen Landsitze in den Schatten. Andere 
architektonische Überreste des Altertums entbehren bei ihrer Eigenartigkeit 
überhaupt eines heimatlichen Analogons, so vor allem der griechische Tempel 1 ), 
dessen überwältigender Formenwirkung wir uns trotz der besten Bilder nicht 
bewufst werden können, die titanenhaften Mauern von Mykenä und Tiryns, die 
friedliche Feststätte Olympia, das altrömische Normalhaus Pompejis, das Colum- 
barium u. s. w. 

Unter denjenigen Punkten, deren natürliche Beschaffenheit uns hauptsäch- 
lich wegen eines bestimmten historischen Faktums interessiert, sei neben der ein- 
fachen Situation von Marathon, von Salamis, des Monte Pellegrino (Heirkte) u. a. 
als besonders instruktiv hier nur Syrakus hervorgehoben. Wenn schon in seinem 
heutigen Bestände ganz auf Ortygia beschränkt, gestattet doch sein übersicht- 
liches Terrain eine klare Orientierung über die * Gestalt der alten Stadt zur 
Zeit des Thukydides und läfst uns die Bewegungen der Athener nach dem 
Berichte dieses Schriftstellers aufs anschaulichste verfolgen, vom Olympieion 
und Epipolä an, den anfänglichen Ruhmesstätten athenischer Strategie, bis zu 
den Laotamien, deren gähnender Schlund die Überreste der Expedition in 
sich begrub. 

Aber es hiefse Eulen nach Athen tragen, wollte ich auch nur eine nackte 
Aufzählung aller der Örtlichkeiten, Bauten und Kunstwerke geben, deren Be- 
sichtigung als eigentliches Ziel der altphilologischen Studienreise vornehmlich 
in Betracht kommt. Denn es fehlt nicht an gründlichen Reiseberichten, die 
den praktischen Standpunkt des Gymnasiallehrers berücksichtigen. Auch ein 
anderer Wertfaktor, so unschätzbar er ist, sei seiner subjektiven Natur wegen 
hier nur kurz gestreift: die ethisch bildende und läuternde Wirkung, die das 

*) Einen Einblick in die Technik, mit der die riesigen Säulentrommeln der gewaltigen 
selinuntischen Tempelfelder bearbeitet wurden, gewahrt ein Besuch der antiken Steinbrüche 
von Campobello, deren feierabendlicher Zustand uns mitten in die Werkstätte der alten 
Steinmetzen zurückversetzt (vgl. Bädeker, Italien III S. 279 n ). 

27* 



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420 J. Teufer: Über klassische Studienreisen 

Vaterland des Sophokles und des Vergil noch heute auf die Seele auszuüben 
im stände ist. Wohl dem, welchem der un verschleierte Anblick von Schön- 
heit und Kraft, diesen unsterblichen Wächterinnen am Grabe des klassischen 
Altertums, so tief ins Herz sich einprägt, dafs er ihn unverlöscht mit zurück- 
bringt in die nüchterne Heimat und in die schwüle Atmosphäre der Schulstube. 
Ihm belebt die Begeisterung das dürre Wort des alten Prosaikers wie frisches 
Nafs die trockene Jerichorose, und über der sauren Hantierung mit den hart- 
kantigen Bausteinen der Grammatik verliert er nicht das Bild des erhabenen 
Athenetempels aus den Augen, der sich aus schlichten, schwerfälligen Steinen 
zu seiner göttlichen Schönheit aufbaut. Diese Berufsfreudigkeit ist etwas von 
dem unverlierbaren Glücke, das nach Goethes Erzählung seinen Vater in der 
Erinnerung an Neapel beseligte. Aber freilich, man mufs dann auch mit 
Goethes Augen sehen können; und die Empfänglichkeit gegen das Überirdische 
in Natur und Kunst bleibt eine Gnadengabe von oben. 

Wir wollen den festen Boden des Objektiven nicht verlassen. Auf ihm 
erwächst dem reisenden Philologen, wofern er nur den Blick nicht allzustarr 
auf sein Hauptziel gerichtet hält, so dafs er dadurch blind wird für das Schöne 
und Interessante, das zu beiden Seiten des Weges liegt, eine solche Fülle von 
Anregungen und neuen Anschauungen, dafs es sich wohl lohnen dürfte, diesen 
einmal ausschliefslich unser Augenmerk zuzuwenden. Gewifs handelt es sich 
dabei zum guten Teil um Beobachtungen, deren Wahrnehmung zu eines jeden 
Reisenden Bildung und Erziehung beiträgt; allein dasselbe gilt doch unbestreit- 
bar auch vom Besuche der loca classica selbst, und ebenso gewifs wird hier 
wie dort der Wert eigener Kenntnis und persönlicher Erfahrung für den 
unendlich höher sein, der durch seinen Beruf dazu veranlafst ist, sich über 
ihren Inhalt ein gewisses Urteil, eine bestimmte Vorstellung zu bilden, und 
nicht blofs für sich zu bilden, sondern im Unterrichte vorzutragen und zu ver- 
treten. So sollen denn die folgenden Zeilen auf diejenigen Bildungsmomente 
aufmerksam machen, die wir bei einer Studienreise natürlicherweise als Parerga 
anzusehen und gering zu schätzen pflegen, vielleicht, dafs unter diesen unschein- 
baren Perlen, auf die wir ungesucht beim Graben nach dem Schatze stofsen, 
sich doch die eine oder andere findet, die es verdient, aufgehoben und ans 
Licht gezogen zu werden. 

Schon den Umstand möchte ich als einen wertvollen Reisegewinst für 
den in Ausübung seines Berufes stehenden Gymnasiallehrer bezeichnen, dafs er 
gewissermafsen selbst für einige Zeit auf die Schulbank zurückversetzt wird, 
indem ihn teils seine Umgebung, teils die Anforderungen des Lebens veranlassen, 
die Schuldisziplinen fast ausnahmslos wieder einmal aufzunehmen und in dem 
bunten Wechsel eines Stundenplanes, wie der Augenblick es verlangt, die Auf- 
merksamkeit bald diesem, bald jenem Fache zuzuwenden. Denn wenn sich 
auch daheim im Lehrerzimmer Altphilologe und Naturwissenschaftler mit der 
Freundschaft mangelnder Interessengemeinschaft als wohlgewogene Antipoden 
gegenüberzustehen pflegen, wer könnte hier das Auge verschliefsen gegen die 
auffallendsten Erscheinungen der südlichen Pflanzenwelt, gleichviel ob sie die 



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J. Teufer: Über klassische Studienreisen 421 

Alten schon kannten oder nicht, gegen die Pinie und Palme, den Kaktus und 
den Papyrus, der doch zumal ein unbestreitbares Anrecht hat auf das Interesse 
eines jeden Gelehrten? Und wer gewänne es nicht über sich, schon um den 
beiden Sternchen im Bädeker Genüge zu thun, im weltberühmten Aquarium zu 
Neapel einmal hinabzutauchen in die Geheimnisse des mittelländischen Meeres 
und seinen stummen Bewohnern einen Besuch abzustatten? — Der Anblick der 
Olive läfst unsere Gedanken hinüberschweifen nach dem heiligen Vaterlande des 
Ölbaums; aber zahlreiche Malsteine erinnern uns daran, dafs unser Fufs auch 
hier auf geweihtem Boden steht. In fortlaufenden Bildern führen sie uns 
durch die christliche Kirchengeschichte, von den Märtyrerstätten und den ver- 
steckten Katakombengängen in die Kunstsäle des Vatikans, von der bescheidenen 
Basilika durch die Triumphkirche des Papsttums nach dem schlichten Grabe 
Pius' IX. Ja, wem die Steine reden, der läfst sich von den Isis- und Mithras- 
und Cybelestatuen der römischen Museen erzählen von der Sintflut fremder Kulte, 
die zu der Zeit, da im fernen Osten das Brünnlein lebendigen Wassers ent- 
sprang, Italien überschwemmte und den altchristlichen Sarkophagreliefs so 
häufig den Stempel eines mysteriösen Synkretismus aufgedrückt hat. Und wer 
Ohren hat, zu hören, der fühlt sich durch die glühende Beredsamkeit, mit 
welcher der Waldenserprediger im Herzen Roms gegen Mariendienst und Fege- 
feuer eifert, zurückversetzt in die trotzige Kampfeslust der Reformationszeit. 

Aber weit noch über die Grenzen des alten Patrimonium Petri hinaus 
reichen die Spuren der deutschen Geschichte, die uns, wenn auch vielfach 
schmerzlicher Art, auf Schritt und Tritt begleiten. Und doch, mag uns auch 
die demütigende Rolle des alten Heldenkaisers Barbarossa auf den Bildern des 
Dogenpalastes die Röte des Unwillens in die Wangen treiben, mag uns der 
Besuch der c Sala del re Enzio' in Bologna mit stiller Wehmut über das 
romantische Schicksal des liederkundigen Königssohnes und auf der Piazza del 
Mercato in Neapel die Erinnerung an das Ende des letzten Hohenstaufen mit 
bitterem Schmerze erfüllen: wir begreifen gerade an diesem paradiesischen 
Punkte unserer Wanderung am allerbesten, was die germanischen Stämme zur 
Zeit der Völkerwanderung so mächtig über die Alpen zog, was die späteren 
Hohenstaufen trieb, ein Erbland festzuhalten, dessen leichte Fruchtbarkeit mit 
seiner Schönheit wetteifert und von den Zeiten Hannibals bis heute der That- 
kraft und Mannestugend seiner Bewohner so verhängnisvoll geworden ist. Die 
Königsgräber im Dome zu Palermo bergen die irdischen Überreste der beiden 
gewaltigen Fürsten, welche die deutsche Kaiserwürde mit dem Besitze des 
Königreichs Sicilien vereinigten. Wir empfinden eine stille Freude, dafs das 
Deutschtum heute in friedlicher Weise von dem Felseneiland am Golfe von 
Neapel Besitz ergriffen, dessen zauberhafte Schönheit dereinst den heiteren Sinn 
des alternden Augustus entzückte und dem Weltüberdrusse des finsteren 
Tiberius als Zufluchtsstätte diente; dafs unsere Landsleute sein blaues Wunder 
der staunenden Welt erschlossen und dem Inselstädtchen beinahe den Charakter 
einer deutschen Kolonie aufgeprägt haben. 

Es wäre überflüssig, auch nur in grofsen Umrissen das nngeheure An- 



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422 J. Teufer: Über klassische Studienreisen 

schauungsmaterial zu zeichnen, das Italien für die mittelalterliche und neuere 
Welt-, Kultur- und Kunstgeschichte umschliefst. Allerdings mag man daran 
zweifeln, ob aus der reichen Mannigfaltigkeit der Anregungsmittel im einzelnen 
eine eigentliche, tiefgehende Wissensbereicherung erwachsen wird. Aber wie 
jede harmonische Geistesbildung untrennbar an einem gewissen Universalismus 
haftet, so dienen sie dazu, den Gesichtskreis des Fachmannes zum Besten des 
Pädagogen zu erweitern und ihn vor verhängnisvoller Einseitigkeit zu bewahren. 

Für den letzteren Gesichtspunkt ist nicht ohne Bedeutung die praktische 
Erfahrung, die sich an den Aufenthalt unter einem durchaus fremdsprachigen 
Volke knüpft und die brennendste Tagesfrage des modernen Schulkampfes 
berührt. Dabei setze ich freilich als ausgeschlossen voraus, dafs sich der Beisende 
damit begnügt, sich recht und schlecht oder vielmehr recht schlecht mit Hilfe 
einiger Redensarten aus Meyers Taschenwörterbuch durchzuschlagen, und im 
übrigen auf seine Gewandtheit im Gebrauche der internationalen Zeichensprache 
verläfst. Das ist des reisenden Parvenüs, nicht aber des Philologen würdig. 
Eine vorangehende Übung in der italienischen Sprache, bei der es weniger auf 
Länge als auf Regelmäfsigkeit der Lektionen ankommt, lohnt sich nicht nur 
durch den nächstliegenden Gewinn, dafs sie dem Fremdlinge die Wege ebnet, 
verschlossene Thüren öffnet, vor Übervorteilungen schützt, den Verkehr mit 
dem Volke ermöglicht und in stand setzt, den Befriedigung heischenden Fragen, 
welche der Anblick unzähliger Sehenswürdigkeiten momentan auftauchen läfst, 
einen verständlichen Ausdruck zu verleihen. Auch ohne dafs darum eine 
perfekte Beherrschung der Sprache notwendig wäre, bekommt der Lernende 
einen wirklichen Einblick in das Verhältnis des Italienischen zur Muttersprache 
Latein; er versucht — wozu ihm sonst in der Regel die Veranlassung fehlen 
wird — die eigene, lange nicht geübte Fähigkeit zur Erlernung einer neuen 
Sprache und wird dabei voraussichtlich nicht ohne Genugthuung wahr- 
nehmen, dafs, was das Mannesalter an Gedächtnisfrische und Lernfreudig- 
keit eingebüfst hat, durch den sprachbildenden Charakter, der dem Studium des 
Lateinischen im allgemeinen und für die romanischen Sprachen insbesondere 
eignet, reichlich ersetzt wird. Dabei mag er, wofern ihm die pädagogischen 
Bestrebungen der Neusprachler nicht gleichgiltig sind, die günstige Gelegenheit 
nicht ungenützt vorübergehen lassen, die vielgerühmte c neue Methode', etwa 
nach dem geschickten Leitfaden von Alge, am eigenen Fleische zu erproben. 

Bei der praktischen Anwendung der erworbenen Kenntnisse wirft die 
Dialektverschiedenheit, die dem Reisenden in den einzelnen Teilen Italiens 
allerdings besonders empfindlich entgegentritt, ein interessantes Streiflicht auf 
die bisweilen sehr weitgehenden phonetisch-dialektischen Anforderungen unseres 
neusprachlichen Unterrichts: zwar erging es mir nicht überall so rühmlich wie 
in Ravenna, wo ich den Wirt der Trattoria nach einem kurzen Gespräche mit 
ihm (vielleicht auch infolge eines von mir unbewufst gebrauchten süditalienischen 
Speisenamens) zu den Seinigen äufsern hörte: *e un Napolitano' — aber allent- 
halben wurde mein Reise-Italienisch, dessen phonetische Feinheiten sich nicht 
über ein scharfes Zungen-R und die genaue Scheidung der verschiedenen Zisch- 



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J. Teufer: Über klassische Studienreisen 423 

laute erhoben, von Wirten und Führern, von den gebildeten Eingeborenen und 
zumeist auch vom gewöhnlichen Volke verstanden, und wenn umgekehrt das 
Verständnis des letzteren mitunter weit schwieriger war, so wäre diese Schwierig- 
keit gewifs auch durch den elegantesten Florentiner Dialekt meinerseits nicht 
gehoben worden. 

Auch die französische Sprache spielt in Italien eine beachtenswerte Bolle. 
Fremdenführer und Kellner der gröfseren Hotels sprechen sie mehr oder weniger 
gelaufig, und der starke internationale Verkehr hat sie eigentlich zum Gemein- 
gut der besseren Gesellschaft gemacht. Diese ist gewohnt, während sie die 
ungenügende Kenntnis ihrer eigenen Muttersprache gern verzeiht, die leidliche 
Beherrschung des Französischen bei jedem Gebildeten vorauszusetzen. (Dafs 
dies nicht weniger in Griechenland der Fall ist, ist bekannt genug.) Wie 
peinlich dies bei mangelhafter Übung werden kann, entging mir nicht, als ich 
in Rom versuchte, mir Zutritt in die Auditorien einiger höherer Schulen zu 
verschaffen. Und führt solche Erfahrung auch nur zu einer Würdigung des 
'Marktwertes' der französischen Sprache, so wird sie doch sicher dazu beitragen, 
diesen Marktwert fürs praktische Leben nicht verächtlich zu unterschätzen. 

Mit solchen sprachlichen Beobachtungen verbindet sich leicht und bis zu 
einem gewissen Grade von selbst das Studium der heutigen Bewohner des Landes. 
Und es scheint mir für einen Lehrer der deutschen Jugend, gleichviel welches 
Spezialfach er vertritt, gar nicht hoch genug anzuschlagen, dafs er einmal in 
enge Fühlung mit einem fremden Volke getreten ist. Denn wenn es unter 
allen Umständen seine Aufgabe ist, die Liebe zum deutschen Vaterlande in ihr 
zu pflegen und zu vertiefen, so erfüllt er dieselbe weniger durch überschweng- 
liche patriotische Lobreden als dadurch, dafs er seinen Schülern die Augen zu 
öffnen sucht für die hohen Tugenden und auch die Schwächen deutscher 
Eigenart. Durch nichts aber kann der Mafsstab für die Vorzüge und Fehler 
der eigenen Landsleute nachdrücklicher und anschaulicher geschärft werden als 
durch den aufmerksamen Verkehr mit einem anderen Kultur volke, das, seit 
alten Zeiten in ununterbrochener Wechselbeziehung zu unserem Volke stehend, 
doch seiner ganzen Abstammung nach einen grundverschiedenen nationalen 
Charakter repräsentiert. Und Gott Lob, der Deutsche braucht von diesem 
Vergleiche keine Gefährdung seiner Liebe zur Heimat zu befürchten. Wohl 
mag manches dünkelhafte Vorurteil schwinden, aber so viel er auch der Lande 
gesehen, er wird noch immer mit der freudigen Überzeugung zurückkehren: 
tiuschiu zuht gat vor in allen. 

Schon der ohrenbetäubende Lärm des italienischen Strafsenlebens, der laute 
Frohsinn mit seiner Vorliebe für Musik, Spiel und Tanz, die Lebhaftigkeit der 
Unterhaltimg verraten ein südlich -feuriges Temperament. Dasselbe erreicht 
seinen edelsten Ausdruck in dem leidenschaftlichen Spiele des Schauspielers, 
nicht selten auch in der hinreif senden Beredsamkeit eines Predigers; aber auch 
schon am Kinde bewundern wir eine unserer Jugend weit überlegene Kunst des 
Vortrags, wenn wir in der Weihnachtszeit einmal den Deklamationen in Maria 
in Aracoeli in Rom beiwohnen. Dem Fremden gegenüber bethätigt es sich im 



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424 J. Teufer: Über klassische Studienreisen 

allgemeinen auch bei dem Manne des Volkes in einer natürlichen Umgänglich- 
keit und Gefälligkeit, so dafs ich gelegentlich auf der Eisenbahnfahrt nicht 
ungern die zugeknöpfte Gesellschaft reisender Landsleute mit dem eingeborenen 
Publikum der dritten Klasse vertauschte. Die wohlwollende Neugier, die wir 
wohl auch in gewissen Gegenden der Heimat bei den niederen Volksschichten 
finden, ist hier nicht selten mit einem feinen Takte, ja mit ausgesuchter Höflich- 
keit verbunden. In liebenswürdiger Weise, ohne uns zu verletzen, pflegt man 
unsere etwaigen Sprachfehler richtigzustellen, und wer sich mit uns länger unter- 
halten hat, verfehlt nicht, uns vom eigenen Frühstücke anzubieten, bevor er 
selbst davon geniefst, oder das Unterlassen dieser guten Sitte wenigstens mit 
der Dürftigkeit seiner Mundvorräte zu entschuldigen. 

Bewundernswert bleibt die angeborene Geschicklichkeit des Italieners, sich 
auch bei mangelnder Sprachgemeinschaft zu verständigen. Diese Gewandtheit 
liegt zuerst ebenfalls in dem lebhaften Naturell des Romanen begründet, 
wird aber noch bedeutend erhöht durch das infolge des starken Fremden- 
verkehrs gesteigerte Accommodationsvermögen. Wie er fast beständig die 
Gestikulation zur Unterstützung des gesprochenen Wortes verwendet, so dafs 
wir, von der Stimme der Sprechenden unerreicht, glauben könnten, eine 
Taubstummenunterhaltung zu beobachten, so giebt er, ohne sich lange zu be- 
sinnen, dem nichtverstandenen Wunsche nach einem Federmesser durch die 
Handbewegung des Bleistiftspitzens deutlicheren Ausdruck; das Wort *Tisch- 
glocke* ersetzt er durch 'Klingling' u. s. w. Als ich in einem Städtchen Ober- 
italiens dem des Deutschen ein wenig mächtigen Kellner beim Schlafengehen 
erklärte, wir wollten lieber italienisch sprechen, da ich mich hierin vervoll- 
kommnen möchte, erwiderte er sofort: 'dunque parleremo italiano!' Wie er mir 
darauf im Schlafzimmer das Licht anzündete, wies er, mich ansehend, auf seine 
Thätigkeit, indem er langsam und prononciert sagte: 'accendere il lume', worauf 
er mit einem *felicissima notte' sich empfahl. Er hätte zweifellos als Lehrer 
die beste Anlage zu einem tüchtigen Vertreter der Anschauungsmethode gehabt! 

So fügen sich kleine Züge zu einem Gesamtbilde, welches gegen die kühle 
Zurückhaltung des deutschen Phlegmas nicht unvorteilhaft absticht. Ander- 
seits besitzt der deutsche Bär dafür auch viel mehr von dem edlen Stolze des 
alten Königs der deutschen Wälder. Der aufdringliche Fremdenführer, der ge- 
winnsüchtige Droschkenkutscher, der unverschämt geilende Bettler sind in ihrem 
Nonplusultra rein charakteristische Typen des Südens. Auch den deutschen 
Kaufmann und den deutschen Gastwirt umstrahlt bald der unverfälschte Glorien- 
schein einer vornehmen Solidität, wenn wir uns trotz der treuherzigen Freund- 
lichkeit des italienischen Wirtes gezwungen sehen, mit ihm über den Preis 
selbst der geringfügigsten Ansprüche zu accordieren, um nicht hinterher doppelt 
und dreifach zahlen zu müssen; wenn wir uns beim Einkaufe von irgend welchen 
Waren gar bald von der erfahrenen Weisheit des alten Rates überzeugen: 
c Kaufe möglichst nichts ein, dessen Wert du nicht wenigstens ungefähr be- 
messen kannst!' Während sich der Italiener über die moralische Berechtigung 
der Fremdenausbeutung offenbar nicht die geringsten Gewissensskrupel macht, 



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J. Teufer: Über klassische Studienreisen 425 

werden wir uns mit stolzer Freude bewufst, dafs deutsche Ehrlichkeit auch 
heute noch nicht zum leeren Schall geworden ist. 

Ein anderer hervorstechender Zug des Romanen ist die Grausamkeit gegen 
die Tiere. Allgemein bekannt ist die herzlose Verfolgung, der unsere Sing- 
vogel, in Ermangelung anderer jagdbarer Tiere, im ganzen Lande ausgesetzt 
sind. Uns bleibt die schmerzliche persönliche Erfahrung mit dieser Gefühls- 
rohheit nicht erspart: wir sehen die kleinen Sänger des heimatlichen Waldes 
ihres Federschmuckes entkleidet und an Stabchen aufgereiht auf dem Markte 
feilgeboten, und im Parke oder im Weingarten fliegen uns wohl auch selbst die 
Schrote eines unvorsichtigen Schützen um die Ohren. Aber dies ist nicht der 
einzige Akt welscher Tierquälerei: unbarmherzig schlagt der Bauer sein keuchen- 
des Lasttier, dem er wohl gar zu gesteigerter Qual mit raffinierter Grausam- 
keit die wunden Stellen offen hält; mit den Füfsen an eine Stange gebunden 
werden die lebenden Puten und Hühner oft stundenweit zur Stadt getragen, 
und fast jeder gröfseren Ziegenherde hinken einzelne Tiere nach, denen der 
grausam-sichere Steinwurf des eigenen Hirten das Bein gebrochen. 

Man würde Unrecht daran thun, für diese Gefühllosigkeit die katholische 
Kirche verantwortlich machen zu wollen, auf deren Boden einst die schwärme- 
rische Naturliebe eines Franziscus von Assisi, wenn auch als eine fremdartige 
Pflanze, gedieh. Ebensowenig dürfen wir darin bei den Nachkommen eines 
alten Kulturvolkes eine kindlich -naive Bildungsstufe sehen wollen. Vielmehr 
handelt es sich hier um einen tiefeingewurzelten Fehler des romanischen Cha- 
rakters: das wilde Wohlgefallen am Grausigen, das selbst den Damenflor des 
alten Roms auf den Tribünen der blutigen Arena versammelte, läfst noch heute 
die Spanierin dem Stierkämpfer Beifall klatschen; es zeigt sich uns am Italiener 
als ein auffallender Mangel an Mitgefühl gegen die niedere Kreatur. Nicht die 
fortgeschrittenere Kultur, sondern das warme deutsche Gemüt ist die Mutter 
unserer segensreichen Tierschutzvereine gewesen. 

Die sozialen Verhältnisse der Heimat werden in ein glänzendes Licht ge- 
rückt durch die wirtschaftliche Lage Italiens, deren Not sich in seinen grofsen 
Scharen von Bettlern und Bresthaften aller Art, in dem allgemeinen Elende und 
der vielfachen Verdienstlosigkeit der unteren Volksschichten, in dem versumpften 
Zustande weiter Landstrecken jedem Auge offen darstellt. Ebenso wird ein 
Besuch des Exercierplatzes uns die Überlegenheit des eigenen Vaterlandes zur 
freudigen Gewifsheit machen. Indessen wollen wir, um nicht in gefährliches 
Eigenlob zu verfallen, anstatt länger beim heutigen Bewohner des Landes zu 
verweilen, lieber auf dessen geographische und kulturelle Eigenart selbst noch 
mit einem Worte eingehen. 

Denn einerseits sind auch die rein geographischen Anschauungen von viel 
zu allgemeiner Bedeutung, als dafs sie blofs dem Fachmanne zu gute kämen. 
Ich brauche nur an einige besonders frisch im Gedächtnis haftende • Bilder zu 
erinnern: schon an der Grenzscheide zwischen Norden und Süden die St. Gott- 
hardbahn, die inmitten einer wildromantischen Alpennatur mit ihren Kehr- 
tunneln ein Meisterwerk moderner Ingenieurkunst darstellt; jenseits der Alpen 



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426 J. Teuf er: Ober klassische Studienreisen 

beim Eintritt in Oberitalien der überwältigende Anblick südlicher Natur; die 
zauberhafte Märchenpracht der Lagunenstadt; die schwermütige Campagna vor 
den Thoren Roms; der Vesuv mit seinem unheimlichen Krater; die altberühmte 
Schönheit des Golfes von Neapel; die blendenden Farbenkontraste der sizilischen 
und griechischen Küste u. s. w. Welches Vorstellungsvermögen, und wäre es 
auch die reichbegnadete Phantasie eines Schiller, vermöchte hier den Anblick 
der Wirklichkeit zu ersetzen? 

Anderseits ist die natürliche Beschaffenheit eines Landes konservativer 
als die Geschichte seiner Bewohner, und so hat Italien sowohl wie Griechenland 
durch die Jahrhunderte wechselnder Menschengeschlechter mancherlei mehr oder 
weniger an Klima und Boclen haftende kulturelle Eigentümlichkeiten festge- 
halten, die direkt oder indirekt als Illustration des klassischen Altertums 
dienen können. So kommt zwar der heutige Weinbau Italiens an Umfang und 
Güte dem in alten Zeiten nicht mehr gleich, aber die immerhin reichen An- 
pflanzungen zeigen noch dieselben Grundformen — nur nicht die Mannigfaltig- 
keit — der Zucht, die Varro de r. r. 1, 8 ausführlich beschreibt, von denen die 
Vermählung von Ulme und Rebe auch aufserhalb der agrarischen Litteratur 
so häufige Erwähnung findet. An Qualität hat der heutige griechische Wein 
gegen früher offenbar noch weit mehr verloren als der italienische. Aber die 
Sitte der Harzbeimischung, die dem nordischen Gaumen den c Rezinatwein 9 so 
wenig munden läfst, beruht schon auf einem uralten Brauche. Und wenn ihn 
uns der griechische Bauer, unter dessen gastfreiem Dache wir eingekehrt sind, 
kredenzt mit der typischen Frage nach unserem Vaterlande, da wandelt sich 
sein Wort in unserem Ohre zum Verse: xig x6&ev sTg &v8q<öv; it6fti toi nokig 
ydl zoxfjeg. Damit jedoch dem homerischen Bilde auch der Schatten nicht fehle, 
fallen draufsen vor der Hütte mit wütendem Gebelle die wilden Schäferhunde 
auf uns ein und lassen sich nur mit Mühe durch die Steinwürfe ihres Herrn 
zurückscheuchen (Od. XIV. 29 ff). 

Die Mode, so unbeständig sie ist, scheint in dem ärmellosen Mantel, den 
die grofse Masse des italienischen Volkes trägt, indem sie das rechte Ende über 
die linke Schulter zurückschlägt, einen Rest altrömischer Tracht festgehalten 
zu haben. Auch die riemengebundene Fufsbekleidung des Campagnahirten 
zeigt nur wenig Veränderung gegen antikes Schuhwerk, und bei der mangeln- 
den Industrie und der Armut des Landes haben selbst Gerätschaften des ge- 
meinen Lebens und Werkzeuge, mit denen Kleinstädter und Bauern ihre tag- 
lichen Arbeiten verrichten, des öfteren eine altertümliche Form bewahrt. In 
den zahlreichen Mufsestunden aber, die ihnen altüberkommene Gewohnheit be- 
schert, bildet die Barbierstube für Neugierige und Geschwätzige eine gern be- 
suchte Kultstätte des Klatsches, genau so wie zu des Horaz Zeiten; ja, so wenig 
erfreulich ihr Anblick ist, auch die lippi, die derselbe Dichter gelegentlich mit 
den tonsores zusammen als die berufenen Diener der Fama nennt (Sat. I, 7, 3), 
sind noch immer eine auffallend häufige Erscheinung zumal der unteren Volks- 
schichten. 

Am meisten mufste sich der gleichbleibende Einflufs des Klimas geltend 



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J. Teufer: Über klaaöische Studienreisen 427 

machen in der Bauweise der menschlichen Wohnungen. Bei Betrachtung der 
pompejanischen Ausgrabungen wird man sich in seinen Vorstellungen von dem 
Gemeindewesen eines auf Frohsinn und heiteren Lebensgenufs gerichteten 
Völkchens leicht etwas enttäuscht fühlen durch die schroffe Abgeschlossenheit 
der gefängnisartigen Häusermauern, die nur von wenigen und kleinen ver- 
gitterten Öffnungen durchbrochen sind, und durch die Engigkeit der eigent- 
lichen Wohnräume sogar in den vornehmeren Häusern. Doch die Sonne Süd- 
italiens belehrt uns rasch über die Gründe dieser Bauart. Das warme Klima 
beschrankt die Bedeutung des Wohnhauses. So bedurfte der Pompejaner der 
Privaträume nur zum Schlafen und allenfalls zum Essen. Das eigentliche 
Tagesleben spielte sich Sommer und Winter im Freien ab, in den nach der 
Strafse weit geöffneten Parterreläden und Werkstätten oder auf der Gasse, bei 
den Reicheren in dem hallenumrahmten, mit erfrischenden Gartenanlagen ge- 
schmückten Peristylium. 

Der Fortschritt von Zeit und Kultur hat im Prinzip hierin nicht viel ge- 
ändert. Denn wenn schon das belebende Grün der Umgebung die ungastliche 
Starrheit der Steinwände etwas mildert, so ruft auch heute noch das italienische 
Klein-Bürgerhaus in uns den Eindruck der Ungemütlichkeit hervor: schmuck- 
lose, oft schmutzige Kammern im Inneren; nach aufsen eine nackte Front mit 
wenigen groben Fensteröffnungen, die oft genug noch des Glases entbehren; 
nirgends die einladende Spur eines behaglichen Familienlebens. Ja für die 
ärmste Klasse der Bevölkerung kann man sagen, dafs die Wohnungen teilweise 
noch die gleichen wie vor zwei Jahrtausenden geblieben sind. In den Winkel- 
gassen Alt -Neapels findet man heute noch dieselben Vicolobauten wieder, wie 
sich ihre stattlichen Ruinen aus der römischen Kaiserzeit zwischen Via sacra 
und Palatin, westlich vom Konstantinsbogen, erhalten haben. 

Um auch der bildenden Kunst noch mit einem Beispiele zu gedenken, sei 
auf die Bedeutung der grofsen italienischen Friedhöfe hingewiesen. Die Reise- 
handbücher pflegen ihren Besuch zu empfehlen wegen der Großartigkeit ihrer 
Anlage, wegen ihres hervorragenden architektonischen und plastischen Schmuckes. 
Dem Psychologen entgeht zugleich nicht der leidenschaftliche Schmerz und das 
hoffnungsarme Todesgrauen, das sich in den meisten Grabskulpturen ausdrückt. 
Wir wollen noch zwei andere Punkte beachten. Zunächst haben wir im Fried- 
hofsschmucke ein hauptsächliches Arbeitsfeld für die heutige italienische Plastik 
vor uns. Bringen wir seine vielgestaltige Fülle und den in ihm liegenden 
grofsen Aufwand mit der reichen Kunstfertigkeit, die wir schon am gewöhn- 
lichen Hausgeräte des alten Pompeji bewundern, in Verbindung, so erkennen 
wir, wie der die weiteren Kreise des Volkes beherrschende Kunstsinn der Alten 
auch im heutigen Italiener nicht ganz erloschen ist, wir verstehen, wie ander- 
seits im Altertume durch das allgemeine Bedürfnis, Villen und Gärten, öffent- 
liche Plätze und Gräber mit plastischen. Kunstwerken zu verzieren, die breite 
und sichere Existenzbasis für eine durch Kleinasien, Griechenland und Italien 
verzweigte Künstlerschaft gegeben wurde. 

Ich habe hierbei Friedhöfe im Sinne wie S. Miniato in Florenz und den 



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428 J. Teufer: Über klassische Studienreisen 

Campo Verano in Rom. Die breite Hauptstrafse des letzteren gewährt beim 
Eintritt eine treue Rekonstruktion der alten Via Appia oder der pompejanischen 
Gräberstrafse vor dem Herkulaner Thor: rechts und links eine fortlaufende Reihe 
stattlicher Sepulkralbauten, durchwirkt vom Flore der Cypressen, plastische 
Bildwerke auf gewaltigen steinernen Postamenten abwechselnd mit kleinen Grab- 
kapellen. Ja, auch in den Motiven der künstlerischen Darstellung zeigt der 
Friedhofsschmuck einen überraschenden Anschlufs an die Antike. Abgesehen 
von der Gestalt der Grabkammer, die besonders durch Canova wieder viel zur 
Anwendung gekommen ist, des Sarkophags, des Cippus, des altitalischen Altars 
beachte man nur die vielen Relielporträts, die auf dem Totenbett Gelagerten, 
die Abschiedsszenen zwischen den Gliedern der Familie; sogar die Inschriften 
ahmen oft direkt die Sitte des Altertums nach. 

Diese innige Verquickung von Gegenwart und Vergangenheit mufs auch 
das streng fachmännische Interesse gewinnen und führt uns somit wieder zu 
unserem Ausgangspunkte zurück. Natürlich soll weder in der letzten Betrach- 
tung noch im allgemeinen das zu Gebote stehende Anschauungsmaterial mit 
den gegebenen Ausführungen und Andeutungen abgeschlossen sein. Vielmehr 
werden die zufälligen Umstände und die besonderen Wege, die der Reisende 
einschlägt, noch mancherlei zur Erweiterung seiner Erfahrung beitragen. So 
blieben mir bei einer Fahrt im mittelländischen Meere die vollen Schrecken 
eines Gewittersturmes nicht erspart, so dafs ich seitdem die packende Schilde- 
rung in Ovids Tristien I 2 mit besonders teilnahmvollem Grauen lese. Und 
die griechische Hauptstadt zeigte mir ein Volk in Waffen, das an überschäumen- 
dem Patriotismus und erregter Leidenschaft den Zeitgenossen des Demosthenes 
gewifs nicht nachstand. Aber auch wenn sich eine Reise ganz in normalen 
Geleisen bewegt, bleibt der Reichtum ihrer Anregungen fast unerschöpflich. 
Bei dem Neusprachler liegen die Beziehungen zum fremden Volke zu offen am 
Tage, als dafs die Notwendigkeit der Auslandsreise nicht überall die vollste 
Anerkennung fände. Möge auch der klassischen Studienreise als einer Schule 
der Anschauung für den Philologen und zugleich als einem wertvollen Förde- 
rungsmittel für die harmonische Gesamtausbildung des Lehrers immer mehr 
die verdiente Würdigung zu teil werden! 



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DER NEUSPRACHLICHE UNTERRICHT IM KÖNIGREICH 

SACHSEN 

Von Otto Dost 

Als ich vor 25 Jahren, mit deutschen Kaufleuten aus Nottingham auf 
einem Ausfluge nach dem romantischen Belvoir Castle begriffen, im Ge- 
spräche über die Grofsartigkeit der englischen Industrie und des britischen 
Handels die leise Hoffnung auszusprechen wagte, dafs das politisch und wirt- 
schaftlich geeinte Deutschland im Verlaufe der Zeit schliefslich doch mit 
England in erfolgreichen Wettbewerb werde treten können, wurde ich von 
allen Seiten verlacht unter dem Hinweise nicht nur auf die unvergleichliche 
geographische Lage Englands und die Macht seines Kapitals, sondern 
auch auf die den Engländern innewohnende kaufmännische, ganz besonders 
aber gewerblich-technische Begabung, und diese Behauptungen schienen 
bestätigt zu werden durch die Thatsache, dafs damalä in Nottingham wohl der 
Vertrieb der Waren zu einem Teile in deutschen Händen lag, die Fabri- 
kation hingegen ausschliefslich in englischen. Im Gespräche mit Engländern 
fühlte sich das deutsche Gemüt noch weniger gehoben, wenn diese mitleids- 
voll hinwiesen auf das arme Deutschland mit seinen wandernden Bettel- 
musikanten und knechtischen Bewohnern, wo der Knabe ein Mann sei, noch 
ehe er Knabe gewesen, ja, wo dem Knaben schon die sklavische Gesinnung 
des unfreien deutschen Mannes eingeflöfst werde in den Zwangsschulen und 
später im Heerzwange, Einrichtungen, durch die die Deutschen sicherlich zu 
Grunde gehen würden. 

Aber wie Deutschland 1870 das wehrhafte übermütige Frankreich über- 
raschte durch seine in aller Stille geschaffene überlegene Wehrkraft, so ver- 
setzte es ein Jahrzehnt später das stolzeste aller Industrie- und Handels- 
völker in Bestürzung durch die Erfolge seiner stillen Arbeit auf den Gebieten 
friedlichen Gewerbes. Wie kurzer Zeit hatte es doch bedurft, um das einstige 
demütigende Mitleid Englands in herausfordernden Hafs zu verwandeln! 
Wie in Frankreich unmittelbar nach dem Kriege, so waren 1880 in England 
alle Volks- und Altersklassen von Deutschenhafs ergriffen: vom kleinen Mädchen, 
das erst kaum lallte, bis zu dem aus behaglicher Ruhe aufgeschreckten Greise, der 
sonst nie etwas von Deutschland gehört hatte, alle sprachen von den 'horrid 
Ger man s'. Nur einzelne, besonders solche, die ihre Ausbildung einer öffent- 
lichen deutschen Unterrichtsanstalt oder einer deutschen Familie verdankten, 
verrieten etwas von dem wahren Grunde dieses plötzlichen Gesinnungs- 



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430 0. Dost: Der neusprachliche Unterricht im Königreich Sachsen 

wechseis. Während man in Frankreich in immer weiteren Kreisen uns ein 
eingehendes Studium widmete und uns in der Folge eine stetig wachsende 
Anerkennung zollte, griff England, das Land des freien Mitbewerbes, zu Ab- 
wehrmafsregeln, die nicht alle als fair bezeichnet werden können. Am 
bekanntesten ist das Handelsmarkenschutzgesetz von 1887 mit seinem Made 
in Germany geworden, weil es im eigenen Lande dem Fluche der Lächerlich- 
keit verfiel. 

Einer der ersten jener geistig Vornehmen, die in würdiger Weise den 
wahren Ursachen des industriellen Aufschwungs Deutschlands nachgingen, war 
der einer feingebildeten Nottinghamer Familie entstammende Leiter des Chem- 
nitzer Zweiges der Nottingham Manufacturing Company, Herr Felking, der 
seine Beobachtungen veröffentlichte in dem 1881 in London erschienenen Buche 
Technical Education in a Saxon Town. 

Seit jener Zeit ist in England viel und noch mehr in Frankreich über 
diesen Gegenstand geschrieben worden. Alle Urteile weisen hin auf die 
deutsche Schule als Ursache der deutschen Überlegenheit auf industriellem 
Gebiete. Zunächst betonen sie die Wirksamkeit der deutschen Schule nach der 
Seite der Charakterbildung. Die Schule, sagt man, gewöhnt den jungen 
Deutschen frühzeitig an Gehorsam und Zucht, doch so, dafs das finstere 
*Du sollst' allmählich übergeht in das freundliche *Ich will*. Damit steht im 
Zusammenhange die Erziehung des jungen Deutschen zu selbstloser Arbeit 
und unverdrossener Pflichttreue. Die deutsche Schule, sagt man weiter, 
bemüht sich, fern davon, die Köpfe ihrer Zöglinge mechanisch mit totem 
Wissenskram zu füllen, dieselben durch methodische Behandlung der Lehr- 
gegenstände dahin zu führen, dafs sie denkend, d. h. methodisch und darum 
gründlich arbeiten. Sodann wird der deutschen Schule nachgerühmt, dafs 
sie dem . Deutschen eine vertiefte Allgemeinbildung giebt, die ihm jenes 
vielseitige Interesse verleiht, vermöge dessen er sich überall leicht zurechtfinden 
und weiterbilden kann. Endlich wird behauptet, dafs die Schule in Deutsch- 
land den jungen Mann auf Grund dieser Allgemeinbildung mit einer gediegenen 
theoretischen und praktischen Fachbildung ausstattet. Unter die beiden 
letzten Gesichtspunkte gehört vor allen Dingen die gründliche Schulung des 
Deutschen in mindestens zwei Fremdsprachen, die ihm die Kraft und die Lust 
verleiht, seine sprachlichen Kenntnisse nach der idealen und praktischen Seite 
zu vertiefen und zu erweitern. Kein Wunder, dafs man nicht selten in Deutsch- 
land Engländer und Franzosen trifft, die hierhergekommen, um sich im 
Deutschen zu üben, in heller Verzweiflung darüber sind, dafs sie keine Ge- 
legenheit dazu haben, weil man überall englisch oder französisch mit ihnen 
spricht. 

Gilt das Gesagte von Deutschland im allgemeinen, so von Sachsen im 
besonderen; von Sachsen, dem Staate mit der dichtesten Bevölkerung, die zu 
fast % (72%) dem Handels- und Gewerbestande und nur zu kaum % (15%) der 
Landwirtschaft mit ihren verwandten Zweigen angehört, die aber in gewissem 
Grade sich dem herrschenden Erwerbszweige angepafst hat. Diese Einheit- 



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0. Dost: Der neusprachliche Unterricht im Königreich Sachsen 431 

lichkeit der Erwerbsverhältnisse hat auch eine gewisse Einheitlichkeit 
im Volksbildungswesen zur Folge gehabt. Da nun Industrie und Handel 
die wichtigsten Förderer der Schulen sind und hindernde Umstände, wie 
nationaler oder konfessioneller Hader oder klerikale Einflüsse sich in Sachsen 
nicht fühlbar gemacht haben , so läfst sich schon hieraus auf einen hohen 
Stand des Unterrichtswesens in Sachsen schliefsen. Dafs dieser Schlufs kein 
ungerechtfertigter ist, wird durch die Zeugnisse des Auslandes bewiesen. Hat 
doch einer der höchsten Beamten des franz. Unterrichtswesens nach einer 
Studienreise in Deutschland Sachsen bezüglich der Schulen an die Spitze der 
deutschen Staaten gestellt und erklärt, dafs er in keinem anderen Lande die 
Schulgesetze in so vollkommener Weise verwirklicht gefunden habe als in 
Sachsen. Das bezieht sich freilich zunächst nur auf das Volksschulwesen; 
denn es ist ja natürlich, dafs ein Staat wie Sachsen mit einer so zahlreichen 
Industriebevölkerung dem Volksschulwesen seine besondere Fürsorge zu- 
wenden mufste. Dafs dabei aber das höhere Schulwesen nicht leer ausgehen 
konnte, liegt auf der Hand; ja in keinem Staate findet sich bei dem Drange 
der Volksschulen nach vorwärts so häufig ein allmähliches, stufenweises Über- 
gehen von der Volks- zur höheren Schule, wie in Sachsen. Die Industrie- und 
Handelsstädte gingen mit ihrem Schulwesen voran, allen voran Leipzig und 
Chemnitz; die anderen folgten in edlem Wetteifer nach, und unserer Regierung 
kann die Anerkennung nicht versagt werden, dafs sie in richtiger Erkenntnis 
den Bedürfnissen der einzelnen Gemeinden auf diesem Gebiete nachgehend, 
ihnen freien Spielraum und materielle Unterstützung gewährt hat und schliefs- 
lich mit sicherem Takte den rechten Zeitpunkt fand, an dem sie dem Gewordenen 
für das ganze Land allgemeine Giltigkeit verlieh. Trotz dieses besonnenen 
Verfahrens ist die Gesetzgebung in Sachsen auf dem Gebiete des Schulwesens 
in deutschen Landen am kühnsten und raschesten vorgegangen; denn seit 1873 
haben wir bereits das zweite Volksschulgesetz. Dieses unterscheidet, wie schon im 
Schulgesetz von 1835 angedeutet war, einfache, mittlere und höhere Volks- 
schulen, die je nach den örtlichen Bedürfnissen ineinander übergehen. Das 
unterscheidende Merkmal ist nicht sowohl die mehr oder weniger reiche Gliede- 
rung — einklassige Schulen bestehen in Sachsen schon längst nicht mehr, auch 
die einfache Volksschule hat mindestens zwei Klassen, meist mehr — sondern 
der fremdsprachliche Unterricht. Höhere Volksschulen müssen, mittlere 
Volksschulen können fremdsprachlichen Unterricht haben. Ja, es giebt eine 
ziemliche Zahl einfacher Volksschulen, die in Sonderabteilungen fremd- 
sprachlichen Unterricht gewähren. Aus diesen Selekten, aus den mittleren und 
höheren Volksschulen ist der gröfsere Teil der zahlreichen Realanstalten des 
Landes hervorgegangen, und diese sind neben den höheren Töchterschulen und 
Lehrerinnenseminaren die Hauptpflegestätten der neueren Sprachen unter 
den Erziehungsschulen. Aber auch das Gymnasium mufste, den neuen Zeit- 
verhältnissen Rechnung tragend, den neueren Sprachen gröfsere Beachtung 
schenken und führte deshalb vom Jahre 1876 an das Englische neben dem 
obligatorischen Französischen als wahlfreies Fach ein. Den Anlafs zur Er- 



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432 0. Dost: Der neusprachliche Unterricht im Königreich Sachsen 

lernung fremder Sprachen bietet immer das reale Bedürfnis; das 
Ideale, gleichsam Geheimnisvolle einer Sprache wird später erst darin gefunden 
oder vielmehr durch die Methode hineingetragen. Oder war es mit dem Latein 
anders? 

Sieht man zunächst ab von zahlreichen und mannigfachen Veranstaltungen 
zur Verbreitung neusprachlicher Kenntnisse in Sachsen, die sich nicht wohl 
übersehen lassen, wie z. B. von den schriftstellerischen, buchhändlerischen 
Unternehmungen zur Darbietung neusprachlicher Lektüre und Lehrmittel, die 
ja Sachsen nicht allein zu gute kommen, von den französischen und englischen 
Sprachgesellschaften in den gröfseren Städten, von den^ Fortbildungskursen 
kaufmännischer und anderer Vereinigungen sowie solchen, die von Einzelnen 
unterhalten werden, von den Pensionaten und von dem starken Auslandsbesuch, 
und hält man sich nur an die öffentlichen Schuleinrichtungen zur Mitteilung 
neusprachlicher Kenntnisse, so kommen aufser den schon genannten Erziehungs- 
schulen und den Hochschulen vor allem noch die Fachschulen in Betracht. 
Unter diesen haben für uns hervorragendes Interesse die Handelsschulen 
in ihren verschiedenen Formen entweder als Handelsfachschulen oder als 
Handelsfortbildungsschulen oder als Handelsklassen allgemeiner oder gewerb- 
licher Fortbildungsschulen. Diese zusammengenommen bestehen gegenwärtig 
in der stattlichen Zahl von 65 mit 5500 Schülern, die von etwas über 100 neu- 
sprachlichen Lehrern in 640 Stunden wöchentlich unterrichtet werden, wovon 
nahezu die Hälfte dem Englischen gewidmet wird. Obgleich die staatliche 
Unterstützung der Handelsschulen in Sachsen verhältnismäfsig weiter geht als 
in anderen Staaten, ist die sächsische Regierung doch fortgesetzt bemüht, diese 
Schulen zu fördern insbesondere durch gröfsere Sicherstellung der Lehrer und 
durch eine zweckentsprechende Ausbildung derselben. Diesem letzteren Zwecke 
hat vor allem die im vorigen Jahre zu Leipzig gegründete Handelshoch- 
schule, die erste in Deutschland, mit zu dienen. Durch Errichtung dieses 
wichtigen Institutes hat sich Sachsen ein erneutes Verdienst erworben, auch 
hinsichtlich der Förderung, die das Studium der neueren Sprachen dort erfahren 
wird, wo nicht blofs für Französisch und Englisch, sondern auch für Italienisch, 
Russisch, Spanisch und nach Bedürfnis für andere Sprachen Kurse eingerichtet 
sind oder eingerichtet werden. 

Was die technischen Lehranstalten betrifft, so bestehen bei den be- 
deutenderen unter diesen fremdsprachliche Kurse zur Fortbildung. Hierher ge- 
hören das Technikum in Mittweida mit einem Lehrer, desgleichen die städtischen 
Gewerbeschulen zu Dresden und Leipzig mit je einem Lehrer, die städtischen 
Staatslehranstalten in Chemnitz mit je einem Lehrer für Französisch und Eng- 
lisch, die Bergakademie mit einem Lehrer für Englisch. Wie vorzüglich die 
königl. technische Hochschule in Dresden und die Landeshochschule in Leipzig 
für die neueren Sprachen ausgestattet sind, ist zu allgemein bekannt, als dafs ich 
mich des weiteren darüber auszusprechen brauchte. Unsere jüngeren Zeit- 
genossen sind zu beneiden, dafs ihnen zur Ausbildung für ihren Beruf so vor- 
treffliche Gelegenheit geboten ist, nicht allein zum wissenschaftlichen Studium 



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0. Dost: Der neusprachliche Unterricht im Königreich Sachsen 433 

der neueren Sprachen, sondern auch zur Übung im schriftlichen und mündlichen 
Gebrauche derselben sowie zur Einführung in die Methodik des Faches. 

An den 17 Gymnasien des Landes werden in je wöchentlich 23 bis 
24 Stunden 4200 Schüler von 54 Lehrern in den neueren Sprachen unterrichtet. 

An den 12 Realgymnasien (das diesen ähnliche Kadettenkorps und das 
bis zur Unterprima gediehene wiedererstehende Realgymnas. zu Plauen ein- 
geschlossen) empfangen neusprachlichen Unterricht 3630 Schüler von 66 Lehrern 
in je 52 Stunden wöchentlich. 

Die 35 Realschulen, zu denen ich auch die Privatschulen in Dresden 
und Leipzig sowie die neuerstehende Schule zu Ölsnitz i. V. rechne, sowie die 
ihnen ähnlichen beiden höheren Töchterschulen in Dresden und Leipzig, ver- 
mitteln einer Schülerzahl von rund 8000 in wöchentlich 40 bis 43 Stunden 
Kenntnis im Französischen und Englischen durch 145 Lehrkräfte. 

Höhere Volksschulen, die als solche bezeichnet sind, mit Einschlufs 
der hierher gehörigen Privatschulen, giebt es im Lande 82 mit 14500 Schülern 
und Schülerinnen, die neusprachlichen Unterricht empfangen von 320 Lehrern 
und Lehrerinnen in 12 — 46 Stunden wöchentlich bei 4 — 6jährigem Kursus. 

Mittlere Volksschulen mit neusprachlichem Unterricht besitzt Sachsen 
gegenwärtig 80 mit einer neusprachlichen Schülerzahl von ungefähr 5000, 
unterrichtet von 180 Lehrkräften in je 8 — 28 Stunden die Woche. 

Einfache Volksschulen mit fremdsprachlichen Sonderabteilungen giebt 
es 20, die ihren 500 Schülern und Schülerinnen in 8 — 20 Stunden die Woche 
neusprachlichen Unterricht gewähren durch 28 Lehrkräfte. 

In der Mehrzahl dieser Schulen wird Französisch gelehrt, das Englische 
tritt hinzu vornehmlich in den vogtländischen, in einigen erzgebirgischen und 
Lausitzer Städten sowie in und um Dresden, also in den Textilindustriebezirken 
und wo es viel Fremdenverkehr giebt. 

Die Gesamtzahl der Volksschulen mit neusprachlichem Unterricht ist mithin 
182; die Zahl ihrer Schüler und Schülerinnen, die diesen Unterricht empfangen, 
20000 und die der neusprachlichen Lehrkräfte 528. — Die Gesamtzahl der höheren 
und Handelsschulen nebst 3 Lehrerinnenseminaren ist 133, die Zahl der Schüler 
dieser Anstalten, die neusprachlichen Unterricht geniefsen, 22150, die der 
Lehrer dieses Faches 378. Also erhalten' gegenwärtig in Sachsen jährlich neu- 
sprachlichen Unterricht 42150 Schüler von 906 Lehrern in 315 Schulen. 
Denkt man hierbei noch an diejenigen, welche an verschiedenen Volksschulen 
oder sonstwo in Privatkursen neusprachlichen Unterricht geniefsen, sowie an 
alle, die an technischen und Hochschulen neusprachlichen Studien obliegen, so 
ist die Zahl derer, die jährlich in Sachsen neuere Sprachen erlernen, mit 45 000 
gewifs nicht zu hoch bemessen. Das ist etwa der 84. Teil der Bevölkerung 
oder ungefähr 12 vom 1000. 

Es ist mir nicht möglich gewesen, ähnliches statistisches Material zusammen- 
zustellen bezüglich der Verbreitung des neusprachlichen Unterrichtes in einer 
anderen der Gröfse und den Verhältnissen Sachsens entsprechenden Landschaft, 
aber nach abschätzendem Überschlag gestaltet sich nirgends das Exempel so, 

Neue Jahrbücher. 1899. II 28 



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434 0. Dost: Der neusprachliche Unterricht im Königreich Sachsen 

dafs Sachsen übertroffen würde. Dabei mufs man bedenken, dafs Sachsen 
Binnenland ist, weit ab von der Grenze und von der Küste liegt und dafs 
Neugründungen von Schulen mit neusprachlichem Unterricht sowie von neu- 
sprachlichen Kursen an bestehenden Schulen im Wetteifer der Gemeinden oder 
Korporationen beständig vor sich gehen und dafs der neusprachliche Unterricht 
in Sachsen dieses Ostern eine bedeutsame Erweiterung erfahren hat durch Ein- 
fuhrung desselben, zunächst des Französischen, an 3 Seminaren, die hoffent- 
lich zu allgemeiner Aufnahme des neusprachlichen Unterrichtes in den Lehrplan 
der 19 Lehrerseminare des Landes führen wird. Latein oder Französisch 
oder beides im Seminar ist eine brennende Frage geworden. Die Fürsorge 
der sächsischen Regierung für die Volksschule hatte eine gleiche Fürsorge für 
die Lehrerbildungsanstalten zur Folge, die den Charakter höherer Schulen em- 
pfingen. Das 6klassige sächsische Seminar mit Lateinunterricht, in 28 wöchent- 
lichen Pflichtstunden erteilt, erscheint den Lehrern der übrigen deutschen 
Staaten als ein des Nachstrebens würdiges Ideal. Die sächsische Lehrordnung 
vom Jahre 1873 gab mit dem Latein dem Seminar in verstärktem Mafse wieder, 
was schon die erste Seminarordnung von 1820 enthalten hatte, was aber 
durch die rückläufige Bewegung der 50er Jahre weggeschwemmt worden war. 
Diese rückläufige Bewegung aufgehalten zu haben, ist das Verdienst der 
gröfsten Industriestadt Sachsens, deren pädagogischer Verein den damaligen 
schlagfertigen Subrektor an der Realschule beauftragte, bei Gelegenheit der 1864 
in Chemnitz abzuhaltenden sächsischen Lehrerversammlung die Seminarbildung 
namentlich nach ihrer sprachlichen Seite hin einer eingehenden Kritik zu unter- 
ziehen. Fast die gesamte dort anwesende Lehrerschaft stimmte dem von 
Dr. Dittes ausgesprochenen Verdammungsurteil ihrer eigenen Vorbildung zu. 

Die erste Seminarordnung von 1820 hatte auch Französisch mit einer 
Stunde wöchentlich auf dem Lehrplan stehen. Von diesem Fache sah indes 
die 1873er Lehrordnung nach einigem Schwanken ab, weil man es mit dem an 
sich ganz richtigen Grundsatze hielt, dafs es besser sei, in dem Seminar mit 
seiner infolge der Überfülle von Unterrichtsfächern ihm kurz bemessenen Zeit 
eine Sprache mit einiger Gründlichkeit zu lehren. In der Wahl des Latein 
liefs man sich unter anderem wohl auch beeinflussen durch die politische Lage 
Anfang der 70er Jahre; man glaubte, Frankreich habe nebst seiner Sprache 
seine Rolle in der Welt ausgespielt. Das Englische nahm damals selbst an 
den Realanstalten noch nicht die Stellung ein, die es jetzt einnimmt, nach 
dem Eintritt Deutschlands in den Weltverkehr und seitdem das, was die 
Romantiker und Germanisten durch das wissenschaftliche Studium der Mutter- 
sprache und ihrer Litteratur für das verwandte Englische gethan haben, auch in 
den Schulen einen Widerhall gefunden hat. Dazu kam ferner die geringschätzige 
Meinung, die man vom Bildungswerte der neueren Sprachen hegte, deren 
Methode nicht ausgebildet war; ferner das Bedenken, dafs der sächsische 
Dialekt der Erlernung neuerer Sprachen nicht günstig sei; denn von phonetischer 
Schulung wufste man damals noch nichts. Schliefslich fehlte es auch an 
geeigneten Lehrkräften. Die Frage, ob jetzt, nach länger als einem Vierteljahr- 



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0. Dost: Der neusprachliche Unterricht im Königreich Sachsen 435 

hundert, die Dinge noch ebenso liegen, braucht nicht erst beantwortet zu werden. 
Ist es aber nicht ein seltsamer Widerspruch, besonders im Hinblick auf die 
Konzentration des Unterrichts, dafs an so vielen Volksschulen in Sachsen 
Französisch und zum Teil auch Englisch gelehrt wird, aber die Mehrzahl der 
Lehrer es nicht kann? Warum soll der Lehrer hinter den Gebildeten des 
Volkes zurückstehen in einer Zeit, in der die drei Weltsprachen eine immer 
gröfsere Verbreitung gewinnen und in immer tiefere Schichten des Volkes 
getragen werden durch alle die vorhin aufgezählten zahlreichen Veranstaltungen? 
Der Volksschullehrer sollte doch vor allen Dingen diejenigen Wissensgebiete 
bis zu einem gewissen Grade beherrschen, die im Besitze der Gebildeten des 
Volkes sind, das Gelehrtentum steht ihm femer. Das Latein ist ein für den 
Seminaristen fruchtloser Putz, den er beiseite läfst, sobald er das Seminar 
hinter sich hat. Diejenigen Lehrer, die heute noch für Beibehaltung des 
Latein eintreten, thun es meist wohl mehr aus Standesrücksichten als aus 
Überzeugung vom wahren Werte der Sache. Warum schliefsen sich wohl die 
jungen Lehrer in den Städten, sofern nicht etwa wie in Dresden von der 
Schulverwaltung oder von Schuldirektoren besondere neusprachliche Kurse für 
sie eingerichtet sind, bestehenden Sprachkursen an oder richten solche unter 
sich ein oder suchen sich durch Privatstunden oder durch mühsames Selbst- 
studium an der Hand von Toussaint-Langenscheidt neusprachliche Kenntnisse 
anzueignen? In richtiger Erkenntnis des hier vorliegenden Bedürfnisses hat 
sich wohl auch die Staatsregierung entschlossen, an drei Seminaren neben dem 
lateinischen einen französischen Kursus zu eröffnen. 

Unendlich höher aber als das praktische Bedürfnis stelle ich die ideale 
Bedeutung des neusprachlichen Unterrichts im Seminar. Es wäre unangebracht, 
hier eingehen zu wollen auf einen Vergleich des Bildungswertes der neueren 
Sprachen mit demjenigen des Latein unter besonderer Bezugnahme auf den Volks- 
schullehrer. Wenn bedeutende Pädagogen und Schulmänner wie Ziller und Ober- 
schulrat Israel Einspruch gegen das Französische erhoben haben vom sittlichen 
und vaterländischen Standpunkte, so dürfte es bei aller Hochachtung vor 
diesen angesehenen Männern nicht allzu schwierig sein nachzuweisen, dafs auch 
grofse Charaktere in Irrtum befangen sein können. Wenn Latein für das 
Seminar gefordert wird, weil der Lehrer im stände sein müsse, zu den Quellen 
zu steigen, so ist zu erwidern, dafs durchaus nicht alle Quellen in Latium oder 
in der mittelalterlichen Scholastik liegen, am wenigsten für den Volksschul- 
lehrer. Möge man immerhin denen, die das Recht erlangt haben, sich auf der 
Universität für den höheren Volksschuldienst vorzubereiten, die Ablegung 
einer Prüfung im Latein etwa nach dem Mafsstabe dessen, was das Real- 
gymnasium verlangt, zur Bedingung machen. Wenn aber behauptet worden 
ist, die Ersetzung des Latein im Seminar durch neusprachlichen Unterricht 
bedeute Verflachung des Seminarunterrichts, so behaupte ich das Gegenteil, 
fordere aber, dafs das Latein durch beide neuere Sprachen ersetzt werde in 
der Aufeinanderfolge Französisch und Englisch mit nur geringfügigem Mehr- 
aufwand an Zeit: etwa je 7 Stunden Französisch in der 6. und 5. Klasse, von 

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436 0. Dost Der neasprachliche Unterricht im Königreich Sachsen 

der 4. — 1. fortgesetzt in je 2; Englisch in 4 und 3 dreistündig, dann ebenfalls 
zweistündig. Auf das Französische kommen also 22 Standen und auf das 
Englische 10 = 32 Stunden. — In der Erziehungsschule sollte, wo auch immer 
die Zeit zu beschaffen ist, aus praktischen und pädagogischen Gründen keine 
der beiden neueren Sprachen allein gelehrt werden. An unserer höheren Land- 
wirtschaftsschule ist in Nachahmung des preufsischen Beispiels das Englische 
abgeschafft und das Französische neben landwirtschaftlichen Fachern etwas ver- 
stärkt worden. Die Folgen dieser Änderung für die sprachliche Bildung sind 
ungünstig. Indessen ist der Schaden in der Landwirtschaftsschale, wo die 
Fachinteressen vorwiegen, nicht so grofs. Aber der künftige Lehrer bedarf 
vor allem einer gediegenen sprachlichen Schulung. Das höchste Ziel des fremd- 
sprachlichen Unterrichts im Seminar ist die dadurch bewirkte Vervollkommnung 
in der Erkenntnis und im Gebrauche der Muttersprache. Die Erlernung der 
Sprachen um ihrer selbst willen kommt hier erst in zweiter Linie in Frage. 
Überhaupt kommt es auf die Schulart an, ob hier das mittelbare oder un- 
mittelbare Interesse vorwiegen soll. In der dem Seminar für fremdsprach- 
lichen Unterricht zur Verfügung stehenden Zeit dürfte aber bei immerhin schon 
gereiften jungen Leuten von 14 — 20 Jahren, die meist wissen, was sie wollen, 
und bei denen auch bei der Aufnahme schon einige Vorkenntnisse im Fran- 
zösischen vorausgesetzt werden könnten, neusprachlicher Unterricht sich in 
jeder Hinsicht als fruchtbarer erweisen als der lateinische durch den fort- 
gesetzten Vergleich der drei Sprachen hinsichtlich der Laute, der Betonung, 
besonders im Hinblick auf den ersten Lautier-, Lese- und Sprechunterricht in 
der Elementarklasse, der Flexionsmittel und der Gesetze des Satzbaues. — 
Wird das Französische mehr als Zweck gelernt, so das Englische als Mittel 
zum Zweck. Die Zierlichkeit des Französischen, seine Richtung auf das 
Formelle, Künstlerische, um nicht zu sagen bisweilen Gekünstelte, findet ein 
Gegengewicht in der geschäftsmäfsig gedrängten Kürze und in dem Zuge 
zum Natürlichen und Nützlichen im Englischen. Als Sprache des Realismus 
bildet das Englische eine wichtige Ergänzung zum deutschen Idealismus und 
französischen Formalismus. Wenn das Französische vornehmlich wichtig 
ist für den Lehrer durch den Gegensatz, in dem es als romanische Sprache 
zum Deutschen steht, so ist das Englische unendlich reich an wichtigen 
Aufschlüssen für das stammverwandte Deutsch, besonders auch in sprach- 
geschichtlicher und sprachvergleichender Beziehung. Während die fran- 
zösische klassische Litteratur im allgemeinen zur deutschen in scharfem Gegen- 
satze steht, ist es bezüglich des Verhältnisses zwischen unserer und der englischen 
Litteratur keine Überschwenglichkeit, was der Archidiakonus Sinclair am 31. Juli 
vorigen Jahres im Nachmittagsgottesdienste der St. Paulskirche zu London in 
seiner auf den Tod des Fürsten Bismarck bezugnehmenden Predigt sagte: *Kein 
Volk, mit Ausnahme desjenigen der Vereinigten Staaten, steht uns so nahe 
hinsichtlich der Religion, der Stammesverwandtschaft, der Gesittung und Lebens- 
führung wie das deutsche. Die Philosophie, die Dichtung, die Litteratur und 
die Musik der beiden Volksstämme sind das gemeinsame Eigentum beider. 



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0. Dost: Der neusprachliche Unterricht im Königreich Sachsen 437 

Angesichts so starker Bande der Verwandtschaft und des gemeinsamen Interesses 
versinken kleinliche Handelseifersüchteleien in Bedeutungslosigkeit.' Die gegen 
die französische Litteratur erhobenen sittlichen und patriotischen Bedenken 
können hier nicht einmal erhoben werden. Ferner mufs es für den Lehrer 
von hohem Interesse sein, in ihrer Litteratur den eigentümlichen Gang der 
Geschichte der beiden Kulturnationen verfolgen zu können und durch die 
Beschäftigung mit dem Englischen den Schlüssel zu einem weiten geographischen 
Ausblick zu erlangen. Nicht minder mufs der angehende Volksschullehrer 
günstig beeinflufst werden von der freien, vorurteilslosen, vorzugsweise induk- 
tiven Forschungsweise des vorwiegend auf Naturerkenntnis gerichteten englischen 
Geistes, der sich auch in der Poesie Englands offenbart. Schliefslich darf weder 
die reichhaltige pädagogische Litteratur Frankreichs noch diejenige Englands, 
von Amerika, wo dieses Gebiet besonders angebaut worden ist, ganz zu 
schweigen, vergessen werden. Während im Lateinischen meist nur Bruchstücke 
von Cäsar, Ovid und Cicero gelesen werden, können im Französischen und 
Englischen bald ganze Werke bewältigt werden, die den Geist der Schüler 
ganz anders mit neuen Ideen bereichern. Die Hauptsache aber ist, dafs der- 
selbe die Kraft und die Lust mit ins Leben hinausnimmt, die neusprachliche 
Lektüre fortzusetzen. 

Für die Sache der neueren Sprachen in Sachsen wäre die endgiltige Ein- 
führung des neusprachlichen Unterrichts im Seminar mit Freuden zu begrüfsen; 
seine Methodik würde dort unzweifelhaft gefordert werden; denn der Seminar- 
unterricht hat von Anfang an einen vorbildlichen Charakter für die Lernenden. 
Das ist einer der Gründe, die gegen den Reinschen Vorschlag sprechen, die 
Realschule zur Vorschule des Seminars zu machen und dieses zur pädagogischen 
Fachschule. Vom Standpunkte der Ausführbarkeit betrachtet, könnte Sachsen 
mit seinen vielen Realschulen den Versuch wohl wagen; aber wichtige päda- 
gogische und andere Bedenken stehen dem entgegen. Gotha hat vor Jahren 
den Versuch gemacht; er ist mifsglückt, und in Sachsen ist es letztes Ostern 
in Dresden nicht einmal zum Versuch gekommen. Es bleibt also nur die Ein- 
führung der neueren Sprachen ins Seminar übrig und zwar als Pflichtfach. 
Der Unterricht in diesem Fache müfste auch dort, ja dort noch notwendiger 
als in Real- und Handelsschulen, wissenschaftlich gebildeten Neuphilologen 
übertragen werden. 

Wenn ich gesagt habe, dafs die Methode des neusprachlichen Unterrichts 
durch seine Aufnahme in den Seminarlehrplan gefördert werden würde, so habe 
ich damit nicht sagen wollen, dafs Sachsen in dieser Beziehung zurück- 
geblieben sei. Schon die in unseren Schulen meist gebrauchten Lehrbücher 
deuten auf den Fortschritt hin, den Sachsen auch in dieser Beziehung gemacht hat. 

Gymnasien: Plötz-Kares, Börner und Deutschbein für Gymnasien. 

Realgymnasien: Plötz-Kares, Börner ; Deutschbein, Gesenius-Regel, Thiergen. 

Realschulen: Plötz-Kares, Börner und Deutschbein. 

Volksschulen: Enkel -Klähr-Steinert, Börner, Reum, Pünjer, Bierbaum, 
Rofsmann-Schmidt, Plötz; Plate, Thiergen, Deutschbein, Fehse. — Aufser diesen 
Lehrbüchern finden in allen Schulgattungen Hölzeis Bildertafeln häufige Verwendung. 



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438 0. Dost: Der neusprachliche Unterricht im Königreich Sachsen 

Aus dem Gebrauche dieser Bücher ist der allmähliche Übergang von der 
alten synthetischen zur analytischen direkten Methode zu erkennen. Am kon- 
servativsten sind aus leichterklärlichen Gründen Realschulen und Gymnasien 
geblieben; in der Mitte stehen die Realgymnasien, bei den Volksschulen berühren 
sich die Extreme. Ziel und Methode richten sich dort nach den örtlichen 
Bedürfnissen und Anforderungen. Aber fast überall ist das Bestreben unver- 
kennbar, die Resultate der Phonetik vorsichtig zu benutzen, vom Nächstliegenden 
auszugehen, den Übungen sittlich-wertvolle, inhaltreiche, über Land und Leute 
Frankreichs und Englands belehrende Stoffe zu Grunde zu legen und den 
freien Gebrauch der Sprache zu fördern, ohne das Hin- und Herübersetzen, also 
den Vergleich mit der Muttersprache, aufzugeben. Da der Mensch doch nun 
einmal nur eine Muttersprache hat, so ist diese nicht nur der natürliche Aus- 
gangspunkt des fremdsprachlichen Unterrichts, sondern Vervollkommnung in 
der Muttersprache ist mindestens der Beherrschung der fremden gleichzuachten. 
In der fremden Sprache denken, ist zumal auf der Stufe des Lernens eine 
sehr gewagte Forderung. Der Irishman, der gefragt, ob er französisch 
könne, antwortete: *0 ja, aber auf Irisch' hatte gar nicht so unrecht. Gewifs 
soll die dem neusprachlichen Lehrer zur Verfügung stehende Zeit möglichst 
zur Übung in der fremden Sprache ausgenützt werden, und er mag sich 
so viel als möglich der Sprache bedienen, aber nur so lange er sicher 
ist, dafs sie verstanden wird, dafs der Schüler das Gelesene oder Gehörte 
im stillen in sein geliebtes Deutsch übertragen hat, sonst hat die Mutter- 
sprache laut einzutreten. Doch über das Methodische will ich mich kurz fassen 
und auf wenige Zusätze beschränken. 

Wenn ein jugendlicher Fachgenosse in überschäumender Begeisterung für 
seinen Beruf seinen methodischen Ideen die Zügel schiefsen läfst, so steht ihm 
dies besser als greisenhafte Gleichgiltigkeit. Zeit und Berufsthätigkeit werden 
bald genug seinen Ton herabstimmen. Stürmt er gegen leitende Personen, die 
die Verantwortung fürs Ganze tragen und die daher Neuerungen vorsichtig 
zögernd gegenüberstehen, so wird er bald die Erfahrung machen wie der 
Sturm mit dem Wanderer, der seinen Mantel fester anlegte, statt ihn ab- 
zulegen. Vielleicht wäre das jugendliche Feuer schon auf der Universität etwas 
gezähmt worden in einer Übungsschule nach Herbart'schem System, dem 
besten, so lange es kein besseres giebt, wo er dadurch in strenger didaktischer 
Zucht gehalten worden wäre, dafs er jede einzelne seiner unterrichtlichen Mafs- 
nahmen einem ethischen und psychologischen Grundgedanken hätte unter- 
ordnen müssen. Hätte er dann nach bestandener wissenschaftlicher Staatsprüfung 
und zwei- bis dreijähriger Thätigkeit noch eine auf die Schulpraxis gerichtete 
Prüfung vor einer Kommission von Schulmännern zu bestehen, so dürfte sein 
Geist in methodischer Beziehung so gefestigt sein, dafs er ruhig dem Dienste 
der Schule und seiner eigenen Fortbildung überlassen werden könnte, ohne 
Gefahr zu laufen überzuschäumen. 

Die Pädagogik Herbarts, die einst in Leipzig ihren Mittelpunkt und aufser 
in Thüringen in Sachsen grofse Verbreitung ^gefunden hat, hat vielleicht den 



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0. Dost: Der neusprachliche Unterricht im Königreich Sachsen 439 

Anstofs zur Reform des neusprachlichen Unterrichtes gegeben , d. h. zu dem 
Bestreben, jeder Sprache die ihrem Wesen eigene Methode zu geben. In diesem 
Sinne hat bereits in den 70er Jahren Wernecke über die Methode des Eng- 
lischen in der sächsischen Realschulmännerversammlung zu Zwickau gesprochen. 
Da überhaupt die Reformbestrebungen auf dem Gebiete des neusprachlichen 
Unterrichtes in innigem Zusammenhange stehen mit der Schulreform- 
bewegung insofern, als diese die neueren Bildungsmittel in ihrem wahren 
Bildungswesen darzustellen sucht, so darf nicht übersehen werden, dafs der 
1873 bei Gelegenheit der 1. allgemeinen deutschen Realschulmannerversammlung 
zu Gera gegründete sächsische Realschulmännerverein sich um die Sache 
der neueren Sprachen in Sachsen unbestreitbare Verdienste erworben hat schon 
vor der Reformbewegung. Wenn der neuphilologischen Lehrerschaft Sachsens 
der Vorwurf gemacht worden ist, dafs sie sich in geringer Zahl an den 
deutschen Neuphilologenversammlungen beteiligt und überhaupt bei dem Toben 
des Kampfes um die Methode eine mehr beobachtend-zuwartende Haltung 
eingenommen habe, so läfst dies noch keinen Schlufs zu auf eine geringere 
Strebsamkeit der sächsischen neuphilologischen Lehrerschaft, noch viel weniger 
auf eine weniger erfolgreiche Arbeit in der Schule. Der Lehrer neuerer 
Sprachen wird, wenn er es ernst meint mit seiner Aufgabe, von amtlicher und 
— die Kollegen aus den Industriestädten mit lebhaftem Export werden mir 
dies bestätigen — häufig genug noch aufseramtlicher Berufsarbeit dermafsen 
in Anspruch genommen, dafs er der kurzen Ferienzeit dringend bedarf zur 
Sammlung neuer Kraft, will er sich nicht allzu früh verbrauchen. Schliefslich 
ist es doch auch besser, nach einer guten d. h. auf Nachdenken und gründ- 
licher Vorbereitung beruhenden Methode zu unterrichten, als viel von einer 
guten Methode zu reden. Wir können der Regierung nur dankbar sein, 
dafs sie aus dem fortdauernden Widerstreit der Meinungen den Schlufs zieht, 
es sei geraten, auch in dieser Angelegenheit so zuwartend und besonnen 
vorzugehen, wie sie es sonstwo gethan, und sich zunächst damit begnügt, 
unter Hinweis auf das höchste Ziel allen Unterrichts vor zu einseitigen 
Richtungen zu warnen, anderseits es aber auch anzuerkennen, wenn dieses 
Ziel auch auf abweichenden Wegen erreicht wird. Sagt doch selbst der 
Fachmann unter den Geheimräten, Dr. W. Münch, auf der Wiener Versamm- 
lung: c Die Behörde kann nicht anordnen: Unterrichtet nach diesem Pro- 
gramm. Denn die Folge würde sein, dafs recht viele Lehrer einen recht 
geistlosen Unterricht gäben.' Das wäre indessen noch nicht die schlimmste 
Folge. Abgesehen davon, dafs solche Anordnungen der Behörde oft übertreten 
werden müfsten und zwar nicht von den schlechtesten unter uns, würde der 
Schein zuweilen an Stelle des Seins treten in dem im Hamlet angedeuteten 
Sinne. Nichts ist jedoch von so verheerender Einwirkung auf jugendliche 
Seelen, als eine unwahre, charakterlose, selbstsüchtige Persönlichkeit, so wie kein 
Einflufs tiefer, nachhaltiger und segenbringender ist als der eines offenen, lebens- 
vollen, warmherzigen Charakters. Keine didaktische Kunst kann, wie wir 
aus unserer Schulzeit wissen, die Macht der Persönlichkeit ersetzen. 



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440 O. Dost: Der neusprachüche Unterricht im Königreich Sachsen 

Darum keine Versuche bureaukratischer Gleichmacherei, kein gegenseitiges 
Herabziehen unter Kollegen, Schulen, Schulgattungen und Staaten, sondern 
wohlwollendes Erfassen der Eigenart eines jeden, gegenseitige Wertschätzung 
und kameradschaftliches Zusammenwirken nach dem Beispiele unserer Heere 
von 1870! 

Jetzt steht Sachsen im Verein mit dem gesamten Deutschland in wachsen- 
dem friedlichen Verkehre mit der Welt; jeder Staat hat seinen Teil daran, der- 
jenige Sachsens ist nicht der geringste. Die Folge ist, wie ich nachzuweisen 
mich bemüht habe, die zunehmende Verbreitung und Vertiefung des Unterrichts 
in den neueren Sprachen. 



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ZUR PHYSIOLOGIE UND PSYCHOLOGIE IN DER PÄDAGOGIK 

Von Wilhelm Koppelmann 

Schäfer, Rudolf, Lic. theol. Die Vererbung. Ein Kapitel aus einer zukünftigen psycho- 
physiologischen Einleitung in die Pädagogik. Berlin, Reuther & Reichard, 1898. 112 S. 

Im Anschlufs an Beneke führt Schäfer in der Einleitung aus, dafs eine 
der wichtigsten Fragen für die Pädagogik die sei: 'Was findet der Erzieher 
vor bei dem Beginnen seines Werkes?' Zur Beantwortung derselben sei neben 
der Psychologie die von der Pädagogik bisher sehr vernachlässigte Physiologie 
von grofsem Nutzen; es sei für die Zukunft als Ziel hinzustellen, dafs "diese 
beiden Wissenschaften die gemeinsame Grundlage der pädagogischen Wissen- 
schaft bilden/ Man müsse aber über die von Beneke formulierte Frage noch 
hinausschreiten und weiter fragen: 'Wie ist das geworden, was sich dem Er- 
zieher darbietet. Denn was derselbe beim Beginne seines Erziehungswerkes 
vorfindet, das ist schon das Resultat einer Entwicklung, die geistigen und 
leiblichen Anlagen sind von den Eltern in gewissem* Sinne ererbt; wenn der 
Erzieher daher das Kind richtig verstehen will — und das ist doch nötig — 
so kann er nicht anders, als sich mit dem Entwickelungsprozefs, der schon 
hinter dem Kinde liegt, zu beschäftigen, sein Wesen und Werden zu ergründen 
zu suchen. Daher wird auch die Aufmerksamkeit des Erziehers auf die Zeit 
zu richten sein, die das Kind in seinem fötalen und embryonalen Zustande 
durchlebt hat, denn in diesem intrauterinen Leben werden die Grundlagen der 
ganzen späteren Lebensentwickelung gelegt, hier wird schon entschieden über 
die Anlagen leiblicher und geistiger Natur, die die Mitgift für das Leben des 
Kindes sind, und alles, was das Kind in seinem Leben noch dazu erwirbt, ist 
nur die Weiterbildung des Keimes und der Anlagen, die es im Mutterschofs 
erhalten hat (S. 6)/ 

Nach einer Erörterung darüber, welchen Umfang die physiologische Hand- 
reichung für den Pädagogen anzunehmen habe, behauptet Schäfer dann weiter: 
'Der Erzieher kann, wenn er sich mit der Kenntnis dieser Dinge vertraut 
gemacht hat, wirklich individuell erziehen, nämlich sich Rechenschaft geben, 
warum und unter welchen Verhältnissen das Kind so geworden ist, wie er es 
vorfindet, und darnach seine Mafsnahmen treffen (S. 8).' Er selbst greift aus 
der von ihm umschriebenen 'pädagogischen Propädeutik' ein Kapitel, 'und zwar 
ein sehr interessantes und für Erziehung und Unterricht wichtiges', die Lehre 
von der Vererbung, heraus, die er in folgenden Abschnitten behandelt: 



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442 W. Koppelmann: Zur Physiologie und Psychologie in der Pädagogik 

I. Die Vererbung (im engeren Sinne). 
II. Die erbliche Veränderung. 
HI. Der Anteil von Mann und Weib bei der Zeugung. 

IV. Die Entstehung und Vererbung individueller Eigenschaften und 
Krankheiten. 

V. Degenerescenz und Abschwächung der erblichen Anlage. 

Seh. verhält sich im wesentlichen referierend, fahrt uns die in den wich- 
tigsten Punkten weit auseinandergehenden Ansichten der einzelnen Forscher 
vor, ja greift sogar in geschichtlichen Rückblicken bis in das Mittelalter und 
Altertum zurück. 1 ) Nun bezweifle ich nicht im mindesten, dafs dies an sich 
ganz interessant, und die Kenntnis dieser Dinge in gewisser Hinsicht auch 
nützlich ist, vermisse aber sehr den Nachweis der Bedeutung derselben für die 
Pädagogik, welcher doch gerade die Hauptsache gewesen wäre. 'Die bescheidene 
Studie, die ich mit dieser Schrift darbiete, habe ich durch Mitteilung von 
eigenen Erfahrungen aus meiner nicht ganz kurzen Erziehungspraxis absichtlich 
nicht erweitern wollen', heifst es im Schlufswort. Ja, warum denn nicht? 
Seh. wünscht doch sogar physiologische Belehrungen in den Lehrplan der Volks- 
schullehrerseminarien eingeführt zu sehen und meint, es sei c ein sicherer Erfolg 
der Erziehungs- und Unterrichtseinwirkungen von der Erwerbung und prak- 
tischen Verwendung dieser aus der Psychologie und Physiologie des Kindes 
geschöpften Kenntnisse zu erwarten' (S. 15). Und im Vorwort betont er, 
dafs die Studien, aus denen seine Schrift erwachsen sei, ihm bei seinem Unter- 
richt wie bei der Erziehung 'sehr nützlich' seien. Sehr interessant ^äre es 
gewesen, darüber Nähere's zu erfahren, und ich möchte dem Verfasser aus- 
drücklich nahelegen, das Versäumte nachzuholen. 

Eins allerdings sagt Schäfer uns klar heraus (an der oben angeführten 
Stelle, ferner S. 81 und 102, indirekt auch an anderen Stellen), dafs der 
mit physiologischen Kenntnissen ausgestattete Pädagoge 'wirklich individuell* 
erziehen könne. Ob diese Ansicht richtig ist, scheint mir jedoch mehr als 
fraglich. Die Voraussetzung einer erfolgreichen 'individuellen' Erziehung ist 
zu allererst eine genaue Bekanntschaft mit den körperlichen und geistigen 
Eigentümlichkeiten des betreffenden Kindes. Diese wird aber durch die 
Kenntnis der Ergebnisse der Physiologie, obgleich sie natürlich zur richtigen 
Beurteilung unter Umständen nützlich sein können, ebensowenig unmittelbar 
gegeben wie durch eine noch so gute Ausbildung auf dem Gebiete der Psycho- 
logie, Ethik und Medizin. Nur genaue Beobachtung des Kindes und Erkun- 
digungen nach seinem Vorleben uud den häuslichen Verhältnissen, in denen es 
sich bewegt, können hier zum Ziele führen. Und was im besonderen die von 
Seh. so hochgeschätzte Kenntnis der modernen Vererbungstheorien betrifft, so 
wird auch der auf diesem Gebiet ausgezeichnet orientierte Lehrer sehr selten 

*) Ich will auf die Einzelheiten nicht eingehen, aber doch im vorbeigehen erwähnen, 
dafs bei der einfachsten Art der Fortpflanzung, der Teilung, sich die Organismen keines- 
wegs 'einfach in zwei ganz gleiche Hälften' teilen, sondern dafs dies in Wirklichkeit ein 
sehr komplizierter, durchaus noch nicht aufgeklärter Vorgang ist. 



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W. Koppelmann: Zur Physiologie und Psychologie in der Pädagogik 443 

in der Lage sein, die Eltern und die internen ehelichen Vorgänge, die für die 
Entwickelang des Kindes von Bedeutung gewesen sind, so genau kennen zu 
lernen, dafs er aus den ohnehin unsicheren und schwankenden Theorien Nutzen 
ziehen könnte. 

Da indessen die Bedeutung der Physiologie für die Pädagogik von vielen, 
z. T. hervorragenden, Schulmännern neuerdings stark betont wird, so möchte ich, 
auf die Gefahr hin, für rückständig zu gelten, noch eine Bemerkung mir erlauben. 
Ich bin durchaus nicht blind gegen die Bedeutung der modernen Physiologie 
und Biologie. Ich weifs, in wie hohem Mafse unsere Weltanschauung durch 
die Ergebnisse dieser Wissenschaften beeinflufst wird, und habe aus diesem 
Grunde ihre Fortschritte, als bescheidener Laie natürlich, mit Interesse verfolgt. 
Ich gebe auch zu, dafs sie für einige Unterrichtszweige, insbesondere für den 
Elementar- und elementaren Sprachunterricht, von Bedeutung werden können, 
ebenso dafs auf die körperlichen Voraussetzungen der geistigen Leistungsfähig- 
keit und die körperliche Bedingtheit mancher Jugendfehler bisher meistens 
nicht die nötige Rücksicht genommen ist. Das Streben, hier Besserung her- 
beizuführen, ist gewifs verdienstlich, obgleich die Aneignung physiologischer, 
medizinischer und psychiatrischer Kenntnisse uns Lehrern, für die andere 
Dinge doch nun einmal die Hauptsache bleiben, immer nur in aufserordentlich 
bescheidenem Mafse wird zugemutet werden können und zudem eine gründ- 
lichere Reinigung unserer Schulen und die Bewilligung der dazu nötigen Mittel, 
vorläufig noch nötiger und nützlicher sein würde. Aber wie gesagt, ich habe 
nichts gegen Physiologie und physiologische Psychologie; mag man so viel 
Nutzen für Erziehung und Unterricht daraus schöpfen wie möglich. Nur 
dagegen möchte ich protestieren, dafs man neuerdings die Sachlage manchmal 
so darstellt, als ob mit der gröfseren Beachtung der Physiologie jetzt eine neue 
Epoche in der Pädagogik beginnen werde. Da lese ich z. B. in einem, ich 
weifs nicht von wem verfafsten Prospekt, mit dem eine um die pädagogische 
Litteratur verdiente Buchhandlung ihre 'Sammlung von Abhandlungen aus dem 
Gebiet der pädagogischen Psychologie und Physiologie' (herausgegeben von 
Schiller und Ziehen) ankündigt, folgendes: 'Die Thatsache, dafe alle psychischen 
Prozesse mit einem Organ unseres Körpers, dem Gehirn, in engstem Zusammen- 
hang stehen, ist in der Psychologie der Pädagogik noch kaum zur Geltung 
gekommen. Die pädagogische Behandlung richtete sich daher leider oft aus- 
schliesslich auf ganz metaphysische Seelen. Erst durch den Zusammenhang mit 
dem Gehirn werden die seelischen Vorgänge des Kindes uns zugänglich.' Ich 
frage: welcher halbwegs vernünftige Pädagoge hat jemals seine Behandlung auf 
'ganz metaphysische Seelen' gerichtet? Das Objekt der Behandlung sind meines 
Erachtens die empirischen Seelen der Jungen gewesen, wie man sie durch 
Beobachtung kennen lernte, und daran wird sich auch in Zukunft nichts 
Wesentliches ändern. Es ist auch gar nicht wahr, zum mindesten eine starke 
Übertreibung, dafs, wie es so schön ausgedrückt ist, 'erst durch den Zusammen- 
hang mit dem Gehirn die seelischen Vorgänge des Kindes uns zugänglich 
werden/ Auch die empirische Psychologie ist im wesentlichen auf das Studium 



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444 W. Koppelmann: Zur Physiologie und Psychologie in der Pädagogik 

der 'seelischen Vorgänge' angewiesen und nicht auf die Hirnphysiologie. Was 
bei der übertriebenen Hochschätzung der Bedeutung der Physiologie und phy- 
siologischen Psychologie für die Pädagogik herauskommt, das zeigt in recht 
charakteristischer Weise die Abhandlung von Jul. Baumann über c Willens- und 
Charakterbildung auf physiologisch-psychologischer Grundlage* (3. Heft ersten 
Bandes der oben genannten Sammlung). Die physiologischen Erörterungen in 
den ersten Abschnitten haben hier lediglich dekorative Bedeutung. Was Bau- 
mann über Willens- und Charakterbildung zu sagen weifs, hätte er ebensogut 
ohne jene c Grundlage' vorbringen können, das Verständnis dieser späteren 
Kapitel, in denen nur an einzelnen Stellen anstandshalber an die Physiologie 
erinnert wird, wäre dadurch nicht im mindesten erschwert worden. Auch hat 
das Bestreben, alles Psychische auf physiologische Grundlagen zurück- 
zuführen, bei ihm, allerdings auch bei anderen, zu einer ganz unhaltbaren 
Auffassung und Definition des Willens geführt. Am deutlichsten tritt das 
hervor S. 28, wo es heilst: f Einen Vorgang, wo auf Vorstellung und Wert- 
schätzung geistige oder geistig-leibliche Bethätigung eintritt, nennen wir Wille 
und willkürliche Handlung.' Ich bestreite entschieden, dafs wir irgend einen 
Vorgang Wille nennen. Wille und willkürliche Handlung werden, wie es 
scheint, von Baumann einfach identifiziert. In Wirklichkeit sind aber Wille 
und gewollte Handlung grundverschieden. Wenn ein vom Schlagflufs Gelähmter 
einzelne Glieder nicht bewegen kann, so kann sein Wille sehr intakt und sehr 
energisch sein, die Organe gehorchen ihm nur nicht. Dasselbe gilt von 
Aphasie und ähnlichen krankhaften Zuständen. Es ist eine gefährliche Begriffs- 
verwirrung, die im Verein mit anderem schliefslich zur Verkennung der Selb- 
ständigkeit des Geistes gegenüber dem Körper führt, wenn man das Wollen 
nicht sorgfältig als etwas ganz Heterogenes von der Ausführung einerseits und 
dem psychischen Reiz anderseits scheidet. Auch Ausdrücke wie: Bedingtheit 
des Handelns und damit des Willens* (S. 13) oder: 'Wenn der Wille durch 
Herbeiführung einer langen Reihe von Bewegungen ermüdet ist' (S. 14) oder: 
'Leistungsfähigkeit des Willens' (S. 15) sind zum mindesten irreführend. 
Doch ich entferne mich zu weit von unserem Gegenstande. Ich glaube, 
um zum Schlufs meine Meinung kurz zusammenzufassen, dafs die Physiologie 
für die Pädagogik niemals eine grundlegende, sondern stets nur eine subsidiäre 
Bedeutung haben wird. 

Baldwin, James Mark, Prof. der Psychologie an der Universität Princeton. Die Ent- 
wickelung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse. Nach der dritten engl. 
Ausgabe ins Deutsche übersetzt von Dr. A. E. Ortmann. Nebst einem Vorwort von 
Th. Ziehen, Prof. an der Universität Jena. Mit 17 Figuren und 10 Tabellen. Berlin, 
Reuther & Reichard, 1898. 470 S. 

Von den fünf Rezensionen dieses Buches, die ich ganz oder zum Teil 
gelesen habe, lauten vier anerkennend oder sehr anerkennend. Dagegen verhält 
sich W. Ament in einer ausführlichen Besprechung in der Zeitschrift für Philo- 
sophie und phil. Kritik sehr kühl und schlägt den Wert des Werkes ziemlich 
niedrig an. Ich gestehe gleich von vorn herein, dafs ich diese Ansicht teile. 



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W. Koppelmann: Zur Physiologie und Psychologie in der Pädagogik 445 

Der anspruchsvolle Titel wird durch den Inhalt keineswegs gerechtfertigt, vor 
allem aber begreife ich nicht, wie man Baldwins Ausführungen grofse Wichtig- 
keit für den Lehrer und Erzieher beilegen kann (so die Besprechung in der 
Zeitschrift für lateinlose höhere Schulen und in der 'Praxis der Volksschule'). 
Doch wenden wir uns dem Inhalt des Buches zu. 

Baldwin steht ganz auf dem Boden der Entwickelungslehre. Wie der 
Mensch körperlich nur eine besonders hohe Stufe in der Gesamtentwickelung 
der Lebewesen aus den einfachsten Anfängen darstellt, so ist auch der mensch- 
liche Geist aus niedrigeren Stufen im Tierreich allmählich entwickelt. Es 
handelt sich für Baldwin im Grunde um das Problem f der phylogenetischen 
Entwickelung des Bewufstseins in allen Tieren aufwärts bis zum Menschen* 
(S. 14). Dies soll auch der Titel anzeigen, 'Entwickelung des Geistes beim 
Kinde und bei der Rasse'. Unter Rasse versteht nämlich B. nicht etwa 
Stamm oder Volk, sondern die Gesamtheit der Lebewesen, welche die Ahnen- 
reihe des Menschengeschlechts bilden. Von der Entwickelung des Geistes bei 
der Rasse ist übrigens, nebenbei bemerkt, in dem Buche aus naheliegenden 
Gründen wenig die Rede. Die Bedeutung, welche im Zusammenhang solcher 
und ähnlicher Spekulationen die Kindespsychologie besitzt, wird verständlich, 
wenn man sich daran erinnert, welche Rolle bei den Vertretern der Entwicke- 
lungslehre die Ontogenesis als abgekürzte Wiederholung der Phylogenesis spielt. 

Man sieht schon aus diesen Andeutungen, wohin eigentlich die Forschungen 
Baldwins, der sich besonders an Spencer und Romanes angeschlossen hat, 
zielen. Hinzuzufügen ist nur noch, dafs konsequenterweise die Erscheinungen 
des bewufsten Lebens, auch das Wollen, als blofse Weiterentwickelungen des 
unbewufsten aufgefafst werden. 

Es ist hier nicht der Ort, diese Ideen kritisch zu beleuchten. Sehen wir 
lieber zu, was uns Baldwin über die Entwickelung des Geistes beim Kinde 
Positives und Neues zu sagen weift. 

Ziehen, welcher die deutsche Übersetzung von Baldwins Werk mit einem 
Vorwort versehen hat, rühmt Preyer nach, dafs er zuerst in die kindliche 
Psychologie die 'fruchtbaren neuen Methoden' eingeführt habe. Doch schildere 
er im wesentlichen nur die systematischen Beobachtungen an einem einzigen 
Kinde. 'Es war die Seelenentwickelung eines Kindes, nicht die Psychologie 
des Kindes*. Diese scheint nach seiner Meinung Baldwin dargestellt zu haben. 
Ich kann nun allerdings nicht finden, dafs Baldwin sich in dieser Hinsicht 
wesentlich von Preyer unterscheidet: bei ihm sind es zwei Kinder, und auch 
diese hat er nach meiner Meinung ziemlich einseitig studiert. Er hat nämlich 
die Entwickelung seiner beiden Kinder, H. und E., während der ersten Lebens- 
jahre genau überwacht, allerlei sonst der Mutter und Wärterin überlassene Dienste 
bei ihnen verrichtet und sie dabei mit dem Auge des Psychologen beobachtet. 
Ich sage absichtlich: mit dem Auge des Psychologen, denn, wie B. behauptet, 
ist nur der Psychologe im stände, das Kind zu 'beobachten', nicht etwa die 
'Durchschnittsmutter' und der f Durchschnittsvater.' Von diesen hat B. eine 
sehr geringe Meinung. Die Durchschnittsmutter weifs angeblich 'über den 



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446 W. Koppelmann: Zur Physiologie und Psychologie in der Pädagogik 

menschlichen Körper noch weniger als über den Mond oder eine wilde Blume', 
und der Durchschnittsvater bekommt sein Kind 'täglich etwa eine Stunde lang, 
wenn es schön angezogen ist, zu Gesicht', hat aber 'niemals in seinem Leben 
mit ihm in demselben Zimmer geschlafen' (S. 35). Die Durchschnittsmutter 
'mag eine Familie von einem Dutzend aufziehen und kann doch nicht im stände 
sein, eine einzige zuverlässige Beobachtung zu machen, während er — der Psy- 
chologe nämlich — es vermag, aus einem einzigen Laut eines Ein- 
jährigen Theorien des Neurologen und Erziehers zu bestätigen, die für die 
zukünftige Schulung und Wohlfahrt des Kindes von grofser Bedeutung sind'. 
Kein Wunder, wenn er sein Urteil hoch über das der Durchschnittsväter und 
-mütter stellt. Auch das psychologische Verständnis der Lehrer schätzt Baldwin 
nicht sonderlich hoch ein. Er hält es für 'sehr wahrscheinlich, dafs von je 
drei Kindern zwei in der Schule in nicht wieder auszugleichender Weise in 
ihrer geistigen und moralischen Entwicklung geschädigt und gehindert werden'. 
Als höflicher Mann erklärt er jedoch, durchaus nicht sicher zu sein, 'dafs wir 
besser fahren würden, wenn wir die Kinder zu Hause behielten' (S. 37). 

Baldwin hat sich nun nicht darauf beschränkt, mit dem durchdringenden 
Blick des Psychologen zu beobachten, sondern er hat auch mit seinen beiden 
Kindern Experimente angestellt, und zwar über 'Entfernungs- und Farbenwahr- 
nehmungen', den 'Ursprung der Rechtshändigkeit', 'Bewegungen des Kindes' 
(malende Nachahmung etc.) und über 'Suggestion'. Da das von Preyer zu 
Grunde gelegte Sprechen der Kinder ein zu unsicherer Mafsstab für die Be- 
urteilung ihres Unterscheidens von Farben u. dergl. ist, so hat sich Baldwin 
an die Bewegungen des Kindes, besonders die Handbewegungen gehalten und so 
'eine neue Methode, das Kind zu studieren' gefunden. Er konstatiert z. B., wie 
oft und bis zu welchen Entfernungen sein Kind H. nach roten, blauen, grünen 
oder weifsen Papierstückchen langt, wobei sich in dem verschiedenen Verhalten 
zu den einzelnen Farben dann auch das Unterscheidungsvermögen zeigt. Die 
Resultate werden in Tabellen mitgeteilt, welche mit einer Reihe von Formeln 
und Figuren dazu dienen, dem Ganzen den nötigen 'exakten' Anstrich zu geben. 
Ahnliche Versuche hat B. über den vorwiegenden Gebrauch der rechten Hand 
angestellt, auch seine Kinder gezeichnete einfache Vorlagen nachahmen lassen. 
In dem Kapitel über 'Suggestion' führt er allerlei Beispiele von seinen Bändern 
und von Erwachsenen an, welche darthun, dafs das 'plötzliche Eintreten einer 
Idee oder eines Bildes oder eines unbestimmten, bewufsten Reizes von aufsen 
her ins Bewufstsein' die Tendenz hervorruft, 'Muskel- und WillensefFekte her- 
beizuführen, die auf ihre Gegenwart zu folgen pflegen'. Das versteht nämlich 
Baldwin unter Suggestion. Dabei kommen die den Müttern bekannten Methoden 
der Einschläferung kleiner Kinder, Reaktionen beim Erblicken der Michflasche, 
der für das Ausgehen bestimmten Kleidungsstücke und anderes zur Sprache. 
Viel Neues enthält das Kapitel nicht. Am Schlüsse desselben stellt Baldwin 
das 'Gesetz' — mit diesem Ausdruck ist er nicht sehr sparsam — der Dynamo- 
genesis auf, dafs auf jeden Reiz (im Organismus natürlich) eine Handlung folgt, 
und zwar entweder eine Gewohnheitshandlung oder eine Accommodation. Das 



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W. Koppelmann: Zur Physiologie und Psychologie in der Pädagogik 447 

c Gesetz der Gewohnheit' fafst Baldwin S. 445 folgendermafsen: ' Gewohnheit ist 
die Tendenz eines Organismus, Prozesse, die vital wohlthätig sind, immer 
leichter und leichter fortdauern zu lassen.' Das Wesen der Accommodation 
wird S. 447 mit folgenden Worten beschrieben: 'Accommodation ist das Prinzip, 
nach dem ein Organismus sich an mehr komplizierte Zustände der Reizung 
durch Leistung von mehr komplizierten Funktionen adaptiert. 7 

Diesen ersten Teil seines Werkes nennt Baldwin 'Experimentelle Begrün- 
dung*. Auf der am Schlufs gewonnenen theoretischen Grundlage baut sich 
dann der zweite Teil, 'Biologische Entwickelung', auf, eine den fruchtbaren 
Boden der Erfahrung mehr als billig verlassende naturphilosophische Speku- 
lation. Sie fliefst allmählich über in den dritten Teil, welchen Baldwin 'Psy- 
chologische Entwicklung* nennt. Was er mit den beiden Teilen bezweckt, ist 
schon im Eingang skizziert worden. Im dritten Teil tritt die Mitteilung von 
positiven Thatsachen aus dem Gebiet der Kindespsychologie, die man gerade hier 
erwarten sollte, fast gänzlich zurück; es ist meistens in ganz allgemeiner Weise 
die Rede von dem Ursprung des Gedächtnisses, des Denkens, des Affekts, ferner 
der Entstehung des Wollens, der innerlichen Sprache und des Gesanges und 
der Aufmerksamkeit. Diese Ausführungen sind oft recht oberflächlich; alles, 
u. a. auch die Moral, wird auf Nachahmung zurückgeführt. Auf Einzelheiten 
einzugehen, lohnt sich nicht, nur einen Irrtum, welcher nicht blofs bei Baldwin 
sich findet, sondern weitverbreitet ist, möchte ich bei dieser Gelegenheit be- 
richtigen. S. 475 heifst es: 'Der Mensch erwirbt die > Anschauungen« der 
räumlichen Beziehungen, und zwar so vollkommen, dafs Kant sie für angeboren 
hielt/ Ich verweise demgegenüber auf die ausdrückliche Erklärung Kants: 'Die 
Kritik erlaubt schlechterdings keine anerschaffenen oder angeborenen Vor- 
stellungen; alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder den Verstandes- 
begriffen gehören, nimmt sie als erworben an (Kants Werke, ed. Hartenstein, 
revidierte Ausgabe von 1867, Bd. VI, S. 37)/ Vergl. a. a. 0. S. 39: 'So ent- 
springt die formale Anschauung, die man Raum nennt, als ursprünglich 
erworbene Vorstellung/ 

So viel vom Inhalt des Buches. Die Darstellung ist schwerfällig, z. T. 
dunkel und durch viele überflüssige Fremdwörter entstellt. Wieviel davon auf 
Rechnung des Übersetzers zu schreiben ist, vermag ich nicht zu beurteilen. 

Für diejenigen, welche auf dem Gebiet der noch ganz in den Windeln 
liegenden Kindespsychologie thätig sind, mag das Werk Baldwins, dem grofse 
Gelehrsamkeit gewifs nicht abzusprechen ist, einigen Wert haben. Für den 
Lehrer und Erzieher — ich sage das in ausdrücklichem Widerspruch zu dem 
Vorwort Ziehens, welcher Vätern, Müttern und Lehrern das Buch als Weg- 
weiser empfiehlt — ist es nach meiner Überzeugung ohne Bedeutung. 



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DIE GESTALTUNG DES LATEINISCHEN UNTERRICHTS 
IM OBERBAU DES REALGYMNASIUMS NACH FRANKFURTER 

LEHRPLAN 

Von Julius Ziehen 

Da in Reinhardts grundlegender Schrift über c Die Frankfurter Lehrpläne' 
naturgemäfs nur ganz kurz (auf S. 46) von der Gestaltung des Lateinunterrichts 
in den drei Oberklassen des Realgymnasiums nach dem neuen Lehrplan die 
Rede ist, so wird es angesichts der zunehmenden Verbreitung des Frankfurter 
Lehrplans und des allmählichen Heranwachsens zahlreicher Oberklassen dieses 
Systems an verschiedenen Orten wohl zweckmäfsig sein, für die dreimal sechs 
wöchentlichen Stunden, die dem lateinischen Unterricht von Obersekunda bis 
Oberprima im Reinhardtschen Plan bestimmt sind, die Lehraufgabe und das 
Lehrverfahren einer näheren Betrachtung zu unterziehen oder einige darauf 
bezügliche Fragen zur Diskussion unter den Fachgenossen vorzulegen 1 ); es 
wird kein Schade sein, wenn dabei die grundsätzliche Frage nach der Stellung 
des Lateinischen im Gesamtplan des Realgymnasiums und damit die Frage 
nach der Daseinsberechtigung dieser ganzen Schulart gelegentlich leise ge- 
streift wird. 

Die kompaktere Gestaltung des Lateinunterrichts im Frankfurter Lehrplan 
bietet gegenüber dem staatlichen Lehrplan den grofsen Vorteil, daüs die Er- 
werbungen und Errungenschaften des Anfangsunterrichts in dieser Sprache noch 
kräftiger bis zum Abschlufs desselben Unterrichts nachwirken; Formenkenntnis 
und damit auch Exaktheit der Formenauffassung bei der Schriftstellerlektüre 
wird im Oberbau des Realgymnasiums nach Frankfurter Lehrplan viel leichter 
und viel intensiver bei den Schülern zu erreichen sein; es wird bei ziel- 
bewufstem Vorgehen von Anfang an keine Mehrbelastung der Schüler bedeuten, 
wenn die von Untertertia bis Untersekunda neuerlernte und wiederholte Formen- 
lehre durch die Aufnahme von etwa 20 Formenfragen in jede schriftliche 
Klassenarbeit dem Bewufstsein der Schüler erhalten bleibt; jeder Leser kann 
sich an der Hand etwa der lateinischen Formenlehre von Perthes -Gillhausen 
leicht klar machen, wie sich bei 14tägigen schriftlichen Arbeiten der Wieder- 
holungsstoff der Formenlehre in recht bequeme Einzelteile zerlegen läfst, die, 
auf ein Jahr berechnet, im Oberbau des Realgymnasiums also dreimal min- 
destens wiederkehren; dabei ist noch sehr in Betracht zu ziehen, dafs natürlich 

l ) Über den Lateinunterricht im Mittelbau des Realgymnasiums s. Bd. I S. 137 ff. dieser 
Zeitschrift. 



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J. Ziehen : Die Gestaltung des lateinischen Unterrichts im Oberbau des Realgymnasiums 449 

an sich schon die in Tertia gebrauchte 'Formenlehre' dem Schüler viel weniger 
zum Fremdkörper geworden ist als nach dem staatlichen Lehrplan das in 
Sexta und Quinta gebrauchte entsprechende Lehrbuch. 

Mutatis mutandis ganz Ähnliches gilt für die Syntax, und ich will unter 
Weglassung der Gedankengänge, die zu ihr hinführen, nur die Schlufsforderung 
hinsetzen, die das Schicksal der lateinischen Syntax im Oberbau des Real- 
gymnasiums nach Frankfurter Lehrplan betrifft: das Lehrbuch der Syntax 
bleibt im unausgesetzten Gebrauch von Obersekunda bis Prima, es dient, was 
die reichlicher bemessene Stundenzahl sehr wohl erlaubt, als feste Grundlage 
zu systematischen Wiederholungen, für die etwa eine halbe Stunde von den 
sechs wöchentlichen Stunden anzusetzen ist; da für exakte und zugleich prompte 
Auffassung der syntaktischen Erscheinung im Schriftstellertext der Besitz gut- 
gewählter Musterbeispiele für die einzelnen syntaktischen Regeln von der 
gröfsten Wichtigkeit ist, werden in jede der schriftlichen Klassenarbeiten einige 
dieser Sätze aufgenommen, die nach Angabe der Regel oder eines Parallel- 
beispieles für dieselbe Regel von den Schülern aus dem Gedächtnis 
niederzuschreiben sind. 

Diese Sätze und die obenerwähnten 20 Formen bilden eine Erweiterung 
der schriftlichen Klassenarbeiten gegenüber der üblichen Form, die mir durch 
das Wesen des Frankfurter Lehrplans erst recht ermöglicht und für die Stellung 
des Lateinischen am Realgymnasium im allerhöchsten Grade erwünscht zu sein 
scheint; was im übrigen die schriftlichen Arbeiten selbst anbetrifft, so ist 
Reinhardts Forderung (a. a. 0.) c von Obersekunda an alle 14 Tage eine schrift- 
liche Übersetzung aus dem Lateinischen' ohne weiteres anzunehmen; es mag 
dabei dem einzelnen Lehrer immerhin mit Rücksicht auf die Gesamtgestaltung 
des lateinischen Unterricht» im Frankfurter Lehrplan eher als beim staat- 
lichen Lehrplan möglich und sollte ihm darum auch unbenommen sein, ge- 
legentlich auch in den Oberklassen eine Übersetzung aus dem Deutschen ins 
Lateinische ganz oder teilweise zum Gegenstand der schriftlichen Arbeit zu 
machen; dafe das nicht im Übermais geschieht, dafür wird schon die Rücksicht 
auf die Art der Aufgabe beim Abiturientenexamen sorgen. Für den gesamten 
der Grammatik und den schriftlichen Arbeiten gewidmeten Teil des Latein- 
unterrichts in den Oberklassen würde ich vorschlagen, zwei von den sechs 
Stunden anzusetzen; in der Obertertia des Realgymnasiums sind nach Reinhardts 
Plan fünf Stunden der Lektüre, drei den grammatischen und schriftlichen 
Übungen zu widmen; dies Verhältnis würde sich für die drei Oberklassen, was 
ja wohl auch sachgemäß ist, nach dem oben gemachten Vorschlag etwas zu 
Gunsten der Lektüre verschieben; ich halte für sehr wohl möglich, dafs ein 
dazu besonders geschickter Lehrer von diesen zwei Stunden sogar noch einen 
Teil auf statarische Lektüre mit Betonung der grammatischen Seite verwendet. 

Es bleiben je vier Stunden von Obersekunda bis Oberprima für die Lektüre 
Übrig; ihr Stoff ist nach Reinhardts Entwurf für Obersekunda Sallust oder 
Curtius und Ovid, für Prima Livius, Cicero und Virgil, wobei zu bemerken 
ist, dafs nach demselben Entwurf Cäsars Bellum Gallicum den Lesestoff der 

Neue Jahrbücher. 1899. II 29 



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450 J- Ziehen: Die Gestaltung des lateinischen Unterrichts im Oberbau des Realgymnasiums 

Untersekunda, Vogel -Jahrs Nepos plenior den der Obertertia bildet. Bei der 
praktischen Durchführung des Versuches in Frankfurt ist zu Gunsten der An- 
gleichung des Realgymnasiums an das Gymnasium von vornherein an diesem 
Entwurf eine kleine Änderung vorgenommen worden insofern, als von dem 
Nepos plenior ganz abgesehen , dafür schon in Obertertia mit dem Bellum 
Gallicum begonnen und demzufolge auch schon in Untersekunda Ovid gelesen 
wurde. Für die Frage der Lektüre in den Oberklassen bedeutet dies nur, 
dafs durch Vorwegnahme eines Teils der Ovidlektüre durch die Untersekunda 
oben etwas mehr Platz gewonnen ist; auch wird die Beseitigung des Nepos 
plenior mit seinem Lesestoff aus der griechischen Geschichte an Stelle der 
Alternative 'Sallust oder Curtius' vielleicht das unbedingte Nebeneinander der 
beiden Schriftsteller wünschenswert erscheinen lassen; in Prima hat an zahl- 
reichen Realgymnasien auch Horaz eine bescheidene Stelle, die man ihm wohl 
auch im Frankfurter Lehrplan an sich wohl lassen kann; ein Gleiches hat für 
Tacitus zu gelten. 

Die Frage des lateinischen Lesestoffes für die Oberklassen des Real- 
gymnasiums scheint mir gegenüber den Bestimmungen der staatlichen Lehr- 
pläne und Lehraufgaben, denen sich Reinhardt natürlich zunächst anschloß, in 
manchen Punkten einer neuen Beleuchtung bedürftig, z. B. ist, um vom Nega- 
tiven abzusehen, die Möglichkeit, den lateinischen Fachschriftstellern einen be- 
scheidenen Platz zu gönnen, vielleicht der Erwägung wert. 1 ) Obwohl sich Er- 
wägungen dieser Richtung gegenüber den sechs Stunden lateinischen Unterrichts, 
die der Frankfurter Lehrplan dem Oberbau des Realgymnasiums giebt, ent- 
schieden besseren Mutes anstellen lassen als gegenüber den vier Lateinstunden 
der drei Oberklassen nach staatlichem Lehrplan, so soll hier doch von allen 
Abänderungsgedanken völlig abgesehen und zunächst auf der Grundlage des 
von Reinhardt entworfenen und oben besprochenen Lektüreplans nur das Wie 
der lateinischen Schriftstellerlektüre in II bis I des Realgymnasiums nach 
Frankfurter Lehrplan noch kurz besprochen werden* 

Die Betrachtung dieses Wie mufs in Erinnerung an das, was oben über 
den Betrieb der Grammatik in denselben Klassen gesagt wurde, in dem Satze 
gipfeln, dafs genaues grammatisches Verständnis sowie exakte Auffassung und 
Übersetzungswiedergabe des lateinischen Wortlautes konsequent und unerbitt- 
lich zu fordern sind; die Forderung braucht angesichts der reicher bemessenen 
Stundenzahl des Lateinischen in dem neuen Lehrplan den Vorwurf der Un- 
durchführbarkeit sicher nicht zu scheuen; da die in den Zeitungen so oft breit- 
getretene Lehre von der Wertlosigkeit der Originallektüre beim Vorhandensein 
'gleichwertiger' Übersetzungen der kontrebandenen Heranziehung auch minder- 
wertiger Übersetzungen durch die Schüler, unabsichtlich freilich, nicht wenig 
in die Hände gearbeitet hat, so hat die Schule gerade heutzutage um so mehr 
die Pflicht, jede Verwendung der Übersetzung als Eselsbrücke durch die Art 

l ) Was Max C. P. Schmidt in seiner Broschüre r Zur Reform der klassischen Studien 
auf Gymnasien' (Leipzig , Dürr 1899) ausführt, hat für das Realgymnasium zum Teil noch 
in verstärktem Mafse zu gelten. . 



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J. Ziehen: Die Gestaltung des lateinischen Unterrichts im Oberbau des Realgymnasiums 451 

des Betriebs der Lektüre unmöglich zu machen; es ist eine sittliche Wirkung 
des Unterrichts, um die es sich da handelt, und die darin besteht, dafs die 
Oberflächlichkeit der Arbeit und die Halbheit der Aneignung ausgeschlossen 
werden; die Stundenzahl des Lateinischen im Oberbau des Realgymnasiums 
kann jedenfalls innerhalb des Frankfurter Lehrplans diesen beiden schweren 
Mängeln des Unterrichts nicht mehr zur Entschuldigung dienen. 

Wenn der Frankfurter Lehrplan wirklich, was ich nach den bisherigen 
Erfahrungen glauben möchte, hei den Schülern eine geschicktere und rasche 
Auffassung des Sachganzen erzielt, was wohl am meisten durch die früh- 
zeitige Auffassung der gesprochenen Fremdsprache veranlafst ist, so wird die 
kursorische Lektüre wohl in den Oberklassen eine ziemlich bedeutende Rolle 
spielen können; man wird sie am besten an einem Stoffe üben, der seinem 
Inhalt nach an Gedanken- und Interessenkreise anknüpft, die den Schülern beson- 
ders geläufig sind und besonders naheliegen; das würden für das Realgymnasium 
wohl am ehesten Auszüge aus den lateinischen Fachschriftstellern sein. Bei 
dieser kursorischen wie bei der statarischen Lektüre aber wird gerade den 
Schülern nach Frankfurter Lehrplan durch Betonung guten Lesens der fremd r 
sprachliche Text besonders zum Verständnis gebracht werden müssen; nicht 
nur bei der jedesmaligen Präparation, sondern auch in wiederholenden Zu- 
sammenfassungen sollte das flüssige Lesen des lateinischen Originals als Auf- 
gabe gestellt werden. 



29* 



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EIN JAHR LATEINISCHEN UNTERRICHTS NACH OSTERMANN- 

BAHNSCH 1 ) 

Von Eduard Loch 

Die in verschiedenen Städten Deutschlands hervortretenden Bestrebungen, 
auch dem weiblichen Geschlecht die gymnasiale Bildung zugänglich zu machen, 
haben in Königsberg um Michaelis 1898 durch die Vereine 'Frauen wohT 
und 'Frauenbildung — Frauenstudium' zur Errichtung zweier Gymnasialzirkel 
geführt, von denen der eine für erwachsene junge Damen bestimmt ist, der 
andere für eine Klasse 12 — 14 jähriger Mädchen, die im übrigen den Unterricht 
in einer höheren Töchterschule besuchen und vorläufig nur in Mathematik und 
Latein besonders unterrichtet werden. Mit dem lateinischen Unterricht in 
diesem jüngeren Zirkel betraut, hatte ich zuerst die nicht ganz leichte Aufgabe, 
ein geeignetes Lehrbuch auszuwählen, da ich bei Schülerinnen im Tertianeralter, 
die 2 — 3 Jahre französischen Unterricht gehabt hatten, nicht mit einem Sextaner- 
übungsbuch anfangen wollte. Von den bisher für den lateinischen Anfangs- 
unterricht in Tertia vorhandenen Büchern, die ich daraufhin prüfte, schien mir 
keins ganz passend; selbst von der Bearbeitung des Perthesschen Lesebuchs 
durch Wulff, das mir von allen die geeignetste Verteilung des grammatischen 
und Lesestoffs zu haben schien, schreckte mich der grofse Umfang der Wort- 
kunde und der Mangel an deutschen Übungsstücken ab, die ich bei beschränkter 
Zeit für meinen Zweck nicht entbehren konnte. Da lernte ich die im vorigen 
Jahre erschienene Bearbeitung des Ostermannschen Übungsbuchs von Bahnsen 
kennen und entschied mich sofort für dessen Einführung, da es sowohl dem 
Inhalt seiner Sätze wie seiner ganzen Anlage nach als das geeignetste und 
anregendste Lehrbuch erschien. Wie sehr es sich auch in der Praxis als 
solches bewährt hat, mag aus den folgenden Ausführungen hervorgehen. 

Vor allem ist es das Hauptverdienst von Bahnsch — und als solches auch 
schon in mehreren Besprechungen mit ungeteiltem Beifall anerkannt — , dals 
er in dem reichen Schatz von lateinischen Sentenzen, von allgemein bekannten 
Citaten und geflügelten Worten einen Stoff gefunden und äufserst geschickt 
verwertet hat, der dem Alter 12 — 14jähriger Schüler wahrhaft zusagt und 
gerade durch die Kürze und Prägnanz des Ausdrucks und den wertvollen 
Inhalt die Erlernung der Formenlehre und sogar schon am Anfang mancher 
syntaktischen Erscheinung erleichtert und fordert. So habe ich im Verlauf des 



l ) Lese- und Übungsbuch für den lateinischen Anfangsunterricht in Reformschulen. 
Nach Ostermanns Lateinischen Übungsbüchern bearbeitet von Dr. Fr. Bahnsch, Prof. am 
Kgl. Gymnasium zu Danzig. (B. G. Teubner 1898.) 



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Ed. Loch: Ein Jahr lateinischen Unterrichts nach Ostermann-Bahnsch 453 

Unterrichts oft gefunden, dafs die Mädchen manche Sätze — nicht blofs Verse — 
auswendig behalten hatten und bei späterem Vorkommen derselben Worte, 
Gedanken oder grammatischen Erscheinungen von selbst anführten, z. B. für 
c dum so lange als': dum spiro, spero (S. 4a 1); c es ist das Zeichen, die Pflicht 
jemandes': generosi viri est etc. (ibid. a4); post mit dem Accusativ: post nubila 
Phoebus (S. 3 c 11); 'man mufs': necessitati parendum est (S. 20 d 12); homo 
proponit, deus disponit; qualis rex, talis grex; quot capita, tot sensus u. s. f. 
Ja, sie sprachen es sogar von selbst aus, wie gerne sie die 'hübschen' Sätze 
übersetzten, und übten sie auch ohne Schwierigkeit zum sogenannten Betro- 
vertieren ein. 

Allerdings kann ich hier ein Bedenken nicht unerwähnt lassen, das schon 
der Referent in der Zeitschr. f. d. Gymn.-Wes. (1898 S. 591/3), Prof. Lentz, 
hervorgehoben hat, und das der Verfasser selbst in der Einleitung S. V zurück- 
zuweisen sucht, dafs nämlich bei der Fülle dieser Sentenzen, die auf den ersten 
Seiten ausschliefslich den Lesestoff bilden, manche dem Schüler zu schwierig 
sein könnten und daher der Lehrer zu viel Zeit von der lateinischen Stunde 
moralisierend verbringen müsse. Ich habe nun beim Unterricht die Erfahrung 
gemacht, dafs viele Sätze allerdings ohne eingehende Erläuterung unverständlich 
bleiben und dafs dem Lehrer in der That bisweilen im Erklären abstrakter 
Begriffe und Gedanken und im Anführen konkreter Beispiele etwas zu viel zu- 
gemutet wird, dafs aber die Schülerinnen dabei keineswegs Ermüdung oder 
Abspannung zeigten, sondern am Ende der Stunde die Sentenzen mit demselben 
Eifer erfafsten wie beim Beginn. Ich glaube aber, dafs sich beim Knaben- 
unterricht hierin doch ein Unterschied bemerkbar machen würde, besonders 
infolge der Erfahrung, die ich beim Anfangsunterricht im Griechischen in III b 
seit mehreren Jahren gemacht habe, und dafs Lentzens Forderung von Sätzen 
mit mehr konkretem, historischem Inhalt jedenfalls berechtigt ist, wie ja z. B. 
Kaegi diese Mischung in seinem griechischen Übungsbuch in durchaus geschickter 
und für die Praxis sehr geeigneter Weise durchgeführt hat. Welche nun frei- 
lich von den Sätzen bei Bahnsch zu Gunsten solcher mit konkreterem Inhalt 
auszulassen wären, darüber werden wohl die Ansichten fast aller Benutzer aus- 
einandergehen, dem einen wird dieser, dem anderen jener Satz ungeeignet 
erscheinen. Das aber mufs ich hier konstatieren, dafs die zahlreichen von 
Lentz a. a. 0. gemachten Athe^sen sich bei der Lektüre in der Klasse keines- 
wegs als notwendig erwiesen haben; vielmehr übersetzten die Schülerinnen die 
allermeisten der von ihm beanstandeten Sätze mit Leichtigkeit und wufsten sie 
auch selbst zu erklären. Wenn etwas gestrichen werden soll, so möchte ich 
vielmehr eine Anzahl Verse dafür empfehlen, die entweder aus dem Zusammen- 
hang gerissen schwieriger zu erklären sind und später bei der Lektüre doch 
noch vorkommen, oder wegen seltener Vokabeln, ungewöhnlicher Wortstellung 
u. dgl. dem Anfänger unnötige Schwierigkeiten bereiten, z. B. S. 5 Stück b 
Satz 9; S. 6 a 9; S. 10 IL c 5; S. 13 b 5; S. 16 b 4; S. 17 e 1; S. 18 a 4 (zu 
früh für diese Stufe!); S. 19 c 7; S. 25 b 3; S. 26 f 5 und 6; S. 26 g 2 (eduxit = 
educavit); S. 28 b 2 (nisi si); S. 29 unten b 4; S. 30 c 5 (zu früh!); S. 37 b 9. 



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454 Ed. Loch: Ein Jahr lateinischen Unterrichts nach Ostermann-Bahnsch , 

Hinsichtlich der deutschen Sätze, die den lateinischen Stücken dem gram- 
matischen Stoff nach genau entsprechen, will ich für eine neue Auflage hier 
dem Wunsche Ausdruck geben, dafs sie sich im Vokabelschatz, namentlich 
anfangs, etwas mehr auf die zu den lateinischen Stücken gelernten Worte be- 
schränken möchten. Der Schüler findet zwar alle fremden Vokabeln und 
Wortverbindungen in dem mit musterhafter Sorgfalt angelegten alphabetischen 
deutsch-lateinischen Wörterverzeichnisse, doch hat er sich, besonders in den 
ersten Monaten, schon so viele Vokabeln einzuprägen, dafs noch weitere neu 
vorkommende gar zu leicht Unsicherheit und Verwirrung im Gedächtnisse 
hervorrufen. 

Das Vokabellernen war überhaupt im ersten Vierteljahr die Hauptarbeit 
für die Schülerinnen. Denn wenn ich in dieser Zeit von 9 Wochen auch nur 
12 Seiten des lateinischen Textes (S. 3 — 14), die fünf Deklinationen und den 
Indikativ des Aktivums der vier Konjugationen enthaltend, und die deutschen 
Satze S. 99 — 109 sehr mit Auswahl durchgenommen habe, so waren doch dazu 
nicht weniger als 996 Vokabeln, also jede Woche mindestens 110 Vokabeln zu 
erlernen (S. 167 — 186) — denn die wenigen klein gedruckten werden doch 
meist mitgelernt. Zwar wurde das Behalten bei einer sehr grofsen Zahl durch 
den steten Hinweis auf das Französische oder auf deutsche Fremdwörter erleichtert, 
aber dennoch gehörte der ganze Eifer für die neue Sprache und ein beständiges 
Wiederholen dazu, um diesen reichen Stoff zu bewältigen. Daher möchte ich 
für etwaige Auslassungen von Sätzen diesen Gesichtspunkt der Vokabelersparnis 
besonders zur Berücksichtigung empfehlen. In den späteren Abschnitten wird 
ja dann naturgemäfs die Zahl der Vokabeln geringer, so dafs sie sich im 
zweiten Vierteljahr (S. 15—30 = 186—202) auf durchschnittlich 60 in der 
Woche und später auf noch weniger verminderten. Übrigens ist das lateinisch- 
deutsche Wörterverzeichnis aus äufseren Gründen schon in einem zweiten, ver- 
besserten Abdruck erschienen. 

Was nun noch die Verteilung des grammatischen Stoffes auf die Übungs- 
stücke anbetrifft, so zeigt sich gleich auf den ersten Seiten der umsichtige, 
praktische Blick des Verfassers. Es wird nämlich gleichzeitig mit dem Erlernen 
der ersten und zweiten Deklination sofort das ganze Verbum esse und der 
Indik. Präs. Akt. der vier Konjugationen eingeübt. Daran schliefst sich noch der 
Ind. Impf, das Futurum und der Imperativ des AWivums, und mit diesem geringen 
Material von Verbalformen sind bis S. 19 alle lateinischen Sentenzen, klassi- 
schen Citate, Verse und mehrere zusammenhängende Stücke gebildet. Die 
Aneignung aller dieser Verbalformen wurde den Schülerinnen sehr leicht, und 
nach 3 Wochen war das Pensum (3 Seiten lat. Sätze mit c. 330 Vokabeln) 
soweit befestigt, dafs die dritte Deklination begonnen werden konnte. Im 
ersten Vierteljahr wurden so die fünf Deklinationen (bei der dritten auch viele 
Genusregeln) absolviert (bis S. 14), im zweiten Vierteljahr das übrige Sextaner- 
pensum mit manchen Erweiterungen (S. 15 — 30), so dafs die Reife für Quinta 
im Winterhalbjahr bequem erreicht war. Im dritten Vierteljahr folgten nun 
die Deponentia und Verba anomala — diese machten allerdings noch ziemlich 



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Ed. Loch: Ein Jahr lateinischen Unterrichts nach Ostermann-Bahnsch 455 

viel Schwierigkeiten und sollten wohl besser, wie bisher, erst am Schlufs der 
Formenlehre stehen — und dann im zweiten Kursus *Unregelmäfsigkeiten und 
Besonderheiten 9 der fünf Deklinationen, wovon ja vieles schon im ersten Kur^s 
behandelt war. Daneben wurden — die Hauptarbeit des Quintanerpensums — 
die sogenannten unregelmäfsigen Verba nach der Grammatik von Ellendt- 
Seyffert begonnen (bei Bahnsen bis S. 48), die ich auch für die Genusregeln 
schon zu Grunde gelegt hatte, da sie auch im ganzen folgenden Unterricht 
gebraucht werden wird. Die kurzen Regeln aus der Syntax (Anhang II) 
wurden — besonders in der letzten Zeit — .bei vielen Sätzen zur Erklärung 
und Vorbereitung auf Späteres herangezogen. 

Es blieben nun für das kurze vierte Quartal von Anfang August bis Ende 
September noch auf S. 48 — 61 die unregelmäfsigen Verba der III. und IV. Konju- 
gation mit Erweiterungen aus der Formenlehre der Komparation, Pronomina 
und Zahlen, sowie der Acc. c. inf., Participialkonstruktionen, Gerundium und 
Gerundivum, so dafs im zweiten Schuljahr mit dem Pensum für Quarta, der 
Kasuslehre, begonnen werden kann. Diese ist in den zusammenhängenden 
Stücken (S. 62 — 96) aus Ostermann-Müllers Quartateil verarbeitet; zur Ein- 
übung derselben soll zugleich der bisherige Teil für Tertia gebraucht werden. 
Daneben wird wohl schon im ersten Quartal des zweiten Schuljahrs mit der 
Cäsarlektüre begonnen werden können. 

Jedenfalls habe ich durch den Gebrauch dieses Übungsbuches beim Mädchen- 
unterricht die sichere Überzeugung gewonnen, dafs sich dadurch in einem Jahre 
gut die Reife für die bisherige Quarta erreichen läfst, und kann es — ohne 
ein Freund von Reformgymnasien zu sein — für den Anfangsunterricht bei 
fortgeschritteneren Schülern in jeder Hinsicht empfehlen. 



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BEKICHT ÜBER DIE SECHSUNDDREISSIGSTE VERSAMMLUNG 
DES VEREINS RHEINISCHER SCHULMÄNNER (1899) 

Von Bernhard Geissler 

Der Vorsitzende Geheimrat Dr. 0. Jäger eröffnete die von 98 Schulmännern besuchte 
Versammlung (in Köln am 4. April). 

Er erwähnte, dafs durch einen unglücklichen Zufall der Bericht über die letzte Ver- 
sammlung erst spät habe fertig gestellt und versandt werden können und bat, da bei der 
Beachtung, die unserer Versammlung von vielen Seiten geschenkt werde, wir dafür sorgen 
müfsten, einen möglichst abgeklärten Bericht zu erhalten, dafs alle, die das Wort ergreifen, 
nachher ein kurzes authentisches Resume* ihrer Gedanken senden und dadurch den Vor- 
sitzenden und den Berichterstatter von seiner schweren Verantwortung entlasten möchten. 
Gern hätte ich Ihnen, fuhr er fort, einen Rückblick geboten auf das, was im vorigen Jahre 
auf dem Gebiet des höheren Unterrichtswesens geschehen ist; der beschränkten Zeit wegen 
begnüge ich mich damit, Ihre Aufmerksamkeit auf zwei Punkte zu lenken: 1) dafs wir 
Stellung nehmen müssen zu dem mit grofser Wucht auftretenden Experiment des Reform- 
gymnasiums, und 2) dafs wir uns überlegen müssen, wie einem anderen Übel nach und 
nach zu begegnen ist, der offenbar vielfach vorhandenen und mit einer steigenden Tendenz 
behafteten Überbürdung der Lehrer, die so nicht fortgehen kann. Ich möchte Ihrer Er- 
wägung anheimgeben, ob jene Neugestaltung, die unter dem verlockenden Namen des 
Reformgymnasiums auftritt, nicht von der fundamental irrigen Voraussetzung ausgeht, dafs 
unsere Jugend auf möglichst leichte und bequeme Weise die Sprachen erlerne, statt davon, 
was an den Sprachen gelernt wird. Unsere alte Einrichtung beruht auf dem Grundsatz, 
dafs die Jugend unserer leitenden Kreise nachdrücklicher arbeiten mufs als andere, und 
dafs sie früh damit anfangen mufs. 

Nach einigen geschäftlichen Mitteilungen und der üblichen Verlesung der Namen der 
Anwesenden erhält das Wort zu einem Vortrage 'Über den deutschen Aufsatz in Unter- 
sekunda' Oberlehrer RicTc- Kempen: Wir alle werden Münch beipflichten, dafs auf dem 
Gebiete des deutschen Aufsatzes mehr erreicht werden kann, als bisher erreicht ist Dazu 
ist vor allem nötig, dafs der Gang so systematisch wie möglich sei; aber das ist sehr 
schwierig, weil dieser Unterricht rein geistig ist und der Routine widerstrebt. Besondere 
Bedeutung hat der deutsche Aufsatz in Untersekunda.- wir müssen danach streben, den 
austretenden Schülern eine Vorstellung von wissenschaftlicher Arbeit mitzugeben, und wir 
müssen für diejenigen, die weiter studieren, das Gerüst errichten, auf dem sie dann fort- 
bauen können. Aus meiner mehrjährigen Praxis möchte ich hier einige Erfahrungen mit- 
teilen; mögen sie auch bereits Bekanntes bringen, so sind sie doch selbständig durch- 
dacht und in systematischen Zusammenhang gebracht, so dafs ich hoffen darf, dafs sie 
eine Grundlage für die Debatte abgeben können. 

Welches Ziel müssen wir uns in Untersekunda stecken? Wir dürfen uns nicht mehr 
begnügen mit dem einfachen Drauf loserzählen wie in Unter- oder Obertertia; der Schüler 
mufs jetzt lernen, einen gegebenen Stoff selbständig zu ordnen und geordnet darzustellen. 
Zwar kann man schon vom zweiten Halbjahr der Quarta an die Schüler die Teile ihrer 
Arbeit erkennen lassen; aber das hat nur propädeutischen Wert. Der Geist des Schülers 



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B. Geifsler: Bericht über die 36. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 457 

auf dieser Stufe ist noch nicht geneigt, zergliedernd zu denken, die sprachliche Fertigkeit 
ist zu gering. 

Was können wir thun, um dieses Ziel zu erreichen? Wichtig ist vor allem die Wahl 
des Themas — wichtig, aber auch sehr schwierig. Gerade die Schwierigkeit der Sache 
ist daran schuld, dafs so viel ungeeignete Themata gestellt werden. Das Ideal wäre, wenn 
jedes neue Thema einen Fortschritt bedeutete und alle zusammen einen planmäßigen 
Stufengang darstellten. — Eigentlich könnte ja jedes Thema geeignet scheinen, das dem 
Standpunkt des Schülers entspricht; aber im ganzen kann man vom Untersekundaner nur 
verlangen, dafs er bekannte Vorstellungen darstelle und verknüpfe: das Thema mufs aus 
dem Unterricht herauswachsen. Aufserdem kommt noch in Betracht, dafs ihm, dem 
Gedankenarmen, Ideen zugeführt werden, die er später weiter ausbauen und verwerten 
kann. Themata allgemeiner Art, Sentenzenthemata, eignen sich dazu im allgemeinen 
nicht; sie sind nur dann anzuwenden, wenn sich sonst kein passendes Thema bietet. Der 
Stoff mufs dann ganz im Gedanken- und Gesichtskreise des Schülers liegen, auch lokale 
Anknüpfungen sind nicht zu verschmähen, z. B. eignet sich das Thema 'Vorteile des Land- 
aufenthalts' ganz wohl für Schulen auf dem Lande. Aber selbst bei diesem Thema wird 
man sehen, dafs es schwer ist manchen Schülern die Verhältnisse grofser Städte so klar zu 
machen, dafs kein falsches Bild entsteht. Schwierigere Themata dieser Art, z. B. r der 
Strom ein Bild des menschlichen Lebens' sind für unsere Schüler nicht geeignet. Der 
Geist des Schülers ist noch zu wenig gereift, um Selbständiges hervorzubringen, daher tritt 
leicht Stoffmangel ein. 

Es wird sich danach empfehlen, die Themata im allgemeinen aus dem Stoffe der 
Lektüre: Minna von Barnhelm, Jungfrau von Orleans, Hermann und Dorothea u. s. f. zu 
wählen. Aber damit sind noch nicht alle Schwierigkeiten gehoben: die in den Ausgaben 
dem Texte angehängten Themata erweisen sich meist als ungeeignet, da sie den geistigen 
Standpunkt des Schülers, seine sprachliche Fähigkeit nicht richtig würdigen. Die meisten 
Dichtwerke geben gar nicht so sehr viel geeignete Themata, und diese entdeckt man auch 
erst bei eingehender Prüfung. — Welcher Art sollen nun die Themata auf dieser Stufe 
sein? Wir müssen eine Aufgabe stellen, die nicht mehr verlangt, als erzählend und 
einfach beweisend einen leicht zu teilenden Stoff darzulegen. Themata erzählender 
Art müssen vorherrschen, die beweisenden stellen mehr das Ziel dar, dem man zustrebt. 
Stelle ich z. B. das Thema: f Wie entwickelt sich das Geschick der Jungfrau von Orleans 
nach der Anklage des Vaters', so verläuft die Darstellung in einfach erzählender Form; 
gröfsere sprachliche Gewandtheit erfordert schon die Aufgabe: f Wie beweist Bertran de 
Born dem Könige seine geistige Gröfse?' Noch schwieriger ist das Verstehen und Dar- 
stellen von Empfindungen und seelischen Vorgängen; für einen Untersekundaner ist dies 
zu schwierig, wenigstens wenn es durch einen ganzen Aufsatz durchgeführt werden soll, 
wie es folgende Themata verlangen: p Wie ist Goethes Hermann und Dorothea geeignet, 
unser Naturgefühl zu beleben?' — - f Die Treue die Triebfeder in Lessings Minna von Barn- 
helm. ' — Charakterzeichnungen sind den Schülern nur bei wenigen Personen möglich, wie 
bei dem Apotheker oder bei dem Wirte in Minna von Barnhelm. Die Darstellung aller 
anderen Personen erfordert tieferes psychologisches Verständnis und gröfsere Gewandtheit 
des Ausdrucks, als sie der Untersekundaner besitzt. Daher sind nicht zu empfehlen Auf- 
gaben wie f Sturz und Erhebung der Jungfrau von Orleans' ; ähnliche Schwierigkeiten bietet 
in seinem ersten Teile f Johanna in Rheims'. 

Das Thema mufs ferner einen abgeschlossenen Kreis darstellen; dieser Forderung ent- 
spricht nicht das Thema: f Der 1. Gesang von Hermann und Dorothea' oder 'Erster Monolog 
der Jungfrau von Orleans'. — Als Klassenaufsätze empfehlen sich nur Aufgaben, die eine 
erzählende Darstellung verlangen, damit Plan und Ausführung sieb leicht ergeben. Die 
Auswahl ist ziemlich beschränkt, da der Stoff dem Schüler geläufig sein mufs. Am besten 
greift man allgemeine Züge heraus, z. B.: r Welche Hauptthatsachen berichtet Livius vor 
dem Beginn des 2. punischen Krieges?' 'Hannibal an der Rhone'. r Johannas Lebenslauf 
bis zu ihrem ersten öffentlichen Auftreten.' Gelegentlich kann man auch bei Klassen- 



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458 B. Geifsler: Bericht über die 36. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 

aufsätzen den Text mitbringen lassen: freilich dürfen die Schüler dann nicht ahnen, wie 
das Thema lauten wird. So kann man Themata aus Teilen der Lektüre wählen, die nicht 
gerade in letzter Zeit durchgenommen sind. 

Ist das Thema entsprechend gewählt, so beginnt die eigentliche Anleitung. Denn 
allein kann es der Schüler noch nicht. Am meisten lernt der Schüler durch zwei Mittel: 
1) durch geschickte Fragestellung des Lehrers; so wird gefunden, was zum Thema gakfet 
und wie der Stoff an ordnen ist; 2) durch Hinweis auf gowiwo theo r e ti sche Regeln; es 
genügt, wenn die Schüler lernen, den Stoff nach seiner inneren Verwandtschaft zu ordnen, 
Verwandtes unter einen höheren Gesichtspunkt zu bringen. — In einfach-praktischer Weise 
mache man die Form der Einleitung und des Schlusses klar: die Einleitung hat den Zweck, 
in möglichst kurzer Weise zum Thema zu führen, man kann dabei vom Gegensatz oder 
vom Ähnlichen ausgehen. Der Schlufs kann rückblickend oder vorausblickend sein oder 
einen gegensätzlichen Gedanken enthalten. 

Die früher üblichen Dispositionsübungen an Themen allgemeiner Art sind nichts für 
Untersekunda; sie haben nur geringen Wert und nehmen zu viel Zeit in Anspruch. 

Auch bei Durchsicht und Rückgabe der Aufsätze kann planvolles Verfahren Erfolge 
erzielen. Man gebe alle Aufsätze auf einmal zurück, wie jetzt wohl allgemein üblich. 
Vorher lege man zunächst eingehend dar, welche Fehler gemacht worden sind bei der Ein- 
teilung, in sachlicher und sprachlicher Hinsicht. Dann kann der Lehrer noch zeigen, wie 
es gemacht werden sollte, durch eine Skizze, durch einen von ihm verfertigten Muster- 
aufsatz, oder er kann noch einfacher den besten Schüleraufsatz mit seinen Verbesserungen 
vorlesen. Jedenfalls empfiehlt es sich, eine Musterleistung zu geben, wenn die Arbeit der 
Klasse wesentlich nicht gelungen ist. 

Die Korrektur des Lehrers mufs durch die Besprechung ihre Ergänzung und Begründung 
finden: der Schüler mufs einsehen, inwiefern er gefehlt hat, so dafs er selbständig verbessern 
kann. Die höchste Vollkommenheit erreicht der Lehrer, wenn keine seiner Bemerkungen 
vergeblich ist. — Redner schliefst mit den Worten Kretschmanns im Danziger Programm 
von 1897, 'dafs an keiner Stelle. des Gymnasiums einschneidender gearbeitet werden kann, 
als bei diesem von ihm behandelten Gegenstand'. 

Die Thesen lauteten: 

1) In ÜB soll der Schüler systematisch angeleitet werden, zu einem gegebenen 
Thema den Plan zu entwerfen und das Wesen der einzelnen Teile theoretisch und prak- 
tisch kennen zu lernen. 

2) Es soll demnach hier für den Aufsatz in höherem Sinne, wie er auf den oberen 
Stufen dem Verständnis erschlossen wird, der Grund gelegt werden. 

8) Systematische Dispositionsübungen an allgemeinen Themen sind wenigstens auf 
dieser Stufe zu verwerfen. 

4) Der Regel nach sollen gerade auf dieser Stufe die Themen dem Unterrichtsstoffe 
entnommen, allgemeine Themen nur ganz ausnahmsweise zugelassen werden. 

6) Der Plan des Aufsatzes mufs mit den Schülern vorher vollständig besprochen 
werden. Die Besprechung des Planes aber sowie alles dessen, was mit dem Aufsatze 
zusammenhängt, z. B. auch bei der Rückgabe der Arbeiten, empfiehlt es sich so zu ge- 
stalten, dafs dabei die Gesichtspunkte theoretisch zur Sprache und praktisch zur Anwendung 
kommen, die für die Anfertigung des Planes und des Aufsatzes von Wichtigkeit sind. 

6) Für die Anleitung empfiehlt es sich auch, bei der Besprechung der korrigierten 
Arbeiten in einer Skizze oder geradezu in einem ausgeführten Probeaufsatze den Schülern 
ein Muster zu geben, wie die Sache gemacht werden mufste. 

7) Es empfiehlt sich, für diese Stufe wenigstens, dem Lehrer anheimzustellen, wenn er 
es für nötig hält, die Schüler bei Klassenaufsätzen, abgesehen vom Prüfungsaufsatze, den 
Text des Buches, aus dem er den Aufsatz nimmt, gebrauchen zu lassen. 

8) Aus dem Aufsatze der HB mufs vor allem die Darstellung rein geistiger Vor- 
gänge, müssen ferner Reflexionen verlangende Themen, demnach mit wenigen Ausnahmen 
auch Charakterschilderungen ferngehalten werden. 



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B. Geifsler: Bericht über die 36. Versammlung des Vereins ifeeinischer Schalmänner 459 

Der Vorsitzende dankt dem Redner für seinen anregenden Vortrag und schlägt der 
Versammlung vor, für die Debatte irgend eine der Thesen herauszugreifen, z. B. These 6, 
die, allerdings sehr limitiert, den Musteraufsatz des Lehrers empfiehlt. Er halte dies fttr 
eine nicht ganz klare Forderung unserer pädagogischen Nimmersatte. Was für einen Auf- 
satz solle der Lehrer machen? Solle er zeigen, wie ein gereifter Mann das Thema be- 
handelt, oder solle er einen Musteraufsatz für einen Untersekundaner machen? Für diese 
letztere Rolle bekenne er nicht genug dramatisches Talent zu haben. — Früher, vor dem 
grofsen Schiffbruch, habe es eine Sammlung lateinischer Musteraufsätze gegeben, die er 
immer bewundert habe, weil sie nicht etwa gute Aufsätze enthalten habe, wohl aber muster- 
hafte Mittelmafsigkeitsaufsätze. Wer sich an diesem Buche gebildet, der habe schliefslich 
so arbeiten können oder müssen, dafs der Korrektor immer den Aufsatz mit genügend be- 
zeichnen mufste, niemals aber mit gut. 

Er habe aber noch einen tieferen Grund: wir müfsten fürchten, die Individualität des 
Schülers zu knicken und zu ersticken, wenn wir ihm zuviel von unseren eigenen Gedanken 
aufzwängen. Diese Gefahr liege vor bei zu eingehender Besprechung der Disposition, nament- 
lich aber beim Musteraufsatze, sofern derselbe einen regelmässigen Bestandteil schulmäfsiger 
Aufsatzbehandlung bilde. 

Direktor Brüll-Prüm ist betreffs des Musteraufsatzes ganz anderer Ansicht als der 
Vorsitzende. Er glaube, gerade auf diese Weise den Schüler erheblich fördern zu können, 
indem er ihm an einem lebendigen Beispiele zeige, wie der Aufsatz disponiert sein müsse, 
und wie die einzelnen Teile logisch verknüpft werden sollten. Er halte den Musteraufsatz 
für die Krönung der Korrektur. Freilich müsse sich der Lehrer dabei auf den Standpunkt 
des Schülers herablassen; aber müsse er das nicht immer thun, im Unterricht und bei 
der Vorbereitung? Schliefslich empfiehlt er noch, sich wo möglich för das ganze Schul- 
jahr Themata zu überlegen, damit sie sich untereinander zu einer Einheit zusammen- 
schliefsen. 

Prof. Volckmann- Düsseldorf möchte gern erfahren, ob die Mehrzahl der Anwesenden 
die systematischen Dispositionsübungen für zwecklos halte oder nicht. Er sei dagegen, 
weil er in Tertia von einem Dispositionarius schrecklichster Art gequält worden sei. Er 
beschränke in seiner Praxis solche Übungen auf die Aufsätze, stelle das Thema so, dafs 
die Einteilung möglichst klar sei, lasse sich dann die Disposition von den Schülern ein- 
reichen und korrigiere sie, ehe die Schüler mit der Ausarbeitung begännen. 

Direktor Evers- Barmen hat es einmal mit, ein andermal ohne Musteraufsatz ver- 
sucht und keinen wesentlichen Unterschied gefunden; er möchte ihn deshalb dem Lehrer 
nicht als verbindlich auferlegen. Wolle man ihn einführen, so rate er, ihn nach der 
Korrektur der Schülerhefte anzufertigen. Was Dispositionsübungen anlange, so halte er es 
für ganz belebend, wenn man sich von den Schülern Themata angeben lasse und dann in 
kurzer Zeit mit der Klasse den springenden Punkt und die Hauptgliederung zu finden suche. — 
Zu These 8 meint er, dafs gerade das Beweisende für die Klasse geeignet sei; die 
Schüler müfsten aus dem Erzählungsstil übergehen in den einfachen Darstellungsstil, müfsten 
lernen, sich im Präsens und Perfektum auszudrücken. — Rein geistige Vorgänge müsse der 
Lehrer bei Auswahl der Themata an Thatsachen anknüpfen, das genus rationale mit dem 
genus hi8toricum verbinden, wie dies Kretschmann in seinen beiden Programmen thue. 

Direktor C au er- Düsseldorf empfiehlt Anfertigung eines Musteraufsatzes und hebt dann 
besonders die Wichtigkeit der Disposition hervor, die bei jeder Rede, jedem Aufsatze 
die Hauptsache sei; auch blofse Dispositionsübungen empfiehlt er in oberen Klassen, weil 
dadurch die Zahl der Themata wesentlich vermehrt werde. Allerdings dürfe man den 
Schülern keine Disposition aufzwingen, auch nicht zuviel Unterabteilungen verlangen. 

Die Untersekunda hält er mit dem Vorredner für die Stufe, auf der man dem Schüler 
das ewige Erzählen abgewöhnen, ihn von dem natürlichen Triebe der Sprache frei machen 
soll. Die Themata seien so zu wählen, dafs in den Aufsätzen Darstellung und Beweis 
verbunden werden müsse, z. B. : f Es wächst der Mensch mit seinen gröfseren Zwecken, nach- 
gewiesen an Hermann und Dorothea.' Selbst einfachere Charakteristiken seien nicht ganz 



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460 B. Geifsler: Bericht über die 36. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 

abzulehnen, z. B. f Vergleichung der beiden Freier Eurymachus und Antinous' oder f Ver- 
treter der Kantone in Wilhelm Teil'. 

Provinzialschulrat Matthias: Den Musteraufsatz soll man weder so machen, wie ihn 
ein Erwachsener, noch wie ihn ein Sekundaner schreiben würde. Aus den Aufsätzen einer 
ganzen Klasse läfst sich aber sehr wohl ein Musteraufsatz zusammenstellen; so scheinen 
auch einige der von Kretschmann veröffentlichten entstanden zu sein. — Zu These 3 bemerkt 
er, dafs der Schüler auch in zahlreichen anderen Fächern Gelegenheit hat, sich im Dis- 
ponieren zu üben. — Im übrigen erklärt er, dafs er es für verkehrt halte, den Unter- 
sekundanern das Erzählen abzugewöhnen. Lernen müssen sie blofs, das Nebensächliche 
abzustreifen. Dabei braucht man die Reflexion nicht auszuschliefsen, man kann z. B. eine 
Charakteristik in erzählender Form geben lassen. 

Nach erläuternden Bemerkungen des Berichterstatters und der Direktoren Cauer und 
Brüll wird die Verhandlung auf eine halbe Stunde unterbrochen. 

Nach der Pause schlägt der Vorsitzende vor, sich jetzt dem zweiten Gegenstande 
zuzuwenden, obwohl das erste Thema noch eine Fülle von Diskutierstoff biete, und erteilt 
das Wort Oberlehrer Dr. Wi es enthal- Barmen zu einem Vortrage f Über einige Fragen 
der Unterrichtsverteilung\ Dieser führt aus: 

Es sind keine neuen Fragen, deren Besprechung ich hier anregen möchte; aber sie 
werden gerade jetzt in den Kreisen jüngerer Amtsgenossen vielfach und lebhaft erörtert, 
so dafs es wünschenswert erscheint, dafs sich etwas von dieser Strömung auf der Oberfläche 
bemerkbar mache. In Bezug auf den Lehrstoff bewegen sich meine Vorschläge auf dem 
Boden des Gegebenen, erstreben aber gröfsere Rücksichtnahme auf die Persönlichkeit 
des Lehrers wie auch der Schüler. 

Allgemein sind die Klagen über die Zersplitterung der geistigen Thätigkeit auf unseren 
höheren Schulen; darum ist es wünschenswert, dafs die Schulleitungen mehr als bisher für 
Konzentration des Unterrichtes durch die Persönlichkeit des Lehrers sorgen und dadurch 
die erziehliche Wirkung der Schule fördern. Zu wirklich dauerndem Lehrerfolge gehört 
eine erzieherisch wirkende Persönlichkeit; zur Zeit aber besteht die Gefahr, dafs die 
Wirksamkeit der Persönlichkeit gehemmt wird durch die Ansprüche der Lehrstoffe. Das 
kritisierende Publikum, die amtlichen Lehrpläne, die Aufsichtsbehörden verlangen in erster 
Linie nachweisbare Leistungen; hinter diesen treten dann zu leicht die Imponderabilien 
zurück, und doch ist das Höchste, Letzte der Schule ein Imponderabile : die Wirkung der 
reiferen Persönlichkeit auf die sich bildende. 

Auch die neuen Aufgaben der Schule drängen dahin, die Leistungen zu steigern; man 
vergifst anscheinend oft, dafs es bei jedem Unterricht hauptsächlich auf das Wie, auf den 
Weg zum Ziele ankommt. Vor allem aber birgt das Spezialistentum grofse Gefahren für 
die Bildung der Persönlichkeit; Abhilfe soll da die gepriesene f Konzentration des Unter- 
richtes' bringen. Aber so viel Schönes darüber auch geschrieben worden ist, Erfolg wird 
man erst dann verspüren, wenn man den verschiedenen Unterrichtsfachern einen lebendigen 
Mittelpunkt in der Person des Lehrers giebt. Daher lautet meine 1. These: f Es ist 
wünschenswert, dafs auf unseren höheren Schulen Mafsnahmen bei der Unterrichtsverteilung 
getroffen werden, die geeignet sind, die Wirkung einer Lehrerpersönlichkeit auf Schüler- 
persönlichkeiten zu fördern.' 

Der Schüler, der in die Sexta eintritt, hat sich nicht nur in völlig neue Unterrichts- 
fächer hineinzufinden, sondern er bekommt statt eines Lehrers deren 5 — 7, weshalb 
nervöse, schüchterne und verschlossene Naturen sich nur schwer einleben. Daher ist es 
gut, wenn der Ordinarius möglichst wenig Nebensonnen hat, wenn er z. B. im Gymnasium 
selbst mit Latein, Deutsch, Religion, Geographie bedacht ist, während ein zweiter Lehrer 
Rechnen und Naturbeschreibung, ein dritter die technischen Fächer übernimmt. Am be- 
denklichsten ist die Zersplitterung des Unterrichtes in den Mittelklassen. Durch welche 
Wissensgebiete wird nicht ein Tertianer getummelt! Daher stellen sich hier Stumpfsinn 
und Fahrigkeit oft auch bei solchen Schülern ein, deren Leistungen in den unteren Klassen 
Besseres hätten erwarten lassen. Je mehr Lehrer aber, desto mehr Zersplitterung, desto 



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B. Geifsler: Bericht über die 36. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 461 

weniger Vertiefung; denn der Schüler hat auf dieser Stufe noch keine ausgesprochene 
Neigung für ein Fach, er arbeitet für diesen oder jenen Lehrer. Daher gebe man dem 
Ordinarius möglichst viele Stunden in seiner Klasse — Abwechselung bietet die bunte 
Menge des Stoffes schon zur Genüge — dann wird der Gang des Unterrichtes ruhiger 
werden und der Lehrer auf Grund seiner vielseitigen Kenntnis des Schülers die Möglichkeit 
haben, erzieherisch auf seine Klasse einzuwirken. Auch der Fachlehrer wird bei dieser 
Verteilung der Stunden nicht zu kurz kommen: er findet die Schüler weniger abgespannt 
und zerstreut, seine Stunde und seine Person bringen Abwechselung. 

Auch ihm ist es übrigens zu gönnen, dafs er in einer Mittelklasse mehr als blofs ein 
Fach gebe, damit er Gelegenheit zu mehrseitiger Beobachtung der Schüler hat. 

In den Oberklassen ist die Vereinigung mehrerer Fächer in der Hand des Ordinarius 
nicht so leicht durchführbar, aber auch nicht so notwendig. Der Schüler ist selbständiger 
und daher widerstandsfähiger gegen verschiedene Einflüsse. 

Daher lautet die 2. These: Es ist wünschenswert, dafs der Ordinarius in den unteren 
und mittleren Klassen über die Hälfte der wissenschaftlichen Stunden in seiner Hand 
vereinige. 

Es läfst sich nicht leugnen, dafs unsere Klassenstufen zu sehr isoliert sind; man kommt 
zu wenig auf das Pensum des Vorjahres zurück, und doch ist die selbständige Wiederholung 
früheren Unterrichtsstoffes die beste Anleitung zu selbständigerer Arbeit. Das wird aber 
sehr erleichtert, wenn der Lehrer mehrere Jahre mit seiner Klasse aufrückt. Auch sonst 
liegen die Vorteile des Anfrückens auf der Hand: der Lehrer kennt die einzelnen Schüler 
wie den Klassencharakter viel intimer als durch Mitteilungen seines Vorgängers, er hat 
auch die Gelegenheit, mehr Fühlung mit den Eltern zu nehmen. — Der einzige berechtigte 
Einwand ist der, dafs es eine Ungerechtigkeit sei, einer Klasse mehrere Jahre einen guten, 
der anderen einen schlechten Ordinarius zu geben. Doch ist hier gröfste Vorsicht am 
Platze; oft heifst es 'schlecht' oder f nicht geeignet', wo es blofs heifsen dürfte 'nicht nach 
meinem Geschmacke' oder 'reitet nicht mein Steckenpferd'. Nur bei zweifelloser Unfähig- 
keit ist es geboten, ein Mitglied des Lehrerkollegiums möglichst unschädlich zu machen; 
sonst lasse man dem Lehrer, der doch auch ein Mensch ist, sozusagen, die Freude, eine 
gewisse Vollendung seiner Arbeit zu sehen. Es wird ihm das Gefühl der Verantwortlichkeit 
schärfen und ihm ein mächtiger Antrieb zu fortgesetzter Selbsterziehung sein. Fraglich 
ist blofs, wie viele Jahre die Klasse unter Leitung desselben Ordinarius bleiben soll; man 
hat früher die Formel aufgestellt: nicht unter zwei, nicht über vier Jahre; man hat neuer- 
dings am Barmer Gymnasium den Versuch gemacht, Klassen von Sexta bis Untersekunda 
demselben Ordinarius zu lassen. Einen Vorteil hat allerdings ein solcher Jahrgang, dafs 
er nämlich kindlicher und zutraulicher bleibt oder bleiben kann. Doch habe ich das Ge- 
fühl, dafs eine Zeit von sechs Jahren selbst für einen guten Lehrer zu lang sei. Allzuleicht 
kommt der Ordinarius zu denselben Empfindungen, wie wir sie bei den Eltern tadeln: der 
eine verliebt sich in seine Klasse, der andere fafst alles, was seine Klasse verbricht, als 
persönliche Beleidigung auf. Sollte die Vorliebe für die eigenen Schüler dahin führen, dafs 
zu wenig sitzen gelassen werden, so darf man wohl an eine Verfügung erinnern, die es 
den Direktoren zur Pflicht macht, gegen allzugrofse Milde einzuschreiten. Sollte dagegen 
ein Ordinarius seine Klasse mit allzuscharfem Besen reinigen wollen, um sie zur Muster- 
klasse zu machen, dann braucht man den Direktor nicht ans Einschreiten zu erinnern; dann 
thut er's schon von selber. — Die 3. These lautet also: Es ist wünschenswert, dafs jeder 
Ordinarius mit seiner Klasse mehrere Jahre aufrücke. 

Dieselben Gründe sprechen natürlich auch dafür, dafs die Fachlehrer mehr als ein Jahr 
den Unterricht bei denselben Schülern behalten. Es läfst sich nicht immer ermöglichen, sie 
mit mehr als einem Fache in derselben Klasse zu beschäftigen; gerade ihnen sollte daher 
Gelegenheit gegeben werden, durch länger dauernde Beobachtung den einzelnen Schüler 
als Menschen, nicht blofs als guten oder schlechten Mathematiker kennen zu lernen. Auch 
die Leistungen der Schüler werden durch Vermeidung des Wechsels ohne Überlastung 
gesteigert. Man kann zweifeln, ob bei einem Wechsel von guten und minder guten Lehrern 



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462 B. Geifsler: Bericht über die 36. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 

nicht schließlich dasselbe herauskommt, als wenn eine Lehrkraft zweiten Ranges sich mit 
einem Co tue völlig einarbeiten kann; unzweifelhaft aber ist bei dem Wechsel die Arbeitslast 
des Lehrers gröfser. Wie lange der Fachlehrer mit aufrücken soll, läfst sich am besten 
aus dem Unterrichtsstoff seines Faches ersehen; es ergeben sich da gröTsere natürliche 
Gruppen, die mehr als ein Jahr umfassen. 80 sollte z. B. der Anfangsunterricht im Fran- 
zösischen, der Geschichtsunterricht in den Tertien, das Griechische von Untertertia bis 
Untersekunda stets in derselben Hand bleiben; in den Oberklassen bildet fast aller Unter- 
richt in den Primen eine natürliche Gruppe. 

Die 4. These könnte also so gefaßt werden: Es ist wünschenswert, dafs der Unterricht 
an die Fachlehrer nach sachlichen, mehr als ein Schuljahr umfassenden Gruppierungen 
verteilt werde. 

Ihren besonderen Haken hat die Unterrichtsverteilung für die oberen Klassen. Die 
beati possidentes sehen in dem Wunsch jüngerer Kollegen, Unterricht in Prima zu be- 
kommen, vielfach eine lächerliche oder gar pietätlose Anmaßung. Beruhte dies Streben 
auf der Ansicht, dafs der Unterricht in Prima wichtiger, vornehmer oder gar schwieriger 
sei, so würde ihm allerdings jede Berechtigung fehlen. Aber diese Auffassung findet sich 
doch nur vereinzelt bei der jüngeren Generation, die auf die erzieherische Seite ihrer 
Thätigkeit den Hauptwert legt. Jeder, der gleichzeitig Unterricht in oberen und unteren 
Klassen hat, erkennt leicht, dafs der Unterricht in Prima erheblich leichter ist: er erfordert 
geringere Anstrengung der Sprachorgane, geringere Willensanspannung, und ist auch in 
didaktischer Beziehung entschieden leichter. Man sollte also aufhören, diesen Unterricht 
als besondere Auszeichnung zu behandeln, vielmehr danach streben, jeden Lehrer mit dem 
Unterricht zu belehnen, für den er sich besonders geeignet zeigt. Leider aber ist der 
Primaunterricht vielfach das Monopol des Alters. Tausende ehemaliger Primaner können 
Zeugnis davon ablegen, wie abstumpfend jahrzehntelanges Betreiben desselben Gegenstandes 
auf den Lehrer wirkt und wie verstimmt und verstimmend schliefslich die alte Leier ist. 
(Zwischenruf: Bravo! da capo!) Die Zahl der aufserordenÜichen Männer, die bei demselben 
Unterricht stets frisch und anregend bleiben, ist nicht grofs. 

Es ist ganz in der Ordnung, dafs ältere Lehrer, soweit sie dazu geeignet sind, vor- 
wiegend den Unterricht in den Oberklassen erteilen; aber die jüngeren, denen der härteste 
Teil der Aufgabe bleibt, die nervenaufreibende Arbeit in den unteren und mittleren 
Klassen, sollten doch auch dazwischen einen Unterricht bekommen, der sie zu wissenschaft- 
licher Thätigkeit anregt. Sonst sind sie in Gefahr, sich bis zum Stumpfsinn abzumatten 
und früh kränkliche Pedanten zu werden. 

Auch vom Standpunkte der Schüler aus empfiehlt sich dies; auch dem Primaner ist 
eine Unterbrechung des trockenen Tones zu gönnen. Die lebhafte Antipathie vieler ehe- 
maliger Gymnasial- Abiturienten gegen das humanistische Gymnasium ist verschuldet durch 
den Unterricht, den diese Männer genossen haben. Hat man es doch sogar als Vorzug 
des Unterrichtes in klassischen Sprachen gerühmt, dafs er langweilig sein dürfe, ohne 
viel an Wirksamkeit einzubüfsen. Wenn das je der Fall gewesen ist, so ist es heute nicht 
wahr. Heute gilt es, von dem blofsen Altersanspruch abzusehen und die beste Kraft auf 
dem bedrohten Punkte zu verwenden. Ebenso notwendig ist es aber, dafs auch ältere 
Lehrer gelegentlich in Mittel- und Unterklassen unterrichten, einmal um sich vor aus- 
geleiertem Schlendrian zu bewahren, dann aber auch, damit sie den richtigen Mafsstab für 
die Beurteilung der jetzt möglichen Leistungen finden. Nach den grofsen Veränderungen 
des Lehrplanes sollte eigentlich jeder altphilologische Lehrer darum gebeten haben oder 
bitten, wieder einmal in den Mittelklassen unterrichten zu dürfen, um zu wissen, was jetzt 
noch geleistet werden kann. 

Darum heifst die 5. These: Es ist wünschenswert, dafs in den oberen Klassen auch 
jüngere, in den mittleren auch ältere Lehrer beschäftigt werden. 

Von der Durchführung meiner Vorschläge verspreche ich mir eine Förderung des 
erzieherischen Charakters unserer höheren Schulen; freilich weifs ich, dafs keine Mafisregel 
in der Welt der Schule fruchtbringend ist, wenn es die ausführenden Persönlichkeiten an 



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B. Geifsler: Bericht über die 36. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 463 

sich fehlen lassen. Aber soviel ich sehe, ist guter Wille überreichlich vorhanden. Für 
Zustimmung und Belehrung gleich dankbar, schliefse ich mit den Worten des Horaz: 

si quid novisti rectius istis, 
candidus imperti; si nil, his utere mecum. 

Der Vorsitzende dankt für den Vortrag, der ein wichtiges Gebiet unseres Schullebens 
von den verschiedensten Seiten beleuchtet habe. Fraglich sei ihm allerdings, ob die auf- 
gestellten Grundsätze in der Praxis durchführbar seien; die einzelnen Lehrer seien so ver- 
schiedenwertig, dafs es ein grofses Unrecht wäre, die eine Klasse mehrere Jahre dem besseren 
zu geben, die andere dem anderen zu überlassen. Im Leben und Organismus der Schule 
hänge aber alles so eng zusammen, dafs oft ein Schlag tausend Verbindungen treffe und 
die ganze schöne Organisation verderbe. 

Die Thesen fafsten den Inhalt des Vortrages gut zusammen, aber diskutabel seien sie 
nicht, weil sie sehr wahr seien. Indem er sich bemühe, einen diskutierbaren Punkt zu 
finden, stofse er auf die 3. These. Gewifs sei es wünschenswert, dafs der Lehrer längere 
Zeit mit seiner Klasse aufrücke; es frage sich nur, wie lange. Und da sei er nicht der 
Meinung, dafs sich hier keine bestimmte Grenze finden lasse. Er würde in der Kegel die 
Schüler nicht über zwei Jahre in derselben Hand lassen; denn auch der beste Lehrer werde 
den jüngeren Schülern etwas leid, es müsse etwas Neues hineinkommen. Unter dem vielen 
Guten, was man auf der Schule nicht nur lerne, sondern erlebe, sei das Beste die Ein- 
wirkung der verschiedenen Persönlichkeiten. 

Er schlage daher als Amendement den Zusatz zur 3. These vor: f doch im allgemeinen 
nicht über zwei Jahre'. 

Direktor Zahn -Mors ist im wesentlichen mit dem Vorsitzenden einverstanden, schlägt 
aber vor, gar nicht zu diskutieren, um noch den 3. Punkt der Tagesordnung zu erledigen. 

Der Vorsitzende stellt den entsprechenden Antrag und ändert ihn auf den Wider- 
spruch von Volckmann- Düsseldorf dahin ab, dafs die Thesen dem Ausschufs für die Vor- 
bereitung der nächsten Versammlung überwiesen werden sollen, damit diese eventuell darüber 
in Diskussion eintreten kann. Der Antrag wird angenommen. 

Darauf nimmt der Vorsitzende das Wort zu einem Bericht über den letzten 
Historikertag: 

Von der letzten Versammlung habe ich mir die Hände stärken lassen zu meinem 
Referat über die Frage: Wie sollen künftige Geschichtslehrer vorbereitet werden? Besonders 
handelte es sich um die These, dafs die wünschenswerteste Vorbildung das humanistische 
Gymnasium sei. Dieser Satz wurde von dem Historikertag ausgeschaltet, und mein Kor- 
referent, Direktor Vogt von Nürnberg, betonte mit Nachdruck, dafs Real- und Reform- 
gymnasium ebensogut vorbereiten könnten. 

In dem Bestreben, möglichst kurz zu sein, möchte ich der Versammlung nur zwei 
Hauptpunkte vortragen, die mir die wichtigsten zu sein scheinen. Einmal trat mir als 
wichtig entgegen, dafs auf diesem Historikertag sich ein fruchtbarer Verkehr zwischen der 
gelehrten Wissenschaft und der Schulpraxis angebahnt hat und auch prinzipiell angenommen 
worden ist. Ich empfehle dringend, sich künftig nach Möglichkeit an diesen Tagen zu 
beteiligen. Es ist von ungeheurem Werte für die Männer der Praxis, ein paar Tage lang 
den ganzen Strom der Wissenschaft an sich vorbeirauschen zu lassen; aber auch für die 
Universitätslehrer ist es von gröfster Wichtigkeit, dafs auch Fragen des geschichtlichen 
Mittelschulunterrichtes behandelt werden. Die Thesen haben im ganzen Beifall gefunden; 
doch eine Art von Widerspruch trat schärfer hervor, die eine tiefere Gefahr erkennen läfst. 
Mein Korreferent stellte die These auf: 'Der künftige Geschichtslehrer hat ein vierjähriges, 
der Geschichte gewidmetes Studium durchzumachen und hat seine Befähigung durch zwei 
Prüfungen nachzuweisen'. Das ist doch eine sehr ideologische Forderung! — In derselben 
Richtung bewegte sich, was Professor Zwidineck-Südenhorst mit Nachdruck aufstellte: Ge- 
schichte sei ein Hauptfach und als solches zu behandeln. Er stellte sogar eine Reform 
des Gymnasiums auf dieser Grundlage in Aussicht. Wir mufsten betonen und wurden auch 
unterstützt, dafs der Ausdruck Haupt- und Nebenfächer irreführend sei, dafs jedes Fach 



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464 B. Geifsler: Bericht über die 36. Versammlung des Vereins rheinischer Schulmänner 

an seiner Stelle gleichen Wert habe, dafs aber doch unterschieden werden müsse zwischen 
dem, was der Geschichtsunterricht als solcher bietet, und dem, was jeder andere Unterricht 
an geschichtlichen Kenntnissen dem Schüler zuführt. In diesem Kampf mit dem Spezialisten- 
tum fand die Versammlung den richtigen Ausweg auf Veranlassung von Prof. Kaufmann 
in Breslau, der selbst 25 Jahre Gymnasiallehrer gewesen ist; Vogts These wurde also dahin 
gemildert: es sei wünschenswert, dafs der Geschichtsunterricht auch an Gymnasien von 
fachmännisch gebildeten Lehrern erteilt werde. 

Diese zwei Punkte scheinen mir die Hauptsache zu sein: 1) Es ist erfreulich, dafs sich 
auf diesem Gebiete die Männer der Hochschule und der Mittelschule zusammengefunden 
haben; 2) es ist erfreulich, dafs es gelungen ist, das Spezialistentum zurückzudrängen, das 
uns an allen Ecken und Enden bedroht. 

Gern würde ich Ihnen noch erzählen von einer Versammlung des Vereins württem- 
bergischer Lehrer, der ich beigewohnt habe, aber die Zeit drängt. Besonders hat mir dabei 
gefallen, dafs der Sondergeist nach und nach soweit in den Hintergrund getreten ist, dafs 
auch die dortigen Lehrer sich ganz als deutsche Lehrer fühlen. Das kommt vielleicht 
heraus wie eine gewöhnliche Phrase. Es ist mir aber doch klar geworden, dafs eine 
Solidarität des deutschen Lehrerstandes noch nicht vollständig erreicht ist. Allerdings 
aber haben wir die frohe Empfindung mit fortgenommen, dafs wir nicht blofs als Gäste 
geduldet waren, sondern dafs auch unsere württembergischen Kollegen in jedem preufsischen 
und sächsischen Schulmann u. s. w. jetzt einen Landsmann sehen, und dafs also jeder von 
uns, wo immer er den Fufs auf deutscher Erde niedersetzt, nicht blofs ein allgemeines 
vaterländisches, sondern ein Heimatsgefühl hegen darf. Das wollen wir uns für die Zukunft 
merken. (Beifall.) 



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JAHRGANG 1899. ZWEITE ABTEILUNG. NEUNTES HEFT 



DIE ÄLTESTE DEUTSCHE ZEITSCHKIFT FÜR HÖHERES 

SCHULWESEN 

Von Ernst Schwabe 

Unter dem mancherlei Guten, was das deutsche Gymnasium den kur- 
sächsischen Landen und Lehrern verdankt, ist auch der erste gröfsere Versuch 
einer Zeitschrift zu nennen, die den Interessen der höheren Schulen und ihrer 
Lehrer zu dienen sich vornahm. Es waren dies die seit 1741 erschienenen 
Acta scholastica mit ihren verschieden benannten Fortsetzungen. 

Das Auftauchen eines periodischen Organs für das höhere Schulwesen lag 
damals gewissermafsen in der Luft. Der Vorrat der Bücher, die eine des 
Stoffsammeins frohe und überaus schreibselige Zeit aufgespeichert hatte, war 
um die Mitte des 18. Jahrhunderts ins ungeheure gewachsen. Vor allem die 
kleineren Gelegenheitsschriften aller Art, die selbst an den unbedeutendsten 
Orten mehrmals im Jahre erschienen, darunter nicht zum wenigsten die von 
den Rektoren der Stadtschulen bei jedem möglichen Anlafs zu verfassenden 
Einladungsprogramme, waren zu solch einem papierenen Meere geworden, dafs 
sich der Wunsch nach einer übersichtlichen Zusammenfassung, um sich leichter 
in diesem Überflufs orientieren zu können, allenthalben regte. 

Dazu kam noch das Beispiel der Universitäten, die seit den letzten Dezennien 
des 17. Jahrhunderts darin wetteiferten, dem Beispiel des französischen Journal 
des S9avans (zuerst erschienen 1665) nachzuahmen und, dem übermächtigen 
Zuge der klassischen Bildung jener Zeit folgend, in Deutschland lateinische 
Acta herauszugeben. Paulsen, Gesch. des gel. Unterrichts PS. 500. 540, zählt 
von ihnen eine ganze Anzahl auf, die lange Zeit im Gange waren und sich 
durch deutsche Konkurrenz, wie des Leipziger Thomasius 'Monatsgespräche', 
nur langsam verdrängen liefsen. Unter diesen gelehrten Zeitschriften war aber 
wiederum die wichtigste die Acta eruditorum, die seit 1683 in Leipzig erschienen, 
ein gleich von seinen Anfängen an sehr vornehm gehaltenes Blatt, das u. a. 
Leibniz zu seinen ständigen Mitarbeitern zählte und drei Generationen hindurch 
von Mitgliedern der Leipziger Professorenfamilie Mencken redigiert ward. 1 ) 
Für viele Jahre waren die Acta eruditorum die vornehmste Quelle und die 
beliebteste Auskunftsstätte für alle geistig Interessierten, die sich verpflichtet 
fühlten, den Fortschritten der Wissenschaft zu folgen. Jahrzehntelang ist diese 
Zeitschrift das einzige periodische Organ gewesen, das sich in regelmäfsiger 
Folge auf vielen älteren Schulbibliotheken findet. So grofs war das Bedürfnis 

*) Prutz, Geschichte des deutschen Journalismus I (einz.) S. 275—286. 
Neue Jahrbücher. 1809. II SO 



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466 E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 

nach einem wissenschaftlichen Hilfsmittel, trotz des rein akademischen Tones, der 
entweder in zierlichem Latein oder, wenn auch nur hin und wieder, im steifen 
Deutsch jener Tage darin angeschlagen wurde. Jedoch berücksichtigten die 
Acta eruditorum fast nur die Interessen der reinen Wissenschaft und hatten 
für deren praktisch anwendbare Seiten und vor allem für das, was Persönliches 
anging, kein Interesse und nur wenig Raum übrig. 1 ) So kam es denn, dafs 
in ihren zahlreichen Bänden trotz häufiger Besprechung von Schriften gelehrter 
Schulmänner das Gebiet der Pädagogik und der Geschichte des Unterrichts- 
wesens kaum da und dort gestreift wird und diese Mutter aller gelehrten 
deutschen Zeitschriften wohl für die wissenschaftlichen Bedürfhisse der gelehrten 
Schulen ausreichte, jedoch den didaktischen Anforderungen des Tages und den 
Wünschen, Historisches über ganze Schulen und einzelne Schulmänner zu er- 
fahren, in keiner Weise Genüge that. 

Das Bedürfnis, diesem Übelstande abzuhelfen, mufs in Schulkreisen tief 
empfunden worden sein. Einsichtige Männer, die den tiefen Verfall des 
gelehrten Schulwesens in jenen Tagen mit Schmerzen ansahen, wurden sich 
darüber klar, dafs man nach Mitteln streben müsse, um den Untergang auf- 
zuhalten und zu retten, was zu retten war. Ein kräftiges Heilmittel aber er- 
blickten sie in dem Zusammenschliefsen der gelehrten Schulmänner, um nach 
möglichst einem idealen Ziele zu streben, und ferner meinten sie, dafs man 
in der Erkenntnis der Geschichte des höheren Schulwesens eine starke Wurzel 
von dessen Kraft finden werde. Denn aus dem Studium dessen, was man in 
früheren Tagen und an anderen Orten sich als Ideal gesetzt und durchzuführen 
sich vorgenommen hatte, glaubte man neue Kräfte zu schöpfen, um dem be- 
drängten und herabgekommenen Schulwesen der damaligen Gegenwart wieder 
aufhelfen zu können. An die Erfüllung weiterer Bedürfhisse dachte man nicht. 
Der Blick war lediglich rückwärts gewendet, und das Historische herrschte 
zunächst allein, ohne dafs man das Didaktische und Persönliche beachtete. 

Unter diesem Gesichtspunkt also wurde der erste Versuch gemacht, ein 
Gesamtbild über die Gelehrtenschulen Deutschlands zu gewinnen und, soweit 
angängig, alle deutschen Gymnasien der Reihe nach historisch darzustellen. 
Dieser Versuch ging aus von dem wackeren Rektor des Gymnasium illustre Saxo- 
Hennebergense zu Schleusingen, Magister Godofredus Ludovici 2 ), dem Freunde 
des berühmten Zittauer Rektors und Vertreters des 'politischen' Bildungsideals 
Christian Weise. Von ihm erschien in den Jahren 1708 — 1718 eine Historia 
Rectorum, Gymnasiorum Scholarumque celebriorum, sive Schul- 



*) Das Gleiche läfst sich von den übrigen gelehrten Zeitschriften des 18. Jahrhunderts 
sagen, die die Acta ergänzten, so von den 'Zuverlässigen Nachrichten' Jöchers (1712 oder 
1740—1768) und den 'Neuen Zeitungen für Gelehrte Sachen' (1715—1797), vgl. Prutz a. a. O. 
S. 361 ff. 

*) Später am Casimirianum in Koburg, wo er 64j ährig starb, vgl. Allg. D. Biographie 
Bd. 19 S. 618 von 'Unbekannt'. Leider ist dieser Artikel nichts weniger als vollständig, 
behandelt L. nur als Hymnologen und trägt seiner Bedeutung für die Schule und Schul- 
geschichte zu wenig Rechnung. 



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£. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 467 

historie, in fünf Bänden (Leipzig, sumptu Haered. Lanckisi), in der er im ganzen 
30 Lebensläufe wichtiger Rektoren behandelt und daran anschliefsend (übrigens 
nicht immer in straff festgehaltener Disposition) die Geschichte der ihnen unter- 
gebenen Gymnasien darstellt. Es ist hierbei nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, 
dafs von den behandelten Schulen 1 ) und Rektoren 2 ) ein reichliches Vierteil auf 
Kursachsen fällt: ein starkes Argument für dessen Bedeutung für das höhere 
Schulwesen, da ihm der erste Schulgeschichtsschreiber, der zudem nicht einmal 
in sächsischen Diensten stand, einen so breiten Raum zugestanden hat. 

In der Vorrede zu seinem Buche spricht Ludovici auch von seinen Vor- 
gängern und kommt zu dem Wahrscheinlichkeitsschlufs, dafs er für seine etwas 
erweiterte Auffassung der f Schulhistorie , überhaupt keine gehabt habe. 8 ) Dies 
ist insofern richtig, als zusammenfassende Arbeiten über gelehrte Schulen und 
was damit zusammenhängt allerdings noch nirgends vorlagen, wenigstens nicht 
in besonderen Büchern. Es gab entweder nur Einzelarbeiten, von denen 
Ludovici teils in seinen Vorreden, teils im Verlaufe seiner Werke eine ganze 
Reihe aufzählt, oder alles Schulmäfsige ist in den grofsen allgemein-biographischen 
Werken untergebracht, von denen Ludovicis Arbeit nur eine Abzweigung ist. 
Natürlich treten sie dort zurück. So finden sich z. B. in Melchior Adamis und 
Paul Frehers Vitae theologorum einzelne Angaben. Das bekannte Werk von 
Wittens, Memoriae Philosophorum et Rectorum (dessen Unzulänglichkeit übrigens 
auch anderweit hinlänglich bekannt ist) tadelt Ludovici ebenfalls, und selbst 
das beste 4 ) aller dieser Bücher, von Glarmund (einem Pseudonymen Autor, 
vielleicht Rüdiger?), wird trotz seiner gröfseren Ausführlichkeit doch als un- 
zulänglich bezeichnet, da es seinen Rahmen zu weit gespannt habe, um die 
^Schulhistorie' gründlich zu erörtern, und in den hundert Lebensbeschreibungen 
der gelehrten Schule und ihrer Geschichte zu wenig gerecht geworden sei. 5 ) 

So machte sich denn Ludovici im Jahre 1708 an die Arbeit, das, was er 
während vierzehn Jahren in seinen schedae gesammelt hatte, zu einem Ganzen 
zu gestalten und zu veröffentlichen. Eine Schulgeschichte auch nur eines 
deutschen Landes ist nicht daraus geworden, sondern nur die Darstellung ein- 
zelner Schulen und ihrer Geschichte. Das ist aber nicht Ludovicis Fehler, 



*) Görlitz, Zittau, Kreuzschule zu Dresden, Zeitz, Zwickau, Bautzen, Schneeberg. 

') Hiob Magdeburg, Christian Kaimann, Johannes Bohemus, Christian Thrill, Christian 
Weise, Christian Daum, Johannes Krause, Johannes Zechendorf. 

*) Von*, zum ersten Band: Viam hanc omnem an praeiverit quispiam inque narratione 
hu jus exempli voluerit elaborare, mihi non constat, oder, wie es anderswo von seiner 
Arbeit heifst, quae fregit glaciem et primas scholarum suarum lineas duxit. 

4 ) Vitae clariBsimorum in re literaria virorum, Das ist Lebensbeschreibung etlicher 
Hauptgelehrten Männer, so von der Literatur Profels gemacht. Worinnen viel sonderbahre 
und notable Sachen, sowohl von ihrem Leben als geführten Studiis entdecket. Allen 
curieuBen Gemüthern zu sonderbahrem Nutzen und Vergnügen entworffen von Adolph 
Clarmund. Wittenberg. Verlegts Christian Gottlieb Ludwig 1703. Dritte Aufl. ibid. 
1708/1711. 

8 ) Der Vorwurf trifft zu, denn es sind dabei im ganzen nur vier deutsche Schulmänner 
behandelt: Georg Fabricius, Hieronymus Wolf, Christian Daum und Johannes Sturm. 

30* 



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468 E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 

sondern lag im wissenschaftlichen Wesen der Zeit. Auch in anderer Hinsicht 
hat sich der gelehrte Schleusinger Rektor den ^^bedürfnissen* nicht zu ent- 
ziehen vermocht. Bei Büchern aus dem Beginn des 18. Jahrhunderts ist man 
eine oft sehr künstliche, ja sogar wunderliche Anordnung des Stoffes gewohnt. 
So auch Ludovicis 'Schulhistorie'. Sie ist so disponiert, dafs der Autor 1) das 
Leben eines jeden Rektors beschreibt, 2) das damals völlig unerläfsliche Lob- 
lied, das die Stelle der Kritik vertreten mufste, bei einem jeden anstimmt, 
3) dessen Schriften in chronologischer Folge aufzählt, 4) die Geschichte des 
ihm untergebenen Gymnasiums anfügt. Trotz dieser wunderlichen Disposition, 
die z. B. dazu führte, dafs dem Leben voq Christian Weise nicht etwa die 
Geschichte des Gymnasiums von Zittau angefügt ist, wie man wohl erwarten 
durfte, sondern die des Gymnasiums von Baireuth (denn die Zittauer Gymnasial- 
geschichte war schon nach dem Leben Christian Kaimanns, des Sängers von 'Meinen 
Jesum lafs ich nicht' — Goedeke, Gndrsz. z. Gesch. d. d. Dichtung III 2 S. 75. 213 — 
abgehandelt) — trotz also dieser offenbaren Mängel und auch trotz einer ge- 
wissen Unvollständigkeit und Ungenauigkeit, besonders in bibliographischen 
Angaben, ist die Ludovicische Historia scholarum eine wahre Fundgrube für 
die Bearbeiter der Gelehrten- und Schulgeschichte besonders Mitteldeutschlands 
im 17. und 18. Jahrhundert, eine Materialiensammlung von hohem Wert, und 
es ist nur zu beklagen, dafs die grofs angelegte Arbeit unvollendet geblieben ist. 

Leider nahm der Tod dem fleifsigen und treuen Manne, dem Vater der 
Geschichtschreibung des gelehrten deutschen Schulwesens, die Feder allzufrüh 
aus der Hand. Auf lange Zeit hin ist man bei der Forschung auf diesem 
Gebiete wieder auf entweder ganz umfassende Gesamtwerke oder schwer zu 
erreichende Einzeldrucke, oder gar auf das, was die gelehrten Zeitungen in 
ihren Anhängen den Schulen als Sündenwinkelchen anzuweisen für gut fanden, 
hingewiesen. Die Schwierigkeiten, die sich in Bezug auf Überblicken des 
Materials und auf Beschaffung der oft sehr seltenen Drucksachen ergeben, 
sobald ein so treuer, im ganzen zuverlässiger und zu den Quellen leitender 
Führer wie Ludovici fehlt, sind den Arbeitern auf diesem schwierigen und noch 
nicht genügend erhellten Gebiete nur zu wohl bekannt. 

Sie müssen auch in der damaligen Zeit schon hart genug empfunden 
worden sein, so dafs zunächst das Bedürfnis immer stärker hervortrat, alles 
Schulgeschichtliche-, so weit es von Ludovici nicht erledigt war oder auch sich 
neu gesammelt hatte, übersichtlich studieren zu können. Als Zweites schlofs 
sich hieran der zu allen Zeiten geltende Wunsch, sich über den gegenwärtigen 
Stand der Schulen und alle Personalien, die mit ihnen zusammenhängen, bald 
und genau unterrichten zu können. Als Drittes und Wichtigstes aber kam hinzu, 
dafs man sich über didaktische und pädagogische Dinge auszusprechen und 
über die zur Zeit gerade geltenden Einrichtungen an gelehrten Schulen, soweit 
die protestantische Welt reichte, ausreichend zu orientieren begehrte. 

Dies letztere war, bei der damaligen starken Gährung im höheren Schul- 
wesen, die Hauptsache, und das Ziel dieses Wunsches war zweierlei: einmal eine 
Übersicht, beziehentlich ein sorgfältiger Auszug aus den wichtigsten einschlägigen 



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E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 469 

Schulprogrammen, die etwa seit 1720 erschienen und schon damals nicht leicht 
zu haben waren, und zweitens ein bibliographisches Verzeichnis aller Schriften, 
die sich mit Schulsachen jeder Art, hinsichtlich des Unterrichts, der Unter- 
richtsmittel, der Lehrpersonen und der Schulgeschichte, befafsten. Es waren 
also, wenn auch in anderer Form, ungefähr dieselben Wünsche, die man heute 
einer das Gymnasial wesen behandelnden Zeitschrift entgegenbringen wird, und 
das angedeutete Programm fand auch bald genug seine Erfüllung. 

Denn, um diesen Wünschen gerecht zu werden, entstand die erste deutsche 
Zeitschrift für höheres Schulwesen oder, wie ihr voller Titel lautet, 'Acta 
scholastica, worinnen nebst einem gründlichen Auszuge derer Programmatum 
der gegenwärtige Zustand derer berühmtesten Schulen und der dahin gehörigen 
Beredsamkeit entdecket wird'. Zunächst erschienen sechs Jahrgänge zu je 
sechs ^Stücken* 1741 — 1746 in Leipzig und Eisenach, dann noch zwei Bände 
1747/48 in Nürnberg. Die erste Fortsetzung fand das verdienstliche Unter- 
nehmen in den Nova acta scholastica, von denen zwei Bände zu je zwölf 
Monatsheften 1749 — 1751 in Leipzig erschienen sind. Und dann sind noch 
acht Bände zu je sechs r Stücken* herausgekommen unter dem Titel c Altes 
und Neues von Schulsachen', die in Halle 1752 — 1755 bei Johann Justinus 
Gebauer erschienen sind. Mit diesen achtzehn Oktavbänden ist die Reihe dann 
abgeschlossen. 

Ehe auf den Inhalt dieser, wenigstens in voller Reihenfolge, jetzt ziemlich 
selten gewordenen Zeitschrift eingegangen und eine Schilderung des Typischen 
in ihr gegeben werden kann, mufs ein Wort über ihren Herausgeber voraus- 
geschickt werden. Es war dies der damalige Konrektor und spätere Rektor 
des Naumburger Domgymnasiums, Mag. Johann Gottlieb Biedermann, 
der im Jahre 1747 als Rektor nach Freiberg berufen ward und daselbst 1772 
im Amte verstorben ist. 

Ein kurzer Lebenslauf und eine Würdigung des um das sächsische und 
deutsche Gymnasialwesen verdienten Mannes ist hier um so mehr am Platze, 
als der Artikel über Biedermann in der Allg. Deutsch. Biographie Bd. n S. 395/6 
sehr kurz, nicht überall genau und dabei ziemlich parteiisch ist. Biedermann 
hat es aber nicht verdient, dafs er um einer einzelnen Geschmacklosigkeit 
willen, die bei einem so vielschreibenden 1 ) Manne mitunterlaufen mochte, für 
alle Zeiten in einem ganz einseitigen und darum falschen Lichte steht, blofs 
weil er einmal den empfindlichen Musikern zu nahe getreten ist. — Das aus- 
führlichste Quellenmaterial über Biedermanns Leben verdanken wir einem Pro- 



*) Es sind von ihm allein 148 Programme wenigstens dem Titel nach erhalten! Dafs 
diese Gelegenheitsschriften des 18. Jahrhunderts oft sehr kurz, in der Wahl der Themen 
oft sonderbar und in der Ausführung mehr als flüchtig gewesen sind und einen Vergleich 
mit den entsprechenden neueren Arbeiten in keiner Weise aushalten, ist nur zu begreiflich. 
Die Arbeiten Biedermanns sind noch lange nicht die schlechtesten aus diesen Programm- 
fabriken des 18. Jahrhunderts. Aber er behandelt doch auch Sonderbarkeiten, wie 1767 
Sermones animalium brutorum testimoniis atque exemplis probat, oder 1771 f Die böse 
Sieben', 1772 de porcis sacris et mysticis, oder Gemeinplätze wie 1771 de laudibus nimiis. 



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470 E- Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 

gramm 1 ) des Freiberger Konrektors Mag. Hübler vom November 1772, wo er 
ad memoriam viri praenob. etc. M. Jo. Gottl. Bidermanni orationibus aliquot 
recolendam einladet. Freilich ist auch dieses, trotz seiner zehn Quartseiten, 
noch dürftig genug. Wir entnehmen demselben folgende Daten: 

Johannes Gottlieb Biedermann 8 ) wurde am 4. September 1705 zu Naum- 
burg a. d. Saale als Sohn eines Geistlichen geboren. Er besuchte zunächst die 
Schule seiner Vaterstadt und begab sich 1724 nach Wittenberg, um Philosophie 
und Theologie zu studieren. Dort bestand er die erste theologische Prüfung, 
erlangte den Magistergrad und wurde Hilfsarbeiter an der Universitätsbibliothek. 
Nach einer Hauslehrerzeit in Coswig im Herzogtume Anhalt- Zerbst, wo sich 
ihm auch Gelegenheit zur Bethätigung geistlicher Beredsamkeit bot, wurde er 
1732 zum Konrektor an der Domschule seiner Vaterstadt berufen (Hübler a.a.O.: 
ex huius doctrinae privatae angustiis mox in celebritatem deductus est) und 
zehn Jahre später, 1742, trat er als Rektor an die Stelle von Johann George 
Schulze, der in ein geistliches Amt übergegangen war. Seine Naumburger 
Rektorenzeit fällt mit dem grofsen Aufschwung seiner Zeitschrift zusammen. 
Im Jahre 1747 erhielt er, nachdem man ihn schon anderswo mehrfach begehrt 
hatte, einen Ruf vom Stadtrat zu Freiberg, das durch den Tod von Samuel 
Moller 8 ) erledigte Rektorat des Freiberger Gymnasiums zu übernehmen. Er 
leistete ihm Folge und befand sich bei der allseitigen Anerkennung, die er 
fand, in der alten Bergstadt so wohl, dafs er sich selbst den ehrenvollsten An- 
erbietungen verschlofs und verschiedene Rufe nach Bautzen, Zittau, Halle und 
Berlin ausschlug. In Freiberg ist er auch, nachdem er über 25 Jahre als 
Rektor amtiert hatte, am 3. August 1772 nach kurzer Krankheit gestorben. 

Hübler, dessen Angaben wir kurz zusammengezogen hier wiederholt haben, 
fügt, dem Muster Suetons folgend, der Lebensbeschreibung noch eine Schilderung 
der Person Biedermanns und seiner geistigen und sittlichen Eigenart hinzu. 
Der markanteste Satz daraus ist, dafs an Biedermann vor allem 'assiduitas 
institutionis und constantia rationis, quam sapienter elegisset* zu rühmen seien 
und dafs es ihm bei allem, was geschrieben werde, auf kurze, klare Sätze (quos 

*) Dasselbe deutsch (mit — übrigens stark tendenziösen — Noten von M. Beyer) in 
den 'Freiberger Gemeynnützigen Nachrichten* von 1806. S. 353. 363. 373. Dazu kommt 
noch, nach einer freundlichen Notiz des Hrn. Rektor Preufs in Freiberg, die Arbeit eines 
Anonymus in den F. G. N. von 1824, S. 405, Zur Erinnerung an Herrn Doktor Joh. Gottlieb 
Bidermann. 

*) Die Acta scholastica und ihre beiden Fortsetzungen zeigen den Namen in dieser 
Form auf ihren deutschen Titelblättern. Dagegen tragen das dem III. Bande der Acta 
schol. zum 6. Stück vorgesetzte Bild B.s aus dem Jahre 1743 und das dem I. Bande von f Neues 
und Altes von Schulsachen' vorgesetzte Bild B.s aus dem Jahre 1752 die Unterschrift 
M. Joann. Gottlieb Bidermann, Rect. schol. cathedral. Naumburgensis (bez. Freibergensis). 
Wir haben in dieser Schreibung deshalb wohl nur eine latinisierende Umbildung des ur- 
sprünglichen Namens zu erblicken. — Nach frdl. Mitteilung des Hrn. Rektor Albracht 
vom Naumburger Domgymnasium schrieb B. selbst seinen Namen in dortigen Akten 
(deutsch und lat.) nur mit i, seine Nachfolger aber stets mit ie. 

*) Ein Bild dieses Mannes ist als Stich den Nova acta scholast. Bd. I Sechstes Stück 
(von 1748) beigegeben. 



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E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 471 

aphorismos vocant) angekommen sei. In der Disziplin sei er zwar sorgsam, 
aber liberal gewesen und habe nur dann gestraft, wenn es unbedingt nötig 
gewesen sei. 

Wieweit dies Urteil begründet ist, darüber können wir, bei dem Mangel 
aller anderen Nachrichten über Biedermanns Leben und Wesen, nicht nach- 
kommen. Über seine Thätigkeit als Schriftsteller und Redakteur scheint es 
dagegen, dafs Hübler seinerseits sich kein Urteil hat bilden können. Bücher 
hat Biedermann aufser einem Hefte * Anfangsgründe der hebräischen Sprache* 
(dessen ich nicht habe habhaft werden können), wie es wenigstens scheint, 
nicht geschrieben. Auch von dem ebengenannten kennt Hübler offenbar nur 
den Titel. Ebenso kurz, wie über dieses, fafst er sich über die oben erwähnte 
ungeheure Zahl von Biedermanns Programmen, über deren Titel er kurzweg 
auf Strodtmann, Geschichte jetzt lebender Gelehrten, P. X S. 419 — 440, das 
'Neue gelehrte Europa' XHI S. 252 — 259 und auf Harlesius, Vitae Philologorum 
nostra aetate clarissimorum Tom. n S. 137 — 162 verweist — für einen Bio- 
graphen ein sehr bequemes Verfahren, aber zeitraubend für diejenigen, die eine 
solche Biographie benutzen wollen und nicht zu jeder Zeit eine grofse, an alten 
Bücherschätzen reiche Bibliothek zur Hand haben. Vollends über die von 
Biedermann redigierten Schulzeitschriften hilft sich Hübler mit einigen dürren 
Worten weg: Nota sunt opera viri, in quibus varia, quae celeberrimi scholarum 
doctores scripsissent, collegit, quamobrem ea brevissime tantum indicabimus. 
Edidit igitur etc. Hübler wird wohl, da diese Zeitschriften der Freiberger 
Gymnasialbibliothek fehlen, nur die Titel gekannt und genug zu thun ge- 
glaubt haben, wenn er auf diese allein hinwiese. Das scheint vor allem 
daraus hervorzugehen, dafs unter jenen Zeitschriften auch Selecta scholastica 
(Vol. I. H. Numburg. 1744 — 1746) von ihm genannt werden, die in der Reihe 
der von Biedermann herausgegebenen und in den Verzeichnissen genannten 
fehlen, auch nirgendswo aufzutreiben sind, so dafs die Annahme nahe liegt, 
Hübler habe irrtümlicherweise diesen Titel unter die Reihe der wirklich vor- 
handenen Bücher mitaufgenommen. 

Es ist sehr zu beklagen, dafs uns (so weit ich wenigstens habe nach- 
kommen können) keine unparteiische und sorgfältige Würdigung 1 ) dieser 
redaktionellen Thätigkeit Biedermanns aus der Feder eines seiner Zeitgenossen 
vorliegt. Man würde daraus ersehen haben, wie die Bestrebungen dieses 
Mannes im Gesamtrahmen des geistigen Lebens des 18. Jahrhunderts empfunden 
worden sind, und ferner, wie man in den Kreisen der Schulmänner und Ge- 
lehrten von ihm und seinem Unternehmen dachte. Das würde für ein Urteil, 



l ) B. hatte schon vor Erscheinen seines Unternehmens in den 'Hamburgischen Berichten 
von gelehrten Sachen' auf die Acta aufmerksam gemacht. Es erfolgten dann Anzeigen der 
ersten Stücke in der Leipziger Gel. Zeitung 1741 S. 253, den Hamburger Beyträgen 1740 
S. 830 und 1741 S. 347. Frankfurter Gelehrten Zeitung 1741 S. 322. 330 f. 515 bezieht 
sich nur auf den 1. Jahrgang der f Acta\ Einen von Braunschweig aus in den 'Ham- 
burgischen Berichten von gelehrten Sachen' 1741 S. 469. 742 gegen B. gerichteten Angriff 
hat er ebenda 1742 S. 133—135 abgefertigt. 



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472 E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 

das wir heutzutage zu gewinnen trachten, sehr wichtig und vorteilhaft sein. ^ 
Leider fehlt aber, dem Anschein nach, eine solche zeitgenössische Beurteilung ~ 
gänzlich; es steht auch kaum zu erwarten, dafs eine solche noch auftaucht: bei 
der bekannten Abneigung des 18. Jahrhunderts gegen scharf eindringende oder 
auch nur genügend orientierende Kritik von Büchern und Zeitschriften ist das 
nur zu begreiflich. Anzeigen giebt es genug, aber es ist aus ihnen so gut 
wie nichts zu lernen, höchstens dafs ein paar untergelaufene Druckfehler moniert 
werden. Über Tendenz und Herausgebergeschick aber hört man nichts als 
wohlfeile, hohle Redensarten. 

Die Acta scholastica (und ihre Fortsetzungen) verdienen aber eine Wür- 
digung schon um deswillen, weil sie die ersten Vorläufer aller der zusammen- 
fassenden und orientierenden Zeitschriften sind, aus denen heutzutage der 
Gymnasiallehrer sich über pädagogische, didaktische, schul-historische und 
-philologische und Standesfragen aller Art zu orientieren und verhältnismäfsig 
leicht auf dem laufenden zu erhalten pflegt. 

Nach all diesen Richtungen hin suchten die Acta scholastica ihre Leser 
zu unterrichten. Der nächste Zweck war freilich, wie Biedermann selbst in 
der Vorrede zum I. Band der Acta sagt, nur, 'den Anfang zu einer Sammlung 
auserlesener Schul -Programmatum zu machen'. Aber dabei blieb er nicht 
stehen. Schon dem ersten Stück des I. Bandes, in dem sich acht Pro- 
gramme ini Auszug finden, sind beigegeben: 1) eine Bibliographie der Pro- 
gramme von 1740; 2) Schriften von Schulmännern; 3) Neue zur Schule gehörige 
Bücher vom Jahre 1740, a) zur deutschen Sprache (darunter Bodmers und 
Breitingers Kritische Beyträge), b) zur lateinischen Sprache, c) zur griechischen 
Sprache, d) zur hebräischen Sprache, e) zu galanten Studiis (worunter B. alles 
einrechnete, was zur Mythologie, Geschichte, Geographie und Mathematik 1 ) 
gehörte; 4) Allerhand Veränderungen, so im Jahre 1740 in Schulen vorgefallen; 
und 5) Allerhand neue Merkwürdigkeiten (die sich auf Gelehrtenschulen be- 
ziehn), darunter Stundenpläne, Lebensläufe, Schulgeschichten, behördliche An- 
ordnungen u. s. w. 

Diese Stoffverteilung ist im ganzen durch alle achtzehn Bände mehr oder 
minder beibehalten worden. Das gröfste aktuelle Interesse hatten natürlich die 
obengenannten Beigaben. Auf ihre Sammlung mufste der Redakteur vor allem 
bedacht sein, und die Beschaffung des einschlägigen Materials, um das er nicht 

*) Das war damals hergebracht, vgl. Paulsen, Gesch. des gel. Unterrichts I* S. 651. — 
In den Acta erscheinen auch einzelne mathematische Abhandlungen, so Act. VII S. 21 — 37 
Carl H. Theune (Rektor der Schule zu Sorau): Wie man für eine iede cubische Zahl von 
sechs Ziffern auffs höchste die Wurtzel ohne Rechnung ohnfehlbar finden kann. A. u. N. IV 
192 — 218 J. A. A. Zwicke: Von Einschränkung der mathematischen Wissenschaften in 
niedern Schulen. Act. V 403 ff. Stephan Carl Libeth (Rektor des Pädagog. im Closter 
Berge): De eo quod iustum est circa Matheseos usuni in scholis. Nov. act. I 1 — 55. 87—139 
Jo. Frid. Hahn (Insp. zu Closter Berge): Gedancken, wie dem künftigen Verfall der Mathe- 
matick vorzubeugen. — Daneben als Kuriosum: Act. VI 437 M. Bonifazius Heinrich 
Ehrenberger, Prof. Mathem. et Metaphys. des Gymnasii zu Coburg: De amatrice lumen et 
scintillas spargente (als physikalisches Phänomen!). 



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E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 473 

müde wird zu bitten, mag ihm wohl oft weit mehr Mühe und Arbeit ver- 
ursacht haben, als die im ganzen zurücktretenden Originalartikel und die Aus- 
züge aus den Programmen, die die Hauptmasse des Inhalts der Acta darstellen. 

Jene 'Beigaben' umfassen für ihre Zeit so ziemlich das alles, was auch in 
neueren Büchern, die dasselbe Thema behandeln, wie z. B. in den bekannten 
Publikationen von Mushacke und Rethwisch geleistet wird. Damals war freilich 
der Rahmen wegen der geringeren Anzahl der Schulen weit enger gezogen als 
heute. Biedermann griff darum auch über die Grenzen Deutschlands hinaus 
und gab genaue Daten über die deutschen Gelehrtenschulen in Dänemark 1 ), 
Schweden 2 ), Polen 3 ) und Rufsland 4 ), ohne die gelegentlichen Angaben über die 
holländischen, ungarischen und englischen Schulen. Es mag dem Herausgeber 
wohl dabei vorgeschwebt haben, dafs seine statistischen Angaben alle die 
Länder umfassen sollten, die dem Protestantismus anhingen: denn die enge 
Verbindung der Gymnasien mit der 'gereinigten Lehre' war ja der damaligen 
Zeit eine selbstverständliche Sache: eins ohne das andere konnte man sich 
schon um deswillen nicht denken, weil die Lehrer fast ausnahmslos studierte 
Theologen waren. 

Die Personalnachrichten, die etwas ganz Neues in der pädagogischen 
Litteratur darstellten, waren so geordnet, dafs in den einzelnen 'Stücken' zu- 
nächst die Neubesetzungen freigewordener Stellen gemeldet wurden, dann be- 
kanntere Schulmänner nach ihrem Hinscheiden einen Nekrolog erhielten 5 ), 

*) Act. DI 520 — 626 Der gegenwärtige Zustand derer Schulen in Dänemarck. — II 361 
Rectores der Schule zu Coldingen in Dänemarck von derselben Stiftung an. — Nov. 
act. I 236 — 246 Etwas von denen dänischen Schulen (Odensee). — ib. 629 Fortsetzung. — 
Act. V &49 — 563 Von der Schule zu Rieben (Ripe) im sogen. Puckgard. 

*) Act. II 163 — 168 Der gegenwärtige Zustand der Schulen in Schweden. — Act. IV 
356 — 360 Schule zu Nykjöping. — ib. 361 Schule zu Geval (Gefle). — Act. VIII 810—318 
Von den Schulen in Pommern schwedischen Anteils (Stralsund, Greifswald, Wolgast, Barth). 

— Act. VQ 544 Die deutsche Schule in Stockholm. — Nov. act. II 926 Kurtze Historie 
von der Trivial -Schule bey der St. Clara -Kirche in der Nordervorstadt zu Stockholm. — 
ib. 878 Lectiones bey der deutschen Schule zu Stockholm. — A. u. N. II 293/4 Fortsetzung 
von der f Kurtzen Historie'. — ib. I 267 Lehrerkollegium der deutschen Schule in St. 

*) Act. I 299 Schulnachrichten von Pohlnisch Lissa, Sluck und Cajodun (?) in 
Litthauen u. a. 

4 ) Act. H 877 Die Lehrer, die bey der Schule von Archangel sind gewesen. — 
Acta DI 5 ff . Joh. Loderus , Von der Wiederherstellung des Rigischen Lycei. — Act. VTLI 
342—359 Nachricht von der Domschule zu Riga. — A. u. N. I 270—286. H 281—286 Das 
kaiserliche Gymnasium zu Reval. — A. u. N. I 286 — 291 Die Schule zu Narwa (mit 
Lektionsplan). — A. u. N. V 280 — 289 Anrede von G. M. Schnetter bey der Einführung 
J. G. Hebenstreit zum Cantor und Schulkollegenamt bey der Stadtschule zu Pernau in Lief- 
land. — ib. 304 Kurtze Nachricht von der Pernauischen Stadtschule. 

•) Ich erwähne (hier, wie oben, nur beispielsweise) A. u. N. I 211—315 Rektor Theophilus 
Grabener an der Fürstenschule zu St. Afra in Meifsen. — Act. I 300—304 Rector M, Daniel 
Muller aus Chemnitz. — Nov. act. I 207 — 234 Rector Doppert aus Schneeberg (vgl. hierzu 
E. Heydenreich im N. Sachs. Archiv XVI 229—268). — Act. V 462—476 Rector Jacob Wolf 
aus Stralsund. — Act. ID 241 — 247 Rector M. Christian August Freyberg zu St. Annen vor 
Drefsden. — A. u. N. I 197 — 211 Rect. em. G. Friedrich Dolp in der Reichsstadt Nördlingen. 

— A. u. N. V 310 — 312 M. Joh. Friedr. Jünger, gewes. Lehrer bey der Landschule zu Meissen. 



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474 E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 

hierauf die historische Reihenfolge der Rektoren und Kollegen an einzelnen 
Schulen (wohl, wie der Zufall das Material lieferte) angefugt ward und den 
Schlufs die gegenwärtige Zusammensetzung der einzelnen Lehrerkollegien bildete. 

Alles sachlich Wissenswerte und Interessante, wie Arbeits- und Lektions- 
pläne und behördliche Anordnungen, vereinigte der Herausgeber unter der 
Rubrik * Allerhand neue Merck Würdigkeiten*. Hierin ist viel zum Teil noch 
un verwertetes Material gesammelt, das seiner Auferstehung harrt. 1 ) 

Es ist in diesen 'Beigaben' zu den Acta wohl keine irgendwie bedeutende 
Schule im ganzen protestantischen Deutschland ganz vergessen worden. Jedoch 
ist die Behandlung der einzelnen Schulen und Länder recht ungleich, was sich 
wohl daraus erklären wird, wie dem Redakteur von einzelnen Stellen aus das 
Material zugeflossen oder auch vorenthalten worden sein mag. Vor allem die 
Gymnasien kleinerer und entlegenerer Orte Nord- und Mitteldeutschlands werden 
für persönlich und sachlich gerichtete Forschung bei einer genauen Durchsicht 
dieser Acta viel brauchbares Material und in den bibliographischen Übersichten 
manch nützlichen Handweiser finden. Dagegen finden wir manche alte und 
berühmte Schule entweder gar nicht oder doch nur vorübergehend erwähnt, 
wie z. B. von den Berliner Schulen das Graue Kloster und das Joachimsthalsche 
Gymnasium (wie überhaupt Nachrichten aus Berlin nur sporadisch erscheinen), 
das Marienstiftsgymnasium zu Stettin, das Domgymnasium zu Magdeburg, das 
Kneiphöfische Gymnasium zu Königsberg, u. a. m. 

Besondere Aufmerksamkeit widmete Biedermann Mitteldeutschland, vor 
allem Kursachsen 2 ), über dessen Gymnasial- und Lateinschul -Verhältnisse er 



*) So finden sich z. B. Act. Vm 306 — 310 Die Lectiones des Lyceums von Marienberg 
im Erzgebirge. — Act. V 491 — 517 Vorläufige Nachricht von dem Collegio Carolino zu 
Braunschweig. — Act. HI 664 Lectiones a) der Schulen zu Mietau in Churland 1744, b) zu 
Neuruppin in der Marck Brandenburg, c) der deutschen Schule zu Stockholm. — Act. II 
443—445 Lectiones des Gymnasii 1) zu Hamburg 1743/44, 2) Thoren 1743, 3) Minden 1743). 

— Nov. act. II 108 — 113 Nachricht von der jetzigen Einrichtung der Altstädtischen Parochial- 
Schule zu Königsberg. — ib. 146 — 149 Nachricht vor diejenigen, welche ihre Söhne oder 
Pflegbefohlenen auf die Closterschule zu Dfeld zu bringen gedencken. Auf Befehl der 
Königl. Regierung zu Hannover den 6. Mertz 1749 publiciert. — A. u. N. VI 269 — 299 Jo. 
Georg Albrecht, Die gegenwärtige Verfassung des Gymnasii zu Franckfurt am Mayn. — 
A. u. N. Vü 298 — 323 M. Johann Dan. Schumanns, Direktors des Pädagogii zu Clausthal, 
Nachricht von des Pädagogii zu Clausthal gegenwärtiger Verfassung. — A. u. N. Vlil 209 — 245 
M. Johann Peter Millers, Rektors des Gymnasii zu Halle, Nachricht von der itzigen Ver- 
fassung des Evangelisch-Lutherischen Gymnasii zu Halle 1755, u. a. m. 

*) Z. B. Act. I 368 — 362 Von dem Ursprung der Franciskaner- Schulen in Meifsen 
(Green). — II 169 Die Rectores der Creutzschule zu Drefsden. — ib. 364 Die jetzigen 
Lehrer a) Am Gymn. zu Freyberg in Meifsen, b) bey denen Schulen in Leipzig 1) Zu 
St. Nicolai 2) Zu St. Thomae, c) am Lyceo zu Wittenberg, d) am Gymnasio zu Merseburg. 

— ib. 567 Gegenwärtige Lehrer zu Grofsenhayn. ib. 569 Zu Lauban. Zu Pirna. — HI 167 
Gegenwärtige Lehrer an der Domschule zu Naumburg. — ib. 225 Die Rectores der Schule 
zu Annaberg. — ib. 435 Gegenwärtige Lehrer an der Rathsschule zu Naumburg. — 
ib. 49 — 52 Die sämtl. Rectores der Schule zu Freyberg in Meifsen. — ib. 54/55 Rectores 
der Schule zu Grofsenhayn. — ib. 135— £48 Rectores der Schule zu Chemnitz. — IV 146 — 159 



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E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 475 

uns fast in jedem Bande seiner Zeitschrift orientiert. Jedoch sind auch hier 
die Angaben nicht lückenlos. Man findet z. B. so gut wie keine geschichtlichen 
Angaben und nur dürftige Personalnotizen über die drei Fürstenschulen und 
die zwei Stadtschulen zu St. Thomä in Leipzig und zum Kreuz in Dresden. 
Im ganzen aber fliefst die Quelle für das 18. Jahrhundert hier besonders 
reichlich, und die Angaben sind, wie Stichproben und Vergleiche mit anderen 
einschlägigen Arbeiten ergeben haben, auch ziemlich zuverlässig, wenigstens 
nicht in geringerem Grade als solche Arbeiten aus der Mitte des 18. Jahrhunderts 
überhaupt zu sein pflegen. Der 'Mushacke' und c Rethwisch' aus der Perückenzeit 
hat offenbar gethan, was er nur konnte, ein erfreuliches Zeichen, mit welchem 
Bienenfleifs der ehemalige Freiberger Rektor gesammelt und gearbeitet hat, 
angewiesen allein auf die freundlichen Zusendungen seiner Kollegen und ohne 
dafs ein 'Druck von oben* ihn unterstützt hätte, dabei unter den schwierigsten 
postalischen Verhältnissen und mit dem einzigen litterarischen Hilfsmittel der 
Leipziger Mefskataloge. 

Weniger günstig als über diese 'Beigaben* mufs das Urteil über den 
eigentlichen Hauptinhalt der Biedermannschen Zeitschrift lauten. Im grofsen 
und ganzen besteht dieser aus mehr oder minder ausführlichen Auszügen aus 
der damaligen Programmlitteratur. Die meisten dieser Auszüge, besonders in 
den ersten Jahrgängen, sind von Biedermann selbst gemacht; späterhin werden 
die Programme entweder im ganzen abgedruckt oder doch die Auszüge von 
den Verfassern selbst geliefert. Eigentliche Originalartikel sind erst ganz zu- 
letzt, in den Bänden 'Altes und Neues* erschienen, und es ist wohl gerade der 
feierlichen Weisheit dieser Emanationen zuzuschreiben, dafs die Zeitschrift, die 
nicht Anregendes und Persönliches genug mehr darbot, zu langweilig wurde, 
keine Abonnenten und Verleger mehr fand und deshalb abstarb. 

Der Gedanke, die Programmlitteratur in einer Übersicht zu vereinigen, war 
an sich gut. Wenn man die verhältnismäfsig leichte Zugänglichkeit bedenkt, 
die durch diese Programmschau über ganz Deutschland und seine protestantischen 
Anhängsel dem gelehrten Publikum für diesen Zweig der litterarischen Arbeit 
geboten wurde, so waren die Acta geradezu die Erfüllung eines Bedürfnisses. 
Denn gerade jene Programme sind zu den gröfsten bibliographischen Selten- 
heiten geworden, sobald nicht ein Rektor das Bedürfnis fühlte, seine Opuscula 



Etwas von der Rathsschule zu Naumburg. — ib. 252 — 266 Rectores des Zittauischen 
Gymnasii. — ib. 361 — 867 Nachricht von der letzten Visitation des Gyumasii illustris zu 
Weifsenf eis. — ib. 369—372 Vita M. Christian Peschecks, wohlverdienten ältesten Collegen 
und öffentl. Lehrers der mathematischen Wissenschaften bei dem Zittauischen Gymnasio 
(vgl. Neues Laus. Mag. XX 374—378). — V 79— 82 Einige milde Schulstiftungen a) Vor 
die Präceptores des Gymnasii zu Zittau (aus Carpzov, Anal. Fast. Zittav. P. HI cap. VTH 
S. 106 f.). — ib. 281— 286 Verzeichnis der Rectorum, Conrectorum et Cantorum bei der 
Laubanischen Schule. — ib. 517 — 621 Die sämmtlichen Collegen bey der Grimmischen 
Fürstenschulen. — VH 146 — 149 Etwas von der Rathsschule zu Naumburg — ib. 547 — 560 
Von der Schule zu Geithayn oder Geiten. — A. u. N. VII 324 Einweihung der Schule zu 
Rofswein. — Vm 206—209 Voigt, Von der Schulbibliothec zu Camenz. 



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476 E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 

zu sammeln. 1 ) Um die meisten war es allerdings auch nicht schade, denn die 
Perückenzeit ist für Kunst und Wissenschaft kein Perikleisches Zeitalter ge- 
wesen. Aber manche dieser Gelegenheitsschriften enthalten doch wissenswerte 
Einzelheiten, und wer einmal solche Sachen vergebens gesucht hat, selbst am 
Orte ihres Erscheinens, der wird den Wert einer solchen Übersicht wohl zu 
würdigen wissen. 

Leider ist der Zweck des Ganzen dadurch etwas verfehlt, dafs Biedermann 
ein eklektisches Verfahren ohne bestimmte Grundsatze einschlug, mancherlei 
wegliefs, was man ungern entbehrt, und vieles aufnahm, was man als leeres 
Stroh bezeichnen mufs. Er scheint eben bei der Aufnahme der einzelnen Ar- 
tikel von der Hand in den Mund gelebt zu haben. 

Die Arbeiten selbst zerfallen in vier grofse Hauptgruppen: 1) die rein 
wissenschaftlichen, soweit dies die Altertumskunde angeht, 2) die historischen, 
hierbei das Wort im weitesten Umfange genommen, 3) die theoretisch und 
4) die praktisch pädagogischen Abhandlungen. 

Rein wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiete der Altertumswissen- 
schaft treten uns in den Acta verhältnismafsig selten entgegen: auch diese 
Zeitschrift scheint schon *mit Ausschlufs der klassischen Philologie' erschienen 
zu sein. Das hängt einmal mit dem damaligen Tiefstand der Altertumswissen- 
schaften zusammen, anderseits thaten aber die Acta eruditorum diesem Bedürfnis 
hinreichend Genüge. Am geringsten, an Quantität und Qualität, sind die Ar- 
beiten über griechische Schriftsteller und Altertümer. Das Vorhandene ist 
dürftig und, selbst mit historischem Mafsstab gemessen, unbedeutend. 8 ) Etwas 
besser sind die Arbeiten, die sich auf Grammatisches beziehen, wenngleich man 
sich erst durch die wunderlich kindlichen Theoreme hindurchwinden mufs, die 
man damals für Sprachforschung hielt. 8 ) — Einen etwas höheren Rang nimmt 
alles das ein, was über Latein und die damit zusammenhängenden Fragen aus 
den Programmen ausgezogen ist, vor allem so weit es schulmäfsig ist. Be- 
merkungen zu den Schriftstellern und Altertümern sind freilich ebenfalls recht 
spärlich vertreten. Die etwas häufigeren grammatischen und stilistischen Aus- 
einandersetzungen sind sachlich zwar nicht viel höher stehend als die über das 
Griechische handelnden Arbeiten, beweisen aber doch, dafs der damalige Schul- 
sack noch gut und reichlich mit Latein versehen war. Der Inhalt der Acta 
ist zwar fast durchweg deutsch, aber wo sich Latein einmal eingefügt findet, 
da ist es gut und verhältnismafsig rein; der Stil ist zwar bisweilen geschraubt, 
aber es ist doch flüssig geschrieben und leicht zu lesen. 

l ) Einzelne Angaben hierüber befinden sich in Ludovicis Schulhistorie, Vorr. zum I. Bd., 
und in der Vorr. zum I. Bd. der Acta. 

*) Einen charakteristischen Beleg hierfür bieten die Bemerkungen des Fürstlich Höhen- 
Ionischen Konrektors M. Jo. Christian Wibel zu der Junckerschen Ausgabe von Plutarch de 
educatione puerorum und drei Isokratesreden , einem traurigen Machwerk nach Art der in 
diesen Jahrb. 1897 S. 572 charakterisierten 'pädagogischen' Übersetzungen des Horaz. 

") Hin und wieder finden sich Zusätze zu den landläufigen grammatischen Lehrbüchern, 
vgl. Act. HI 267 ff. Henr. Scholtz, De aoristorum graecorum differentia et notione. — In 
A. u. N. HI 168 ff. zu des Lambertus Bos Werk: EUipses graecae. 



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E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 477 

Die zweite Gruppe bilden die historischen Arbeiten aller Art. So weit 
sie sich auf rein geschichtliche Dinge 1 ) beziehen, sind sie in der Regel nur 
Materialiensammlungen ohne historische Kritik, enthalten aber doch manches 
recht Brauchbare. Das tritt besonders hervor, sobald es sich um Stadt- 2 ) und 
Schulgeschichtliches 8 ) handelt. Gar manche von diesen Arbeiten sind für die 
Zustande des damaligen Schulwesens, vor allem der deutschen protestantischen 
Schulen im Auslande, von hoher Wichtigkeit und kulturhistorischem Interesse. 
Man wird z. B. die Schicksale 4 ) des wackern deutschen Rektors an der evan- 
gelisch-lutherischen Schule zu Moskau, Mag. Christian Zierold, nicht ohne 
Bewegung und grofses Mitleid mit diesem in ein damals halbbarbarisches Land 
verschlagenen Gelehrten lesen, und der dieser Länder Kundige wird in den 
Auslassungen jener Tage vielleicht an manche Parallelen aus unserer Zeit 
erinnert werden. 

Den Übergang zu den eigentlich pädagogischen Abhandlungen mögen die 
Abhandlungen aus den * gelehrten Studien* bilden, von denen einige (vgl. S. 504 
Note 1) miteingestreut sind, und die Abhandlungen über altdeutsche 6 ) Lieder, 
die Schöttgen gesammelt hatte. Sie dienten dazu, dem Gesamtbild einige bunte 
Farben mehr aufzusetzen. 

Den breitesten Raum nehmen die pädagogischen Abhandlungen ein, 
deren beide Abteilungen sich nicht voneinander trennen lassen. Auch hier ist 
wenig Weizen in der Spreu. Seiten- ja bogenlang findet sich die unerträgliche 
Seichtheit und salbungsvoll - unausstehliche pädagogische Predigt und jener 
Schwall von Gemeinplätzen, in dem das 18. Jahrhundert sich so wohl gefiel. 6 ) 
Daneben laufen, immer mit pädagogischer Tendenz, mancherlei Kuriosa mit unter, 
wie die feierliche Abhandlung des Osnabrücker Rektors M. Zacharias Goetze 



l ) Z. B. Acta III 363 ff. Samuel Walther, Das Magdeburgische Herzogthum ein Land 
der Grafen. — IV 898 Chr. Runge (Prorect. und Prof. am Gymn. Magdal. zu Breslau), Von 
dem Ursprung des Schlesischen Adlers. — Nov. act. I 423 Gottfr. Mörlin, Rector zu Alten- 
burg, Von ungleichen Urteilen über die Geschichte des Churfürsten Joh. Friedr. des Grofs- 
mütigen. — A. u. N. IV 1 ff. Joh. Ludw. Gebhardi, Von dem Uhrsprung des Durchlauchtigsten 
Hauses der Fürsten von Nassau. 

*) Vgl. Acta I 1. Chr. Schöttgen, Vom Ursprünge des Gregoriusfestes. — A. u. N. VI 
115—149 Reformationsgeschichte der Stadt Hildesheim. 

*) Vgl. oben S. 605 Note 1—5. Ferner Act. IV 433 ff. A. u. N. m 299—327 Nachricht 
von denen mittleren oder gymnastischen Schulen des Herzogthums Württemberg. 

4 ) Nov. act. II 410 — 432. 774 — 796 (unvollendet) Herrn- Christian Zierolds, Rect. der 
Evangel. Luth. Schule bey der Neuen Kirche zu Mofcau, von ihm selbst aufgesetzt. 

ö ) Nov. act. I 677 — 689 Nachricht von einem altteutschen Manuscript der Sprüchwörter 
und des Predigers Salomonis. A. u. N. VHI 179—206 Probe einer Erklärung der Offen- 
barung Johannis in altdeutschen Versen. 

•) Um den Ton solcher Abhandlungen zu charakterisieren, sei aus den Nov. act. schol. 
Bd. I herausgegriffen: f Ob der Mensch allein und ihm selbst gelassen, vermögend gewesen, 
reden zu lernen, und eine Sprache zu erfinden, oder ob vielmehr Gott der Urheber davon sey' 
(natürlich ohne eine Ahnung davon zu haben, dafs schon Plato einen ähnlichen Gedanken 
erörtert hat). — ib. 286 'Die Weisheit und Güte Gottes im Winde.' Anderes dergleichen 
fast in jedem Bande. 



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478 E- Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 

'Vom BompernickeP (Act. VII 99 ff.), dessen trefflichen Eigenschaften der Sieg 
der ^Westphälinger' über Varus und seine Legionen in der Hauptsache zu- 
geschrieben wird; das lateinische Gedicht des ehemaligen Rektors Joh. Hoffmann 
von Frankenhausen über *Die Martinsganfs' (Acta H 399) l ), vgl. die orientierende 
Bemerkung Biedermanns über diesen Schulmann; oder die Abhandlung von 
Johann Simeon Lindinger, Rektors des reformierten Gymnasii zu Halle, f Be- 
urtheylung des bey den Chinesern üblichen Unterrichts der Jugend' (A. u. 
N. HI 29 ff). VgL auch S. 504 Note 1 am Ende. 

In der grofsen Menge der Aufsätze vermifst man gar manches, was man 
gern wissen möchte, um ein deutliches Bild von dem damaligen Schulwesen zu 
gewinnen. Man hört z. B. wenig genug über den Einzelbetrieb der Schulen, 
über ihre Frequenz und und vor allem Angaben über den Durchschnittsstand 
der Leistungen. Vielleicht hat das seinen Grund darin, dals man sich der 
eigenen Unzulänglichkeit doch zu sehr bewufst war. Denn wir dürfen uns 
diese Dinge gar nicht gering genug denken. Der Betrieb litt an dem zum Teil 
sehr geringwertigen Lehrerpersonal (Paulsen I 2 593), die Frequenz war abhängig 
von allerlei Faktoren, die heutzutage mit Recht stark zurücktreten, vor allem 
städtischen und geistlichen Einflüssen, und der Durchschnittsstand der Leistungen 
war dementsprechend. Vor allem wurde der letztere dadurch herabgedrückt, 
dafs die jungen Leute zu früh aus den Schulen wegliefen, sobald sie sich selbst 
oder ihre Eltern sie für reif genug erachteten, die Universität zu beziehen. 
Hierüber wird oft laut geklagt. Daneben litt das öffentliche Gymnasium unter 
dem alten Elend der Winkelschulen, die wie ein schädliches Unkraut überall 
wucherten. 2 ) Doch finden sich hier und da schüchterne Ansätze, die Schulwelt 
des Tages zu schildern, wie sie wirklich war, freilich nur bescheiden sich 
hervorwagend und auch in ihren Auskünften wenig befriedigend. Man* kann 
z. B. aus den sich zahlreich hinter den Programmauszügen findenden Themata, 
über die die Abiturienten gesprochen haben, manchen Schlufs auf das 8 ) machen, 



*) Solche Poesien auch anderwärts. So erschien in Meifsen 1710 Poeta Laurentinus, 
Ludi et Epulae Afranae feriis tarn statis quam indictivis in ill. ludo Misnensi ad Albim 
quotannis celebrari solitae, worin der anser Burcardinus und die feriae stramineae (entspr. 
dem heutigen Schulfest im Juli) die gröfste Bolle spielen. 

*) Act. IV 206 Jacob Krantz, Rect. zu Landeshut in Schlesien. Progr. i788 frl. Von 
sogenannten Winckelschulen. Vgl. hierzu Th. Vogel in Schmids Encyclop. des ges. Er- 
ziehungswesens VII * S. 764 mit der Note. 

•) Zu dieser Rubrik gehören auch Nov. act. I 707 Christ Tob. Damm (Rektor am Colin. 
Gymnasium in Berlin), Anzeige derer Sätze zu denen wöchentlichen Rede- und Disputations- 
übungen. Sie beziehen sich auf die Jahre 1742—1746. Die Themen zu den 'Rede'übungen 
sind deutsch (also die Redeübungen wohl auch), und der Zahl nach kann man annehmen, 
dafs für jede Woche je ein Thema gestellt ward. Die lateinischen Themen für die Dis- 
putationen sind weit zahlreicher, so dafs man also daran denken mufs, dafs sie zur Wahl 
gestellt worden sind. Die Themen selbst bewegen sich (wie es bis zum Absterben dieser 
Übungen wohl überhaupt gewesen ist) auf christlichem oder allgemein moralischem Gebiet, 
und nur sehr wenige unter ihnen sind anfechtbar oder ungeeignet. — Recht vernünftig 
klingt auch das, was der Annaberger Rektor Gotthold Wilisch 1724 f Von der nützlichen Ein- 
richtung des in Schulen gewöhnlichen Perorierens und Disputierens' schreibt Act. IV 3^8 — 361. 



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E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 479 

was in den einzelnen Schulen betrieben worden ist. Das Wie freilich wird 
nirgends erörtert, wenigstens nicht so, dafs man sich die damalige Praxis genau 
vorstellen könnte. 

Es ist immer so gewesen, dafs es viel weniger Leute gegeben hat, die 
uns sagen, wie etwas irgendwo wirklich gemacht wird, und sich kühn der 
Kritik stellen, als solche, die theoretisierend und philosophierend ihre Weisheit 
zu Markte bringen und uns zu belehren trachten, wie es gemacht werden 
könnte (oder, wie sie denken: müfste). Denn die Gedanken wohnen leicht bei- 
einander. Davon macht auch die Mitarbeiterschaft der Acta scholastica keine 
Ausnahme, denn die Theorie überwuchert hier alles. 

Das meiste hiervon ist unbrauchbar, besonders die langen moralisierenden 
Abhandlungen, die die Bände 'Altes und Neues' füllen. Deren gelehrte Lange- 
weile wird in den vorhergehenden Bänden aber doch da und dort durch Be- 
trachtungen abgelöst, die weit besser sind, und in denen, zum Glück für uns, 
es dem Autor widerfährt, dafs er vom Thema abspringend nicht mehr 
theoretisierend das Ideal der Schule und des Lehrers schildert, sondern auf die 
realen Verhältnisse und Zustände übergreift und uns durch deren kritische 
Betrachtung einen Einblick in die wirkliche Schulstube gewährt. Über ein 
hervorragendes Beispiel dafür soll im nächsten Hefte berichtet werden. 

(Schlufs folgt) 



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DIE PÄDAGOGIK DER JESUITEN UND DER PIETISTEN 

Von Georg Mertz 

(Schlufs) 

Bei der Vergleichung des Unterrichtsstoffes der beiden religiösen Ge- 
meinschaften fällt besonders auf, dafs nur die Pietisten für die religiöse Unter- 
weisung und das religiöse Verständnis ihrer Schüler gesorgt haben, während 
die Jesuiten sehr wenig in diesem Punkte geleistet haben. 

Bei Francke kamen in den Volksschulen von 6 Unterrichtsstunden 4 auf 
Religion. Daneben standen noch die vielen Andachten und Gebetsübungen in 
ihrem Dienst. Die Religion bildete den Mittelpunkt des ganzen Unterrichts. 
Katechismus, biblische Geschichte, Kirchenlieder, Bibelkunde standen in kon- 
zentrischer Verbindung. Auch in der Lateinschule und in dem Pädagogium 
war trotz des Latein mit 5 bis 7 Klassen die Religion mit 4 bis 5 Klassen 
ausschlaggebend, denn auf sie wurde in allen Unterrichtsstunden Bezug ge- 
nommen. In allen Schulen bildete die Bibel die Grundlage des Religions- 
unterrichts. 

Bei den Jesuiten verdrängten die religiösen Übungen fast vollständig den 
religiösen Unterrichtsstoff. In den Studia inferiora wurde die Bibel überhaupt 
nicht gebraucht. In den Studia superiora wurden die Schüler nur oberflächlich 
mit ihr bekannt gemacht. An ihre Stelle traten die scholastische Theologie, 
die dogmatischen Lehrsätze der Kirche. 

Hier macht sich wiederum der confessionelle Gegensatz beider geltend. 
Etwas hatten sie jedoch auch hier gemein. Wie die Jesuiten darauf ausgehen, 
die Lehrsätze der Kirche — wenn sie dem Ordensinteresse nicht widersprechen 
— in allen Teilen zu beweisen und zu verteidigen, so halten die Pietisten an 
dem buchstäblichen Sinn der Bibel als unbedingt mafsgebend für Glauben und 
Seligkeit fest. Die scholastische Theologie auf der einen Seite, die Bibel auf 
der anderen waren die Norm für Erziehung und Bildung. 

Daraus erklärt sich auch bei beiden die Geringschätzung und Vernach- 
lässigung des Inhaltes der Klassiker. Für beide kam bei der Lektüre der alt- 
klassischen Schriftsteller nur die sprachlich -formelle Seite in Betracht. Die 
'gereinigten Klassiker' wurden zudem noch oft von den kirchlichen Schrift- 
stellern verdrängt. 

Auch in der Methode finden sich neben Ähnlichkeiten prinzipielle Ver- 
schiedenheiten zwischen Jesuiten und Pietisten. 



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G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 481 

In der festen Studienordnung, in den approbierten Gewohnheiten der Pro- 
vinzen und der einzelnen Gymnasien war für den Jesuitenorden die Gewähr 
für eine einheitliche Methode gegeben. Wenn je einem Provinzial eine Abände- 
rung der Rat. stud. zweckdienlich schien, so hatte er es dem General zu be- 
richten. Veränderungen durften dann nur in der Art getroffen werden, 'dafs 
man unserer gemeinsamen Studienordnung möglichst nahe kommt'. Rat. stud. 
reg. prov. 39. Damit die Lehrer nicht in Versuchung kommen, vermeintliche 
Besserungen nach eigenem Gutdünken beim Unterrichte einzuführen, finden 
monatlich oder wenigstens alle zwei Monate Konferenzen statt, bei denen sie 
ihre Erfahrungen und Verbesserungsvorschläge vorbringen können, um von 
der Vortrefflichkeit der Rat. stud. überzeugt zu werden. Die Beobachtung der 
Uniformität geht soweit, dafs ein neuer Lehrer die Lehrart und die sonstigen 
Gebräuche des Vorgängers festzuhalten hat. R. st. reg. praef. stud. inf. 5. Ein 
Lehrer darf nicht einmal neue Beweisgründe für die approbierte Lehre an- 
führen, sondern mufs die alten Beweise immer wieder vortragen. Rat. stud. 
reg. prof. theol. 5. Dem mechanischen Lehren entsprach das mechanische Lernen. 
Schon das ist genau vorgeschrieben, was ein jeder zu studieren hat. Es giebt 
kein Lieblingsstudium. Nicht einmal so viel Freiheit ist dem Schüler gestattet, 
dafs er das vorgeschriebene Pensum sich auf die ihm passende Weise zu eigen 
macht. Rat. stud. reg. praef. stud. 27. Vom Forschen und Denken wurde der 
Schüler methodisch abgehalten. War alles, was der Orden lehrte, unbedingte 
Wahrheit, so genügte es für den Schüler, sich materiell dasselbe anzueignen. 
Sein Geist war nur ein leeres Gefäfs, in das die Wahrheit als fertiger Stoff 
eingegossen wurde. Hätte er gewagt, sich selbst von der Wahrheit zu über- 
zeugen, so hätte er gezweifelt an der Autorität der Oberen, denen er Verstand 
und Willen im heiligen Gehorsam unterzuordnen hatte. So bleibt das Wissen 
ein toter Schatz, zu dessen Aneignung und Festhaltung weiter nichts als ein 
gutes Gedächtnis erforderlich ist. Die Pflege des Gedächtnisses liefsen sich darum 
auch die Jesuiten hauptsächlich angelegen sein. Seine Übung forderte ja 
noch in anderer Hinsicht den Zweck des Ordens, Redner heranzubilden. Ein 
Redner mufs ein gutes Gedächtnis haben, um den Stoff stets gegenwärtig 
und bereit zu haben. Rat. stud. reg. prof. Rhet. 3. Aufserordentliches haben 
auch die Jesuiten in der Gedächtnisübung geleistet. Jeden Sonnabend wurde 
von den Schülern der in der vergangenen oder in mehreren Wochen gelernte 
Stoff auswendig hergesagt. Sogar ganze Bücher wurden auswendig gelernt 
und vorgetragen. Rat. stud. reg. comm. prof. class. inf. 19. Eine Gedächtnis- 
übung bilden die Deklamationen und Redekämpfe. Zur gleichen Pflege und 
Ausbildung tragen nicht wenig die fortwährenden Wiederholungen bei. Täglich 
wurde die Lektion des laufenden und vorhergehenden Tages eine Stunde lang 
wiederholt. Rat. stud. reg. comm. prof. sup. fac. 12. Aufserdem haben die Scho- 
lastiker die Pflicht, wöchentlich drei- bis viermal zu Hause je eine Stunde zu repe- 
tieren. Rat. stud. reg. prof. Rhet. 19. So wird alles im Laufe des Schuljahres 
ein paarmal wiederholt. Ist dies nicht möglich, so sorgt der Lehrer gegen Ende 
des Schuljahres dafür, dafs womöglich alle Lektionen vor Eintritt der Ferien 

Neue Jahrbücher. 1899. H 31 



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482 G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 

repetiert werden. Rat. stud. reg. comm. prof. sup. fac. 13. Mit dem Beginn des 
neuen Schuljahres fangt auch die Repetition wieder an. Der neue Stoff darf 
nicht in Angriff genommen werden, bevor das Pensum der vorhergehenden 
Klasse wiederholt ist. Rat. stud. reg. comm. prof. class. inf. 12, 1. Kurz der 
ganze Unterricht ist auf die Pflege und Übung des Gedächtnisses zum Nachteil 
des Verständnisses angelegt. 

Auch bei den Pietisten war das Lehrverfahren genau vorgeschrieben. Für 
die einzelnen Schulen bestanden besondere Lehrplane, welche auch auf Kleinig- 
keiten eingingen. Als Norm für die deutschen Schulen galt die 'Ordnung und 
Lehrart für die Waisenhaus-Schulen\ Für die lateinische Schule und das Päda- 
gogium war die 'Ordnung und Lehrart des Pädagogiums' und die 'Verbesserte 
Methode des Paedagogii regii' mafsgebend. Für die Lehrer bestanden bis ins 
einzelnste gehende Instruktionen, an die sie gebunden waren und auf deren 
Einhaltung der Inspektor zu dringen hatte. 'Es sollen sich die Informatores 
in allen Stücken nach der ihnen vorgeschriebenen Schulordnung und Instruktion 
richten und nichts nach eigenem Gefallen ändern.' Was von den Informat. 
zu observieren § 19. Trotz dieser strengen Vorschrift über die Beobachtung 
der Lehrordnungen und Instruktionen, die hauptsächlich der jungen unerfahrenen 
Lehrer wegen gegeben werden mufste, hielt jedoch Francke dieselben nicht für 
vollkommen. Es sollte vielmehr fortwährend an ihrer Verbesserung gearbeitet 
werden. 'Man deliberieret fast täglich darüber, wie es immer in besserer Ver- 
fassung und Ordnung gebracht werden möge, man konferieret mit schulver- 
ständigen Männern und bemüht sich, alles was man vor die Jugend nützlich 
erkennet zu prakticieren.' Ordnung und Lehrart des Pädagogiums § 49. Dafe 
es Francke wirklich Ernst war mit dem Fortschreiten auf dem Gebiete des 
Schulwesens, zeigt die verbesserte Methode vom Jahr 1721, in der er in einem 
Zeitraum von 19 Jahren mehr Veränderungen vorgenommen hat als die Jesuiten 
bei der letzten Redaktion der Studienordnung nach fast dreihundert Jahren. 
Für ihn gab es eben in dieser Hinsicht keine abgeschlossene Grenze. Das 
Forschen nach Wahrheit stand nicht im Gegensatz zu seinem biblischen Glauben. 
Er konnte deshalb auch den einzelnen Informatoren eine gröfsere Freiheit auf 
diesem Gebiete gestatten und nahm gern die wirklich guten Vorschläge von 
ihnen an. So sagt § 2 der Nacherinnerung zu der verbesserten Methode: 'Ein 
jeglicher Informator hat die Special- Vorteile, die er bei seiner Information (sie 
mögen nun zur Erleichterung der Studiorum oder zur Erhaltung guter Ordnung 
dienen) für gut befunden, wohl anzumerken, aufzuschreiben und dem Inspectori 
zu übergeben, damit sie zur allgemeinen Konferenz gebracht und ferner erwogen 
werden können. Was nun davon für dienlich und praktikabel erachtet wird, 
das läfst der Inspector in das allgemeine Observations-Buch ordentlich, reinlich 
und leserlich eintragen, damit es beibehalten werde und den Successoribus zur 
Nachricht diene.' Mit der protestantischen Gewissensfreiheit Franckes hängt 
es auch zusammen, dafs er auf das Verständnis des Gelernten bei den Schülern 
drang. Und weil die Erziehung für die Gemeinschaft die Wissenschaft, die 
nicht im Gegensatz zur Religion stand, nicht ausschlofs, so konnte er dem 



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G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 483 

einzelnen Schüler überlassen, welchem Fach er sich widmen wollte. ^Hierbei 
ist noch zu erinnern, dafs die Scholaren nicht verbunden sind, dafs sie alle 
Disciplinen mittraktieren müssen, sondern es wird teils auf die Capacität eines 
jeglichen, teils auch auf den Zweck, den die Eltern selbst mit den Kindern 
haben, gesehen.' Ordnung und Lehrart des Pädagogiums § 39. Nur Religion 
und Latein waren für alle Schüler obligatorisch und mufsten ununterbrochen 
während des Aufenthaltes im Pädagogium studiert werden. Um den Schülern 
die Freiheit in der Wahl der Fächer gewähren zu können, hatte er das Fach- 
system in den Anstalten eingeführt. Schon in dem Aufsatz vom Jahr 1696 
hatte er den Plan zu dieser Einrichtung entworfen. 'Die Knaben, so in Infor- 
mation genommen werden, sind von ganz unterschiedenen Jahren, Ingeniis und 
Profectibus. Daher sie auch nach ihrer besonderen und unterschiedenen Capa- 
cität zu unterschiedlichen Wissenschaften angeführet werden, dergestalt, dafs 
gleich und gleich zusammen gestellet und zu einerlei Lectionibus gehalten 
werden/ Darnach waren die Schüler nicht nach Jahrgängen, sondern nach 
ihren Kenntnissen in Klassen eingeteilt. Je nach ihren Fortschritten in den 
einzelnen Fächern konnten sie verschiedenen Klassen angehören. So war z. B. 
ein Schüler im Latein in Prima, während er im Griechischen am Unterricht 
in der Secunda teilnahm. Der Überladung mit Unterrichtsstoff war durch die 
Mafsregel vorgebeugt, dafs ein Schüler zu gleicher Zeit nur in drei Fächern 
Unterricht empfangen durfte. Es ist klar, dafs durch dieses Verfahren das Ver- 
ständnis gefordert wurde. Der Schüler konnte sich mit dem Einzelnen ab- 
geben. Der Stoff drang mit Wucht auf ihn ein und erweckte nachhaltige Vor- 
stellungen in ihm. Das Gedächtnis und die feste Einprägung des Lernstoffes 
kamen dabei nicht zu kurz. In dieser Hinsicht standen die Pietisten den 
Jesuiten nicht nach. Die Repetition war in § 37 der Ordnung und Lehrart 
des Pädag. und in der verbesserten Methode 'Von der Repetition und Prä- 
paration' genau geregelt. Die Lehrer hatten nicht allein regelmässig nach 
Durchnahme eines bestimmten Abschnittes denselben in den eigentlichen Unter- 
richtsstunden zu wiederholen, sondern es waren für die Generalrepetition auch 
eigens zwei Tage in der Woche, Mittwoch und Sonnabend, bestimmt. Dabei 
wurden anfangs alle bereits gelernten Unterrichtsgegenstände wiederholt, so dafs 
durch den gerade zu behandelnden Stoff das Pensum der früheren Klassen nicht 
aus dem Gedächtnis verdrängt wurde. Nach der verbesserten Methode waren 
Latein und Religion von der Generalrepetition ausgeschlossen, weil sie ununter- 
brochen durchgenommen wurden und deshalb weniger Gefahr, vergessen zu 
werden, für sie bestand. Die Fächer, deren Wahl unter den früher erwähnten 
Bedingungen jedem Schüler freistand, mufsten dagegen regelmäfsig von einem 
examen solemne bis zum andern repetiert werden. An der Repetition hatten 
sich alle Schüler zu beteiligen, die jemals diese Fächer gelernt hatten. War 
die Schülerzahl zu grofs, so richtete man Parallelklassen ein. Stellte es sich 
heraus, dafs einzelne Schüler das Gelernte gänzlich vergessen hatten, so wurden 
sie angehalten, es von neuem zu lernen. Zu diesem Zwecke wurden sie den 
sogenannten Präparandi zugewiesen. Zu gleicher Zeit mit den Generalrepe- 



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484 Cr. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 

titionen wurden nämlich besondere Kurse abgehalten für solche Schüler, die 
noch gar keinen Unterricht in den zu repetierenden Fächern genossen hatten 
und doch während der Zeit der Generalrepetition beschäftigt werden mufsten. 
In diesen Kursen wurde ihnen (den praeparandi) dann ein allgemeiner Begriff 
(conceptus generalis) beigebracht von den Gegenständen, welche von den andern 
Schülern unterdessen repetiert wurden. 

Erwähnt mag hier noch ein Punkt werden , den allerdings beide Gemein- 
schaften mit allen Schulen ihrer Zeit gemein haben. Er ist die Einübung des 
Formalen bei den Sprachen. Richtig und elegant schreiben in Prosa und 
Versen ist das Ziel, dem die Lektüre, der Grammatikunterricht und die zahl- 
reichen schriftlichen Übungen dienen. Selbst bei dem Unterricht im Deutschen 
an den höheren Schulen verlor Francke dieses Ziel nicht aus dem Auge. In 
dem Kapitel der verbesserten Methode 'Von der deutschen Oratorie* legt er 
seine Ansichten darüber dar. Es ist die alte Rhetorenschule, auf die Bedürfnisse 
des Deutschen zugeschnitten. 

Es ist selbstverständlich, dafs die Jesuiten sowohl als auch die Pietisten 
nur solche Lehrer unterrichten liefsen, die im Geiste der Gemeinschaft 
wirkten. 

Ein jeder Jesuit mufs eine Zeit lang als Lehrer wirken. Nachdem er die 
Studia inferiora absolviert und von den Studia superiora Artistik und Sprachen 
studiert hat, ist er als Lehrer gewöhnlich vier Jahre in einer Klasse der niederen 
Schulen thätig. Er unterbricht dann das Lehramt, um vier Jahre lang sich 
dem Studium der Theologie zu widmen. In zwei weiteren Jahren bereitet er 
sich auf die Lehrthätigkeit für die höheren Schulen vor. Nachdem er sodann 
die Priesterweihe empfangen hat, legt er entweder die Gelübde als Coadjutor 
spiritualis mit dem Versprechen der speziellen eifrigen Hingabe an den Jugend- 
unterricht, oder als Professe mit der Berechtigung, Unterricht in den höheren 
Schulen erteilen zu dürfen, ab. Von dieser Regel wird nur selten eine Aus- 
nahme gemacht und zwar nur, wenn das Interesse des Ordens es verlangt. 
Rat. stud. a. 1832 reg. prov. 26. Dem Provinzial steht es zu jeder Zeit frei, 
die Lehrer abzurufen und sie anderwärts zu verwenden. Kein Lehrer weifs 
darum, wie lange er im Lehramte verwendet wird, nachdem er vier Jahre lang 
an den niederen Schulen gewirkt hat. Es herrschte deshalb ein beständiger 
Wechsel im Lehrerpersonal. Der Orden konnte ohne Gefährdung seines Zweckes 
diese Praxis einhalten. Denn alle Lehrer wirkten in demselben Geiste und nach 
derselben unabänderlichen Methode. Und da es bei den Schülern nur darauf 
ankam, dafs sie mechanisch den Unterrichtsstoff sich einprägten, so nahmen 
auch sie nach der Ansicht des Ordens an dieser Einrichtung keinen Schaden. 

Das Lehrerpersonal an den Franckeschen Anstalten bestand anfangs mit 
wenigen Ausnahmen, wie z. B. des Schreiblehrers und des französischen Maitre, 
aus Studenten der Universität, die bekehrt waren. 'So bringet es gewifs das 
Schulamt nicht weniger, sondern ebenso wohl mit sich, dafs die Präceptores 
für alle und jede Seelen, welche Gott ihnen in der Schule anvertraut hat> 
schwere Rechenschaft geben müssen, und mit ihrem Wissen und Willen nichts 



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G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 485 

versäumen dürfen, was zu der Untergebenen ewigen Wohlfahrt nötig und 
erspriefslich ist . . . Ein Schulmann mufs ein rechter Eiferer sein für Gottes 
Ehre und eine gar zarte Liebe gegen die Jugend als die Lämmer von der Herde 
Christi in seinem Herzen haben, welche Liebe ihn stets dringe und treibe, dafs 
er in allen Stücken für das Beste der Jugend sorge, und alles, was er mit 
ihnen treibet, zu der Ehre Gottes und der Jugend Besten richte/ Katechismus- 
examen § 18. Auf eine längere Thätigkeit dieser Lehrer konnte Francke nicht 
rechnen, 'deren man sich nach Gottes Willen eine Zeit lang versichern kann'. 
Ordnung und Lehrart des Pädag. Sekt, ü Absch. 5. Also auch hier herrschte 
ein beständiger Wechsel. Während aber die Jesuiten gar nichts thun wollten, 
diesem Ubelstande abzuhelfen, empfand Francke das Nachteilige dieser Ein- 
richtung. An der Abstellung des Übels hinderte ihn jedoch der Mangel an 
geeigneten Lehrkräften und die Notwendigkeit der gröfsten Sparsamkeit. Beides 
lag bei den Jesuiten nicht vor. 

Die Not und nicht das Prinzip wie bei den Jesuiten war auch der Grund 
der mangelhaften Vorbildung des Lehrerpersonals bei Francke. 

Die Jesuiten treten das Lehramt ohne jede praktische, ja fast ohne jede 
wissenschaftliche Vorbildung an. Es wurde nicht einmal gefragt, ob der 
Lehrende überhaupt Talent und Lust zum Unterrichten habe. Das Lehren war 
einfach eine Pflicht des heiligen Gehorsams, der sich jeder Jesuit zu unter- 
werfen hatte. Obwohl der Orden reichlich Gelegenheit und Mittel gehabt hätte, 
hat er für die Ausbildung seiner Lehrer herzlich wenig gethan. Bei dem An- 
tritt des Lehramtes an den niederen Schulen hatte der Jesuit in den Gymnasial- 
fächern eigentlich nur die Kenntnisse, die er sich als Gymnasialschüler erworben 
hatte. Sie reichten eben noch aus, um mit einer der untersten Klassen im 
Unterrichten beginnen zu können. Und da er in der Regel dieselbe Klasse 
vier Jahre lang behielt, so mufste er mit den vorrückenden Schülern den zu 
lehrenden Stoff erst selbst wieder gründlich lernen (Rat. stud. reg. prov. 29), 
wenn er es nicht vorzog, die Hefte seines Vorgängers oder einen Autor einfach 
abzuschreiben und vorzutragen. Mon. Germ. Paed. Bd. XVI S. 366. *Wo nun 
noch dazu überfüllte Klassen kamen, wie sie bei grofser Frequenz nicht selten 
waren, mufste der Unterricht in Schlendrian und dürftige Routine verfallen. 
Ein junger Lehrer, der ohne Übung in Unterricht und Disziplin vor eine Klasse 
von 100 Schülern und darüber sich gestellt sah, konnte sich wohl kaum anders 
als durch mechanisches Vorsagen und Abhören helfen.' Paulsen, Geschichte des 
gelehrten Unterrichts Bd. I S. 424. Noch mehr liefs die praktische Vorbildung 
zu wünschen übrig. Wohl wurden zuweilen Anläufe zur Lehrerbildung gemacht, 
wie im decr. 9 der zweiten Generalkongreg. a. 1565, das die Gründung eines 
philologischen Seminars anregt, und in Rat. stud. reg. prov. 30, nach der die 
Lehrer in Privatakademien vorgebildet werden sollen. Über den Anlauf kam 
man aber nicht hinaus. Die Lehrer wurden nach Rat. stud. reg. rect. 9 viel 
einfacher für das Amt vorbereitet. Der Rektor des Kollegs, aus welchem die 
Lehrer der Grammatik und Humanität genommen wurden, bestellte einen 
Schulmann, bei dem die künftigen Lehrer gegen das Ende ihrer Studien 



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486 G- Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 

wöchentlich dreimal durch Vorlesen, Diktieren, Schreiben, Korrigieren und 
andere Arbeiten sich auf ihren Beruf vorbereiteten. Ahnliche Vorschriften giebt 
auch Rat. stud. reg. prov. 22. Dem Mangel einer allseitigen, gründlichen Vor- 
bildung halfen auch die sogenannten Repetitionskurse, welche im 17. Jahrhundert 
errichtet wurden, nicht ab. Denn das Hauptziel dabei war, dafs die Lehrer 
selbst es *zu einem reinen Latein und zur wahren Eloquenz' brachten. 

Bei der Auswahl der Lehrer hat Francke alles gethan, was unter den 
gegebenen Umständen möglich war. Die Studenten wurden auf ihre Brauch- 
barkeit zum Lehrfache beobachtet. Sobald man einen Würdigen entdeckte, 
machte man ihn mit dem Vorhaben, ihn als Lehrer zu bestellen, bekannt. 
Ging er darauf ein, so wurde ihm das Unterrichtsfach freigestellt. Bevor er 
jedoch mit dem Unterrichten begann, mufste er eine Zeit lang an den Kon- 
ferenzen der Informatoren teilgenommen haben. Bisweilen mufste er auch, bevor 
er zum Unterricht an den höheren Schulen zugelassen wurde, zur Probe im 
Waisenhause einige Stunden unterrichten. Die Bedingung der Anstellung war 
aber stets, dafs sie *in denen Studiis fürnehmlich, worinnen sie informieren 
sollen, genugsam gegründet' und 'eine Gabe, deutlich und gründlich zu lehren, 
sich hervorthut' und 'man sich ihrer nach Gottes Willen eine Zeit lang ver- 
sichern kann'. Ordnung und Lehrart des Pädag. Sekt. II 5. Das Lehren muteten 
aber auch sie hauptsächlich erst beim Unterrichten lernen. Zu ihrer Ausbildung 
war ihnen zur Pflicht gemacht, wöchentlich wenigstens eine Stunde in anderen 
Klassen zu hospitieren, um das Lehrverfahren anderer Lehrer kennen zu lernen. 
Aufserdem fanden täglich Konferenzen und monatlich Unterredungen statt, bei 
denen die Lehrer ihre gegenseitigen Erfahrungen austauschten und von ihren 
gemeinschaftlichen Studien sprachen. In diesen Einrichtungen sah Francke 
aber nur einen Notbehelf. Schon im Jahre 1707 errichtete er eine Lehrer- 
bildungsanstalt unter dem Namen 'Seminarium selectum Praeceptorum'. Wer 
in dieses Seminar aufgenommen werden wollte, mufste in der Theologie, in 
den Studiis humanioribus und vor allen Dingen in der wahren Gottseligkeit 
einen guten Grund gelegt und dabei natürliche Gaben, Geschicklichkeit und 
Lust zum Schulwesen haben. Die Seminaristen waren verpflichtet, nach zwei- 
jährigem Aufenthalt im Seminar drei Jahre lang an den Franckeschen Anstalten 
zu unterrichten. Das Seminar sollte nur Lehrer für die lateinische Schule und 
das Pädagogium heranbilden. Auch damit gab sich Francke noch nicht zu- 
frieden. Er wollte eine Bildungsanstalt für Religionslehrer und für solche, die 
sich ganz dem höheren Lehramte widmen wollten, ins Leben rufen. Diese 
Anstalt, die allerdings Projekt blieb, sollte Internat sein und den Namen 
'Seminarium elegantioris litteraturae' führen. 

Man sieht, dafs er ganz andere Anforderungen an den Lehrerberuf stellte 
als die Jesuiten. Bei ihnen scheint es fast, als ob die Schwächstbegabten gut 
genug waren zum Lehramt. Nach Rat. stud. reg. prov. 19, 4 sollen nämlich 
diejenigen, die sich im Verlaufe des Studiums unfähig für Philosophie und 
Theologie zeigen, für die Kasuistik oder das niedere Lehramt bestimmt werden. 
Und nach Reg. prov. 25 sollen einige, die wegen ihres Alters oder Talentes nur 



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G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 487 

geringere Fortschritte in den höheren Studien versprechen, unter der Bedingung 
in den Orden aufgenommen werden, dafs sie ihr ganzes Leben dem göttlichen 
Dienst in dem Gymnasiallehramt sich weihen wollen. 

Mit den Anforderungen an die Lehrerbildung hing die 'Achtung, in der 
die Lehrer in beiden Gemeinschaften standen, zusammen. 

Von den Lehrern der Jesuiten standen eigentlich nur die Universitäts- 
professoren, die den Grad eines Professen mit vier Gelübden erlangt hatten, in 
Ansehen. Und auch unter ihnen gab es solche, die nicht als Volljesuiten 
betrachtet wurden, weil sie nur ausnahmsweise wegen ihrer philologischen 
Kenntnisse zu Professen befördert worden waren. Die Träger des Lehramts 
an den niederen Schulen erfreuten sich dagegen allgemein geringer Achtung; 
denn sie waren ja erst auf dem Wege, Jesuiten zu werden. Ihr Amt galt nur 
als Durchgangsstufe zu etwas Höherem. Ein jeder war froh, wenn er das 
niedere Lehramt hinter sich hatte. Wer sein ganzes Leben lang als Lehrer 
verwendet wurde, trug den Makel der Unfähigkeit zu etwas Besserem an sich. 
In der Rat. stud. findet sich auch nirgends eine Hervorhebung des Lehrerberufes, 
wenn man nicht die Stelle Reg. prov. 32 dafür ansehen will, wo verboten wird, 
die Lehrer zu Nebengeschäften und Hausdiensten zu verwenden. Für die 
Geringschätzung des Lehrerstandes sprechen noch die vielen Ausnahmen und 
Zugeständnisse, die man machen mufste, um Lehrer zu gewinnen. Wäre das 
Lehramt geachtet gewesen, so hätte es dieser Lockmittel nicht bedurft. 

Die Lehrthätigkeit der Studenten an den Franckeschen Anstalten war 
zwar auch nur eine Durchgangsstufe zu einem anderen Beruf. Die meisten 
blieben nicht beim Lehrfach. Mit der Geringschätzung des Lehrerstandes bei 
den Jesuiten hatte jedoch die Stellung der Lehrer Franckes nichts gemein. Er 
schätzte die Lehrthätigkeit vielmehr so hoch, dafs er wünschte, ein jeder 
Pfarrer möchte zuerst eine Zeit lang Lehrer gewesen sein. Ja, er hatte vor 
dem Lehrerstande eine solche Hochachtung, dafs er den Lehrer auf eine Linie 
stellte mit den Seelsorgern. 

Eine auffallende äufsere Ähnlichkeit mag hier noch erwähnt werden, die 
wohl mit dem hierarchischen Geiste und dem Anspruch auf unbedingte 
Herrschergewalt sowohl des Ignatius als auch Franckes zusammenhängt. Bei 
den Lehrern beider Gemeinschaften bestand eine feste militärische Rangordnung. 

Bei den Jesuiten führte der General die Oberaufsicht über alle Lehrer und 
Schulen. Const. IV 10, 2. Unter ihm steht der Provinzial, welcher die Lehrer 
und Schulen einer Provinz zu beaufsichtigen und jährlich zu visitieren hat. 
Thm untergeben sind die Rektoren der Kollegien, die vom General gewöhnlich 
auf drei Jahre ernannt werden und die regelmäfsig dem Provinzial Bericht 
über den Stand der Schulen einzuschicken haben. Rat. stud. reg. rect. 3. Den 
Rektoren zur Seite stehen die Studienpräfekten, deren es gewöhnlich zwei 
giebt. Der eine führt die Aufsicht über Lehrer und Lehrverfahren an den 
niederen Schulen und wird Praefectus stud. inf. genannt. Der andere hat die- 
selbe Pflicht an den höheren Anstalten und führt den Namen Praefectus stud. 
sup. Im Notfall kann noch ein dritter Studienpräfekt bestellt werden, dem 



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488 G. Mertz: Die Pädagogik der Jesuiten und der Pietisten 

die Aufsicht über die Räume vor der Schule obliegt. Reg. prov. 2 und 3. 
Unter den Studienpräfekten stehen die Lehrer, die ihnen in allem zu gehorchen 
haben, was zu den Studien und zur Schuldisziplin gehört. Rat. stud. reg. comm. 
prof. class. inf. 11. 

An diese Einrichtung erinnern die Hallischen Anstalten. Die Oberaufsicht 
und Oberleitung lag in den Händen Franckes. Obwohl er sich selbst nicht 
beim Unterrichte beteiligte, war er doch durch die Instruktionen und Schul- 
ordnungen, die alle, wenn nicht von ihm selbst, so doch unter seiner Beihilfe 
und mit seiner Genehmigung ausgearbeitet wurden, die Seele von dem ganzen 
Werke. Durch die Konferenzen, die er anfangs taglich, später wöchentlich mit 
den Inspektoren abhielt, blieb er stets in engster Fühlung mit allem, was in 
den Schulen seiner Anstalt vorging. Ohne seinen Willen durfte nichts geändert 
werden. Unter ihm stehen die Inspektoren, die er selbst ernennt und deren 
Aufgabe sich auf die Aufsicht der Lehrer beschränkt. 'Instruktion des Inspee- 
toris Scholarum* in der Ordnung und Lehrart der Waisenhausschulen, und 
Sekt. U 6 der Ordnung und Lehrart des Pädag. Die Inspektoren wählen sich 
nach der letztgenannten Stelle je einen Vize-Inspektor. Den Inspektoren unter- 
geben sind die Lehrer an den einzelnen Schulen. 



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INDIVIDUALGEIST UND GESAMTGEIST 

Von August Messer 

Ich will hier die Frage erörtern: Inwiefern kann man neben dem 
individuellen Geiste von einem Gesamtgeist reden, und welche Be- 
deutung hat dieser Begriff für Erziehung und Unterricht? 

Bei der Behandlung dieser Frage sehe ich ab von den angrenzenden 
metaphysischen Problemen, wie sie in der Geschichte der Philosophie mehrfach 
hervorgetreten sind. Ich verbleibe also auf dem für alle gangbaren Boden der 
Erfahrung; ich will nur von einem Gesichtspunkte aus Umschau halten nach 
den Thatsachen, die Zeugnis ablegen für ein geistiges Gemeinschaftsleben, das 
über die Individuen übergreift. 

Da die Menschen als körperliche Wesen selbständig nebeneinander 
stehen, ein jeder ein Ding für sich, so neigt man leicht dazu, in zu hohem 
Grade sie auch geistig als selbständig und voneinander unabhängig auf- 
zufassen. Aber der stete und rege Verkehr, die innigen Beziehungen, wodurch 
die Menschen miteinander verbunden sind, dürfen nicht als etwas angesehen 
werden, was den Menschen gewissermafsen nur äufserlich berührte, was gleich- 
gültig bliebe für die Beschaffenheit der Individuen selbst. Dafs die Menschen 
einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Kulturkreises, bei allen individuellen 
Unterschieden, im grofsen und ganzen so viel Übereinstimmung zeigen, ergiebt sich 
nicht nur daraus, dafs sie in übereinstimmenden äufseren Verhältnissen leben, 
sondern vor allem aus dieser geistigen Wechselwirkung. Nicht nur Vorstellungen 
und Gedanken, sondern auch Gefühle und damit Willensregungen werden un- 
ausgesetzt von dem einen auf den anderen übertragen — freilich nicht so, dafs 
dabei die Empfangenden nur rezeptiv, nur passiv sich verhalten. Alles geistige 
Leben ist als solches Selbstthätigkeit, und was es von aufsen aufnimmt, ist nur 
Anregung zu eigenem Schaffen, einem Schaffen, das freilich in seiner Selb- 
ständigkeit und Originalität zahllose Abstufungen zeigt. 

Diese geistige Wechselwirkung aber ist es, wodurch überhaupt erst Unter- 
richt und Erziehung ermöglicht wird. 

Da aber Geistiges, d. h. alles was in unserem Bewufstsein vorgeht, nicht 
von anderen unmittelbar wahrgenommen werden kann, so kann der Individual- 
geist mit anderen individuellen Geistern nicht in unmittelbare Beziehung 
treten: er mufs sich, um mit den anderen zu verkehren, gewissermafsen ver- 
körpern. Dies geschieht aber, aufser durch mimische Ausdrucksbewegungen, 
vor allem durch die Sprache. — Wohl klagt der Dichter: 'Warum kann der 



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490 A. Messer: Individualgeist und Gesamtgeist 

lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? Spricht die Seele, so spricht, ach, 
schon die Seele nicht mehr!' und Nietzsche erklart: *Was sind Worte und Töne 
anders, denn Regenbogen und Scheinbrücken zwischen ewig Geschiedenen?' 
Gleichwohl ermöglicht die Sprache den geistigen Verkehr in einer so voll- 
kommenen Weise, dafs sie uns bei erneuter Überlegung immer wieder Be- 
wunderung abnötigt. 

Der einzelne nun kommt als sprachloses Wesen auf die Welt; er hat 
nur die Fähigkeit, Bewufstseinszustände durch Laute kund zu geben, Laute, 
die aber durchaus individueller, subjektiver Natur sind. Dafs dieselben 
zu intersubjektiven Verständigungsmitteln werden, ist nur durch die 
beständige Einwirkung anderer bewufster und sprechender Individuen möglich. 1 ) 
Die Sprache ist also kein Produkt des Individuums, sondern ein soziales 
Produkt, ein Erzeugnis des Gesamtgeistes. Freilich verhält sich dabei der 
einzelne nicht nur empfangend, eine gewisse Spontaneität des einzelnen in 
der Aneignung und Verwendung der Sprache, ein gewisses sprachschöpferisches 
Vermögen bleibt erhalten. Die Sprache erscheint als ein Werdendes; an ihr 
bethätigen sich die Individuen nicht nur aufnehmend, sondern auch umbildend. 
Zwar erscheint der einzelne eng an den Sprachgebrauch gebunden, aber alle 
Veränderungen desselben kommen doch im Munde und im Denken von In- 
dividuen zu stände. Meist ist diese Umbildung eine ganz allmähliche, sie 
ergiebt sich aus der Summierung und gewohnheitsmäfsigen Festlegung kleiner 
Verschiebungen, aber gelegentlich bringen auch Individuen von hervorragender 
sprachbildender Kraft Neubildungen zu allgemeiner Geltung. 

Zwar ist die Sprache nur ein Ausdruck und Hilfsmittel des Denkens, nicht 
das Denken selbst, im Kinde eilt zunächst die Entwickelung des Vorstellens 
und Urteilens der des Sprechens voraus, aber *mit seinem Denken ohne 
Sprechen würde jedes Individuum auf dem Punkte stehen bleiben, wo die 
Menschheit vor Jahrtausenden begonnen hat. Dies zeigen die Erfahrungen an 
den Taubstummen zur Genüge. Darum gilt von dem normalen Menschen: 
Was wir vorstellen, ist nur dann unser sicherer und fester Besitz, wenn wir 
das bezeichnende Wort dazu haben. Wir empfinden das Fehlen des Wortes 
zu einer Vorstellung immer als einen Mangel und als ein Hindernis, das uns 
erschwert, sie in ihrer Eigentümlichkeit und Geschiedenheit von anderen fest- 
zuhalten, sicher zu reproduzieren und vor Verwechselung zu bewahren.' 

Bei dieser innigen Beziehung zwischen Sprache und Denken findet aber 
eine Beeinflussung des individuellen Denkens schon in seinen elementarsten 
Gestaltungen durch die Sprache und damit durch den Gesamtgeist statt. 
Der Gang der Reproduktion und Assoziation wird beim Kinde schon ganz früh 
durch die Sprache, die es hört, in bestimmte Richtungen gelenkt. Die Sprache 
giebt Anleitung, die ungeschiedene Masse unseres Vorstellungsinhalts zu gliedern, 
einzelne Wahrnehmungskomplexe zu einer vorstellungsmäfsigen und sprachlichen 
Einheit zu verschmelzen, wie dies in der Bildung der Gattungsbegriffe statt- 

*) Vgl. hierfür und für die folgenden Bemerkungen über die Sprache Friedrich Jodl, 
Lehrbuch der Psychologie. 1896 S. 591 ff. 



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A. Messer: Individu algeist und Gesamtgeist 491 

findet. Zugleich lehrt uns die Sprache zusammengesetzte Wahrnehmungen 
inhaltlich zu zerlegen, indem z. B. der Gegensatz des Dinges und seiner 
Eigenschaften, Thatigkeiten und Zustände in den sprachlichen Formen der 
Substantiva, Adjektiva und Verba ausgesondert wird. Die Sprache giebt also 
dem Menschen (in ihrem Wortschatz) einerseits eine in ihr vorgebildete Viel- 
heit von (lautlichen) Zeichen, welche ihn anleiten, seine Erfahrungen und Vor- 
stellungen zu gliedern in der dieser Vielheit entsprechenden Weise; ander- 
seits bietet die Sprache die Möglichkeit, eine Vielheit von Vorstellungen unter 
ein einziges Sprachzeichen zusammenzufassen und dadurch Erfahrungen zu 
verdichten und zu konzentrieren. 'Aus dem Chaos der möglichen Kom- 
binationen und Beziehungen, welche sich aus der ungeheueren Mannigfaltigkeit 
unserer Wahrnehmungswelt ergeben, sind durch die Sprache, in welcher sich 
Denken und Erfahrung der vorausgehenden Generationen verkörpern, 
bestimmte Gruppen und Beziehungen bevorzugt und dadurch der Assoziation 
feste Richtungslinien gegeben. Das Begriffssystem jeder Sprache, an welcher 
ein individuelles Denken heranwächst, drängt eine Menge Kombinationen auf, 
die nicht entstehen würden; zerstört andere, die sich sonst bilden könnten.' 

Die Sprache nun entwickelt sich mit dem gesamten Geistesleben eines 
Volkes; es ist unmöglich, den reichen geistigen Besitz einer Kulturnation in 
der stammelnden Sprache eines Naturvolkes auszudrücken. Der einzelne wächst 
also mit dem Erlernen seiner Muttersprache nicht nur in die gerade geltende 
Sprachform, sondern auch bis zu einem gewissen Grade in die zu der betreffenden 
Zeit bestehende Denk- und Anschauungsweise, ja in die gesamte Kulturlage 
seines Volkes hinein. 

Ferner ist die Art und Weise, wie die verschiedenen Sprachen die Glie- 
derung des Erfahrungsinhaltes vornehmen und die Arten des Vorstellbaren 
ausdrücken, höchst verschieden; jede Sprache spiegelt das Verhältnis des Be- 
wußtseins zur Realität in ihrer Weise und bietet es in dieser konkreten Form 
dem Individuum als Mittel der Orientierung in der Welt. Durch das Erlernen 
fremder Sprachen werden wir auf das intimste in die Denkweise anderer 
Nationen eingeführt; zugleich wird sich das Denken dabei seiner innigen Be- 
ziehung zum Sprechen erst recht klar bewufst; es sieht, wie sich derselbe 
Gedanke in verschiedenen Sprachen ausdrücken läfst und in derselben 
Sprache in verschiedener Weise: der Gedanke wird als das Wesentliche von 
den Worten unterschieden. Zugleich ergiebt sich die Erkenntnis, wie die 
Struktur der verschiedenen Sprachen die Gedankenbildung selbst in verschiedener 
Weise beeinflufst: dadurch aber wird der Gedanke mehr und mehr befreit von 
der Herrschaft der Sprache. 

Eine solche Entwickelung des Denkens selbst aber ist nötig, damit der 
einzelne teilnehmen kann an der höchsten Form theoretischer Gesamtbethätigung, 
an der Wissenschaft. Das Denken des einzelnen in seiner natürlichen Ab- 
hängigkeit von dem, was sich zufällig den Sinnen bietet, beeinflufst von Trieben 
und Bedürfnissen, geleitet von zufälligen Assoziationen und den Kombinationen 
der Phantasie, mufs erst durch lange und tiefgreifende Einwirkung des Gesamt- 



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492 A. Messer: Individualgeist und Gesamtgeist 

geistes zu jenem streng geregelten, objektiven Verfahren herangebildet werden, 
welches die Mitarbeit an der Wissenschaft erheischt. Es erscheint dies um so 
selbstverständlicher, als der Gesamtgeist selbst erst ganz allmählich zu jenem 
Verfahren gelangt ist, welches die heutige Wissenschaft anwendet und fort- 
gesetzt zu vervollkommnen trachtet. So fafste z. B. der Mensch die ihn um- 
gebende Natur ursprünglich durchaus nach Analogie seines eigenen Wesens 
auf. Weil hier Bewegungen und Handlungen auf Vorstellungen des Zwecks 
und auf Willensbethätigungen erfolgen, so sieht er auch in allen Natur- 
vorgangen Handlungen menschenähnlicher und zugleich übermenschlicher 
Wesen. Und wie wenig theoretisch ist seine Betrachtungsweise, wie durch- 
setzt von Furcht und Hoffnung! Ganz allmählich ist diese mythisierende 
Auffassung der Aufsenwelt zurückgedrängt worden, aber Anthropomorphismen 
in der Naturerfassung wirken auch in uns noch nach, wenn auch überaus ver- 
feinert und schwerer erkennbar, und so ist es noch heute ein Gegenstand 
ernster Arbeit, zunächst nur eine von subjektiver Verfälschung freie Be- 
schreibung des Thatbestandes der Erfahrung zu liefern. 

So zeigt sich schon eine tiefgehende Entwickelung in der einfachen 
Auffassung und Eonstatierung des in der Wirklichkeit Gegebenen, des 
Materials, an dem nun erst die Wissenschaft bestrebt ist, zu analysieren, 
Zusammenhänge festzustellen, zu erklären. Noch viel augenfälliger ist 
die Entwickelung in den Methoden der Wissenschaft, in ihrem Arbeits- 
gerät und vor allem in dem Schatze von Betrachtungen und Erkennt- 
nissen, den sie im Laufe der Jahrhunderte angesammelt hat. 

Es ist vor allem die Aufgabe der Schule, zumal der höheren, den ein- 
zelnen einzuführen in diese theoretische Gesamtbethätigung der Menschen, 
wie sie in der Wissenschaft vorliegt; ihn zu befähigen, zunächst rezepÜT, 
weiterhin aber auch produktiv an dem wissenschaftlichen Leben teilzunehmen. 
Freilich ist es durch die Verschiedenheit der Begabung und der Lebensumstande 
bedingt, dafs es nur verhältnismässig wenigen gelingt, auch nur auf einem 
beschränkten Wissensgebiet wirklich zu einer nennenswerten Forderung der 
Wissenschaft zu gelangen; gleichwohl fehlt der so umfangreichen Litteratur, 
der diese Bedeutung nicht zukommt, im grofsen und ganzen nicht aller Wert: 
ihre Verfasser sind doch — wenn auch in verschiedenem Mafse und mit ver- 
schiedenem Erfolge — bemüht, wissenschaftlich zu arbeiten, sie werden dadurch 
selbst innerlich gefordert, sie tragen ferner vielfach schätzbares Material zu- 
sammen für Gröfsere, und sie erleichtern endlich weiteren Kreisen die rezeptive 
Teilnahme an der Wissenschaft. 

Aber gerade in der unendlich reichen Gliederung der wissenschaftlichen 
Bethätigung, in dem Zusammenwirken so vieler an der Lösung wissenschaft- 
licher Probleme bietet sich das Bild eines über die einzelnen über- 
greifenden geistigen Gesamtlebens. Und zwar führt die Wissenschaft 
den einzelnen über sein Volk hinaus in ein Gesamtleben der Kultur- 
menschheit. 

Als Gegenstand der Wissenschaft nun erscheint der allen gemeinsame 



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A. Messer: Individualgeist und Gesamtgeist 493 

Gesamtbestand des Wirklichen, dessen Erfassung die nie zu voll- 
endende Aufgabe des Gesamtgeistes ist. 

Jener Inbegriff der Wirklichkeit aber, jene ^objektive Welt' ist als 
Ganzes nicht Gegenstand wirklicher Wahrnehmung des einzelnen, sondern 
ein Inbegriff sozusagen von möglichen Wahrnehmungen; von möglichen Wahr- 
nehmungen nicht jedes Beliebigen, sondern eines Normalindividuums, das 
mit sich identisch und von allen im Denkverkehr Stehenden gleich sehr vor- 
stellbar ist. Diese objektive Welt aber wird hineinkonstruiert in den absoluten 
Raum und die absolute Zeit für ein von aller Gefühlsbeimischung entäufsertes 
'Bewufstsein überhaupt'. 1 ) 

Auch die Begriffe des absoluten Raumes und der absoluten Zeit werden 
nicht von den einzelnen als solchen gebildet. Die subjektive Raum- und 
Zeit vor Stellung, deren allmähliche Ent Wickelung bei dem Individuum die 
Psychologie nachweist, sie wird erst im wissenschaftlichen Denken umgebildet 
zu dem Raum- und Zeitbegriff. Der absolute Raum und die absolute Zeit 
werden nunmehr gefafst als die unendlichen, vollkommen kontinuierlichen und 
gleichmäfsigen Formen des Nebeneinander und Nacheinander alles Existierenden. 
In dieser Fassung aber ist der Raum- und Zeitbegriff keine von dem einzelnen 
zu beobachtende Realität, sondern ein im Denkverkehr der Wissenschaft 
erzeugtes logisch-mathematisches Idealgebilde; also ein Produkt des Gesamt- 
geistes. 

So zeigt also die geistige Bethätigung der Menschen nach ihrer theore- 
tischen Seite ein inniges Ineinsleben der Menschheit, durch das der einzelne 
erst zum denkenden Menschen wird, und dessen Wirkungen und Leistungen 
weit über die des einzelnen hinausgreifen. Es bietet sich also in Wahrheit 
hier ein Thatbestand dar, der ungezwungen auf den Begriff des 
Gesamtgeistes hinführt. 

Aber nicht nur in der theoretischen Geistesbethätigung, im Streben 
nach Wahrheit, zeigt sich dies, auch auf dem Gebiete des Schönen und 
Guten tritt uns die nämliche Erscheinung entgegen. Nur mit einem Worte 
sei darauf hingewiesen, wie der einzelne in dem, was er für schön hält, und 
in dem, was er als schön darzustellen sucht, das Kind seiner Zeit ist, 
d. h. in Abhängigkeit steht von einem übergreifenden geistigen Gesamtleben. 
Wichtiger für die Pädagogik ist, dafs dasselbe auch gilt, wenn wir den 
Menschen nach seiner praktischen Seite als wollendes und handelndes 
Wesen ins Auge fassen. 

Zwar ist hier vieles in dem Individuum von der Geburt an gegeben, was 
gewissermafsen als ererbter Besitz der Gattung angesehen werden mufs. 'Der 
Mensch betritt die Welt mit einem angeborenen Besitz von entwickelungs- 
geschichtlich präformierten unwillkürlichen Bewegungen, mit welchen er auf 
die ihn treffenden Reize antwortet und in denen seine Bedürfnisse und Triebe 
zum Ausdruck kommen/ Alle diese Triebe: c Atmungstrieb, Ernährungstrieb, 



*) Vgl. Ernst Laas, Idealismus und Positivismus. IQ. (Berlin 1882) S. 454. 



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494 A. Messer: Individualgeist und Gesamtgeist 

Bewegungs- (Spiel-) trieb , Geschlechtstrieb , Mitteilungstrieb ; Wahrnehmungs- 
trieb . . . stehen in natürlichem Zweckzusammenhang mit der Erhaltung und 
Ent wickelung des psychophysischen Organismus ; welche ohne sie unmöglich 
wäre/ 1 ) Aber der gewaltige Unterschied, der zwischen den unwillkürlichen, 
triebartigen Bewegungen des Kindes und der zielbewußten Bethatigung des Er- 
wachsenen im Dienste ethischer Ideale liegt, ist zum guten Teil begründet in 
der Einwirkung des Gesamtgeistes auf den einzelnen. 

Von frühester Kindheit an findet sich der Wille des einzelnen gehemmt 
oder gefordert durch das Wollen anderer. Wie nun aus dem übereinstimmenden 
Denken, Fühlen und Wollen ursprünglich gleichartiger und unter gleichartigen 
Naturbedingungen lebender Wesen sich in übereinstimmender Weise Sprache 
und religiöse Anschauungen entwickelt haben, so haben sich dadurch auch 
übereinstimmende Lebensgewohnheiten und Normen für das Handeln ge- 
bildet. 8 ) Der einzelne gehört aber nicht nur einer geistigen Gemeinschaft an, 
sondern verschiedenartigen konkreten Ausgestaltungen derselben, wie sie sich 
in den Völkern, Staaten, Kirchen, Kulturgesellschaften verschiedener Art, in 
Stämmen und Familien darstellen. Alle diese geistigen Verbindungen aber, die 
mannigfach ineinander übergreifen und die mit steigender Kultur immer reicher 
sich gestalten, wirken auf das Wollen und Handeln des einzelnen beschrän- 
kend und bestimmend; besonders deutlich tritt im Staate dem Individual- 
willen ein Gesamtwille gegenüber. 8 ) 

Dieser Thatbestand ist gerade für die Erziehung von der höchsten 
Bedeutung. Die Eltern und die Lehrer sind diejenigen Persönlichkeiten, die 
für die heranwachsende Generation in erster Linie als Träger und Vertreter 
eines Ge samt wollen s in Betracht kommen. Schon die Mutter sagt dem 
Kinde: *Das darf man nicht thun'; sie giebt unbewufst ihrem Befehle einen 
allgemeinen Charakter; sie fühlt instinktiv, dafs sie bei der Erziehung des 
Kindes nicht nach persönlichem Belieben befiehlt, sondern dafs sie einem Gesetz 
bei dem Kinde Geltung verschafft, dem sie sich selbst unterworfen fühlt. Noch 
deutlicher tritt in den Einrichtungen und Lebensgewohnheiten der Schule und 
in der nach einheitlichem Plane organisierten Thätigkeit der Lehrer dem ein- 
zelnen mit zwingender Gewalt ein Gesamtwollen entgegen. 

Es ist zweifellos eine ernste Pflicht des Lehrers, wie jedes Vorgesetzten, 
zu scheiden zwischen persönlichen Wünschen und Ansprüchen und dem, was 
er als Träger eines Gesamtwillens zu fordern berechtigt und verpflichtet ist. 
Gar mancher erliegt der Gefahr, durch persönliche Launenhaftigkeit oder 
Herrschsucht beeinflufst zu werden in seinem Verhalten als Vertreter des 
Willens einer Gesamtheit. Zweifellos entwickelt sich aber auch bei den Schülern 
allmählich ein Gefühl dafür, was der Lehrer kraft seines Amtes, also kraft des 
Gesamtwillens, den er vertritt, und was er als Person von ihnen fordert. Wert- 
voll aber für die sittliche Entwickelung der Schüler wird es sein, wenn das 

l ) Friedrich Jodl, a. a. 0. 8. 422 und 425. 

*) Vgl. Wilhelm Wundt, Ethik. (Stuttgart 1886) S. 386 f. 

*) Vgl. Wilhelm Wundt, Grundrifs der Psychologie. (Leipzig 1896) S. 349. 



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A. Messer: Individualgeist und Gesamtgeist 495 

instinktive Gefühl für den hier vorliegenden Thatbestand allmählich zu klarer 
Einsicht umgestaltet wird. Besonders bei denen, die einst in dem Kulturleben 
ihrer Nation zu den führenden Klassen gehören sollen, die zu einem guten 
Teil als Beamte später in ihrem Wirkungskreise einen Gesamtwillen vertreten 
sollen, erscheint es angemessen, wenigstens den Versuch zu machen, sie zur 
bewufsten Erfassung dieser Verhältnisse zu führen. 

Aller historische Unterricht bietet reiche Gelegenheit, an deutlichen 
Beispielen den Schüler allmählich die Erkenntnis gewinnen zu lassen, wie der 
einzelne in seinem Wollen und Handeln durchaus bedingt ist durch die jeweils 
historisch gegebenen Formen und Einrichtungen des religiösen, sittlichen, recht- 
lichen und wirtschaftlichen Lebens. Der reifere Schüler wird leicht erkennen 
können, wie die Schule selbst, die in so weitem Umfange auf sein eigenes 
Leben bestimmend einwirkt, die fast seiner ganzen Thätigkeit Ziel und Mafs 
giebt, eine solche Gestaltung ist, und wie auch Lehrer und Direktor im Dienst 
eines höheren Willens stehen. 

Nun ist aber der einzelne — und zwar um so eher, eine je kräftigere 
Individualität er von Natur besitzt — leicht geneigt, all dem, was bestimmend 
und mithin auch vielfach hemmend und beengend an ihn herantritt, 
energischen Widerstand entgegenzusetzen. Das nächste Ziel ethischer Be- 
lehrung wäre demnach, ihn allmählich zu der Einsicht zu führen, dafs ein 
solcher Widerstand des Individualwillens gegen den Gesamtwillen auf die Dauer 
ganz nutzlos ist. Wie eine gewaltige Maschine, die doch selbst Menschen- 
werk ist, den einzelnen, der in ihr Räderwerk gerät, widerstandslos zermalmt, 
so erfassen die staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen übermächtig 
den einzelnen, und erbarmungslos bringt der Gesamt wille die einzelnen seinen 
Zwecken zum Opfer. Jeder Krieg bietet ein schlagendes Beispiel dafür. Doch 
diese den individuellen Trotz niederschmetternde Einsicht soll nicht die letzte 
und höchste bleiben. Der einzelne soll über die widerwillige und äufserliche 
Unterordnung unter den Gesamtwillen hinausgeführt und dazu gebracht werden, 
seinen Geboten freiwillig sich zu unterwerfen, sie in seinen eigenen Willen 
aufzunehmen, kurz, aus dem Zustand sittlicher Heteronomie zur sittlichen 
Autonomie zu gelangen. Dieser Übergang aber wird ihm erleichtert werden 
durch die Einsicht, dafs der Mensch nicht nur in seiner physischen Existenz 
von seinen Mitmenschen abhängig ist, sondern dafs er auch erst durch sein 
Leben in und mit den verschiedenen Gestaltungen geistiger Gemeinschaft ein 
Mensch wird, dafs er allen geistigen Besitz diesen verdankt, dafs er also im 
tiefsten Grunde und in weitestem Sinne ein soziales Wesen ist. Somit 
erscheint es aber als eine Forderung seiner physischen wie seiner geistigen 
Natur, und demnach als sittlich geboten, diesen Gemeinschaften sich einzuordnen 
und darum ihrem Willen sich zu unterwerfen. Zunehmende Lebenserfahrung 
und philosophische Vertiefung wird schliefslich zu der Erkenntnis führen, dafs 
erst die Mitarbeit an den Zielen des Gesamtwillens, die Förderung objektiver 
Güter, dem Leben des einzelnen einen wertvollen Inhalt giebt. Nach 
der niederdrückenden Einsicht in ^~ — igkeit aller rastlosen Bethätigung 



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496 A. Messer: Individualgeist und Gesamtgeist 

im Dienste persönlicher Bestrebungen kann so der einzelne Halt und Trost 
finden in der Hingabe an die Zwecke des Gesamtwillens. 

Auf allen Gebieten geistigen Lebens haben sich uns also Thatsachen 
gezeigt, die darauf hinweisen, dafs alles individuelle geistige Sein nur innerhalb 
geistiger Gemeinschaften sich entwickelt und dafs selbstbewufste, geistige 
Persönlichkeiten nur mit und in der Gemeinschaft möglich sind. Anderseits 
darf man behaupten ; dafs alle die Schöpfungen, in denen sich die geistige Ent- 
wickelung der Menschheit darstellt: Sprache, Wissenschaft, Kunst, Religion, 
Sitte, Recht als Erfindungen einzelner nicht zu denken sind; dafs sie 
zwar die Thätigkeit einzelner fordern, aber ebenso sehr geistige Gemein- 
schaft. 1 ) Auch für das geistige Leben gilt das Wort Fr. A. Langes: * Alles 
Leben ist nur im Zusammenhang mit naturgemäfser Umgebung möglich 
und die Idee eines selbständigen Lebens ist bei dem ganzen Eichbaum so gut 
eine Abstraktion wie bei dem kleinsten Fragment eines losgerissenen Blattchens.' 2 ) 

Nicht minder treffend bemerkt Aloys Riehl: 'Wer den Menschen vom 
Menschen geistig ebenso trennt, wie sich beide körperlich gegenüberstehen, und 
das geistige Sein und Wirken an den Körper des einzelnen, oder gar an einen 
Punkt dieses Körpers geknüpft denkt, verschliefst sich den Blick für die 
Realität des allgemeinen, überindividuellen Geistes, dessen Träger nicht die 
Individuen, sondern die Verbände der Individuen sind. Er sieht die Menschheit 
vor den Menschen nicht.' 8 ) 

Nun wird man allerdings bedenklich fragen, ob es denn wirklich einen 
Gesamtgeist gebe, der aufser und neben dem Einzelgeist bestehe und der 
als mystisches Wesen gewissermafsen in der Luft schwebe; mit anderen Worten, 
ob wir dem Gesamtgeist in gleichem Sinne Existenz zuschreiben können, 
wie dem individuellen. Man wird sich doch kaum der Auffassung entziehen 
können, dafs nur die Individuen im eigentlichen Sinne existieren, dafs nur 
ihnen ein für sich bestehendes, substantielles Sein zukomme, während all das, 
was wir dem Gesamtgeist zugeschrieben haben, nur an den substantiell be- 
stehenden Individuen als Erscheinung, Aufserungsweise ihres geistigen Lebens, 
also nur accidentiell existiere. 

Mit diesen Erwägungen aber stehen wir schon mitten in einer meta- 
physischen Streitfrage drinnen, die dadurch noch verwickelter ist, dafs 
auch das substantielle Sein des Individualgeistes in Frage gezogen wird. 
Schon Hume hat bei seiner Kritik des Substanzbegriffes die Ansicht ver- 
treten, die Seele sei nichts als die Summe aller inneren Vorstellungen, die 
in unaufhörlichem, gesetzmäfsigem Flusse dahinziehen. 4 ) In neuerer Zeit 
haben, in Anknüpfung an Kant und Schopenhauer, besonders Wundt 6 ) und 

2 ) Vgl. Wilhelm Wundt, System der Philosophie. (Leipzig 1889) S. 591 ff. 
*) Geschichte des Materialismus. 2. Aufl. II S. 261. 

8 ) Der philosophische Kritizismus II 2. (Leipzig 1887) S. 255 ; vgl. S. 265 ff. 
4 ) Vgl. Richard Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie. 2. Aufl. (Leipzig 
1892) S. 184 f. 

6 ) Ethik S. 391 f. System der Philosophie S. 691 ff. 



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A. Messer: Individualgeist und Gesamtgeist 497 

und Paulsen 1 ) diese Aktualitätstheorie, wie sie Wundt nennt, durch eine scharfe 
Kritik der Substantialitatstheorie zu begründen versucht. Die Anwendung des 
Substanzbegriffs auf die Seele sei eine ungerechtfertigte Übertragung aus dem 
Gebiet des Körperlichen; dort habe er einen bestimmten, angebbaren Sinn: 
die Atome seien Mas absolut beharrliche und nach Quantität und Qualität 
unveränderliche Substrat der materiellen Welt.' 2 ) Die Seelensubstanz aber 
sei kein Gegenstand der Wahrnehmung, ihre Verbindung mit den physischen 
Vorgängen lasse sich nicht angeben; 'für den Seelenatomismus mit seinen ein- 
fachen, nur in äufserer und vorübergehender Wechselwirkung stehenden Sub- 
stanzen gebe es keinen geistigen Zusammenhang, kein geistiges Leben und keine 
allgemeinen geistigen Zwecke aufser solchen, die vielen zufällig zusammen- 
lebenden Individuen gemeinsam seien.' 8 ) 

Diese Aktualitätstheorie hat zweifellos das Gute, dafs sie in energischer 
Weise die Bedeutung jenes geistigen Gemeinschaftslebens hervorhebt. Dafs 
alle seine Produkte, die Sprache ebenso wie der Staat, die Religion wie die 
Sitte erfunden und gemacht seien von den einzelnen Individuen — die 
dann schon vor aller geistigen Gemeinschaft als selbständig und fertig gedacht 
werden mufsten — , das war ja die in der Aufklärungszeit herrschende Ansicht, 
und das ist die Auffassung, der sich das naive BewuJCstsein immer wieder 
nähert. 

Die Streitfrage zwischen Aktualitäts- und Substantialitatstheorie soll als 
eine metaphysische hier nicht behandelt werden. 4 ) Nur darauf sei hingewiesen, 
dafs sich auch auf dem Gebiet des Körperlichen manche Schwierigkeiten bei 
der Anwendung des Substanzbegriffs ergeben. 6 ) Ferner, wenn man sich auch 
alle Schwierigkeiten, die dieser Begriff bietet, zum Bewufstsein bringt — nach 
wie vor fahlen wir uns doch genötigt, zu den geistigen Vorgängen im in- 
dividuellen Bewufstsein ein Etwas hinzuzudenken, das sie gewissermafsen 
trägt und erlebt, nach wie vor bleibt also der psychische Zwang bestehen, die 
Substanzkategorie auf das individuelle geistige Sein anzuwenden, während 
ihre Anwendung auf das geistige Gemeinschaftsleben nach wie vor als un- 
angemessen erscheint. Wir werden also bei vorsichtiger Ausdrucksweise zunächst 
nicht in demselben Sinne von dem Gesamtgeist wie von dem Individualgeist 
reden dürfen, wir werden uns begnügen müssen, von einem geistigen Gemein- 
schafts- und Gesamtleben zu sprechen; aber immerhin mag da, wo es auf 
besondere Genauigkeit der Rede nicht ankommt, das Wort 'Gesamtgeist' seine 
Stelle finden; denn es fafst verschiedene Gruppen von Erscheinungen über- 
sichtlich zusammen und erleichtert die Ausdrucksweise. — Auch verwendet ja 
die Sprache das Wort vielfach so, dafs der Gedanke an ein substantiell 



*) Einleitung in die Philosophie. 4. Aufl. (Berlin 1896) 8. 182 ff. 
") Paulsen a. a. 0. S. 184. *) Wundt, Ethik S. 361. 

*) Vgl. über die ganze Frage Oswald Külpe, Einleitung in die Philosophie, (Leipzig 
1896) S. 180 ff. 

■) Vgl Ed. v. Hartmann, Philosophie des ünbewufsten. (4. Aufl.) 8. 73 ff. 
Ntut Jahrbücher. 1899. U 32 



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498 A. Messer: Individualgeist und Gesamtgeist 

existierendes Wesen fernbleibt, so wenn wir z. B. vom Geist der Gesetze, vom 
Geist eines Volkes, einer Gesellschaft, einer Zeit reden. 

Wir haben bisher unseren ganzen Gegenstand in der Weise behandelt, 
dafs wir gewissermafsen im Querschnitt die innige Verflechtung der einzelnen 
zu geistiger Gemeinschaft betrachteten. Daneben ist jedoch auch eine Behand- 
lung vom historischen Gesichtspunkt aus möglich, die, sozusagen im Längs- 
schnitt, die Entwickelung des Gesamtgeistes in ihrem allmählichen Fort- 
schreiten ins Auge fafst. 

Das Leben des Gesamtgeistes, wie es sich darstellt in Wissenschaft und 
Kunst, Sitte und Recht, Religion und Kultur, ist — eben als Leben — in 
bestandigem Werden, in beständiger Veränderung. In diesen historischen 
Ausgestaltungen des geistigen Gesamtlebens stehen die Individuen drinnen, ja 
mehr noch, das individuelle Leben gewinnt dadurch erst seinen Inhalt. Denn 
man versuche einmal, aus einem bestimmten Menschen dasjenige fortzudenken, 
was seiner historisch gegebenen Religion, seiner Epoche des rechtlich-moralischen 
Lebens und endlich der betreffenden Phase der Kultur im weitesten Sinne an- 
gehört: das 'Etwas', das übrig bleibt, jenes 'Fürsichsein', jene Personenhaftig- 
keit scheint nur eine Lebensform zu sein, deren Inhalt historisch gegeben 
ist. Über diese sachlichen historischen Inhalte und ihr Verhältnis zum 
persönlichen Leben der Individuen hat der Erlanger Philosophieprofessor Clafs 
in seinen 'Untersuchungen zur Phänomenologie und Ontologie des menschlichen 
Geistes' (1896) in so tiefgehender Weise sich ausgesprochen, dafs ich mich 
für diesen Teil meiner Erörterung darauf beschränken kann, einige seiner Ge- 
danken wiederzugeben. 

Ein solcher 'historischer Inhalt 9 in Clafs' Sinne ist also 'eine bestimmte 
Gestalt des religiösen, rechtlich -moralischen, kulturlichen Lebens'. Er besteht 
aus einer 'Summe von Formen des theoretischen und praktischen Lebens, aus 
autoritativen Institutionen, endlich aus einem mehr oder weniger ausgebildeten 
System von Gedanken, welches allem zu Grunde liegt.' Er stellt sich dar 
nicht blofs in einem 'Reich seelischer Innerlichkeit, sondern in ungeheueren 
Massen sinnfälliger, also körperlicher Produkte und Gestaltungen.' Aber sie 
sind gewirkt von lebendigen Menschen; in ihnen drückt sich ihr Bedürfen 
und Wünschen, ihr Sinnen und Wollen, ihr Sehnen und Hoffen aus; sie 
kommen von Seelen und reden zu Seelen. Am augenfälligsten ist dies bei 
aller Litteratur der Fall, wo das sinnliche Produkt offenbar lediglich die 
Bedeutung eines blofsen Mittels hat. Aber auch für die anderen Gebiete gilt 
Ähnliches. Versetzen wir uns nur in eine Stadt mit reicher historischer Ver- 
gangenheit! Reden da nicht in den Bauten die Menschen ganz verschiedener 
Zeiten zu uns? Prägen sich da nicht Ideen, welche Gestaltungen des geistigen 
Gesamtlebens angehören, also 'historische Inhalte' aus? Freilich nicht jedem 
tritt das Geistige in den sinnfälligen Produkten entgegen. Das Steingebilde, 
das dem Altertumsforscher das Bild eines längst vergangenen geistigen Lebens 
heraufführt, ist dem schweifenden Nomaden nur ein merkwürdiger Steinhaufen. 



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A. Messer: Individualgeist und Gesamtgeist 499 

Eben dies Beispiel aber leitet uns von der Betrachtung dessen, was unter 
einem 'historischen Inhalt' zu verstehen ist, auf die Erörterung des 
Verhältnisses, in dem die Individuen zu einem solchen Inhalt stehen 
Die beiden Betrachter in unserem Beispiele fassen dasselbe Objekt ganz ver- 
schieden auf, weil in beiden die Vorstellungen, die sie selbst mitbringen und 
durch die sie das sinnlich Gegebene appercipieren, an Inhalt, Zahl und Glie- 
derung ganz verschieden sind. So erhält überhaupt der einzelne, der ja doch 
in der geistigen Atmosphäre seiner Zeit und seiner Umgebung aufwächst, ohne 
dafs er es will und weifs, eine Menge von Vorstellungen, die eben einem 
bestimmten historischen Inhalte angehören und die weiterhin appercipierend 
wirken. In. ihrem Lichte betrachtet und behandelt er das seiner Erfahrung 
sich Bietende. In ebendemselben Naturvorgang sieht der Wilde die Thätigkeit 
menschenähnlicher Dämonen, der Naturforscher das Produkt gesetzmäfsig wir- 
kender Kräfte. 

Aber nicht nur nach der theoretischen, sondern auch nach der prak- 
tischen Seite steht das Individuum unter der Herrschaft der historischen 
Inhalte. Die Forderungen, die Familie, Gesellschaft, Staat an den einzelnen 
stellen, ja die Forderungen, die er selbst an sich stellt, die idealen Ziele, die 
er seinem sittlichen Streben setzt, sind bedingt durch die gerade herrschenden 
historischen Inhalte. 

Freilich kann das Verhalten der Individuen zu den Inhalten verschieden 
sein. Je mehr wir in der geistigen Höhenabstufung der Menschen nach 
unten gehen, um so mehr überwiegt, vor allem in theoretischer Beziehung, 
das passive Verhalten. Die Herrschaft des Inhalts über das Individuum ist 
hier um so sicherer, weil sie ihm als solche gar nicht zum Bewufstsein kommt. 
Was der Inhalt bietet, ist bei den ganz in der Gegenwart lebenden Menschen, 
also bei der Masse, auch bei der Masse der Gebildeten, das Selbstverständ- 
liche. Je höher aber der Mensch geistig steht, je mehr er versteht, um 
so weniger wird ihm selbstverständlich. So tritt denn hier mehr und mehr 
ein aktives Verhalten des Individuums gegenüber dem Inhalt auf. Selbst- 
thätig erfafst es ihn mit klarem Bewufstsein in seiner Tiefe; durch überlegten 
Willensentschlufs vermag es sich in seinen Dienst zu stellen. So treibt ein 
solcher historischer Inhalt, ein solches objektives Gedankensystem zur Arbeit, 
und es giebt die Aufgaben und Zielpunkte für die Arbeit von Tausenden und 
Millionen von Individuen. Aber eben durch diese Arbeit kommt es, dafs solche 
Inhalte sich erschöpfen, sich ausleben. Schon bei der positiven Arbeit 
kommt es vor, dafs vorhandene Ausgestaltungen der Grundgedanken einer 
kritischen Betrachtung unterworfen werden, ja dafs die Fassung des Grund- 
gedankens selbst einer Revision unterzogen wird. Aber neue Inhalte vermag 
das kritisch sich verhaltende Individuum nicht zu schaffen; dazu bedarf es 
produktiver Genialität; sie treten heraus gewissermafsen mit Urgewalt aus 
den verborgenen Tiefen der Seele, und sie müssen sich oft entwickeln in hartem 
Kampfe mit früheren, älteren Inhalten. Denn nicht für alle Individuen eines 
Volkes und einer Zeit zugleich stirbt ein solches Gedankensystem. Es kann 

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500 A. Messer: Individualgeist und Gesamtgeist 

noch auf lange hinaus für viele Geltung und Leben behalten, wahrend andere 
langst sich darüber hinaus entwickelt haben. Es gehört aber mit zu den 
schmerzlichsten Erfahrungen für den einzelnen Menschen, wenn er selbst irre 
wird an der Giltigkeit und dem unbedingten Wert des Ideenkreises, für den 
er seither eingetreten ist, den er — vielleicht schon von frühester Jugend an — 
in sich aufgenommen und in dem er das Heiligste, das Teuerste, alles, was 
seinem Leben Sinn und Wert gab, eingeschlossen fand. Überaus schwer wird 
es ihm sein, in eine neue Weltauffassung sich hindurchzukämpfen, und wohl 
mag der Fall eintreten, dafs er an dem Verlust, den er erlitten, innerlich zu 
Grunde geht. 

Damit kommen wir zu der Bedeutung der Inhalte für das indivi- 
duelle Leben. 

Sie enthalten, wie wir sehen, eine Gruppe von innig verbundenen Ideen und 
Idealen. Die einzelnen haben daran Anteil — wenn auch in unendlich ab- 
gestuften Graden der Bewufstheit, der inneren Klarheit. Denken wir uns aber 
das Leben der Individuen von diesem ideellen Gehalt losgelöst, so erscheint es 
als durchaus bedeutungslos, als ein durch Geburt und Tod begrenzter Kampf 
um ein Dasein, dessen Wert, soweit er etwa noch in Gefühlen der Lust und 
des Glückes gesucht wird, um so zweifelhafter uns vorkommen kann, je mehr 
wir darüber reflektieren. 

Nach alledem lafst sich von dem Gesichtspunkt unserer Betrachtung aus 
die Aufgabe von Erziehung und Unterricht dahin bestimmen: es soll durch sie 
das individuelle Geistesleben seiner allmählichen Entwicklung entsprechend in 
immer innigere und bewufstere Beziehung zu dem geistigen Gesamtleben ge- 
bracht werden. Die 'historischen Inhalte 9 , d. h. die das religiös-ethische 
Gebiet wie die Kulturarbeit im weitesten Sinne durchdringenden und beherr- 
schenden Ideen des Volkes und der Zeit bestimmen die Ziele der Erziehung 
und des Unterrichts; psychologische Einsicht und praktische Erfahrung 
lehrt die geeigneten Mittel zur Annäherung an diese Ziele finden. 

Die Anteilnahme der einzelnen an dem geistigen Gesamtleben soll aber 
nicht nur eine theoretische sein. Der Mensch ist zum Handeln da. Und so 
möge denn schon der Jugend die Überzeugung eingepflanzt werden, dafs das 
Handeln des einzelnen und seine ganze Lebensgestaltung nicht eine Angelegen- 
heit ist, die ihn allein anginge, die lediglich seine Privatsache wäre, sondern 
dafs es bedeutungsvoll ist für die engeren und weiteren Lebensgemeinschaften, 
denen er angehört und für deren Ergehen er sich mitverantwortlich fühlen 
soll. Aus unseren Knaben und Jünglingen mögen also Männer werden, deren 
Sinnen, Wollen und Handeln darstellt ein Ineinsleben des Individualgeistes und 
des Gesamtgeistes! 



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MODERNE SCHULAUSGABEN 

Von Max Siebourg 

Unsere Zeit steht im Zeichen — nicht blofs des Verkehrs, sondern auch 
der Arbeit. Wohl in keiner Geschichtsepoche ist so rastlos und so intensiv 
geschafft worden wie heutzutage. Der gewaltige Fortschritt, den die moderne 
Welt auf allen Gebieten materieller Wohlfahrt aufweist, ist wahrhaftig nicht 
blofs eine Folge glücklicher Umstände, leicht geborener genialer Gedanken: 
die Früchte, die die Mehrzahl von uns pflückt, hangen nicht rot und lustig 
am Zweig, wie uns ein Apfel begrüfst. Diesem Zeitgeist hat sich auch die 
Schule nicht verschliefsen können. Nicht als ob der deutsche Gymnasiallehrer 
früher auf der faulen Haut gelegen hatte. Das Gymnasium ist von jeher eine 
Statte treuester Pflichterfüllung gewesen, ein rechtes geistiges yv(iva6iov, das 
stolz auf seine Erfolge hinweisen darf — und gegenüber manchem reformieren- 
den Heifssporn hinweisen soll. Ist doch daraus die Generation hervorgegangen, 
die das Deutsche Reich gegründet hat. Aber es läfst sich nicht leugnen, dafs 
auch im Gymnasium die Arbeit intensiver geworden ist. Die beschauliche 
Behaglichkeit, in der früher Lehren und Lernen vor sich ging, ist verschwunden. 
Die Masse des Lernstoffes ist gröfser, die Stundenzahl geringer geworden, die 
ganze Klasse soll fortwährend mitthätig sein; da gilt es, mit dem Augenblick 
zu geizen und die Minute auszunutzen. Über die Folgen, schädliche wie nütz- 
liche, die dieser Arbeitsbetrieb nach sich zieht, lohnte sich schon einmal be- 
sonders zu reden. Heute will ich nur eine dieser Erscheinungen ins Auge 
fassen, ich meine das Anwachsen der Schulbuchlitteratur. 

Was insonderheit die Lektüre der altklassischen Schriftsteller anbetrifft, auf 
die ich mich zunächst beschränke, so könnte man fast mit einer Variation des 
bekannten Sprüchwortes sagen, dafs man hier allmählich vor lauter Kommen- 
taren, Inhaltsangaben, Hilfsheften und Abbildungen den Text nicht mehr sieht. 
Gewifs hat diese Erscheinung ihre zwei Seiten. Dafs solche Ausgaben in 
Menge gemacht und gebraucht werden, beweist zunächst, wie ernst es durch- 
weg mit der Behandlung der Schriftsteller genommen wird, wie man bestrebt 
ist, möglichst vollkommen und schnell das Ziel eines allseitigen Verständnisses 
der Klassiker zu erreichen. Auch weifs ich wohl, dafs die Forderung der 
neuen Lehrpläne, die Lektüre müsse unbeschadet der Gründlichkeit umfassender 
werden, viel zur Entstehung jener Litteratur beigetragen hat. Aber diese Er- 
wägungen können bei mir nicht in die Wagschale fallen gegenüber den grofsen 
Gefahren und Schäden, die gewifs mit dem Gebrauch jener Bücher verbunden 
sind. Und seitdem Männer, deren Namen sich des besten Klanges in der 



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502 M. Siebourg: Moderne Schulausgaben 

pädagogischen Welt erfreuen, sich an die Spitze solcher Unternehmringen ge- 
stellt haben, halte ich es für geboten, offen und unzweideutig sich als Gegner 
derselben zu bekennen. Ich nenne mit Absicht keine bestimmte Sammlung; 
ein jeder von uns weifs, worum es sich handelt. Wir haben es mit einer 
Idee zu thun, die in mehr oder minder ähnlicher Form in allen jenen Unter- 
nehmungen Verwirklichung sucht. 

Wogegen erkläre ich mich also? Zunächst gegen die 'Auswahlen'. Der 
ganze Schriftsteller gehört in die Hand wie des Lehrers so des Schülers. Der 
Kostenpunkt kann dabei gar keine Rolle mehr spielen; jedenfalls ist die Aus- 
wahl plus Kommentar in der Regel teurer als der blofse Text. Ferner, wenn 
auch nur einer von hundert Schülern einmal sich etwas mehr z. B. in seinem 
Vergil ansähe, als was gerade in der Schule gelesen wird und die Auswahl 
bietet, so ist damit das Verdikt gegen die letztere begründet: bekanntlich 
freuen sich die Engel im Himmel mehr über einen Sünder, der Bufse thut, 
denn über 99 Gerechte. Die alten Klassiker soll der Gymnasiast mit ins 
Leben hinausnehmen; ich lege Wert darauf, dafs sie überhaupt in seiner 
Bibliothek stehen, die sicher manches Buch enthalten wird, das er nicht öfter 
hervorholt als den Tacitus oder Thukydides und das er doch als nötigen Be- 
standteil der Sammlung ansieht. Vor allem aber bringt der Gebrauch der 
'Auswahlen' geradezu Gefahren für den Lehrer mit sich. Die Ausscheidung 
der nicht zu lesenden Teile des Autors ist und bleibt subjektiv, eine Einigung 
aller darüber zu erzielen wird unmöglich sein. Ich bin also dabei dem Ge- 
schmacke und der Einsicht eines anderen überantwortet. Man wende mir nicht 
ein, dafs ja bei Schriftstellern, die nicht ganz gelesen werden können, auch die 
Einzelanstalt ihre Auswahl trifft und so die Freiheit beschränkt. Das kann 
erstlich jedes Jahr wechseln und ich habe dabei mitzureden, zweitens wird ein 
vernünftiger Lehrplan mehrere Vorschläge enthalten und drittens ein vernünf- 
tiger Direktor oder Schulrat auch nichts dagegen haben, wenn der Lehrer auch 
einmal etwas anderes liest, als was gerade festgelegt ist — wenn er es nur 
ordentlich macht. 

Es ist um die humana inertia ein eigen Ding, dessen Schwerkraft leugnen 
zu wollen vermessen wäre. Gerade ein Beruf, wie der unsere, der in seinem 
äufseren Verlauf die Regelmäfsigkeit selbst ist, verführt leicht zum Mechanischen, 
und es ist schliefslich nur zu begreiflich, wenn man dort alle nur gebotenen 
Erleichterungen gerne ergreift, wo man die Maximalstundenzahl als die nor- 
male betrachtet. Also — anfangs ärgert man sich über die 'Auswahl' eines 
anderen und die Beschränkung der Selbstbestimmung. Aber allmählich giebt 
man seinen Widerstand auf; man gerät besonders da, wo Jahr um Jahr der- 
selbe Lehrer denselben Schriftsteller traktiert, in einen bequemen Schlendrian, 
und schliefslich ist es doch immerhin ein vernünftiger Mensch gewesen, der 
die betreffende Auswahl gemacht hat. So ist die Gefahr vorhanden, dafs der 
ausgewählte Herodot und Vergil des Schülers auch der Herodot oder Vergil 
für den Lehrer wird. Und was das heifsen will, brauche ich wohl nicht weiter 
auszuführen. 



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M. Siebourg: Moderne Schulausgaben 503 

Für viel bedenklicher, diesmal auf Kosten des Unterrichts und des Schülers, 
halte ich die Inhaltsangaben, mit denen unsere modernen Schulausgaben 
verziert sind. Da werden nicht nur die grofsen Abschnitte in Überschriften 
zusammengefafst — Herodot VI 132 — 136 Zug des Miltiades gegen Paros, 
VII 8 — 11 Dritter Zug gegen Griechenland, Beratung des Xerxes mit den Grofsen 
seines Eeiches. Vergil VI Äneas in der Unterwelt. 1. Die Vorbereitungen 
zum Gang in die Unterwelt. 2. Der Gang durch die Unterwelt. Ilias. 1. Teil. 
Einleitung und Erregungspunkt. Buch I. 1. — 21. Tag u. s. w. -—- nein, bei 
jedem Kapitel, bei jeder Gruppe von 20 — 30 Versen steht am Rande in 
prägnanter Form, was der Grieche oder Römer uns zu sagen haben wird. Das 
sieht so aus, wie in den Bibeln, wo die Citate und Konkordanzen die Ränder 
schmücken, oder wie in vielen unserer wissenschaftlichen Werke, die mit Fug 
und Recht zur schnellen Orientierung des Benutzers am Rand fortlaufend kurz 
den Inhalt der Untersuchungen skizzieren. Jene Angaben in unseren modernen 
Schultexten sind gewifs sehr gut gemeint und wollen der Forderung Rechnung 
tragen, die die neuen Lehrpläne mit Recht überall wieder erheben, dafs näm- 
lich der Schriftsteller vornehmlich seiner selbst, seines Inhaltes wegen zu lesen 
ist. Es ist nicht zu leugnen, dafs die neuen Lehrpläne in dieser Beziehung 
einen wesentlichen Fortschritt bedeuten. Zwar hat der tüchtige Lehrer auch 
früher den Inhalt seines Autors nicht vernachlässigt; aber in der Allgemeinheit 
und mit dem Nachdruck, wie heutzutage, ist diese Aufgabe früher nicht erfüllt 
worden. Ich weifs aus meiner eigenen Primanerzeit, dafs die Mehrzahl von 
uns in einer eigenen Abteilung des Präparationsheftes den Gedankengang sich 
fortlaufend skizzierte. Aber da nicht in jeder Stunde darnach gefragt und 
nicht immer zu Beginn mit der Klasse der gröfsere und engere Zusammenhang 
der zu behandelnden Stelle kurz und klar dargelegt wurde, so bin ich über- 
zeugt, wir hätten schlecht bestanden, hätte man uns unvermutet gefragt: Was 
lest ihr denn jetzt eigentlich? Bei der verwirrenden Fülle von Wissensstoff, 
der an einem 5 — 6 stündigen Unterrichtstage den Schülerköpfen zugemutet 
wird und erfafst und behalten werden soll, ist es einfachste psychologische 
Forderung, dafs zu Beginn der Stunde gewissermafsen ein geistiger Appell 
stattfinde, indem ein Schüler etwa den Inhalt des zu wiederholenden Abschnitts 
wiedergiebt, dann aber kurz der Zusammenhang hervorgehoben wird, in dem 
die Stelle mit dem ganzen Werk steht. Es genügt also z. B. bei Kap. VI — VIII 
der Platonischen Apologie nicht, dafs der Schüler sagt: Sokrates schildert, wie 
er bei Politikern, Dichtern und Handwerkern den delphischen Orakelspruch be- 
stätigt gefunden hat; es mufs auch noch erklärt werden, welchen Zweck diese 
Erzählung verfolgt, dafs Sokrates damit den Grund seines schlechten Rufes 
aufdecken will und so sein drittes, gewichtigstes Argument gegen die 'ersten 
Ankläger' vorbringt. Wird dergleichen versäumt, so kann es vorkommen, dafs 
der Schüler zwar genau weifs, was Äneas alles in der Unterwelt sieht, aber 
nicht weifs, warum er denn überhaupt in die Unterwelt hinabsteigt. Die 
Rechenschaftsablage über diese Dinge mufs stets der erste oder letzte Punkt 
der häuslichen Vorbereitung sein. 



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504 M. Siebourg: Moderne Schulausgaben 

Demnach, wird man nun sagen, sind doch die modernen Ausgaben nur zu 
loben ; in denen überall die geistigen Wegweiser aufgesteckt sind und selbst 
dem zerfahrensten Schüler das Abirren und Verfehlen unmöglich gemacht wird. 
Im Gegenteil, man raubt dadurch dem Unterricht eine seiner fruchtbringendsten 
Aufgaben; die Bücher sehen von vornherein so aus, wie sie, cum grano salis 
aufgefafst, der Schüler nach und nach bis zum Ende der Lektüre gestaltet 
haben müfste. Die gemeinsame Feststellung des Inhaltes einer Stelle und 
ihrer Bedeutung innerhalb des Ganzen mufs eine wesentliche Aufgabe einer 
jeden Lektürestunde bilden. Und das ist gar nicht so leicht. Wer mit 
Primanern deutsche Prosastücke behandelt hat und dabei einen knappen Ge- 
dankengang, eine disponierende Inhaltsangabe herauszuarbeiten suchte, der 
weifs davon ein Liedlein zu singen. Man lasse einen mittelmäfsigen Primaner 
etwa zehn Zeilen eines solchen Stückes lesen, heifse ihn dann das Buch hin- 
legen und kurz sagen, was er gelesen habe — so wird er in der Regel krauses 
Zeug zu Tage fordern, oft selbst Dinge, die gar nicht dastehen; es bedarf 
gewöhnlich erst einiger Richtfragen des Lehrers, ehe die klare Zusammen- 
fassung gelingt und das Wesentliche vom Unwesentlichen geschieden wird. 
Und eben die Fähigkeit dazu, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden 
— das ist die goldene, gar nicht hoch genug zu schätzende Frucht, die als 
Lohn einer in diesem Sinne betriebenen Lektüre winkt; wer sie hat, von dem 
sagt die Menge, auch der Gegner mit Achtung: er ist ein klarer Kopf. Sie 
ist durchaus nicht überall zu finden — auch nicht unter den akademisch Ge- 
bildeten. Von hohem Interesse sind mir immer die Sitzungsprotokolle, die die 
Mitglieder eines pädagogischen Seminars anfertigen. Die Art und Weise, wie 
der einzelne den Inhalt dessen zusammenfafst, was in einer einstündigen 
Sitzung vorgetragen wird, ist sehr bezeichnend; sie verrät, wefs Geistes Kind 
er ist. Ich wundere mich auch schon längst nicht mehr darüber, dafs Bismarck 
gelegentlich einmal einen Bericht des Generalkonsuls Nachtigal, des Afrika- 
forschers, den ihm untergebenen Beamten des auswärtigen Dienstes in Abschrift 
zugehen liefs als Muster dafür, wie man zu berichten habe. Diese Kunst mufs 
ihm doch wohl nicht zu häufig entgegengetreten sein. Also — in ernster 
Arbeit hat der Schüler erst das zu erringen, was ihm die moderne Ausgabe 
bequem und fein säuberlich über dem Text und am Rande darbietet. Natur- 
gemäfs ist die Aufgabe noch schwieriger bei einem fremdsprachlichen Autor, 
wo sich zwischen die Sache und den rezipierenden Verstand noch die fremde 
Sprache stellt. Man kann bei Extemporeübungen z. B. aus Livius oder auch 
nach vorangegangener häuslicher Vorbereitung, die der Brücke und des *freund- 
lichen' Beraters entbehrt, die Erfahrung machen, dafs dem Schüler wohl 
eine Art wörtliches Verständnis gelingt, ohne dafs ihm der Gedankengang 
klar geworden ist. Da hat eben die Arbeit der Schule einzusetzen, und sie 
wird gern gethan. Das Interesse erlahmt dabei in der Regel nicht, und die 
6v(i(pi,kokoyovvteg wissen, dafs, wer von ihnen dabei schlagfertig ist, nicht 
gerade der Schlechteren einer sein kann. Also — fort mit den Inhaltsangaben 
aus den Schulexemplaren; der Unterricht erarbeite den Inhalt, der Schüler 



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M. Siebourg: Moderne Schulausgaben 505 

notiere ihn sich fortlaufend und kurz. Dann ist es ein leichtes am Schlafs, 
auch die grofsen Abschnitte zu übersehen und eine Disposition aufzustellen. 
Ich habe gar nichts dagegen, wenn die Zeichen dieser Disposition ins Exemplar 
eingetragen oder etwa durch Striche die Versgruppen herausgehoben werden. 
Die alten alexandrinischen Philologen hatten recht viele nützliche und sinnvolle 
Zeichen in ihrem Homer stehen. Zur Beruhigung aller derer, die besorgen, 
dafs bei einem solchen Lektürebetrieb die sprachliche Seite zu kurz komme, 
bemerke ich ausdrücklich, dafs das Gegenteil der Fall ist: ohne die schärfste 
grammatische Exegese ist ein klares, sachliches Verständnis gar nicht möglich. 

Und nun die Kommentare? Auch sie sind alle von der besten Absicht 
erfüllt; sie wollen Ernst machen mit der Forderung der neuen Lehrplane, dafs 
die Lektüre ja nicht wieder in die 'grammatische Erklarungsweise' zurückfalle 
und unbeschadet der Gründlichkeit umfassender werde. Drum wollen sie dem 
Schüler gedruckt zu Hause in die Hand geben, was er durch eigene Kraft 
nicht finden kann und so den Unterricht entlasten. Da werden schwierige 
Konstruktionen entwickelt, der Sinn wird erklart, Übersetzungshilfe gereicht. 
Die Rezensenten sind durchweg auch voller Lob über dies Bemühen; nur hier 
und da wagt sich die schüchterne Bemerkung hervor, dafs doch eigentlich nach 
des Rezensenten Geschmack zu viel fertige Übersetzungen geboten würden. 
But Brutus is an honourable man, and so are they all. Und doch trifft das den 
wunden Punkt der Einrichtung, auf den nur energischer und allgemeiner hin- 
gewiesen werden mufs. Was ist denn das anders als 'präparierte Präparaticn'? 
Mit der Darbietung jener Übersetzungshilfen und Übersetzungen wird dem 
Unterricht wieder eine seiner fruchtbringendsten Aufgaben zum grofsen Teil 
vereitelt, die sich gleich bedeutsam neben die vorher besprochene, die gemein- 
same Erarbeitung des Inhaltes und Gedankenganges des Schriftwerkes, stellt: 
ich meine jetzt die Aufgabe, in gemeinsamer Arbeit mit der Klasse für den 
fremdsprachlichen Text die möglichst nahekommende und zugleich möglichst 
gute deutsche Übertragung zu finden — soweit das einem Gymnasiasten mög- 
lich ist. Das ist die praktische Bethätigung der 'Kunst des Übersetzens', die 
täglich und stündlich geübt werden mufs und gerade heutzutage von besonderer 
Bedeutung ist. Gerade heutzutage, wo man die Übung im Gebrauch der fremden 
Sprache selbst so sehr beschnitten hat, ist jene tägliche Arbeit allein noch im 
stände, Sprach- und Stilgefühl zu wecken und auszubilden. Wird sie von der 
Sexta an, wo der Schüler beispielsweise neben pater fHium amat das Deutsche: 
der oder ein Vater liebt seinen Sohn beobachtend stellt, bis zur Prima hinauf, 
wo virtus qua qui caret beatus esse non potest heifst: die Tugend, ohne deren 
Besitz mcm nicht glücklich sein kann, die man besitzen mufs, um glücklich 
sein zu können — wird sie konsequent durchgeführt, dann fällt die Kenntnis 
dessen, was man gemeinhin Stilistik nennt, als reife Frucht in den Schofs. Es 
bedarf nur gelegentlicher Zusammenfassung dessen, was alle Tage geübt wird. 

Und wie gern wird diese Arbeit gethan, jenes 'Ringen' mit dem Ausdruck, 
das recht eigentlich in ein yvfivdätov hineingehört. Es ist eine wahre Lust, zu 
sehen, wie lebhaft die ganze Gesellschaft sich an der Suche beteiligt, wie oft 



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506 M. Siebourg: Moderne Schulaasgaben 

blitzartig und überraschend geschickt das- Richtige gefunden wird; welcher be- 
rechtigte Stolz erfüllt erst den Schüler, zu dessen Vorschlag der Lehrer sagen 
kann: 'Das ist gut, das ist treffender, als was ich gefunden habe.' Und welchen 
Nutzen zieht daraus nicht die Kenntnis der deutschen Sprache. Bei einer 
Arbeitsweise, die nicht jedes is qui mit c derjenige, welcher 9 , jeden Acc. c. inf. 
durch einen Dafssatz, jedes Homerische de mit *aber* wiedergiebt, wird der Vor- 
wurf, der früher manchmal nicht ohne Grund gegen den altsprachlichen Lektüre- 
betrieb erhoben wurde, nämlich er verderbe das Deutsch, nicht nur nicht mehr 
zu Recht bestehen, sondern in sein Gegenteil verkehrt werden müssen. Dann 
wird jede dieser Stunden im besten und wahrsten Sinne eine deutsche Stunde 
sein. Nun, jene Frische und Freudigkeit des Unterrichts, die Lust des Selbsfc- 
findens, der lebendige Erwerb stilistischer Kenntnisse, die Zunahme in der Be- 
herrschung der Muttersprache, das alles wird zum grofsen Teil durch die 
Kommentare mit ihren Übersetzungshilfen und fertigen Übersetzungen vereitelt. 
Also — Supplicium', wie 'Auch Einer' sagt. 

Noch eine andere Gefahr bringt der Gebrauch der Kommentare mit sich, 
von der ich nur ungern rede, eine Gefahr für den Lehrer selbst. Befindet sich 
der Kommentar in den Händen der Schüler, so mufs selbstverständlich der 
Lehrer ihn auch zu Rate ziehen. Hat aber jemand 22 — 24 Stunden wöchentlichen 
Unterricht, dabei Aufsätze und andere Arbeiten zu korrigieren und mehrere 
Schriftsteller nebeneinander zu behandeln, so findet er durchaus nicht immer 
die gar nicht geringe Zeit, die dazu gehört, 50 Verse Vergil oder ein Kapitel 
einer Demosthenischen Rede in gutes Deutsch zu übertragen. Es ist nur zu 
menschlich, wenn er sich mit dem begnügt, was der Kommentator ihm bietet. 
Wo die Sache etwas schwierig wird, springt der schon freundlich bei und er- 
möglicht eine rasche Vorbereitung. Was das aber auf die Dauer besagen will, 
ist leicht abzusehen. Man begiebt sich mehr und mehr in die so bequeme 
Abhängigkeit von fremden Gedanken, man büfst an Selbständigkeit des Urteils 
ein und verliert den Zusammenhang mit der Wissenschaft, man gerät so in die 
Gefahr, auf die Stufe der nur für die Elemente vorgebildeten Lehrer zu sinken, 
eine Gefahr, die alle Gehalts- und Rangerhöhungen nicht abwenden können. 
Ohnehin ist das jetzt herrschende Prinzip der Unterrichtsverteilung wissen- 
schaftlicher Vertiefung nicht gerade hold. Klassenlehrertum, nicht Fachlehrer- 
tum ist heute die Parole; beide Einrichtungen haben ihre unleugbaren Vor- 
und Nachteile. Jedenfalls, wer in einer Prima Lateinisch, Griechisch und 
Deutsch verwaltet und natürlich auch behufs Erreichung der Normalstunden- 
zahl anderes Wissenswerte lehren mufs, für das er in der Regel auch noch 
mancher Vorbereitung bedarf, der mufs gute Nerven haben und mit der Zeit 
ordentlich haushalten, wenn er mit den bedeutenderen Leistungen und Fort- 
schritten seiner Fachwissenschaft bekannt bleiben und nebenher, was ich für 
dringend wünschenswert halte, an einer wenn auch noch so kleinen Stelle 
selbst forschend mitarbeiten will. 

Einen Vorwurf müssen wir freilich an diesem Punkte gegen die philo- 
logische Wissenschaft erheben. Mit dem gewaltigen Fortschritt, den sie in 



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M. Siebourg: Moderne Schulausgaben 507 

den letzten Dezennien fast in allen ihren Zweigen gemacht hat, hat die Er- 
klärung der alten Autoren nicht gleichen Schritt gehalten. Wie oft begegnet 
man auch in philologischen Zeitschriftartikeln bei der Behandlung einer 
schwierigen Stelle der Bemerkung: die Kommentare lassen uns hier, wie ge- 
wöhnlich, im Stich, süent uf solent. Die Wissenschaft ist sich selbst dieser 
Lücke wohl bewufst, und in den allerletzten Jahren wendet man sich that- 
kraftig den hier noch zu lösenden grofsen Aufgaben zu. 1 ) Das Gymnasium 
darf hofFen, von jener Thatigkeit reiche Frucht zu ziehen, erst recht dann, 
wenn die Wissenschaft etwas mehr, als es die Regel ist, von den Bedürfhissen, 
Bestrebungen und Fortschritten der Gymnasialpädagogik Notiz nimmt. 

Und nun noch ein Wort über die sogenannten Hilfshefte.*) Sie enthalten 
sehr viel Praktisches, Schönes und Wissenswertes, und man könnte sich glück- 
lich schätzen, wenn am Ende eines Lehrganges die Klasse das alles in sich 
aufgenommen hätte. Bücher, wie die beiden Homerhefte von Henke, die die 
Frucht einer langjährigen Erfahrung und pädagogischer Einsicht sind, können 
vor allem dem von grofsem Nutzen sein, der zum erstenmal Odyssee oder 
Ilia8 zu behandeln hat, und ihm zeigen, wie er diese Dinge anfassen soll. 
In der Hand des Schülers möchte ich drum doch nicht jene Hilfshefte sehen. 
Auch sie greifen wieder oft dem Unterricht zu sehr vor. Sie geben vielfach 
Zusammenstellungen in fertiger Form, die der Schüler durch eigene Kraft, 
durch eigenes Sammeln sich im Laufe der Zeit erst erarbeiten sollte. Wer 
den Schülerthätigkeitsdrang darauf leitet, weifs, wie gern solche Arbeiten ge- 
macht werden, niemand wird ihren Segen bestreiten wollen. Dem Schüler 
gäbe ich am liebsten statt all der Hefte zu jedem einzelnen Schriftsteller einen 
Abrifs der Realien und Antiquitäten einschliefslich einiger Hauptpunkte der 
antiken Kunstgeschichte in die Hand, der ihn durch Mittel- und Oberklassen 
begleiten müfste. Er dürfte schon als Ersatz für die verschiedenen Hilfshefte 
und Kommentare, gewissermafsen als eine sachliche Grammatik, ein paar 
Mark kosten. 

In summa — ich erkläre mich gegen die Gestaltung und die Beigaben, 
wie sie unsere modernen griechischen und lateinischen Schulausgaben zeigen. 
Der Lehrer hat wenig Nutzen, dagegen wahrscheinlich in der Regel Schaden 
davon, indem er zu bequemer Drangabe der geistigen Selbständigkeit und zur 
Entwissenschaftlichung verführt wird. Schüler und Unterricht haben durchweg 
nur Nachteil davon; ihnen werden die erfreulichsten und förderndsten Arbeiten 
vorgemacht. Blieben noch Verleger und Bearbeiter. Für den ersteren haben 
wir nicht zu sorgen; ich bezweifle aber, ob selbst er besonderen Vorteil aus 
solchen Unternehmungen zieht. Die Konkurrenz ist zu grofs, und ich habe da 
schon ganz merkwürdig resignierte Äufserungen Beteiligter gehört. Der einzige 
allerdings, der die Frage *cui bono 9 positiv und fröhlich beantworten kann, ist 

*) Vgl. C. Ho8iu8, Neuere Kommentare zu lateinischen Dichtern, in diesen Jahrbüchern, 
Jahrg. 1899 I. Abt. S. 101 ff. 

*) Auf die Abbildungen gehe ich absichtlich nicht ein. Das ist eine besondere Frage 
für sich, die augenblicklich ebenso brennend ist, wie der uns beschäftigende Gegenstand,. 



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508 M. Siebourg: Moderne Schulausgaben 

in unserem Fall der Editor; er hat redliche Arbeit hinter sich und hoffentlich 
auch noch etwas materiellen Vorteil bei der Sache. Dieselbe Arbeit aber, die 
er geleistet, mufs ein jeder von uns für sich thun — das ist unsere Pflicht 
und Schuldigkeit, für die kein Ersatzmann eintreten kann. 

Ich wünsche in der Hand unserer Gymnasiasten gut, d. h. den Forderungen 
der Hygiene entsprechend gedruckte, unverkürzte Texte unserer Schulklassiker. 
Davor zunächst eine in deutscher Sprache abgefafste Inhaltsübersicht nach 
grofsen Abschnitten, die eine schnelle Orientierung und einen vorlaufigen Durch- 
blick durch das Ganze ermöglicht. Für Ciceronische oder Demosthenische 
Beden u. ä. wäre das nicht nötig. Sodann eine ganz kurze deutsche Einleitung 
mit den nötigsten Daten über Leben und Schriften des betr. Autors und den 
Bemerkungen, die etwa vor Beginn der Lektüre des betr. Werkes unerläfslich 
sind. Wenige Seiten werden durchweg diesen Zwecken genügen. Am Schlüsse 
folge dann endlich ein Namensverzeichnis, das bei knapper Fassung nicht zu 
spärlich in seinen Angaben sei. Ich würde in seiner steten Heranziehung zu- 
gleich ein Kampfmittel gegen eine Erscheinung sehen, die einen mit Betrübnis 
erfüllen kann; ich meine die erschreckend zunehmende Unkenntnis in der alten 
Mythologie und in dem Sagen- und Anekdotenhaften der alten Geschichte. Man 
kann es schon erleben, dafs eine ganze Unterprima von der schönen Fabel des 
Menenius Agrippa überhaupt nichts weifs; kein Wunder übrigens, da diesen 
Dingen nur in Quinta und Quarta einige Aufmerksamkeit im Zusammenhang 
geschenkt werden kann und die philosophischen Schriften Ciceros, die jenen 
Stoff überall heranziehen, aufser Kurs gesetzt sind. Nimmt man hinzu, dafs 
auch die Kenntnisse in der alten Geschichte selbst in Abnahme begriffen sind, 
so ist die Gefahr vorhanden, dafs das Gebiet immer beschränkter wird, das für 
alle Gebildeten unseres Vaterlandes gemeinsamer Boden war, auf dem man 
sich verstand, wie das Virchow in den letzten Verhandlungen des preufsischen 
Abgeordnetenhauses über den Kultusetat treffend dargelegt hat. 

Ich habe nun zum Schlüsse noch einem Einwurf Rede zu stehen, den 
man mir machen wird, dem nämlich, wie ich mich mit der Forderung der 
neuen Lehrpläne abfinde, dafs die Lektüre unbeschadet der Gründlichkeit um- 
fassender werden müsse. Zunächst halte ich es nicht für glücklich, dafs eine 
derartige Bestimmung in unser pädagogisches Gesetzbuch — denn das sind 
doch wohl die neuen Lehrpläne für uns — hineingesetzt worden ist. Darin 
sollten nur Bestimmungen stehen, die unter allen Umständen ausführbar sind. 
Das ist aber jene Forderung nicht. Der Umfang der Lektüre hängt sehr von 
dem Schulmaterial ab, mit dem sie zu betreiben ist. Es giebt oft schwach 
begabte Klassen, oder solche, die durch äufsere Umstände, häufigen Lehrer- 
wechsel u. ä. zurückgeblieben sind. Es wäre sündhaft, mit solchen viel d. h. 
rasch lesen zu wollen. Auch giebt es hervorragende Schulmänner, die über- 
haupt gegen eine umfassendere Lektüre sind und an dem Grundsatz Venig, 
aber gründlich* hängen. Ich persönlich gestehe, dafs ich, seit ich mich be- 
strebe, jener Forderung zu genügen, auch Mittel und Wege dazu gefunden 
habe; in diesem Sommersemester habe ich bei drei Wochenstunden die ganze 



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M. Siebourg: Moderne Schulausgaben 



509 



Apologie gelesen, während ich früher in der gleichen Zeit gewöhnlich noch 
mit den beiden kurzen Nachreden im Rückstand blieb. Dieses Mal bin ich in 
den ersten zwei Dritteln des Semesters in gewohnter Weise vorgegangen, so 
zwar, dafs die Schüler zu Hause aufser der Vorbereitung eines neuen Stückes 
auch die Repetition zu leisten hatten. Diese Wiederholung liefs ich nun für 
das letzte Drittel, also f&r etwa vier Wochen, wegfallen, in der der Klasse 
ausdrüc klich mitgeteilten Absicht, nunmehr schneller vorwärtszugehen und vor 

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taufgaben, 

Den in 5cm Aufsätze von JYL Siebourg aufgestellten ersetzung, 

Forderungen entsprechen Die u* ganzen 

nt. Aber 

BIBLIOTHECA . 
nnten ein 

* SCHULTEXTE * so extern- 

Und so 

ition auf- 
her guter 



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Die Schnltexte der „BiMiothecaTenbneriana" 

bieten in denkbar bester Ausstattung zu wohlfeilem 
Preise den Zwecken der Schule besonders entsprechende, in 
keiner Weise aber der Thätigkeit des Lehrers vorgreifende, 
unverkürzte und zusatzlose Texte. 

Die Schnltexte £ e ^ en daher einen auf kritischer Grundlage 
===== ruhenden, aber aller kritischen Zeichen sich 
enthaltenden, in seiner inneren wie äufseren Gestaltung viel- 
mehr inhaltliche Gesichtspunkte zum Ausdruck bringenden 
* lesbaren' Text. 

Die Schültexte erleichtern demgemäfs den Überblick sowie das 
===========: Verständnis dnreh sorgsame Gliederung 

des Druckes, teilweise auch durch Hervorhebung inhaltlich 
wichtiger Worte (durch Sperrdruck); sie vermeiden hingegen 
alle Angaben des Inhalts oder der Disposition zwischen oder 
neben dem Text. 



Die Schulte 



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bieten einen vollständigen, nicht aus- 
zugsweisen Text, und zwar sowohl ganzer 
Werke als auch kleinerer Teile von umfangreicheren 
Schriftstellern, so jedoch, dafs jedes Bändchen ein inhaltlich 
in sich geschlossenes Ganzes bildet. 

Die Schultexte « ntl,a,te " a ! s Beigaben eine Einleitung, 
===== ^ ==== die in abrifsartiger Form das Wichtigste 
über Leben und Werke des Schriftstellers, sowie über 
sachlich im Zusammenhange Wissenswertes bietet; ferner 
gegebenenfalls eine Inhaltsübersicht oder Zeittafel 
(jedoch keine Dispositionen) sowie ein Namenverzeichnis, 
das aufser geographischen und Personen-Namen auch 
sachlich wichtige Ausdrücke enthält, bez. kurz erklärt 



Klassiker, 



Liesjährigen 

mich aus 

f. ähnliche 



Exemplare zur Prüfung &e l^ufs Einführung stehen 
auf Wunsch unberechnej txJrxd postfrei zu Diensten. 
11 Bestellzettel am Scfy ^ Ä ^ dieses Prospektes. 



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508 



M. Siebourg: Moderne Schulausgaben 



BIBLIOTHECA 



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TEUBNERIANA 



in unserem Fall der Editor; er hat redliche Arbeit hinter sich und hoffentlich 
auch noch etwas materiellen Vorteil bei der Sache. Dieselbe Arbeit aber, die 
er geleistet, muß ein jeder von uns für sich thun — das ist unsere Pflicht 
und Schuldigkeit, für die kein Ersatzmann eintreten kann. 

Ich wünsche in der Hand unserer Gymnasiasten gut, d. h. den Forderungen 
der Hygiene entsprechend gedruckte, unverkürzte Texte unserer Schulklassiker. 
Davor zunächst eine in deutscher Sprache abgefafste Inhaltsübersicht nach 
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M- Ali Freiexemplar «ur Prüfung behufs event. Einführung er- 
bitte loh mir sofort je nach Encheinen Ton der Verlagsbuchhandlung 
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C. F. W. Müller, geb. 65 Pf ^ 

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Rede für Milo, von demselben, geb. 55 Pf- 

Rede f. Archias, von demselben, geb. 40 Pf. 

4 u 6. Rede geg.Verres, von dems. geb. 1 M. 

Horaz, von Oberschulrat Prof. Dr. Krüger, geb. 

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Sallusts Catilinarische Verschwörung, von Prof. Ur. 
Th. Opitz, geb. 55 iy. 

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Lysias' ausgewählte Reden, von Direktor Th. Inal- 

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Buch 6—8, von demselben. 1 M. 80 Pf. 

Xenophons Anabasis, von Direktor Dr. W. Gemoll, 
geb. 1 M. 60 Pf (M. 1 Tafel u 1 Karte) 

Buch I-IV geb. 1 M. 10 Pf 

(M. 1 Tafel u. 1 Karte.) 

Memorabilien, von Rektor Prof. Dr. W .Gilbert, 



geb. 1 M. 10 Pf. 



Ort, Wohnung: 



Unterschrift: 



Wenn dieser Bestellzettel keine weiteren gchriftUenen Bemerkungen als 
die Unterschrift enthält, wird er als „Drucksache" in offenem Brief- 
umschlag für 8 Pfg. befördert! 



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M. Siebourg: Moderne Schulausgaben 509 

Apologie gelesen, während ich früher in der gleichen Zeit gewöhnlich noch 
mit den beiden kurzen Nachreden im Rückstand blieb. Dieses Mal bin ich in 
den ersten zwei Dritteln des Semesters in gewohnter Weise vorgegangen, so 
zwar, dafs die Schüler zu Hanse aufser der Vorbereitung eines neuen Stückes 
auch die Bepetition zu leisten hatten. Diese Wiederholung liefe ich nun für 
das letzte Drittel, also für etwa vier Wochen, wegfallen, in der der Klasse 
ausdrücklich mitgeteilten Absicht, nunmehr schneller vorwärtszugehen und vor 
Thoresschlufs noch das ganze Werk erledigt zu sehen. Der gewohnte Gang 
der Lektürestunde erlitt dabei keine Änderung: die beiden Hauptaufgaben, 
Feststellung des Gedankenganges und Herausarbeitung einer guten Übersetzung, 
wurden stets gelost. Auch die zusammenhangende Musterübersetzung des ganzen 
in der Stunde durchgenommenen Abschnittes wurde nicht verabsäumt. Aber 
mit dem Wegfall der Repetition war Zeit gewonnen; die Schüler konnten ein 
gröfseres Stück vorbereiten; war dasselbe in der Klasse erledigt, so extem- 
porierten wir, oder ich selbst übernahm auch schon die Fortsetzung. Und so 
erreichten wir unser Ziel und hatten auch noch Zeit, eine Disposition auf- 
zustellen und uns den Inhalt des ganzen Werkes mit gelegentlicher guter 
Rezitation einzelner griechischer Stellen vor die Seele zu rufen. 

Sed haec hactenus. Über moderne Schulausgaben deutscher Klassiker, 
die vielfach auch wenig erfreulich sind, vielleicht ein andermal mehr. 

Anmerkung. Die vorstehend erörterte Frage ist inzwischen auch auf der diesjährigen 
Philologenversammlung in Bremen zur Verhandlung gekommen. Ich freue mich aus 
Zeitungsberichten zu ersehen, dafs der Referent, Rektor Lechn er -Nürnberg, ähnliche 
Forderungen, wie ich, erhebt. 



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ANZEIGEN UND MITTEILUNGEN 



STEGEEIFDISTICHEN 
Die Zwickauer Ratsschulbibliothek be- 
wahrt einen stattlichen Quartband 1 ), der 
einst Caspar Hofmann gehörte, einem 'un- 
sterblich berühmten Medicus', wie ihn Will in 
seinem Nürnbergischen Gelehrten-Lexikon 1 ) 
nennt. Geboren in Gotha und daselbst vor- 
gebildet, studierte er in Leipzig, Strafsburg, 
Altdorf, Padua, Basel, trat am 26. Aug. 1607 
die durch den Tod des Nicolaus Taurellus 
erledigte Professur der Medizin zu Altdorf 
an und starb hier am 3. Not. 1648. Der 
interessante Band enthält 37 kleine Druck- 
schriften; auf den Titel- und Schlüsselten 
hat Hofmann allerlei aufgezeichnet: Hoch- 
zeitscannina, Ansprachen und Reden, Witze 
u. s. w. Die im folgenden abgedruckten 
Anekdoten will er von Georg Lichtenthaler, 
professor classicus zu Altdorf (gest. 26. Okt. 
1602) *), mitgeteilt bekommen haben. Die 
darin vorkommenden Personen sind — den 
Poeten Salomon Frencelius a Friedenthal 4 ) 
etwa ausgenommen — allgemein bekannt. 
In convivio aliquando, cui intererat Major, 
nunciabatur novum Pontificem nomine Pium V. 
Romae creatum esse. Ibi Major: 
Miror, Pontdfices cum tot iam Roma crearit, 
Inter eos tantum quinque fuisse pios. 
Referebat M. Liechtentaler. 

Major et Cruciger Witeberga aliquando 
Lipsiam ad nundinas proficiscebantur et per- 
noctabant in Dieben •), quas Philippus Thebas 
Saxonicas vocare solebat: Ibi cum saus in- 
solenter a pulicibus essent habiti, surgens 
mane Cruciger aiebat: 

Thebani pulices (Addebat Major:) Et tu, 
durissime lecte, (Respondebat Cruciger:) Sat 
me lusistis, (Implebat Major:) Ludite nunc 
alios! Referebat idem. 



*) Jetzige Bibliothekssignatur: IX. V. 10. 

») H 162 f. 

») Der Lebensabrifs bei Will H 440 f. ist 
zu verbessern nach dem 'Leichenanschlag 
auf M. Georg Lichtenthaler', den Strobei 
in seinen f Miscellaneen Literarischen Inn- 
halts', Erste Sammlung (Nürnberg 1778) 
S. 163—160 abgedruckt hat. 

4 ) Jöcher, Gelehrtenlexikon H 742. 

•) Düben, Stadt im Kr. Bitterfeld, 16 km 
von Eilenburg, an der Mulde. 



Cum Sturmio aliquando erant Argentinae 
Frischlinus et Frencelius. Ibi cum Stormius 
Frencelij industriam probare vellet, oravit 
ip80s, ut alter versum inciperet, alter clau- 
deret. Ibi Frischlinus: 

Lingua mihi velum. Continuo Frenceliui: 
Dens mihi remus erit. Hoc Sturmius et ahj 
convivae valde laudarunt et mirati sunt in 
Frencelio. Referebat idem. 

Cum Philippo olim Stigelius et Sabinns 
erant. His Philippus curabat anserem assari 
et ei, qui prius dietichon pronunciasset, pro- 
mittebat pulpam. Ibi tum Stigelius: 

Vertitur ad prunas atra fuligine gansa. 
Heic Sabinus in risum solutus Gansam Latine 
dici negabat Sed continuo subdebat Stigelius: 

An nescis, gansam Plinius autor habet? 1 ) 
Referebat haec ad mensam Cal. Maij anno 97 
M. Georgius Liechtentaler Altornj. 

Iidem cum eodem erant. Mittebat virgo 
quaedam ad alterutrum colligatarum violarum 
manipulum. Hunc dum accepisset ab inter- 
nuncio Philippus, ingressus conclave, ubi 
erant, dicebat: Das wirdt heut noch ein 
bar Verse kosten. Qui primus mihi dietichon 
dixerit, addebat, ille habebit. Ibi Stigelius: 
Cur mittis violas ? Nempe ut violentins urar. 
Heu violor violis, o violenta, tuis! 

Referebat idem. 
Otto Clkmkh. 

Prof. L. K köpfe l, Gymhasiallehbee a 
Worms, Zur Überbürdungsfraqe der aka- 
demisch GEBILDETEN LEHRER DEUTSCHLANDS. 

Schalke 1899. 48 S. 8. 
Der Titel, den Grobianus Wustmann eine 
Sprachdummheit nennen würde, ist das 
Schlechteste an der Schrift. Der Verfasser 
bietet im Anschlufs an eine frühere Arbeit 
und zu ihrer Erweiterung (Statistische Unter- 
suchungen über die Gesamtlage der aka- 
demisch gebildeten Lehrer im Vergleich mit 
den übrigen Beamten im Grofsherzogtum 
Hessen. Giefsen 1897) nach der bekannten 
und in ihrer Art berühmt gewordenen Methode 

*) Vgl. C. Plini Secundi Naturalis Historia 
lib. X cap. XXH ßect. 27: candidi [anseres] 
ibi [in Germania], verum minores, gantae 
vocantur. 



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Anzeigen und Mitteilungen 



511 



Schröders statistische Erhebungen über das 
Dienst- und Lebensalter der akademisch ge- 
bildeten Beamten in verschiedenen deutschen 
Bundesstaaten (Hessen, Preufsen, Bayern, 
Sachsen, Baden u. a.). Das Material ist in 
zehn mit eingehenden Erläuterungen ver- 
sehenen Tabellen übersichtlich verarbeitet, 
freilich nicht ohne zahlreiche Lücken, weil 
nur für die Lehrer, nicht für die anderen 
Beamten die Unterlagen in der erforderlichen 
Vollständigkeit zu erlangen waren. 

In der zweiten Hälfte der Schrift werden 
über die ungünstigen Yitalitätsverhältnisse 
der höheren Lehrerschaft, die sich in den 
vorhergehenden Tabellen ziffermäfsig dar- 
gestellt haben, gutachtliche Äußerungen von 
verschiedenen Autoritäten angeführt, von 
Pauken, Medizinalrat Eulenburg, Dettweiler, 
Staatsminister Bosse, ühlig, Griesbach, 
Münch, Oskar Jäger, Lexis u. a. 

Das Zahlenwerk der Statistik Knöpfeis 
kann ich schlechterdings nicht kontrollieren. 
Unzweifelhaft beruht es . auf sehr mühevoller 
Sammlung und Berechnung. Er selbst ver- 
bürgt sich nachdrücklich für die Zuverlässig- 
keit seiner Ansätze. Ich gehe bei meinen 
weiteren Betrachtungen von der Überzeugung 
aus, dafs hier alles richtig ist, nicht nur die 
Zahlen selbst, sondern auch die Auswahl 
und Zusammenstellung der Vergleichungs- 
objekte, der verschiedenen Alters- und Berufs- 
kategorien. Aufgefallen ist mir in dieser 
Beziehung nur das eine, dafs auch die hessi- 
schen Oberförster zur Vergleichung heran- 
gezogen werden. Ihre Lebenszähigkeit steht 
in einem geradezu rührenden Kontrast zu 
der Hinfälligkeit der Gymnasiallehrer. Aber 
das weifs doch jedermann von vornherein, 
dafs die Lebensbedingungen dieser Wald- 
läufer ganz andere sind als die unsrigen, 
so dafs die Vergleichung der Altersverhält- 
nisse dieser beiden Stände nicht viel mehr 
Wert hat, als wenn man das Latein der 
Jägerwelt mit dem der Gymnasiallehrer ver- 
gliche. Die verfehlte Parallele verführt den 
Verf. auch zu dem Ausrufe: f Da sollte man 
doch Oberförster werden', einem Ausrufe, 
der zu dem sonstigen Ernste und der Sach- 
lichkeit seiner Ausführungen merkwürdig in 
Widerspruch steht. Der Verf. hat sicherlich 
in Wirklichkeit mehr Achillesgesinnung, als 
sich darin verrät. Unwillkürlich denkt man 
auch an die Kehrseite der Medaille, dafs in 
den letzten Jahrzehnten — ob es neuer- 
dings besser geworden ist, weifs ich nicht — 
gerade die Carriere der Oberförster als eine 
der langsamsten allgemein verschrien war. 

Aber auch abgesehen von den Oberförstern 
führen die Untersuchungen Knöpfeis wie 



ähnliche andere zu dem für uns akademisch 
gebildeten Lehrer betrübenden und ent- 
mutigenden Ergebnis, dafs wir im Vergleich 
mit den juristischen Beamten und den Geist- 
lichen einen erheblich geringeren Durch- 
schnitt des Amtsalters haben, und dafs bei 
uns der Prozentsatz derer, die bis zum 60. 
oder gar 65. Lebensjahre im Dienste aus- 
halten, erheblich niedriger ist. Es wäre 
sehr zu wünschen, dafs diese Thatsachen, 
mehr als bei den Lehrern selbst, in den 
gesetzgebenden Kreisen einen tiefen Eindruck 
machten und die entsprechenden und aus- 
gleichenden Verbesserungen herbeiführten: 
ausgiebige Anfangs- und Vordienstgehalte, 
beschleunigte Steigerung der Alterszulagen, 
frühzeitigen Ansatz der Höchstgehalte, Aus- 
schlufs aufreibender Nebenbeschäftigung 
durch die GehaltsbemesBung, günstige Pen- 
sionsbedingungen, Beseitigung übertriebt. ier 
und mafsloser Ansprüche an die Arbeits- 
leistung der einzelnen Lehrer. 

Soweit bin ich ganz einverstanden mit 
der Tendenz der vorliegenden Schrift. Da- 
gegen will es mir nicht in den Sinn, wenn 
es der Verf. wie andere vor ihm durch seine 
Behandlung der Sache befördert, dafs die 
unliebsame Erscheinung unserer Kurzlebig- 
keit aus unserer Berufsthätigkeit an sich, 
auB dem Anstrengenden und Aufreibenden 
unserer Berufsarbeit erklärt wird, als wenn 
wir ein selbstmörderisches Gewerbe betrieben 
und eine Art Arsenikarbeiter des Geisteslebens 
wären. Das halte ich für grundfalsch, auch 
für verhängnisvoll, weil es in unserem Stande, 
wo ohnehin die rosige Stimmung nicht vor- 
herrschend ist, noch mehr Melancholie er- 
zeugen wird und auch Ansprüche auf Arbeits- 
erleichterungen, die ihrerseits wieder 
mafslos sind. Ich bleibe bis zum besseren 
Beweise des Gegenteils bei der Überzeugung, 
dafs unser Beruf seinem Wesen nach ebenso 
gesund ist wie der juristische und der theo- 
logische, und dafs unsere verhältnismässig 
schlechte Statistik andere entscheidende 
Ursachen haben mufs, als im Durchschnitt 
wöchentlich 19 Stunden Unterricht in Klassen 
von je 86 Mann und wöchentlich 60—70 Hefte 
zum Korrigieren bei 40 Schulwochen im 
Jahre, was der mir vertraute Normalsatz 
für einen juvenis in den Mittelklassen ist, 
und was ich, wenn es gut gemacht wird, 
als eine rechtschaffene Leistung ansehe, aber 
nicht als Überbürdung schätzen kann. 

Für eine bessere Aufhellung der unheim- 
lichen Sterblichkeitsfrage vermisse ich zu- 
nächst eine statistische Vergleichung mit 
den Zuständen bei den VolkBschullehrern. 
Wie bekommt diesen die Unterrichtsarbeit? 



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512 



Anzeigen und Mitteilungen 



Das müfsten wir doch eigentlich zuerst fragen, 
wenn sich ernstliche Überbürdungssorgen bei 
uns regen. Derartige Untersuchungen sind 
freilich in unseren Kreisen nicht beliebt, 
weil wir oft von anderer Seite in unbilliger 
Weise und zu unserem Schaden nach der 
leichtfertigen Auffassung: Lehrer ist Lehrer, 
auch wenn es sich um Gehalt und Rang 
handelte, mit den Kollegen von der Volks- 
schule zu nahe auf eine Linie gerückt worden 
sind. Aber das darf uns doch nicht hindern, 
wenn ob sich fragt, wie mutmafslich die Lehr- 
tätigkeit in der öffentlichen Schule auf 
Gesundheit und Lebensdauer wirkt, die mit 
uns an einem Strange ziehenden und ähn- 
lichen Anstrengungen ausgesetzten Volks- 
schullehrer zu vergleichen. Die einzige Be- 
ziehung darauf findet sich bei Knöpfel S. 18 
in folgenden seltsam und zweideutig klingen- 
den AufBerungen: f Von den seit 1870 ab- 
gegangenen hessischen Kollegen hatten nur 
fünf vierzig und mehr definitive Dienstjahre 
erreicht. Von diesen fünf stammen vier aus 
der guten alten Zeit, wo es auch Lehrern 
ohne akademische Bildung wegen Lehrer- 
mangels möglich war, in die Kategorie der 
ak. geb. Lehrer zu gelangen. — Die gleichen 
Beobachtungen wurden in Sachsen gemacht. 
So fügte ein sachsischer Kollege, der mir die 
Anzahl der ak. geb. Lehrer mit über 60 Jahren 
angab, erläuternd hinzu: Freilich sind da- 
runter einige ohne akademische Bildung.' 

Bei der Vergleichung mit den Geistlichen 
ist es handgreiflich, dafs diese gegen uns 
in Vorteil kommen durch die Landpfarrer, 
die vorne hmli ch den Altersdurchschnitt in 
ihrem Stande heben und den Prozentsatz 
der sexagenarii steigern dürften — man ver- 
gleiche die Oberförster. Wir Gymnasial- 
lehrer müssen allesamt bis auf den ver- 
schwindend kleinen Bruchteil der Portenser, 
üfelder, Rofslebener und ähnlicher Paradies- 
kollegen Stadtluft atmen, sehr viele von uns 
GrofsBtadtluft, und das zehrt natürlich. Auch 
die Juristen sind in dieser Hinsicht günstiger 
gestellt, weil sie viel mehr Stellen haben, 
wo der Mensch noch nah der Natur und 
nachbarlich mit dem Acker zusammenwohnt. 

Noch wichtiger aber und vornehmlich 
entscheidend ist ein anderes Moment, das 
unter den von Kn. angeführten Autoritäten 
Paulsen berührt, wenn er sagt: 'Viele Lehrer 
treten schon mit geschwächter Kraft ins Amt 
ein; Entbehrungen während der langen 



Studienzeit, die inneren und äufseren Stra- 
pazen der Examensjahre, die gedrückte und 
kümmerliche Lage während langer Probe-, 
Warte- und Hilfslehrerjahre: alles das zu- 
sammen hat vielen Mut und Kraft schon 
gelähmt.' Ich möchte das noch etwas deut- 
licher ausführen. Wir gehören der grofsen 
Mehrzahl nach von Haus aus zu den wirt- 
schaftlich Schwachen, stammen aus engen 
Verhältnissen, haben uns in der Jugend 
nicht viel zu gute thun können, haben 
manchmal schon als Gymnasiasten, vollends 
als Studenten neben der angestrengten und 
langwierigen Arbeit für die Ausbildung zum 
Lebensberuf auch noch mühselige Arbeit 
ums tägliche Brot gehabt, und dieses Brot 
war schmal genug und wurde nicht reich- 
licher in der Kandidaten- und Hilfslehrer- 
zeit, in der Übergangszeit also, wo sich der 
Körper des Anfängers der regelmäßigen 
Berufsarbeit des Docierens und Discipli- 
nierens voller Klassen unter Freiheit von 
anderen Zumutungen und bei sonst guter 
Pflege anpassen sollte. Da liegen die Keime 
für so viele schmerzliche Fälle verfrühter 
Invalidität. 

Worauf führt das hin? Darauf dafs man, 
nachdem man in den letzten Zeiten für die 
ständigen Lehrer besser zu sorgen angefangen 
hat, eine besondere Fürsorge dem Bedürf- 
nisse zuwendet, sich einen recht kräftigen und 
widerstandsfähigen Nachwuchs zu sichern, 
indem man ungebührliche Ausdehnung der 
Studienzeit möglichst hindert und zu diesem 
Zwecke manchen Luxus der wissenschaft- 
lichen Ausstattung einschränkt, wobei die Uni- 
versitätsprofessoren das Beste thun müisten; 
indem man ferner den Überflufs des zweiten 
Jahres der pädagogischen Ausbildung wieder 
beseitigt, um jüngere und frischere Leute 
ins Amt zu bekommen; indem man weiter- 
hin einen vollbeschäftigten Vikar nicht mit 
1200 Mark jährlich abfindet, wovon er nicht 
leben kann; indem man endlich die Zahl 
der unentbehrlichen Stellen, die jetzt von 
nichtständigen Lehrern versorgt werden, auf 
ein Minimum reduziert und nicht an den 
Anfängern spart, was man oben zulegt. Eine 
Bolche Prophylaxe scheint mir mehr angezeigt 
zu sein als die therapeutischen Versuche, 
wie sie durch die Knöpfeische Statistik em- 
pfohlen werden, dafs man die Lehrer im 
besten Mannesalter auf halbe Sinekuren setzt. 
Recha&d Richtkr. 



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JAHRGANG 1899. ZWEITE ABTEILUNG. ZEHNTES HEFT 



ÄSTHETISCHE UND ETHISCHE BILDUNG IN DEE GEGENWART 

Von Wilhelm Münch 

Vom Wahren, Schönen und Guten redet man so gerne in einem Atem. 
Die Jugend soll zur Liebe und zur Begeisterung für das Wahre, Schöne und 
Gute erzogen werden, das gilt als selbstverständliches Ziel, als die unzweifel- 
hafte Pflicht und Schuldigkeit der Erzieher, namentlich derjenigen an Schulen, 
an die man ja überhaupt gern die unbedingtesten Ansprüche mit gelassener 
Miene stellt, wahrend man der häuslichen Erziehung so recht ernstliche Zu- 
mutungen nicht zu machen pflegt, auch ihr schon eher gestattet, ihre Ziele 
und Wege nach subjektivem Begehr und Ermessen zu wählen. Vom Sinn für 
das Wahre, Schöne und Gute spricht man dann auch wieder, wo das Wesen 
der Bildung und der Gebildeten recht voll bezeichnet werden soll. Drei Sonnen ; 
zugleich am Himmel stehend und ihr verschiedenfarbiges Licht — klarer, 
glühender oder milder — zugleich herniederströmend: was könnte Herrlicheres 
gedacht werden! Wenn sich nur alles wirklich so leicht verbände, nicht oftmals 
auseinander strebte, wenigstens im Innern der Menschen, wie sie nun einmal 
sind! Wenn das Kaminfeuer den umliegenden Raum erhellt, dafs die Bewohner 
sich dabei sehen und erkennen können, und wenn es ihr Auge mit dem züngeln- 
den Spiel der Flamme erfreut, und wenn es ihnen zugleich Wärme bringt, so 
ist das alles dem Eaminfeuer ganz natürlich, ist ein alltägliches Ding und 
vielleicht ein hübsches Symbol von dem Zusammensein jener edlen Dreiheit: 
aber diese selbst ist darum nicht im geringsten alltäglich, mindestens nicht in 
kräftiger Lebendigkeit. Unsicher schwankt das Ideal des Wahren, des Guten 
und des Schönen durch die Seele der meisten hin, wird in guter Stunde 
einigermafsen kräftig, aber entweicht auch wieder als Schemen in die Ferne 
oder wird im Sieg gemeiner Regung hinausgestofsen. Das ist so die Erfahrung 
aller Tage. 

Auch das ist für niemanden mehr überraschend, der nicht als junge Ein- 
falt am Thor des Lebens steht, dafs man sich dem einen der Ideale in einer 
Weise ergeben kann, die gegen die anderen gleichgültig macht. Der gelehrte 
Forscher, der mit einer Hingabe ohnegleichen der Feststellung des Wahren 
auf irgend einem Gebiete, an irgend einem Punkte zustrebt, dem die Erkenntnis 
ohne irgend einen persönlichen Gewinn wert genug ist, um ihr Kraft und 
Leben zu opfern, er läfst darüber vielleicht sein menschliches Herz vertrocknen 
und veröden, ja läfst es vielleicht auch von Neid und Mifsgunst zerfressen und 

Kene Jahrbücher. 1899. H 33 



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514 W. Münch: Ästhetische und ethische Bildung in der Gegenwart 

gewöhnt es zu brutalem Kampfe (denn auch der Geisterkampf kann brutal sein). 
Aber fährt nicht wenigstens zwischen dem Schönen und dem Guten der Weg 
um so viel leichter herüber und hinüber? Die Geschichte vergangener Zeiten 
wie das Angesicht der Gegenwart weist genug schroffes Auseinanderfallen des 
ästhetischen und ethischen Interesses oder doch der praktischen Kraft dieses 
Interesses auf. Überhaupt aber hat kaum zu irgend einer Zeit das, was man 
als persönliche Bildung erstrebte , und auch selbst das, was man als Bildungs- 
ideal über sich erblickte, jene Dreiheit in gleichmäßiger Kraft in sich begriffen. 
Vielfach kommt das Gute nur als eine Art von mitlaufendem Schatten ins 
Spiel oder als ein stillschweigend vorausgesetzter Grundton, der aber nur 
schwach oder überhaupt nicht wirklich mittönt. 

Es sind beträchtliche, sind zumal 'interessante' Perioden der Kulturgeschichte, 
in denen das Ästhetische nach Emanzipation ringt, auf sich selbst ruhen, sich 
um seine eigene Achse drehen will und einen Wert in sich besitzen, der jedem 
anderen Werte mindestens gleich sei, vielleicht auch die andern entbehrlich 
mache. Mitunter ist es eine Art von Trotz mit dem die ästhetische Bildung 
sich gegen die ethische ausspielt, gewöhnlicher wohl wird man sich der Ein- 
seitigkeit nicht eigentlich bewufst Ist doch der Gesamtbegriff der Bildung, 
der seinerzeit wirklich das Menschliche nach allen seinen Seiten einschlofs, 
gleichsam ein erhöhtes Werden der Person gegenüber dem blofs natürlichen 
bedeutete, im Laufe unseres Jahrhunderts ganz wesentlich nach der einen Seite 
hingeglitten, oder nach der Doppelseite von Intellektuellem und Ästhetischem, 
und ist dabei doch auch das von aufsen her Einzuflöfsende von gröfserer Be- 
deutung geworden als das von innen sich Gestaltende. Was an den Griechen 
der klassischen Zeit bewundert wird oder (denn das Bewundern kommt bei 
vielen dem Anstaunen zu nahe und gilt häufiger den grofsen Proportionen 
als den reinen Mafsen) was ihnen eine Art Liebe bei uns gewinnt, das 
schönste Wohlgefallen uns einflöfst, ist eben das ungeschiedene Zusammen- 
sein ästhetischen und ethischen Lebens, und nur einmal ist in den späteren 
Zeiten ein Geschlecht gekommen, das sich von gleichem Ideal beseelen liefs, 
das Geschlecht nämlich, das die Humanität als sein Ziel, seine natürliche Auf- 
gabe, als den Inhalt seines Wollens und seiner Liebe empfand, und das dieses 
Ideal, das nachher nur eine Art von vager Vorstellung oder von landläufiger 
Parole geblieben ist, so rein und inhaltschwer schaute. Die Zeit Herders, 
Goethes, Wilhelms von Humboldt und all der Ihrigen (denn sie waren nicht 
Offiziere ohne Armee) ist rasch vorübergegangen. Schiller, der mit der 'ästhe- 
tischen Erziehung des Menschen' wirklich doch den innersten Menschen ge- 
stalten wollte, ist für unsere Zeit zwar grofser ^Klassiker', ist aber — obschon 
noch nicht mit seiner Dichtung, doch mit seiner innersten Persönlichkeit — 
unserm Geschlecht in eine gewisse hohe Ferne entrückt, der man mehr Respekt 
zollt, als dafs man sich innerlich hineinfände. 

Schon das Griechentum behauptete jene schöne Einheit nicht; der Intel- 
lekt emanzipierte sich, die naive Ganzheit zerging, die Bewufstheit siegte, 
die Subjektivität, die Spaltung in Einseitigkeiten und Gegensätze: als eigent- 



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W. Münch: Ästhetische und ethische Bildung in der Gegenwart 515 

liches Dominium des nationalen Geistes blieb das Ästhetische. Auch als 
die Wiedergeburt der Antike den Süden Europas und dann das Innere über- 
kam, da hat sich als das Lebendigste immer wieder erwiesen die ästhetische 
Seite, die im Norden freilich fast nur den Trieb zur Nachahmung schöner 
Sprachkunst weckte, aber im Süden doch den gesamten Aufschwung und 
Umschwung der bildenden Künste hervorrief. Und gerade in dieser Zeit der 
Renaissance, wie viel erschreckendes Auseinanderfallen des ethischen und ästhe- 
tischen Strebens! Nicht als ob es dort an den liebenswertesten Trägern aller 
guten Ideale zugleich, an wirklich harmonischen Persönlichkeiten fehlte; aber 
daneben wie viel Formenkultus, Kunstkennerschaft, Kunstbegeisterung bei 
Leere oder Harte des innersten Herzens! Und wie die neue Bildung aus den 
Kreisen der Künstler, Enthusiasten und Forscher allmählich in breitere, an 
sich oberflächlichere übergeht, wie sie bei fremden Nationen sich naturalisiert, 
die Höfe Europas ziert: zum Ethischen gewinnt sie am allerwenigsten ein 
ernstliches Verhältnis. 

Um so bestimmter wird man auf den tief ethischen Charakter oder doch 
Ursprung der Reformation hinweisen, und so hätte ja beim Zusammentreffen 
von Renaissance und Reformation jene Zeit doch das Wünschenswerte voll be- 
sessen. Nur dafs es am wirklichen Zusammentreffen und am Zusammenwirken 
in Wahrheit so sehr fehlte! Zwar kann man so viel sagen, dafs im Mutter- 
lande der Reformation der Humanismus durchweg (was vom Lande der Renais- 
sance nicht gilt) das religiöse Moment mitaufnahm, und sein Bildungsideal, 
so wie es formuliert zu werden pflegte, mochte ein schönes Gleichgewicht dar- 
bieten. Aber das wirklich entfaltete Leben blieb sehr viel einseitiger, im 
ethischen Sinne nicht tief und im ästhetischen nicht eigentlich kraftvoll. 
Hatte gerade die Reformation einen Geist kühlen Trotzes gegen das ästhetisch 
Schöne erweckt, so mochte dies — ähnlich wie beim Urchristentum — als 
Kehrseite der vollen ethischen Ergriffenheit hingenommen werden; aber diese 
volle Ergriffenheit selbst zerging, und nach hundert Jahren war ödes Formen- 
leben nach beiden Seiten, der religiös ethischen und der ästhetischen (ästhetisch- 
philologischen müfste man sagen) das Gepräge. So trat dem Humanismus denn 
das Bildungsideal weltgewandter Vornehmheit gegenüber, in dem zwar wiederum 
ein gewisses Gleichgewicht des Menschlichen angestrebt wurde, aber doch eben 
nur ein weltförmiges Ethos und eine der Natur sich entfremdende Anmut 
sich vereinte. Das Schwanken geht dann weiter fort, und von allen Richtungen 
und Gestaltungen ist eine Art von Nachleben unserer Zeit verblieben, doch 
nicht so, dafs die Einseitigkeiten, als solche empfunden und überwunden, sich 
neutralisierten und damit etwas Ganzes und Gutes herauskäme. 

Unsere Nachbarnationen stehen nicht mit uns gleichartig da. Den grofsen 
Unterschied zwischen Süd und Nord, zwischen Romanen und Germanen, 
zwischen den älteren und den jüngeren Kulturvölkern kennt jedermann. Ästhe- 
tische Bildung bei sich zu verwirklichen wird den Romanen so viel leichter 
als uns. Fast alle Wertschätzung des italienischen Wesens ruht auf der glück- 
lichen ästhetischen Anlage und Entwickelung dieses Volkes, daneben freilich 

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516 W. Mönch: Ästhetische und ethische Bildung in der Gegenwart 

auch auf einer gewissen Kindlichkeit des Wesens; und in dieser Kindlichkeit 
selbst mag man etwas wie Einheit des Ästhetischen und Ethischen finden. 
Auch die Bedeutung der Franzosen im europäischen Kulturleben hangt ja zu 
einem wesentlichen Teile an ihrer ästhetischen Beanlagung, die überall Pro- 
portionen zu wahren und sich gefällig darzustellen weifs, so dafs, was man 
ihnen als Eitelkeit immer wieder anzurechnen nicht umhin kann, doch schon 
halb entschuldigt ist durch das ästhetische Bedürfnis dieser gefalligen Selbst- 
darstellung. Daneben aber haben die Franzosen nach der ethischen Seite auf- 
zuweisen einerseits die Fähigkeit leichter Begeisterung für gewisse hohe Ideen, 
und andererseits die freundliche Gestaltung aller menschlich -geselligen Berüh- 
rungen, und wenn weder das eine noch das andere uns als das entscheidend 
Wertvolle gilt, so darf doch weder dem einen noch dem andern sein ethischer 
Wert überhaupt abgesprochen werden. Doch es würde lange Abhandlungen 
erfordern, die besondere Eigenart genau zu bestimmen, in welcher sich das 
Ästhetische und sein Verhältnis zum Ethischen im Leben und Wesen der ein- 
zelnen Nationen darstellt. 

uns Germanen sollte wohl die mangelnde natürliche Begabung nach der 
ästhetischen Seite antreiben, unsere Stärke um so entschiedener im Ethischen 
zu suchen. Noch erfreulicher ist es freilich, wenn wir uns zugleich ein Können 
und Verstehen erarbeiten, das die Natur uns nicht hat schenken wollen, 
wenn das Ästhetische sich auf guter intellektueller Grundlage aufbaut und mit 
dem ethischen Gebiet in feste Wechselwirkung tritt. Auf dieser Linie liegen 
doch auch diejenigen nationalen Leistungen, die wir hier aufzuweisen haben, 
und auf ihr mufs das allgemeine Bildungsstreben andauernd sich bewegen. 

Welches Bild bietet uns die Wirklichkeit in der Gegenwart dar? In 
welchem Verhältnisse und in welcher Mischung ist ästhetische und ethische 
Bildung unter uns lebendig? Allbekannt und verständlich ist, dafs Perioden 
des Wohlstandes oder des Luxus der Entwickelung des Ästhetischen günstig 
sind, das ja ohne diese Bedingungen über ein kümmerliches Dasein sich kaum 
erheben könnte. Nicht so sehr denkt man daran, dafs zwischendurch schwerere 
Zeiten kommen müssen, damit das Ethische wieder in die erste Linie trete. 
Uns geht es jetzt im ganzen gut genug, und die Wagschale des Ästhetischen 
hat sich füllen können; ist nicht die des Ethischen darüber in eine etwas 
blasse Höhe entschwebt? Man kann das doch nicht in jeder Beziehung sagen. 
Bestimmte und starke ethische Regungen fehlen nicht: auf billigen Ausgleich 
der Rechte, auf Befreiung von mancherlei verkehrten Banden, auf gesunde 
Ertüchtigung der Personen, auf kräftiges Thun statt blofsen Sinnens und 
Fühlens geht in mancherlei Formen der Zug unserer Gegenwart. Was sie aber 
nicht begünstigt, das ist das persönliche ethische Leben, die Entwickelung 
sittlicher Individualitäten. Die äufsere Bewegung des Lebens ist so grofs, dafs 
der einzelne sich ihr gegenüber nicht leicht auf festen Füfsen hält. Nicht 
mit Notwendigkeit 'bildet sich im Strom der Welt ein Charakter', und 
nicht mit Notwendigkeit ist der sich bildende Charakter ein sittlich schätz- 
barer. Auch dem sittlichen Charakter ist zur Bildung ein Maus von Stille 



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W. Manch: Ästhetische and ethische Bildung in der Gegenwart 517 

oder Stetigkeit des Lebens von Vorteil. Es ist jetzt so viel äufseres Neue 
im Werden, dafs das Alte auch im Innern der Menschen stärker schwankt 
und leichter weicht. Die ästhetische Bildung ihrerseits bedarf zu ihrem Ge- 
deihen nicht eines so festen Mittelpunktes, sie geht nicht so in das Innerste 
der Person, sie ist oft nur so viel wie ein Sammetmantel über verhülltem 
Körperwuchs. Sie kann freilich auch viel mehr sein. Unterscheiden wir 
etwas genauer. 

Die eine Erscheinungsform, die sentimentale, scheint unserer Zeit wenig 
nahe zu liegen. Wir schwelgen nicht leicht in Gefühlen, schmelzen nicht hin 
in Sehnsucht nach dem Schönen, lassen unser Innerstes sich nicht mit einer 
Art von Verliebtheit füllen für einen schöngeistigen Schriftsteller, sind den 
weichen, süfsen Empfindungen hier so wenig zugeneigt als anderswo. Die 
wehmütige Wonne, welche Jean Paul unsern Grofsmüttern (übrigens mit Ein- 
schlufs vieler Grofsväter) bereitete, ist dem heutigen Geschlecht so fremd wie 
die Sprache der Antipoden; selbst die Poeten in Goldschnitt auf den Tischchen 
unserer Jungfrauen haben nicht mehr die alte Bedeutung; ästhetische Thee- 
gesellschaften sind so ausgestorben wie die Schmachtlocken der Damen. Gleich- 
wohl wird auch jetzt noch viel geschwärmt: es ist aber zumeist ein Schwärmen 
für anschauliche Kunstobjekte oder eine leidenschaftliche Hingabe an ge- 
wisse Kunstrichtungen, und vielleicht noch mehr ein Glühen für einzelne Kunst- 
vertreter. Vor allem ist es ein Schwärmen *par compagnie', ein Getragen- 
werden vom Strome, ein Bewegtwerden vom Winde öffentlicher Stimmung. 
Es ist also doch ohne volle persönliche Echtheit, oder wenigstens ohne indivi- 
duellen Herd. Es ist auch mit viel Kampfbereitschaft oder doch Verachtung 
nach aufsen verbunden, was ja jener älteren, nun altmodischen Schwärmerei 
nicht eigen war. Man fühlt sich mehr fortgerissen als erfüllt, mehr erregt 
als beglückt. Dafs die Frauen in erster Linie stehn, ist der Natur gemäfs; 
aber die Männer bleiben doch nicht dahinten, namentlich nicht soweit es 
lautes Zeugnis gilt oder feurigen Protest. Im einzelnen ist diese ganze Art 
ästhetischer Kultur oft mit viel Unterscheidungslosigkeit verbunden, und sie ist 
oft weniger Bildung als Gewöhnung oder Suggestion. 

Ihr steht gegenüber die ästhetisch -formale Geistesrichtung, die zu ver- 
stehen, zu ermessen, zu urteilen trachtet, die auf Grund eines umfassenden 
sachlichen Gesichtskreises (wie die Gegenwart ihn weit leichter gewährt als 
die Vergangenheit) und auf Grund positiver Schulung sich bezeugt und die zu 
wissenschaftlicher Bildung sich nicht selten ausbaut, wie denn ein Wissen um 
Kunstgeschichte — nicht blofs in Grundzügen und Haupterscheinungen, sondern 
auch im Einzelnen und Versteckten — offenbar viel gewöhnlicher geworden 
ist als früher. Dafs die Wissenschaftlichkeit nicht immer von der echten, 
wirklich respektabeln Art ist, sondern vielfach kleinlich, äufserlich, spielerisch, 
nimmt niemand wunder. Aber auch abgesehen davon ist eine zu sehr von 
Intellektualismus durchzogene ästhetische Bildung nicht recht, was sie sein sollte. 

Auch eine Wendung nach dem allgemein Kulturellen hin nimmt das 
ästhetische Interesse in anderen Fällen. Man empfindet die Kunstbewegung 



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518 W. Münch: Ästhetische und ethische Bildung in der Gegenwart 

als einen integrierenden Teil der allgemeinen Kulturentwickelung, ja sieht wohl 
in ihr die eigentliche Seele, das allerwesentlichste Stück der letzteren, in ihrer 
Selbständigkeit die rechte Emanzipation überhaupt, und in der Teilnahme an 
diesem Ringen die preiswürdigste persönliche Aufgabe. Hier insbesondere 
wird dem Ethischen oder dem, was sonst ethisch hiefs und dafür galt, kaum 
ein Recht gelassen, mindestens nicht das Recht, dem Ästhetischen irgendwie 
unbequem zu werden. Es ist natürlich vor allem Jugend, die auf diesen Linien 
vordringt, wie es so oftmals in der Vergangenheit die Jugend war, die Ahn- 
liches beanspruchte und verfocht, mochte man sich nun als Originalgenies oder 
als Romantiker oder als junges Deutschland oder wie sonst fühlen und be- 
zeichnen. Das jugendliche Eraftbewufstsein ist es wesentlich, das so von Zeit 
zu Zeit an dem festgewordenen Bau älterer Gedanken rütteln mufs. Das 
Ästhetische also ist hier eher das Terrain des Kampfes als die Quelle bil- 
dender Einwirkung. 

Sehr anders, wenn die ästhetische Bildung ein ganz subjektives Gut ge- 
worden ist, nur egoistisches Bedürfnis befriedigt, wenn vor allem nur die 
Fähigkeit erstrebt wird, ästhetisch zu geniefsen, eine Genufssucht, die sich freilich 
von der gemein sinnlichen sehr unterscheidet, aber doch auch, wie diese, die 
Persönlichkeit im Banne hält. Diese Wirkung des Ästhetischen ist nicht Sache 
der Jugend, sondern der reifen Jahre; es ist nicht zufällig, dafs man den Be- 
griff des Geschmacks vom physischen auf das ästhetische Gebiet übertragen hat: 
wie der eigentliche Geschmackssinn erst mit der Höhe des Lebens zu seiner 
rechten Ausbildung kommt, so oder nicht viel anders ist es in der Regel auch 
mit diesem ästhetischen Sinne. Und mancher ruht schliefslich selbstzufrieden 
auf dem Ästhetischen aus, der in begeisterungsfähiger Jugendzeit zu ethischen 
Idealen sich erhoben hatte. 

Einen wesentlich sozialen Charakter nimmt die ästhetische Bildung in 
andern Fällen an. Die Fähigkeit, das Kunstschöne aus irgend einem Gebiete 
andern vorzuführen, reproduzierend zu übermitteln, ist ja freilich hie und da 
eine Versuchung zur Eitelkeit, setzt aber eben doch Erziehung zum Selbst- 
können voraus, die immer auch ethisch achtbar ist. Einen sozialen Wert hat 
ferner die anmutvolle Gestaltung der äufseren Lebensumgebung, in der gegen- 
wärtig zwar auch viel blofses Mitgetragenwerden von der Mode sich findet, im 
ganzen aber wirklich eine sehr erhebliche Steigerung des ästhetischen Sinnes 
während der letzten Jahrzehnte stattgefunden hat. Und einen sozialen Charakter 
und Wert hat weiterhin auch die Schulung und Gewöhnung zu anmutig-wohl- 
thuendem persönlichen Gegenübertreten. In diesem Sinne hat von jeher das 
Weib, wenn es seinen Typus erfreulich darstellte, entweder von jener unmittel- 
baren und naiven Einheit des Ästhetischen und Ethischen, die sich beim Kinde 
empfinden läfst, etwas behalten, oder dieselbe in sichrerer Form gewonnen; 
schon das Entgegentreten in heiterer Freundlichkeit bedeutet doch ein gewisses 
Zusammen von sittlicher und ästhetischer Natur, und die Besten verwirklichen 
in dieser Art eine schöne Harmonie. Weit alltäglicher ist es freilich, zugleich 
nach der einen Seite der Echtheit zu entbehren und nach der andern im 



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W. Münch: Ästhetische und ethische Bildung in der Gegenwart 519 

Kleinen und Einzelnen stecken zu bleiben oder mit blofs Anempfundenem sich 
zu begnügen. 

Endlich die wirklich persönliche ästhetische Durchbildung. Nicht nur bei 
denen werde sie gesucht, die, von natürlicher Begabung getrieben, Person und 
Leben in den Dienst des Schönen stellen, den Künstlern also; vielleicht liegt 
denen sogar das Ziel in unserm Sinne gar nicht am Herzen. Es handelt sich 
nicht um etwas, das nur wenigen zu erstreben vergönnt wäre, wie wenig es 
auch Regel in der wirklichen Welt sein mag: nämlich die Durchdringung des 
Wesens und Gebarens mit den Prinzipien des Mafses, die Gestaltung nicht 
bloft der eigenen Erscheinung und Bewegung, sondern auch des Fühlens und 
Thuns unter dem Gesichtspunkt des wohlthuend Harmonischen, also 4ie Ästhetik 
der persönlichen Lebensführung, wie sie durch reiche Empfänglichkeit, sicheres 
Mafs, schönes Gleichgewicht bestimmt wird. Und bei solchem Wesen unter- 
scheidet man denn freilich nicht und hat auch eigentlich kaum zu unterscheiden, 
ob es vielmehr als ethische oder als ästhetische Personenbildung zu betrachten 
ist. Trotzdem fehlt der Unterschied nicht. Es kann das alles von einem 
inneren Kern her sich regulieren, Ergebnis der Selbsterziehung sein, und es 
kann auch eine Harmonie sein, die von aufsen her angebildet ist. Das letztere 
tritt uns am häufigsten bei solchen entgegen, die, in durchaus gebildetem und 
allseitig wohlgesittetem Hause aufgewachsen, gleichsam nur die Aktiva des 
geistigen Elternvermögens geerbt haben, ohne die Passiva, nämlich den Unter- 
grund von persönlichem Ringen und seinen Nachwirkungen, den stärkeren und 
unregelmäfsigeren Pendelschlägen in Fühlen und Wollen. Doch natürlich, nicht 
in allen Fällen könnte man solche Unterscheidung machen. Wer von uns will 
bei sich selbst oder andern scheiden, wie viel ihm angebildet ist und wie viel 
von innen heraus gewonnen! Wie vieles soll unserm Innern durch Einleben 
in die Gedanken- und Empfindungswelt der edlen Dichter zukommen! Nur 
dafs freilich auch dieses Einleben nicht erfolgt ohne ein gewisses Mitproduzieren, 
das dann auch nicht ohne einen persönlich-ethischen Wertcharakter ist. 

Einst gab es eine allgemeinere und planvolle Pflege eines bewufst har- 
monischen Seelenzustandes: unter dem Namen der 'schönen Seele' ist das Ideal 
bekannt und mit diesem Namen auch in die Vergangenheit hinabgesunken. 
Denn auch das Ideal des voll Menschlichen ist so wenig unveränderlich, dafs 
eine Generation, selbst wenn sie es will und glaubt, ein solches Ideal doch 
nicht festhält, wie es eine andere gefühlt und erzeugt hat. So galt es ja da- 
mals vor allem, reich und schön fühlen, das Entgegentretende reich und tief 
reflektieren, tief in sich selbst leben, aber auch dem Gefühl des andern sich 
schön darstellen; und so suchen denn die schönen Seelen einander gegenseitig, 
sie rühren sich und bewundern sich, sie gefallen sich selbst, und sie spielen 
damit schon über die Grenze des wirklich Wohlthuenden hinüber. Unsere 
Generation möchte doch Gesunderes verwirklicht sehen, wenn auch von schlich- 
terem Charakter. 

Gewils bewegen wir uns oft nur unbestimmt um das Ziel herum, anstatt 
uns ihm wirklich zu nähern. An Surrogaten fehlt es auch hier nicht, nicht 



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520 W. Münch : Ästhetische und ethische Bildung in der Gegenwart 

an Selbsttäuschung, nicht an Verwechselungen. Wie oft wird für warmes Herz 
gehalten, was nur entzündbare Phantasie ist, wie oft auch von dem Inhaber 
selbst! Wie oft ist zwischen schönem Fühlen und anmutendem Reden die 
Scheidung nicht recht möglich! Wie schwer wird es, gegenüber der Tendenz 
der Differenzierung, die alle Lebens- und Kulturentwickelung beherrscht, auch 
hier die Unierung zu finden. Ästhetisches Interesse oder ethisches? Das 
erstere hat so viel mehr Kraft, unmittelbar zu beleben, zu entzünden, auch zu 
berauschen. 

Mehr oder doch häufiger als zum ethischen, das gern als ärmlich be- 
schränkend angesehen wird, fühlt sich das ästhetische Fühlen zum religiösen in 
einem nahen Verhältnis, und diese Nähe ist ja auch nichts Neues oder Zufälliges, 
sondern nur Fortleben oder Wiederaufleben alter, enger Verbindung. Beide 
erheben, wenn auch auf verschiedene Weise, über die Welt der Wirklichkeit, 
für welche die Ethik doch vor allem tüchtig machen will. Beide erlauben auch 
zu schwärmen, während Schwärmen auf dem ethischen Gebiete nie auf die 
Dauer hat gedeihen wollen (und in unserer Zeit sich wesentlich auf die gelegent- 
lich con amore aufgegriffenen Zwecke der Wohlthätigkeit beschränkt, wobei 
aber die erhöhte Stimmung mehr dem angenehmen Mittel gilt als der sittlichen 
Aufgabe). Gegen jene Verbindung, die im Katholizismus eine dauernde Heim- 
stätte gewonnen hat, hört ja auch der Protestantismus mehr und mehr auf sich 
zu wehren. So sind nun allerwärts schön aufgeführte Oratorien und sonstige 
religiöse Musikdarbietungen ein geschätztes Mittel geworden zur Kontinuierung 
religiöser Stimmungen über alle dogmatische Zweifel hinüber, und auch die 
bildende Kunst ist willkommen, wenn sie wieder zu den alten religiösen Ge- 
schichtsstoffen greift. 

Aber ethische Bildung als solche? Schon der Name ist kaum gangbar. 
Von ethischer Kultur hören wir neuerdings angelegentlich reden, aber sie ist 
nicht dasselbe, mufs nicht dasselbe sein mit ethischer Bildung. Es ist fast> als 
ob es einer Bildung, eines allmählichen Werdens und Gestaltens, nebst Empfangen 
und Verarbeiten, hier nicht bedürfte, als ob diese Begriffe hier nicht hergehörten. 
Freilich denken wir ja jetzt bei Bildung ganz vorwiegend an ein von aufeen 
allmählich Entgegengebrachtes und Überkommenes, Gelerntes, auch Angelerntes; 
das Ethische scheint sich schon durch eine normal anständige Kindererziehung 
hinlänglich ergeben zu haben und sich, soweit es nun einmal bei Menschen der 
Fall zu sein pflegt, behaupten zu können. Ein Behaupten gilt es, ein Inne- 
halten von Linien und Grenzen, ein Nichtüberschreiten. Die alte Form der 
'zehn Gebote', die ganz vorwiegend nur Verbote sind, hat durch alles konkrete 
Christentum hindurch bis heute sich in Wirkung erhalten. Die Erziehung, wie 
sie den meisten genügt, pflegt nur die Erhebung der Nachwachsenden auf die 
durchschnittliche Normalhöhe der Erwachsenen zum Ziel zu haben oder doch 
zum Ergebnis. Bildung reicht weiter, endet später, oder vielmehr endet niemals. 
Sie hat oder hätte als Selbstbildung — und freilich gerade die ethische Bildung 
mufs mehr als andere Selbstbildung sein — immer wieder zu ergänzen, zu 
erneuern, zu verjüngen. Die Aufgabe der inneren Organisation wird nicht 



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W. Münch: Ästhetische und ethische Bildung in der Gegenwart 521 

erledigt, die Reife ist durch keine Altersgrenze verbürgt, ein wertvoller innerer 
Bestand nicht als unverlierbar gesichert. Wenn das Abthun aller naiven Herb- 
heit in der personlichen Berührung mit Menschen, das Sichfügen in wohlgefällige 
Form für den Umgang, das Bewahren eines angenehmen Gleichmaßes der 
Stimmung als ein Stück der ästhetischen Bildung zu gelten hat, und gewifs als 
ein wertvolles Stück, so ist die tiefere Höflichkeit, die des Herzens, ein Teil 
der ethischen. Sie ist zwar einigen Menschen von Natur eigen, die meisten 
aber müssen sie erst in sich selber grofsziehen. Und so ist es mit der Billig- 
keit, die eine so leichte Pflicht scheint, wenn man sie im allgemeinen nennen 
hört, und doch so viel voraussetzt, wenn sie in all den konkreten Fällen geübt 
werden soll. So auch wohl gradezu mit der Gerechtigkeit, die etwas ganz 
Wohlfeiles zu sein scheint und erst durch eine grofse innere Entwickelung ge- 
sichert wird. Schliesslich ist — um das ganze, grofse Gebiet der sittlichen 
Tapferkeit in ihren vielen Formen nicht näher zu berühren — alles rechte 
Verstehen des Menschlichen, die Fähigkeit verstehenden Mitempfindens nach 
allen Seiten, die Würdigung der inneren Kräfte und Gegenkräfte, der zuver- 
lässige und reiche gute Menschenwille Ergebnis allmählich sich vollziehender 
ethischer Bildung. 

Dafs die Aufgabe solcher ethischen Selbstbildung im Bewufstsein der Mehr- 
zahl ein lebendiges Dasein habe, dem steht leider auch kirchliche Auffassung 
nachteilig entgegen. Vollkommenheit und Vervollkommnung sind Ausdrücke, 
die der kirchenbesuchende Christ kaum noch je zu hören bekommt. Die Be- 
sorgnis, dafs damit menschlicher Kraft etwas Wesentliches zugetraut würde, 
dafs die Abhängigkeit von göttlicher Kraft und Gnade und damit denn auch 
vom Dogma gefährdet würde, läfst aus der kirchlich-religiösen Erziehung des 
Volkes ein solches Moment der Anregung ganz verschwinden. Die Besorgnis, 
dafs das Palladium des Protestantismus, die Lehre von der Rechtfertigung durch 
den Glauben, bedroht werde, läfst einen andern, läfst den fruchtbarsten religiösen 
Begriff fast ignorieren, jedenfalls ganz zurückstellen, nämlich den der Heiligung. 
Und doch wäre mit Heiligung das in höchstem Sinne und tiefstem Ernste 
bezeichnet, was unter dem schlichten Namen ethischer Bildung uns hier be- 
schäftigt. 

Denn in der That, einer Ergänzung, die zugleich Vertiefung ist, bedarf 
unsere obige Kennzeichnung ihres Wesens. Dort kam mehr ihre Parallelität 
mit der ästhetischen Bildung, wie eine solche ja schon durch die Wiederkehr 
des Begriffes Bildung gegeben ist, zur Sprache, als das die beiden Unter- 
scheidende. Als gemeinsam für die eine und die andere erschien vor allem das 
Mafs, die erworbene innere Sicherheit des Mafshaltens gegenüber allen An- 
trieben roher Natürlichkeit, allerdings zugleich mit der gewonnenen feinen 
Empfänglichkeit und der Erlösung aus engem Gesichtskreis. Aber weder 
Empfänglichkeit noch Gesichtskreis noch Mafs ergeben den eigentlichsten Kern 
sittlicher Bildung. Diese leistet ihr Bestes durch Kampf, durch Überwindung, 
und besitzt ihr Bestes in der Kraft zur Überwindung. Das ist freilich schon 
den Griechen nicht fremd geblieben, nicht Plato und nicht den Stoikern und 



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522 W. Münch: Ästhetische und ethische Bildung in der Gegenwart 

auch nicht andern Denkern und Beobachtern; aber weder in der allgemeinen 
Lehre noch im allgemeinen Bewufstsein hat es seine volle Bedeutung gewinnen 
können. Die Stoiker z. B. predigen eigentlich mehr den Sieg als den Kampf 
und nehmen damit den letzteren doch nicht allzu ernstlich. Auch ruht ihre 
ethische Vornehmheit auf einer Art von Stolz, und Stolz ist keins der tief- 
sittlichen Fundamente. Mufste nicht eines Tages dem Bewufstsein die Sittlich- 
keit wesentlich als Ergebnis schweren inneren Kampfes aufgehen? Die Er- 
kenntnis des eigenen Wesens mufste in die Tiefe streben, und in der Tiefe 
zeigte sich der Kampf. 

Ineinander wachsen werden sie also auch in fernerer Zeit nicht, die 
ästhetische und die ethische Menschenbildung ; zu schöner Einheit werden sie 
sich mehr nur bei einzelnen verbinden, eine Mehrzahl wird es nicht werden. 
Es ist nicht blofs so, dafs die Pflege des Schönen (des Kunstschönen wenigstens) 
eines freundlichen Lebenszustandes bedarf, und dafs in kriegerischer Zeit die 
grofsen sittlichen Kräfte auf den Plan treten: auch für den einzelnen fallen 
beide Sphären doch ungefähr wie Frieden und Krieg auseinander; mindestens 
mufs es ein bewaffneter Friede sein, was unsern ethischen Zustand charakterisiert, 
nicht der sorglose Friede des heiteren Spiels. 

Auch werden wir ja nicht vergessen, dais jenes freundlich harmonische 
Ergebnis, wie es mit Bildung zu bezeichnen war, nicht gleichbedeutend ist mit 
sittlichem Wertgehalt überhaupt. Dieser kann überragend grofs sein bei 
mangelndem Gleichgewicht des Wesens, ihm kann das gefällig Wohlthuende 
sehr fehlen, er kann mit einseitiger Kraft die Persönlichkeit erfüllen; ohne ein 
gewisses Mafs von Einseitigkeit und Schärfe ist überhaupt kaum Charakter. 
Aber anzustreben hat der einzelne darum doch jenes Gleichgewicht, dessen 
Mangel erst hingenommen wird bei einer gewissen Grölse des Wesens, die nicht 
jedermann verliehen ist. 

Und auch auf den Vorstufen der Selbsterziehung soll dieses Bestreben nicht 
versäumt werden. Gegen die öffentliche Erziehung ist jetzt viel Beschwerde, 
dafs sie der Pflicht ästhetischer Bildung nicht genüge, und für die spezifisch 
ästhetischen Naturen ist sie damit schon überhaupt gerichtet, bleibt sie schlechter- 
dings unter ihrer Aufgabe, ist sie nur rohe Stümperei oder blinder Schlendrian. 
Es ist wahr, die Schulen marschieren in der Regel ein Stück hinter |der all- 
gemeinen Kultur des Zeitalters her. Nicht blofs, dais man da ewig dieselben 
Klassiker liest, während es doch so viel anregendere Moderne giebt, oder Dinge 
treibt, von denen kein Mensch aufser der Schule mehr etwas wissen will: das 
sind die Anklagen der Thorheit, auch der moralischen Borniertheit. Indessen 
man darf dort doch wirklich das Unvollkommene sehen und bezeichnen. 

Was sich die Schulen als Pflege des Ästhetischen anrechnen, halt sich teils 
auf dem Gebiet des Elementarsten (wie Ordnung, Symmetrie in äufseren Dingen), 
oder es bleibt als rein Technisches außerhalb des inneren Zusammenhangs und 
Lebens (so das bescheidene Mafs von Zeichnen und Gesang), oder es gehört 
dem mifslichen Gebiet des formal Rhetorischen an (also die Kultur des schrift- 
lichen Stils), oder es kommt infolge starker Beimischung nüchterner Verstandes- 



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W. Münch: Ästhetische und ethische Bildung in der Gegenwart 523 

Übung oft nicht zu eigentlich ästhetischer Wirkung (so die Dichterlektüre). 
Freilich liegt in den konkreten Lebensbedingungen der Schule Erschwerung und 
Hemmung genug, und wenn es nur die eine wäre, dafs die Zöglinge in ihrer 
Mehrzahl nach Abkunft und Vorbildung das Ganze abwärts ziehen. Und sicher- 
lich bleiben die schlichteren Ziele ethisch-intellektueller Ausbildung weitaus die 
gröfseren. Aber eine Wandlung zur Vervollkommnung, nämlich zu Tollerer 
Vereinigung der Ziele und Linien, mufs doch von der Zukunft gefordert werden. 
Und wie wenig das verkannt wird, das beweisen die zahlreichen Stimmen, die 
sich aus Fachkreisen fftr geschicktere Einverwebung ästhetischer Anregung und 
Orientierung erheben. Pflege eines wirklich guten Vortrags edler Dichtung, im 
Zusammenhang mit lebendiger und liebender Erfassung, Ausmünden eines 
bildenden Zeichenunterrichts in das Verständnis kunstgeschichtlicher Erschei- 
nungen, Hinarbeiten auf deutliche Auffassung von Kunstwerken im Zusammen- 
hang mit begrifflicher Klärung und sprachlicher Bereicherung, würdige Ge- 
staltung der äufseren Baumausstattung, auch immer völligeres Abthun des roh 
Natürlichen im Unterrichtston, das sind Ziele, denen man sich nähern soll. 

Wollten nur auch die andern erziehenden Faktoren in gleichem Mafse ihre 
Pflichten revidieren! Zwar einer dieser Faktoren, die Gesellschaft, würde dazu 
vergeblich aufgefordert, denn sie ist ein Wesen ohne Haupt und Gentrum und 
kann also einen Willen nur im Sinne einer Strömung entwickeln, die zu be- 
einflussen kaum von aufsen her gelingen könnte. Die Kirche ist zwar nicht 
gewohnt, einer Unvollkommenheit in der Erledigung ihrer Berufsaufgaben ge- 
ziehen zu werden, aufser von ihren Feinden, zu denen wir uns nicht schlagen 
wollen; aber vielleicht wäre es gut, wenn sie von Freunden öfter gemahnt 
würde. Dahin gehört, was oben gesagt wurde. Und dazu doch noch eins. 
Die Fülle und Tiefe der ethischen Bestandteile neutestamentlicher Briefe, in 
denen sich übrigens die Sprache des höchsten Ernstes oft zugleich zu leuchten- 
der Schönheit erhebt und so die edelste Einheit des Ethischen und Ästhetischen 
sich verwirklicht, pflegt nicht entfernt so ausgekauft zu werden wie es geschehen 
sollte. Bleibt das einer künftigen Periode der Kirchengeschichte vorbehalten? 
Die Familien endlich, die gebildeten Familien sind es ja vor allem, denen die 
Vereinigung ästhetischer und ethischer Erziehung obliegt, nicht blofs die 
ästhetische für sich, worauf sich manche in der That zu sehr beschränken, 
auch nicht eine beliebige ästhetische oder was als eine solche erscheint, 
sondern die Vereinigung einer gesunden ästhetischen und einer ernst folge- 
richtigen ethischen Erziehung. Dafs das Verantwortlichkeitsbewufstsein über- 
haupt viel weniger lebendig ist als die Bereitschaft, andere entrüstet zur Ver- 
antwortung zu ziehen, ist — zwar ein unvergänglich menschlicher Zug, aber 
doch besonders auch ein Zug unserer Gegenwart, mit deren stark öffentlichem 
und äufserlich vielbewegtem Leben er zusammenhängt. 

Aber wir gehen durch starke Krisen und werden vieles neu zu suchen 
haben, was uns im auflösenden Wirrwarr der Zeit verloren geht, und dann 
weiterhin und immer von neuem noch anderes, was kaum jemals schon erfüllt 
und verwirklicht war. 



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DIE ÄLTESTE DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR HÖHERES 

SCHULWESEN 

Von Ebnst Schwabe 

(Schluß) 

Einer der fleißigsten und fähigsten Mitarbeiter der Acta scholastica war 
unzweifelhaft Gotthilf August Hofmann, Trorecktor und öffentlicher Lehrer 
der Weltweisheit am Archigymnasium zu Dortmund'. 1 ) Alles, was dieser 
Mann (wahrscheinlich ein Obersachse) geschrieben hat, hat Hand und Fufs. Die 
Abhandlungen und Darlegungen, die aus seiner Feder stammen, sind in einem 
munteren und klaren Stil geschrieben und enthalten viel Beherzigenswertes, 
was heute noch gilt und für damalige Zeit eine ungeheure Kühnheit darstellte. 
Jedoch sind die mutigen Worte mit so viel Feinheit vorgebracht, dals er sich 
durch sie schwerlich Feinde gemacht hat. So viel ich sehe, tritt Hofmann zum 
erstenmale als Mitarbeiter im U. Bande der Nova acta scholastica auf, der im 
Jahre 1751 erschien, dann aber gleich zweimal, mit den Abhandlungen r Von 
der Gültigkeit alter Schulmoden' (S. 643 — 684) und dem 'Charackter eines 
rechtschafenen Schulmannes' (S. 721 — 773). Der Verfasser verfügt über einen 
gesunden Mutterwitz und eine flotte, frische Schreibart. Bewufst sucht er sich 
vom Schlendrian des ewigen Disputierens, der Imitationen und des Programm- 
fabrizierens loszulösen. Das Sapere aude! ist seine Devise: alles atmet einen 
kräftigen, aller Verbildung sich entgegensetzenden Menschenverstand, der nicht 
mehr aus sich und seinen Themen macht, als bei bescheidener Selbsteinschätzung 
daraus gemacht werden kann. Beide Abhandlungen, die in gewisser Art den 
damaligen Typus pädagogischer Theorie, sowohl was die Schule als den Schul- 
mann angeht, darstellen, verdienen wohl ein kurzes Referat. 

Die erste 'Von der Gültigkeit alter Schulmoden' wendet sich *gegen gewisse 
ausserwesentliche Gewohnheiten, die auf den eigentlich sogenannten »Schulen« 
eingeführt sind'. In Wirklichkeit kann man das Ganze als einen dem herrschen- 
den Pedantismus hingeworfenen Fehdehandschuh ansehen. Im Eingange seiner 
Abhandlung wendet sich Hofmann zunächst gegen die übermäfsige Anwendung 
des Lateins und geifselt dann die langatmigen Programme, die eine unbedeutende 
Sache damit aufputzten und verbrämten, dafs sie womöglich vom Ursprung der 

') Die grofsen Nachschlagewerke schweigen über diesen merkwürdigen Mann. Er 
findet sich weder in der Allg. D. Biogr. noch in den älteren Werken von Jöcher, Adelung 
und Rotermund. — Auch die Bibliothek des Dortmunder Gymnasiums vermag über ihn 
keine Auskunft zu geben (Mitteilung des Prof. Dr. Schulze, Dortmund). 



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E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 525 

Welt anfingen. 1 ) Hierauf wendet er sich zu seinem eigentlichen Thema und 
teilt, hierbei dem Prinzip der damals sehr beliebten partitio dichotomica 
folgend, die *alten Schulmoden 9 in zu erhaltende und zu verwerfende. 

Zu der ersten Gattung gehören ihm alle die, f die dem Zweck einer Schule 
sowohl überhaupt als besonders gemäfs sind', und zu diesen rechnet er als aus 
früherer Zeit überkommen: *1) die Gründlichkeit des Unterrichts in allerley 
Sprachen und Wissenschaften, 2) den besondern Eyfer, der sich bei Lehrenden 
und Lernenden vorfand, 3) das Ansehn, worein sie sich mittelst einer genauen 
wohleingerichteten Zucht bey ihren Untergebenen setzten, 4) die gute Eyn- 
tracht, welche vordem auf allen Schulen blühete.' 

Wichtiger als diese laudatio temporis acti und für das Verständnis dieser 
von der Schulgeschichtschreibung arg vernachlässigten Zeit nutzbringender ist 
der zweite Teil, die Schilderung der Schulmoden, die *den Zweck einer Schule 
zwar nicht gantz auff heben, aber dennoch gewaltig verhindern und schwer 
machen'. Hier fordert Hof mann, als Wortführer einer neuen Zeit, vor allen 
Dingen einen sachlich sorgfältig fundierten Unterricht, und hierbei exempli- 
fiziert er, wenn auch in der Form vorsichtig, so doch in der Sache kühn, zu- 
nächst auf einen vernünftig umzugestaltenden Religionsunterricht. Den Übel- 
ständen, die in diesem Noli me tangere des Unterrichtswesens zur festen Form 
erstarrt waren, geht er kühn zu Leibe (' Wahrhaftig, mit einem bisgen 
Gatechi8musgeplärr ists nicht ausgerichtet 9 ) und stellt als erste Forderung hin, 
dafs der Lehrer selbst nicht blofs im formalen Christentum zu Hause sein, 
sondern eine wahre Liebe zu Gott, Religion und Tugend besitzen müsse. Dann 
ist 'eine gantze Moral und Politick deshalb zu lesen gantz und gar nicht 
nöthig 9 . Leider fehlt es daran sehr: gründliche Kenntnisse, die es zulassen, 
dafs die Lehrer aus dem Vollen schöpfen, sind selten vorhanden: die meisten 
begnügen sich nicht nur im Religions-, sondern auch im Sprachunterricht mit 
dem äufseren systematischen Einpauken dessen, was sie selbst auf der Schule 
gelernt haben (vgl. auch Paulsen PS. 593) und die Zahl derer ist sehr grofs, 
deren 'gantze Lehre blos auf die kahle Grammatik eingeschränckt ist 9 . Bei 
dem Sprachunterricht vermifst er allen realen Untergrund. 8 ) Dieser mufs aber 



*) ib. S. 647. 'Wäre ich — gar um meiner Sünden willen ein Antiquitätenkrämer oder 
buchstäbelnder Kunstrichter geworden; wie würde ich mich freuen, dafs ich ietzt meine 
Waren so vortreflich an den Mann bringen könnte! Zuförderst würde ich mit einer alt- 
vaterischen Mine den Ursprung sowohl der Schulen überhaupt, als der Moden in denselben 
untersuchen und entdecken, Adam sey nach der Vertreibung aus dem Paradies der erste 
Schulmeister gewesen, Lamech aber habe die Eintheylung in Classen eingeführt. Hier- 
nächst würde ich manche verderbte Lesarten vieler alten griechischen und lateinischen 
Schriftsteller mit grosser Dreystigkeit verbessern, wenns auch nur in den Noten geschehen 
sollte u. s. w.' Zu der Anspielung auf Lamech vgl. 1. Mos. 4, 19 (Jabal, Jubal, Thubalkain). 

■) ib. 663. 'Wo ist der Unterricht in der Geographie, der Physik, der Historia, der 
Mythologie, den Römischen und Deutschen Alterthümern, der Kenntnifs lateinischer Auetoren 
und anderer guten Bücher, der Beredsamkeit und Dichtkunst? Wer lehret sie eine ge- 
schickte Periode, einen guten Brief oder auch nur ein manierlich Compliment machen? 
Wer führet sie darauff, ihre Gedancken beyzeiten mit eignen Worten auszudrücken?' 



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526 £ Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 

geschaffen werden, freilich von allem nur die 'ersten leichtesten Anfangsgründe, 
worauf hernach ein Studierender fortbauen könnte*. Den geistigen Standpunkt 
der Schule 1 ) schildert er hierbei als aufserordentlich niedrig. Freilich weifs 
auch er diesen Mangel nur damit zu erklären, dafs die Not der Zeit die Eltern 
hindert, möglichst viel an die Erziehung der Kinder zu wenden, und dafs es 
deshalb unmöglich ist, die besseren Elemente der Studierenden beim Schulamte 
zu erhalten. 

Einen zweiten Hauptübelstand findet Hofmann in ungeeigneter Behandlung 
des Unterrichts, selbst zugegeben, dafs die einmal beliebte formale Methode 
die rechte wäre. Hierbei rechnet er seinen Zeitgenossen eine ganze Anzahl 
Verstöfse vor: den ersten erblickt er (charakteristisch genug) in der Verwendung 
ungeeigneter Bücher, die man entweder aus Sparsamkeit oder Beharrlichkeit 
nicht mit besseren vertauschen will. Dann tadelt er die c üble Methode, wenn 
man seine anvertrauten Lehrlinge mit dem peinlichen Auswendiglernen martert 
und sie gar nicht von Kindheit an zum Gebrauche ihres eigenen Verstandes 
anführt*. Drittens rechnet er es zu den methodischen Fehlern seiner Zeit, 
dafs 'man den Schülern so viele Faulküssen lafst, auff denen sie sanft ruhen 
mögen'. Damit wendet er sich gegen die Ausgaben ad modum Minelli, die 
damals aufgekommen waren, die Neuen Testamente mit gegenübergedruckter 
lateinischer Vulgata und die Ausgaben mit deutschen Anmerkungen. Was die 
letzteren angeht, so war der Vorwurf unzweifelhaft treffend: man braucht nur 
die elenden Eselsbrücken anzusehen, die damals als r Schulausgaben 9 von Ovid 
u. a. paradierten. 2 ) Einen vierten Vorwurf erhebt er gegen die Schulen, wo 
f man von seinen Schülern Arbeiten fordert, welche ihre Fähigkeit und Kräfte 
übersteigen'. 8 ) Der Fehler jener redesüchtigen Zeit war eben der, dafs man 
in gewissen Dingen zu schnell vorwärts ging und prunkhafte Redeleistungen 
hervorzurufen strebte, ehe nur die notwendigste stilistische Vorbildung gegeben 
war. Den fünften methodischen Fehler sieht H. in dem geraden Gegenteil des 
vierten, *wenn man (die Schüler) durch allerley Umschweife als im Labyrinth 
herumführt und den kürtzesten Weg gehn sollte V Hiermit traf Hofmann den 
bösesten Punkt und die empfindlichste Stelle. Leider hatte er nur zu sehr 
recht mit seiner empörten Frage: *Ist es nicht eine Schande, zehen bis 
zwantzig Jahr an dem blossen Latein zuzubringen und doch kaum so viel zu 
lernen als man eben gebraucht?' Um auf das Schülerlatein zu schliefsen, 

') ib. 664. 'Was lernt aber ein Schüler anstatt alles dessen? Ein bisgen Latein ans 
dem Cornelius, griechisch und hebräisch buchstabieren. Damit bringen sie ihre besten, 
edelsten Jahre zu u. s. w.' 

*) ib. 670. 'So lange sie Trost in den Noten finden oder eine Übersetzung bey der 
Hand haben, sollte man glauben, wunder wie gescheit sie wären. Wird ihnen aber dieser 
gerichtliche Beistand genommen, dann sehen sie sich nach dem Tacitus um und bitten 
selbigen mit einem beweglichen Husten um Hülfe.' 

*) ib. S. 671. 'Wird ein Schüler wohl gantze sogenannte Chrien, oder ordentliche Reden 
anfertigen können, ehe er weifs, was ein logischer Satz ist? Was entsteht daranfs anders, 
als dafs man entweder seinen Lehrlingen gar nichts aufgiebt, oder selbst alles machen 
muffl und sie nur zusehen läfst?' 



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E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 527 

braucht man nur in die damalige Programmlitteratur zu blicken. Trotz aller 
Geläufigkeit und Flüssigkeit, mit der sieb die Lateinschreiber und -redner jener 
Tage in hergebrachten Konversationsphrasen bewegten, braucht man gar nicht 
lange zu suchen, um mit einem 100 Jahre später auftretenden lateinischen Poeten 
klagen zu müssen: Donatus miser male vapulat! Die argen Schnitzer, die sich 
selbst angesehene Schulmänner zu schulden kommen liefsen, sind auch ein Zeichen 
jener Zeit, und wenn das am grünen Holz geschah, wie mag es erst bei den 
Schülern gewesen sein! In dieser Hinsicht hat es allerdings 1840 unvergleich- 
lich viel besser%au8gesehen als 1740. 

Die weiteren Teile dieser Arbeit sind leider nur skizziert: sie bezeichnen 
als Hauptgrund des Bückgangs die Überlastung der Schulen mit ungeeignetem 
Schülermaterial und das Zusammensitzen der verschiedenartigsten Elemente in 
einer Klasse. Die Hilfsmittel, die H. dagegen empfiehlt, sind ungefähr dieselben, 
die man auch heute vorschlagen würde. Als letzte böse Schulmode bekämpft 
er dann die schlechte Zucht, die übermäfsige Ausdehnung der Feiertage und 
das treue Festhalten am alten Schlendrian. 

In dieser Arbeit, die in ihrem kernigen Ton oft an Lessingschen Stil 
erinnert, klingt, wie in vielen anderen, die in jener Zeitschrift veröffentlicht 
sind, die Klage eines gescheiten und wohlmeinenden Mannes hindurch, wie 
übel es doch mit dem damaligen Gymnasium bestellt gewesen sei. Zu jeder 
Zeit hat es nun Leute gegeben, die sich getrauten, den Sitz des Übels genau 
anzugeben und Heilmittel vorzuschlagen. Solche Wundermänner fehlten auch 
damals nicht. Doch die salbungsvoll langweiligen Beden derer sollen hier bei- 
seite bleiben, die vom hohen Piedestal herab alle Schuld am Verfall der Gym- 
nasien bei deren Lehrern, ihrer ganz besonderen menschlichen Unvollkommen- 
heit und ihrer mangelhaften Erziehung und Weiterbildung, suchten. Denn das 
Bild wird viel klarer und deutlicher, wenn wir auf die Äufserungen derer 
achten, die damals mitten in der Praxis standen und darum uns am genauesten 
sagen können, wo sie der Schuh drückte, anderseits aber auch, wenn sie gegen 
sich und andere ehrlich sind, am leichtesten die Fehler aufzuzeigen wissen, die 
damals der ganze höhere Lehrerstand sich schuld geben mufste. ^Höherer 
Lehrerstand' ist freilich hierbei cum grano salis zu verstehen, da ja die aller- 
meisten Gymnasiallehrer Theologen waren und, falls sie kein Bektorat erreichen 
konnten, so bald als möglich in ein Pfarramt zu kommen trachteten. 

Die zweite Abhandlung G. A. Hofmanns giebt uns darüber den besten 
Aufschlufs, wie man sich in Berufskreisen den *Charackter eines rechtschaffenen 
Schulmannes* zu denken pflegte. Nachdem er des Töfels' Urteil abgefertigt 
hat, der nur den als 'rechtschafen' ansieht, der in allen Dingen den Eltern zu 
Willen ist, verlangt er als erstes, dafs ein Schulmann von Natur gut aus- 
gerüstet sein solle: die Ausführungen des feiner organisierten Obersachsen über 
seine neue Heimat 1 ) sind hierbei mit starker Ironie, die er auch sonst öfter 



') ib. S. 741. 'Ein Schulmann soll aber auch eine genugsam starke Stimme und ver- 
nehmliche Aussprache haben, und das hauptsächlich in Westphalen. Denn in diesem ge- 



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528 E Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 

anwendet, durchzogen. Von dem Geiste eines Schulmannes aber fordert er, dafs 
ihm 'ein lebhaft Naturell und Munterkeit 9 eigen. Ja es klingt wie aus Leasings 
Munde, wenn er erklärt, dafs er Vielleicht einen strengen Beweifs von dem 
Satz wagen (würde), dafs ein Schulmann ohne die Eigenschaften eines schonen 
Geistes ein vollkommener Pedant sey\ Ein munterer Witz, ein 'glückliches 
Gedächtnüfs', ein 'reiner und zarter 9 Geschmack und als Krone ein 'edles und 
gutes Hertz 9 sind die weiteren Naturgaben, die er von einem rechten Schul- 
mann verlangt. Ebensohoch sind die Anforderungen, die er an das stellt, 
was von dem Menschen für die Ausbildung eines solchen geleistet werden soll 
Ein rechter Schulmann soll vor allen Dingen nicht 'eine butte und pöfelhafte' 
Erziehung genossen haben und ununterbrochen an sich weiter arbeiten. Die 
damaligen Schulmänner müssen es wohl in beiden Dingen schwer an sich haben 
fehlen lassen, wenn Hofmann mit Recht schreiben kann, dafs sie von den 
klassischen Lateinern nur die 'fast ausgepeitschten Autoren 9 und von den Neu- 
lateinern fast gar nichts kannten. 1 ) Vor allem dringt H., beim Lehrer ebenso 
wie beim Schüler, auf reale Durchbildung. Zwar soll der rechte Schulmann 
auch etwas von 'Critick 9 verstehen, aber doch steht ihm die Durchbildung in 
Mythologie und Altertümern weit höher. Ja fast modern klingt es, wenn es 
bei ihm S. 762 heifst: 'Die alte sowohl als die neue Geographie ist ihm so 
unentbehrlich, dafs er ohne jene keinen älteren Schriftsteller verstehn, ohne 
diese aber in der neueren Geschichte nicht fortkommen kann. 9 Überhaupt also 
ist ihm eine gründliche und umfassende gelehrte Bildung das fundamentum 
scholarum. 'Denn ist nicht ein Schulmann auch ein ehrlicher Bürger in der 
Republik der Gelehrten? 9 

Neben dem Sammeln eines reichen Wissens lag ihm aber auch eine sorg- 
fältige Durchbildung des Könnens am Herzen, vor allem im Reden und Dichten, 
oder, wie man damals sagte, in den 'schönen Wissenschaften 9 . Nicht die red- 
nerischen Figuren aus den Lehrbüchern lernen, sondern selbst an den Born 
der Dicht- und Redekunst 2 ) herangehen, ist hier für den 'rechtschafenen 9 Schul- 
mann das erstrebenswerte Ziel. 'Er braucht selbst kein Dichter zu seyn: aber 



sitteten Theil von Deutschland besitzt auch der geringste Pöbel die seltene Wissenschaft, 
aus der Stärke der Stimme, sonderlich im Predigen, die Stärke des Geistes, ja die gantze 
innere Geschickligkeit eines Menschen weit sicherer, als die Planetenleser, zu erraten.' 

') ib. S. 760. 'Ich will wetten, dafs viele die meisten Schritten des Cicero, des Livius, 
den V eil ejus Paterculus, den Juvenalis, den Valerius Flaccus, den Pomponius Mela, den 
Lactantius, den Minucius Felix und viertzig andere nicht mit Augen gesehn haben: 
und wenn man ihnen vollends in den neueren vortref lichsten Schriftstellern den Laurentius 
Valla, den Ubertus Folieta, den M. Antonius Maioragius, den Janus Nicius Erythräus, den 
Petrus Cunius, den Franc. Yavassor und mehrere verlegen wollte, würden sie eben so un- 
wissend seyn, als jener Mönch, der den Articulus Schmal caldicus für einen Ketzer zu 
Luthers Zeit hielt.' 

*) ib. S. 766. 'Eine männliche, eine feurige Beredsamkeit mufs es seyn, die die Hertzen 
überwindet und mit den Regungen erfüllet, welche den lebhaften und reitzenden Vortrag 
der Wahrheit begleiten. Zu der müssen Jünglinge mit dem gröfsten Fleis angewiesen 
werden.' 



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E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 529 

sein verbesserter Geschmack mufs ihm die Geschickligkeit geben, von der- 
gleichen Dingen richtig zu urtheilen (S. 769)/ Wenn diese Ansicht durch- 
dringe 1 ), dann werde es künftighin besser um die Schulen und ihre Leistungen 
stehen. 

Er schliefst denn seine Ausführungen mit dem Wunsche, dafs der Schul- 
meister, wie er sein soll, auch etwas von Philosophie und Mathematik verstehen 
mochte. Man sieht also, dafs, abgesehen von einigen Forderungen, die zu allen 
Zeiten als selbstverständlich angesehen worden sind, Hofmann als Kennzeichen 
des *rechtschafenen Schulmanns* eine möglichst tiefe und vielseitige Geistes- 
bildung ansieht; dafs er seiner Zeit nicht so weit vorausgeeilt ist, um auch 
eine ausgedehnte pädagogische Lehrzeit zu verlangen, dürfen wir ihm nicht 
verargen. Möglichst viel Wissen war das Ideal seiner Zeit: dafs er daneben 
das Können so stark betont, ist schon sehr viel, und darin liegt die Berech- 
tigung, ihn einen der Wortführer in der pädagogischen Bewegung jener Tage 
zu nennen. 

Seit dem ersten Auftreten G. A. Hofmanns, der bald darauf als Rektor 
nach Bielefeld überging, ist fast in jedem Jahrgang von * Altes und Neues aus 
Schulsachen' eine Abhandlung von ihm aufgenommen. 2 ) Mögen sie nun 
theoretische Probleme behandeln, oder, was ihm und uns näher liegt, praktische 
Fragen erörtern, sie sind alle vortrefflich geschrieben und zeigen uns in dem 
nach Westfalen versetzten Sachsen einen wackern Schulmann, der das Herz 
auf dem rechten Fleck hat, auch ftir die Not seiner Mitarbeiter, mit klarem 
Blick das Schulwesen überschaut und erkennt, was ihm not thut. Leider geht 
eine umfassende Behandlung dieses Mannes, die eine dankenswerte Aufgabe 
wäre, und seiner Schriftstellerei über den Rahmen unseres Themas hinaus: 
leider! denn offenbar ist G. A. Hofmann eine Lichtgestalt unter den Schul- 
männern der ersten Hälfte des 18» Jahrhunderts gewesen. 

Dafs unsere Vorgänger im Amte damals nicht zu beneiden waren, teils 
der üblen Lage wegen, in der sie sich befanden, teils um der Kollegen willen, 
die sie unter sich dulden mufsten, hat schon Paulsen am Ende des I. Bandes 
seiner Gesch. des gel. Unterrichts genugsam ausgeführt. Den Niedergang des 
gelehrten Unterrichts und die Barbarei, die infolgedessen auf Universitäten und 
Gymnasien zu jener Zeit eingezogen war und vor allem den höheren Lehrer- 
stand in eine unwürdige Lage hinabgedrückt hatte, kann man sich gar nicht 
arg genug vorstellen. Am deutlichsten zeigen sich diese trübseligen Bilder in 
den Beiträgen der Acta und ihrer Fortsetzungen, die ihresgleichen in den 

l ) ib. S. 769. f Au8 den Schulen müssen Leute kommen, die den guten Geschmack nach 
und nach in einem Lande allgemeine machen, worinn er bis dahin nur wenigen Seelen im 
Verborgenen bey gewohnt hatte.' 

*) Die übrigen Schriften G. A. Hofmanns in den Acta sind : A. u. N. I 83 — 97 Gedanken 
von dem Werthe der Dichtkunst. — III 106—124 Von Schulstudien. — ib. 216—238 Grund- 
sätze zu einer vernünftigen Zucht auf Schulen (Antrittsprogramm in Bielefeld 1761). — 
Vm 94 — 116 Von dem Entbehrlichen in der Welt (Eine scharfe Polemik gegen das Pro- 
grammschreiben auf den Schulen, vor allem in lateinischer Sprache). — Anderweite Schriften 
Hofmanns habe ich nicht finden können. 

Neue Jahrbücher. 1899. II 34 



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530 E Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 

heutigen wissenschaftlichen Zeitschriften nicht mehr finden, nämlich in den 
zahlreichen eingelegten Gedichten. Die meisten von ihnen sind allerdings im 
besten Falle nur wohlgemeinte Reimereien, die für uns kein Interesse mehr 
haben. Ein paar von ihnen sind aber doch, schon um einmal dies verschollene 
genus paedagogice dicendi zu verdeutlichen, einer kurzen Erwähnung und 
Charakteristik wert. Denn sie zeigen uns, oft in naiver und rührender Form, 
neben dem Bilde, wie des Schulmanns Ideal und die beste Schule nach Ansicht 
dieser Poeten sein sollte, recht deutlich, wie die Schule wirklich war und an 
welchen Gebrechen das damalige höhere Schulwesen litt. 

Das gröfste Übel, woran es damals krankte, war aber entschieden die un- 
genügende soziale Stellung der Schulmänner. Es ist die Beseitigung dieses 
Zustandes zwar eine alte Forderung, und seit den Zeiten, wo uns Lucian in 
seiner Schrift iibqI t&v Iril \/Li6%<p evvövtov mit soviel Humor wie Entrüstung 
die jammervolle Position des antiken Hauslehrers schildert 1 ) und später 
Melanchthon de paedagogorum miseriis schrieb, ist das wohlbekannte Klagelied 
nicht ausgesungen worden. Es hat aber, wenigstens seit der Reformation, nie 
so viel Berechtigung gehabt als um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Haupt- 
schuld an dem Verfall der Wissenschaft überhaupt und damit des wissenschaft- 
lichen Verfalls der höheren Lehranstalten trug die konfessionelle Erstarrung 
des Protestantismus: auch im Schulwesen brachte der Pietismus neues Leben. 
Die Hauptschuld an dem sozialen Verfall und der daraus folgenden niedrigen 
Einschätzung des Lehrerstandes lag aber daran, dafs alle Lehrer, mit wenigen 
Ausnahmen, Theologen waren und das höhere Lehramt nur als einen Durch- 
gangsposten ansahen, um möglichst bald, wie es, in Sachsen wenigstens, damals 
hiefs und noch lange geheifsen hat, ins 'Amt' zu kommen, gerade als wenn 
sie an der Schule kein Amt zu bekleiden gehabt hätten. Daraus folgte, dafs 
die, die an den Schulen blieben, ohne Rekijpren geworden zu sein, meist eine 
Art 'gestrandeter Existenzen* waren, jedenfalls aber vielfach dafür angesehen 
und danach behandelt worden sind. Das Unglück, dafs die Stadtverwaltungen 
und die geistlichen Herren sich nicht damit begnügten, das Äufsere des Schul- 
wesens zu leiten, sondern auch in das innere Getriebe hineinzureden und in den 
Unterricht zu pfuschen wagten, wird in jenen Gedichten oft genug behandelt und 
beklagt. Besonders bemerkenswert ist der Ergufs des Rektors Samuel Seidel 
aus Lauban (Nov. act. schol. I 341 — 362). In seinem ^Schulmann* weifs er 
uns beweglich des Schulmeisters hartes Los zu schildern. Seine einflufs- 
reichen Mitbürger, die gegen ihn besonders tadelsüchtig sind, kränken ihn auf 
jede Weise: 

Den Schulmann — packt der Philister an 
Und kann ihn ja die feige Wuth nicht allsofort in Stücke hacken 
So drischt sie ihn doch desto mehr mit ihren eignen Eselsbacken. 



*) Vgl. vor allem die charakteristischen Stellen: cap. 14 ff. über die Behandlung bei 
Tische, cap. 19 ff. über die Bezahlung, cap. 34 ff. über die Behandlung seitens der Damen 
des Hauses u. s. w. 



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E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 531 

Wer sonsten wie ein Maulwurf blinzelt, hat hier die Augen wie ein Luchs: 
Der Hase streicht den Bart und spöttelt: was will doch nur der arme Fuchs? 
Der abgeschmacktste Stockfisch selbst höhnt hier die Flecken an den Fohren 
Und ein gelehrter Steckelknecht spitzt (albern genug!) mit Schulmajoren. 1 ) 

Es ist einem solchen in keiner Weise möglich, den Beifall seiner Mitbürger 
zu gewinnen: 

Ein Schulmann mach es wie er wolle, so saugt der Spott doch Geiner draus: 
Ist gleich so Lehr* als Lehrart richtig, so setzt der Klügling doch was aus. 

Vor allem, mag er sich weiterbilden oder nicht, in keinem Falle thut er 
recht daran: 

Schreibt wo ein Schulmann nütze Bücher, so thut er doch, der Lästrer sprichts, 
Indessen sonst nicht, was er solte, so thut er in der Schule nichts! 
Und schreibt er nichts, und liest und lehret, so heifst die Glosse: Wer erst könnte! 
Ja wenn das trage Nebenwerck ihm erst zum Schreiben Zeit vergönnte! 

Auch in der äufseren Lebenshaltung dient er den Leuten zum Anstofs: er kann 
gar nicht bescheiden genug auftreten: 

Kaum räumt man ihm für Stock und Degen ein spanisch Rohr von Schwartzdorn ein, 
Kaum darf sein Schlafrock etwas besser, als einst der Peltz Petrarchens seyn! 2 ) 

Auch im Verkehr mit seinen Mitmenschen ist es ihm oft schwer, das Rechte 
zu thun: 

Bald soll er immer gramisch thun, bald soll er immer schackernd lachen. 

Bei solchen Verhältnissen kann man sich nicht wundern, wenn die Schul- 
männer danach trachteten, sich ihnen zu entziehen und möglichst bald in ein 
Pfarramt zu gelangen. In dem Idealbild eines Schulmannes, das uns Friedrich 
Jacob Beltzer 8 ), Prorektor an der Schule zu Grünstedt, entwirft, ein Mann, der 
merkwürdigerweise das umgekehrte Verfahren einschlug und von der Pfarre 
zur Schule überging, heifst es, mit Verkennung der Verhältnisse und mit 
offenbarer Tendenz gegen die Kollegen, die sich aus ihren engen Verhältnissen 
heraussehnten: 

Ein andrer geht zur Schule, weil er Befördrung sucht 
Er fraget nicht danach, wieviel sein Lehren fruchft 



*) Fohren = Forellen. Unter Major verstand man gewöhnlich das, was wir heute als 
Korporal ansehen, und schrieb ihm auch die bekannten Korporaleigenschaften zu. — Die 
Bezeichnung 'Schulmajor' mufs damals öfter verwendet worden sein. Vgl. Pappe, Die Vor- 
nehmsten Ursachen des Verfalls niederer Schulen (Nov. act. schol. I 466): 
Hört, Spötter einmal auf, den Schulstand zu entweyhen 
Und auf diefs heyige Amt der Lästrung Schaum zu speyen. 
Hört auf mit Schulmajor, Pedant und Fuchs, zu schelten 
Und treuen Lehrern so die Mühen zu vergelten! 
*) Der Pelz Petrarcas war sprichwörtlich, vgl. Voigt, Wiederbel. des klass. Alter- 
thums 1* S. 103. 

") Act. VI 426 — 487. Von den Tugenden und Pflichten eines guten Schulmannes. 

34* 



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532 E- Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 

Er wartet nur, wie bald man ihn ins Pfarramt nähme, 
Damit er, wie er meint, einmal zur Buhe käme; 
Ein solcher sieht die SchuT vor eine Wüste an 
Und einen fetten Dienst hält er vor Canaan. 1 ) 

Daneben mag es oft genug schlimm um die Schulkollegen, ihre Leistungen, 
ihre Eintracht und ihre aufseramtliche Führung ausgesehen haben: wir haben 
heute nur den Trost, dafs es, den Zeitschilderungen in Romanen nach, bei 
anderen Standen auch nicht besser aussah. In allen den Gedichten, die den 
Schulmann schildern wollen, wie er eigentlich sein soll, und dabei immer 
wieder, zur Freude dessen, der schulgeschichtliche Erkenntnis erwerben will, 
in die Schilderung wirklicher Zustände verfallen, kehren gewisse Vorwürfe, die 
den ganzen Stand treffen, immer wieder. Der schon oben genannte Osterwieker 
Konrektor Joh. Justus Pappe weifs, wie man zwischen den Zeilen liest, folgendes 
aus eigener Erfahrung über die Uneinigkeit seiner Kollegen zu berichten: 

Seht wie Alazon dort und Erisander brennen 
Und bey der Schule sich gar nicht ertragen können, 
Seht, wie sie gegen sich von Zorn und Eache glühn, 
Und bey der Jugend sich wohl durch die Heqjiel ziehn! 

Ein scharfes Streiflicht auf die gesellschaftliche Haltung des Standes er- 
giebt sich aus der Stelle Act. Nov. I 357, wo Rektor Seidel klagt, dafs viele 
Kollegen den Schulstand verächtlich machen, wenn sie 

Im Glimpf und Ernst verkehrt und blind, 
Oft Schüler, die auf ihr Geheifs ein Lomberspiel mit ihnen wagen, 
Aus Zorn, dem Satansengel gleich, beym letzten Trumpff mit Fäusten schlagen. 2 ) 

Die genannte Stelle, die in ihrem ganzen Inhalt herzusetzen zu weitläufig 
(und auch für unseren Stand nicht sehr rühmlich) wäre, ist ein sehr lehrreiches 
Stück für den, der die Geschichte des höheren Schulwesens in Deutschland 
während des 18. Jahrhunderts studieren will. Die Pedanten, die hohlen Tadler 
des klassischen Altertums, die Leute, die alles besser wissen, die Ungläubigen, 
die Heuchler, die allzu Weltlichen werden mit kurzen, starken Strichen ge- 



*) Ähnlich auch bei Pappe, a. a. 0. S. 461: 

Kaum geht an einem Ort ein fettes Pfarramt auff, 
So laufft Scholasticus im allerschnellsten Lauff, 
Er sehnt sich nach der Ruh', nach der Gemächlichkeit, 
Die ihm so, wie er hofft, die fette Pfründe beut, 
Er bringet solche wohl auf unerlaubtem Wege, 
Durch Heyrath und Geschenck und List in sein Gehege. 
*) Vgl. hierzu auch das charakteristische Programm des Bautzener Rektors Zeiske: 
De curae scholarum parte rectoribus rerumpublicarum cum privatiß quodammodo communi- 
canda p. 3: frustra scholam eiusque alumnos dissolutae vitae arguent ii, qui ipsi multis 
vitiis inquinati Catones agunt, aut qui, cum Palamedem ludendi arte et cupiditate vincant, 
talos e manibus adolescentum magnis clamoribus excutere volunt, aut si ipsi e Sauffejorum 
et Bibulorum familia sint, siccam Heracliti animam iuvenibus commendant. 



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E. Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift für höheres Schulwesen 533 

zeichnet — ein Bild, von dem man nur wünschen möchte, dafs es nur eine 
Karikatur ist und der wahren Wirklichkeit nicht entsprochen hat. 

Nicht viel anders ist auch das, was über die Schule und die Schüler 
gesagt wird. Hier soll nur das herausgehoben werden, was für das 18. Jahr- 
hundert typisch ist. Auf die am meisten blutende Wunde des damaligen Schul- 
wesens legt der schon öfter erwähnte Pappe den Finger, wenn er den allzu- 
zeitigen Übergang der Schüler auf die Hochschulen (Nov. Act. I 458) beklagt: 

Sonst liefs man keinen eh' von niedern Schulen gehn, 

Als bis er in Athen und Born sich umgesehn, 

Bis er den röm'schen Kiel so frey als fertig führte 

Und man in seiner Schrifft ein männlich Wesen spürte, — 

Wenn jetzt ein Jüngling kaum den Cicero erblickt, 

Eathal und typto weifs, so hält man ihn geschickt, 

Nach ausgestandnem Schweis die örter zu beziehn, 

Wo Kunst und Wissenschafft in reichem Mafse blühn! 

Das giebt dann jene anspruchsvolle Halbbildung, die mit philosophischen 
Redensarten um sich wirft und in den Elementen der Wissenschaften un- 
sicher ist: 

toller Zeitenlauff! 

Wer heutzutage nur mit philosoph'schen Sätzen, 

So ihm ein Rätzel sind, halb stammelnd weifs zu schwätzen, 

Viel von Monaden spricht, und ausser dieser Welt 

Viel tausend andere mit Wolf für möglich hält, 

Den wird man also bald als einen Klugen preisen; 

Man eilt, ihm Kirch und Staat zur Aufsicht anzuweisen! 

Im ganzen also von Schule, Schülern und Lehrern ein unerfreuliches Bild. 
Doch wäre es ungerecht, wenn wir nicht ausdrücklich hervorheben wollten, 
dafs auch an freundlichen Zügen kein Mangel ist. Fast alle die zahlreichen 
gereimten Ergüsse, die das Los des deutschen Schulmannes in deutschen 
Ländern behandeln, gipfeln doch in dem Schlufsgedanken, dafs es nicht nur 
eine heilige, sondern auch eine herrliche Aufgabe sei, im Schulamt zu stehen 
und die Jugend zu unterweisen. Zwar sind es meistens Rektoren, die sich auf 
den Pegasus geschwungen haben. Sie mögen allerdings, als Leiter der Schulen, 
die Lasten des Schulamtes nicht so schwer als andere empfunden und auch etwas 
mehr Anteil an sozialer Wertschätzung genossen haben. Aber in ihrer äufseren 
Lage unterschieden sie sich nur unwesentlich von ihrem Kollegium, und man 
darf nicht behaupten, dafs sie beim Lobpreise des Schulamtes gemächlich vom 
sicheren Port aus geraten und geredet hätten. Am herzlichsten und eindring- 
lichsten geschieht aber dieses magisterii encomium in den Versen des wackeren 
Rektors der Rochlitzer Stadtschule, Johann Friedrich Neunhöfers (Act. VHI 257 
— 275), der im Jahre 1747 ausführlich von dem Tlohr der Schulen, aus der 
Beschaffenheit der Lehrer, die ihr Amt ohne Seuffzen thun' sich ausspricht. 
Denn, nach Widerlegung aller Einwände, die man gegen das Schulamt machen 
könnte, zeigt er uns den Schulmann, wie er sein soll, gesund an Leib und 



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534 ß- Schwabe: Die älteste deutsche Zeitschrift f&r höheres Schulwesen 

Seele und wahrhaft fromm, und kommt dann zu dem Schlufs, dafs es, wenn 
mit rechtem Fleifs betrachtet und betrieben, doch kein schöneres Amt geben 
könne, als die von Erfolg begleitete Arbeit an der Jugend. 

Und mit diesem harmonischen Akkord mögen unsere Ausfuhrungen über 
die Acta scholastica und ihre Fortsetzungen ausklingen. Denn er laust uns er- 
kennen, dafs trotz aller Not der Zeit dem deutschen Schulmann selbst in der 
Schulbarbarei des 18. Jahrhunderts der hohe Begriff seines Amtes und der zu 
seiner Erfüllung notwendige Idealismus, dieses fast unverwüstliche Erbe unserer 
deutschen Altvordern, doch nicht abhanden gekommen war. 

Ein Zeugnis für diesen Idealismus ist auch die ganze Zeitung selbst und 
die Thatigkeit ihres Herausgebers, der zum erstenmale den Gedanken, 'die 
Interessen des höheren Lehrerstandes zusammenzufassen 9 , unter grofsen Opfern 
an Zeit und Geld und vielerlei Ärger zum Ausdruck gebracht hat. Die Acta 
scholastica erschienen, als die Modernisierung des alten Gymnasiums im Gange 
war und die Welt sich der *Zeit der Aufklärung' zuwendete. Es ist kein 
Zufall, dafs sie gerade damals auftauchten: ebensowenig, wie es ein Zufall ist, 
dafs alle ihre modernen Nachfolgerinnen zu der Zeit entstanden, als der Neu- 
humanismus zu regieren und neue Anschauungen und Bildungselemente in den 
Vordergrund zu treten begannen. 



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LUDWIG VON STRÜMPELL 

Von Alfred Spitzner 

Am Abend des 18. Mai d. J. vollendete Adolf Heinrich Ludwig 
von Strümpell, der berühmte Fortbildner der Herbartschen Philosophie und 
Pädagogik und letzte unmittelbare Schüler Herbarts, in Leipzig seinen 
inhaltreichen, gesegneten Lebensgang. 

Volle 65 Jahre hindurch stand der mit tiefem sittlichen Ernste und in 
wohlthuender Selbsttreue nach Wahrheit forschende Gelehrte in den vordersten 
Reihen der Vertreter der Geisteswissenschaften. Mit weitem Blick umfafste 
er ein großes Stück menschlichen Wissens, Philosophie, Naturwissenschaften, 
Pädagogik, und entfaltete durch seine zahlreichen Werke, durch seine Vor- 
lesungen, besonders aber durch das von ihm begründete und geleitete ? Wissen- 
schaftlich -Pädagogische Praktikum' eine Wirksamkeit, deren Bedeutung vom 
akademischen Hörsaal bis in die letzte Dorfschule reicht und, wie man hoffen 
darf, von bleibendem Werte sein wird. Strümpell konnte von der hohen 
Warte eines gottbegnadeten Alters aus in eine Vergangenheit zurückblicken, 
die ihm die Früchte eines arbeitreichen, hohen und edlen Bestrebungen ge- 
weihten Lebens zeigte, und erlebte zugleich die seltene Freude, sich in solcher 
körperlichen Rüstigkeit und wunderbaren geistigen Frische zu erhalten, dafs er 
seine akademische und wissenschaftliche Thätigkeit ungestört bis in die letzten 
Tage seines Lebens fortsetzen konnte. Noch als fast Achtzigjähriger schrieb 
er die wenige Tage vor seinem Tode in dritter Auflage erschienene 'Päda- 
gogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder*. 
Mit fast jugendlich zu nennender Begeisterung begründete er dadurch eine 
ganz neue Disciplin und erschlofs ein Gebiet der wissenschaftlichen Pädagogik, 
auf dem sich infolge seiner Anregung gegenwärtig eine stetig fortschreitende, 
eminent segensreiche Forschung anbahnt. Noch am 24. Januar d. J. konnte 
der rührige ehrwürdige Greis das 110. Semester seiner akademischen 
Lehrthätigkeit feiern und danach seine Vorlesung über die Praxis des 
wissenschaftlichen Denkens ungestört zu Ende führen. Und inmitten 
einer von ihm während der letzten Jahre mit grofser empirischer Subtilität ge- 
förderten Arbeit über die Thatsachen des Bewufstseins befiel ihn plötzlich 
die tödliche Krankheit und rief ihn nach raschem, schmerzlichem Verlaufe kurz 
vor dem Eintritt ins 88. Lebensjahr von seiner Wirkungsstätte ab. 

Wenn es der Verfasser infolge einer an ihn ergangenen Einladung des 
Herausgebers der pädag. Abteilung der Jahrbücher unternimmt, an dieser Stelle 



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536 A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 

dem Heimgegangenen ein Wort der Erinnerung zu widmen, so geschieht dies 
in dem Sinne, dafs er damit zugleich einem Bedürfnis seines eigenen Herzens 
genugthut, da er mit Strümpell eine lange Zeit hindurch in naher per- 
sönlicher Verbindung gestanden hat und ihn als seinen Lehrer und Freund 
verehrt. Er beabsichtigt, im Rückblick auf dies enge Verhältnis hier vornehm- 
lich auf die pädagogische Wirksamkeit Strümpells und auf das Eigen- 
artige seiner Pädagogik näher einzugehen, ohne aber eine erschöpfende 
Darstellung weder der in Frage kommenden biographischen noch der wissen- 
schaftlichen Momente bieten zu wollen. Eine solche ist gegenwärtig noch 
gänzlich ausgeschlossen, weil sie verschiedene nicht unbedeutende und zeit- 
raubende Vorarbeiten voraussetzt, z. B. über Strümpells Verhältnis zu Herbart, 
über seine Thätigkeit als Erzieher im Hause des Grafen Medem, über seine 
hervorragende Teilnahme an der Organisation des deutschen Schulwesens in 
den baltischen Provinzen als Mitglied der obersten Schulbehörde daselbst u. s. w. 
Ein Bild des pädagogischen Lebensganges Strümpells, wie es hier gedacht 
ist, ist aber gleichwohl reich genug an edlen und würdigen Zügen, um in die 
Geschichte der hervorragenden Pädagogen mit Ehren eingereiht zu werden. 

Strümpell wurde am 23. Juni 1812 in dem braunschweigischen Städtchen Schöppen- 
stedt geboren. Die ersten geistigen Interessen erweckte in ihm, wie er selbst erzählte, 
der Unterricht, den er aufser der Stadtschule vom zweiten" Geistlichen des Ortes in den 
klassischen Sprachen genofs und dessen Wirkung sich in glücklicher Weise mit den bilden- 
den Einflüssen verband, welche 'das tierreligiöse Gemüt und der von hohen und edlen 
Gedanken erregte Geist der Mutter' auf ihn ausübte. 

Im 14. Lebensjahre kam Strümpell nach Braunschweig, um in das Gymnasium 
Catharineum einzutreten. Der damalige Leiter desselben, der als Philologe und Schulmann 
rühmlichst bekannte Rektor Traugott Friedemann, setzte den talentvollen Knaben in 
die Sekunda, von wo aus dieser bis zu seinem 17. Jahre in den drei oberen Klassen (Prima, 
Media, Selekta) den Gymnasialkursus absolvierte. Nach seinem Abgange vom Gymnasium 
besuchte Strümpell das Collegium Carolinum in Braunschweig, 'eine Anstalt, die damals 
noch gewissermaßen eine Universität im kleineren Mafsstabe war und in solchen Männern, 
wie Henke (später in Marburg), Griepenkerl, Emperius, Dedekind, Petri u. a. 
durch Gelehrsamkeit und gründliche Wissenschaftlichkeit ausgezeichnete Dozenten besafs'. 
Den gröfsten Einflufs übte Professor Griepenkerl auf den jungen Studenten aus. Griepen- 
kerl, ein begeisterter Schüler Herbarts und eine Zeit lang Lehrer bei Pestalozzi und 
Fellenberg, fesselte Strümpell durch seine Vorträge derart, dafs er den Entschlufs fafste, 
sich gänzlich der Philosophie und Pädagogik zu widmen. Dieser Einflufs steigerte sich 
noch, als Strümpell in die Familie Griepenkerls eingeführt wurde. Noch im hohen Alter 
sprach er mit dankbarer Verehrung 'von der an bildenden Einflüssen reichen Sphäre' im 
Hause seines Lehrers. 

Das im Verkehre mit Griepenkerl sich entwickelnde überwiegende Interesse für die 
Herbartsche Philosophie fand dadurch eine bedeutende Stärkung, dafs Strümpell zu jener 
Zeit die persönliche Bekanntschaft Herbarts machte, als dieser sich im Jahre 1880 auf 
der Durchreise in Braunschweig aufhielt und seinen Schüler Griepenkerl besuchte. 'Der 
tiefe Eindruck', sagte Strümpell, 'den die imponierende Erscheinung dieses Mannes auf 
mich hervorbrachte, kann nur demjenigen verständlich sein, der aus eigener Erfahrung in 
seiner Jugend sich der geistigen Bedeutung eines derartigen Erlebnisses erinnert, wo das 
lebendige Bild einer durch intellektuelle und sittliche Gröfse ausgezeichneten Person, 
welcher eine starke, schon aus der Ferne genährte Hochschätzung entgegenkommt, sich 
begeisternd in die Seele eines jüngeren Mannes einsenkt'. 



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A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 537 

Herbart lud Strümpell ein, nach Königsberg zu kommen, und schon im nächsten 
Jahre siedelte dieser dahin über, wo er denn auch von Herbart eines näheren Verkehres 
gewürdigt wurde. Strümpell blieb zwei Jahre in Königsberg und war während dieser Zeit 
Mitglied des von Herbart geleiteten pädagogischen Seminars. Aufser seinen 
Spezialfächern der Philosophie und Pädagogik nahm er insbesondere noch an philo- 
logischen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Studien lebhaften Anteil. 
1833 legte er sein Doktorexamen ab. Er promovierte mit der Schrift: De methodo philosophica. 

Nach seinem Abgange von der Universität zu Königsberg hielt sich Strümpell zur 
Vollendung seiner Studien in Wolfenbüttel, Bonn und Leipzig auf, in letzterer Stadt 
insbesondere durch die Vorlesungen von Drobisch über mathematische Psychologie 
gefesselt. Während dieser Zeit stand er mit Herbart in fortdauerndem brieflichen Ver- 
kehre und schrieb, von dessen lebhaftestem, in dem regen Briefwechsel sich aus- 
sprechendem Interesse begleitet, seine 'Erläuterungen zu Herbarts Philosophie, mit 
Bücksicht auf die Berichte, Einwürfe und Mißverständnisse ihrer Gegner'. 
Das Werk war grofs angelegt und sollte die akademische Laufbahn Strümpells begründen 
helfen. Allein nach dem Erscheinen des 1. Heftes im Jahre 1834 drängten sich Strümpell 
wesentliche Abweichungen von seiner bisherigen philosophischen Über- 
zeugung auf, über die er sich mit Herbart nicht einigen konnte. Herbart zog 
sich infolgedessen von ihm zurück, und Strümpell stellte die Fortsetzung seiner Polemik ein. 

Der Streitpunkt lag hauptsächlich auf psychologischem Gebiete. Herbart warf 
Strümpell vor, er habe seine Psychologie 'vergessen', er habe sich aus seinem 'psycho- 
logischen Garten verirrt', während Strümpell überzeugt war, dafs die Herbartsch e Lehre 
an mehreren Stellen 'der Verbesserung bedürftig sei oder weiter fortgebildet werden müsse'. 
'Ich hege die Überzeugung', schrieb er damals, 'dafs Herbarts Philosophie die übrigen 
Systeme unserer Zeit an spekulativem Gehalte und an Fruchtbarkeit der Resultate in 
theoretischer, wie in praktischer Hinsicht bei weitem überragt: meine aber deshalb nicht, 
dafs sie schon diejenige Vollkommenheit erreicht habe, mit der das Denken völlig zufrieden 
sein könnte. Hieraus geht für einen Schüler dieser Philosophie, der eben solcher Über- 
zeugung ist und den nicht ausschließlich die äufsere Stellung des Systemes, sondern auch 
dessen eigene Kultur interessiert, natürlicherweise die Aufgabe hervor, seine Kräfte in 
Arbeiten an dem inneren Baue zu versuchen: selbst auf die Gefahr hin, dafs er den Beifall 
der Schule darin nicht für sich haben sollte.' 

Es sei an dieser Stelle ein Brief Herbarts erwähnt, der auf die Situation ein helles 
Licht wirft. Zum Verständnis desselben mufs noch vorausgeschickt werden, dafs Strümpell 
alle seine Bedenken in einem gröfseren Aufsätze niedergelegt und ihn von Leipzig aus 
an Herbart geschickt hatte mit der Bitte, die darin ausgesprochenen Meinungen zu prüfen. 
Herbart glaubte, die Abhandlung sei für die Öffentlichkeit bestimmt, und antwortete am 
10. Juli 1835 in der Weise, dafs er schrieb: 'Wäre der mir übersandte Aufsatz von einer 
anderen Hand als der Ihrigen, so würde ich ihn mit der einfachen Bemerkung zurück- 
schicken, es scheine mir nicht zweckmäfsig, mich darauf einzulassen. Er ist aber von 
Ihnen. — Es kommt gar sehr in Betracht, dafs der Aufsatz kein Brief und keineswegs in 
solcher Form abgefafst ist, als wäre er blofs für Sie und für mich bestimmt. Der Brief 
redet von einer reifen Frucht, die gegessen seyn wolle. Im Aufsatze ist von mir als einer 
dritten Person gesprochen worden — mit Wem? Es werden sogenannte Beweise als 
schlagende Beweise gerühmt — um Wem zu imponieren? Die Frage, ob ich den Aufsatz 
wohl geduldig durchlesen würde? scheint dem, mit seiner Beredsamkeit anderwärts hin- 
gewendeten Verfasser gar nicht einzufallen. Unter diesen Umständen müssen Sie Sich nicht 
wundern, wenn mir etwan ein Ausdruck in die Feder läuft, als ob wir nicht allein wären, 
und als ob ich Jemandem laut meine offene Meinung sagte. Sie sind nicht jung genug 
(Str. war damals 23 Jahre alt), damit man sich die Voraussetzung erlauben dürfte, Sie 
hätten Ihr Verfahren nicht von allen Seiten, und in seiner ganzen Bedeutung, wohl er- 
wogen. Und ich bin nicht alt und nicht schwach genug, um, wo ich schweige, aus blofser 
Gemächlichkeit zu schweigen.' 



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538 A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 

Auf die Erwiderung Strümpells kam folgender Brief: 

Göttingen 18. Aug. 1885. 

Vor wenigen Tagen, lieber Herr Doctor, kam ich von Pyrmont, und erst vor 
wenigen Stunden gewann ich Zeit Ihren Brief zu öffnen. Was mir zunächst daher ein- 
fällt, sollen Sie hier unverhohlen erfahren. 

Ihre Empfindlichkeit ist nicht geringer, als ich vermuthete; auch das mufste ich 
voraussehen, dafs Sie, in Ihren Augen, ganz recht behalten würden. Aber die achtungs- 
werthen Grundzüge Ihres Charakters leuchten durch; diese schätze ich wie ich soll; 
und es macht mir Vergnügen, Sie dessen zu versichern. 

Sie wissen, glaube ich, wie sich Andere gegen mich benommen haben. Hätte ich 
Sie mit diesen Andern verwechselt, so hätten Sie um desto gewisser gar keine Antwort 
von mir bekommen, da Ihre Entfernung von mir schon seit vorigem November am 
Tage lag. 

Die Antwort, die ich Ihnen gab, konnte nur kurz seyn, denn ich hatte eine Brunnen- 
kur schon hier angefangen. Der Zweck der Antwort mutete seyn zu warnen, falls. Sie 
etwa noch auf Warnung hören wollten. 

Dafs Ihr Aufsatz nur für Drobisch und mich bestimmt war, sagen Sie mir jetzt! 
Dem Aufsätze war das nicht anzusehen; dieser schien vielmehr gerade ins Publicum 
zu wollen. Was daraus gar leicht entstehen könne, davon mußten Sie die Probe 
sehen. 

Sollte ich Ihnen etwa jetzt etwas Angenehmes über diesen Aufsatz sagen, so könnte 
es dies seyn, dafs Sie wie ein geschickter Feldherr die Gegend Ihrer Stellung gewählt 
hatten; denn von dieser Seite her konnte ein Angriff kommen, den ich nicht wie so 
viele andre verachten durfte. Sie wufsten wohl, dafs ich, sobald meine Psychologie 
und Metaphysik in scheinbaren Widerstreit versetzt wurden, nicht still zusehn konnte. 

Unstreitig steht es Ihnen, wie jedem Andern völlig frey, zu prüfen, ob meine Be- 
handlung der einen und der andern Wissenschaft gehörig in einander greife, oder 
nicht. Soll aber dabey ein freundliches Verhältnis bestehn, so ist die gröfste Behut- 
samkeit sowohl in der Form der Untersuchung als in der des Vortrags nöthig, um 
nicht ohne Grund die Meinungen zu verwirren. 

Wodurch das Bild Ihrer Persönlichkeit in mir entstellt sey, f möge Gott wissen' ? — 
Es mufs wohl nicht so schlimm entstellt seyn, als Sie glauben; jedenfalls dürfen Sie 
keinen Dritten in Verdacht haben. Das aber ist gewifs, dafs ich, noch bevor ein ge- 
wisses Blatt .von mir in Ihren Händen seyn konnte, aus Ihren eignen brieflichen 
Äußerungen gegen mich, es mir weissagte, es werde eine Zeit kommen, wo ich gegen 
eine StrümpelTsche Philosophie mich würde erklären müssen. Vielleicht habe ich das 
früher gewufst als Sie Selbst. 

Erlauben Sie nun mir, als Ihrem alten Freunde, den aufrichtigen Wunsch und die 
Bitte, dafs Sie in Ihren Verhältnissen vorsichtiger werden mögen, als bisher. Sie 
können anderwärts schlimmer anlaufen als bey mir. Es gelingt nicht immer mit der 
Selbstverteidigung — und Selbsterhaltung. Sobald wir das Gebiet des eigentlichen 
Realen verlassen, behauptet die Störung ihre Rechte. 

Doch über diesen Punkt will ich Ihrer Entscheidung nicht vorgreifen. Wollen 8ie 
meinen Brief noch einmal ansehn, so wird unter den Fragen am Schlüsse die dritte 
Ihnen zeigen, dafs, wofern Sie dieselbe beantworten wollten, Ihnen hiemit der Faden 
einer gegenseitigen rein wissenschaftlichen Erklärung zu Gebote stand. 

Zunächst mufs ich nun um Ihre Adresse bitten, um Ihnen mit Sicherheit Ihren 
Aufsatz zurückzuschicken. Ob Sie mir alsdann nähere Auskunft über die Art, wie Sie 
den deutschen Verkehr verlassen wollen, mittheilen werden, mufs ich erwarten. In der 
That, ich habe Mühe daran zu glauben, da Ihre Feder Ihnen jetzt wenigstens eher, 
als früherhin, eine literarische Existenz scheint verschaffen zu können. 

Der Ihrige 

Herbart. 



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A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 539 

Strümpell ging nun seinen eigenen Weg, und dieser führte ihn zunächst in die päda- 
gogische Praxis. Er liefs fürs erste seinen Plan, als Docent an einer Universität auf- 
zutreten, fallen und nahm den schon früher gehegten Wunsch von neuem auf, einige Jahre 
als Lehrer und Erzieher thätig zu sein. Nicht in f die Sphären des Weltalls' wollte er 
blicken, um seine Anschauungen zu klären und zu kräftigen, sondern in f das kleine Erden- 
leben oder Stadtleben oder Hausleben', um in dessen Sphären erst zu begreifen, mit 
welchem Rechte von einer materiellen und einer geistigen geredet werden darf, wo 
beider Unterscheidungsgrund liegt, wie tief wohl der Verstand könne hinemdringen, 'um 
die Möglichkeit der höchsten Produkte des menschlichen Geistes: der Überlegung, der 
Wahl unter Zwecken, der inneren sittlichen Gesetzgebung und Regierung psychologisch zu 
erwägen und zu erklären'. 

Aber nicht allein die Einsicht in f die theoretische Kontinuität zwischen Psychologie, 
Ethik und Pädagogik' an sich und der Umstand, dafs Strümpell die letztere Doktrin 'in 
einem für die philosophische Erkenntnis höchst bedeutsamen Lichte' erschien, veranlagte 
ihn, die Wirksamkeit eines Erziehers und Lehrers mit Hinneigung zu ergreifen, sondern 
vor allem auch der sittliche Impuls, den eben diese von Herbart ausgehende Er- 
kenntnis auf seine Willen sthätigkeit ausübte. 

Im Jahre 1835 übernahm Strümpell durch die Vermittelung des Professor Ja sehe in 
Dorpat die Erziehung zweier Knaben des Grafen Medem in Kurland und leitete sie 
fast 10 Jahre lang. Was er erwartete: ' nützliche Erfahrungen, geistige Sorgen und Freuden, 
tiefgreifende Veranlassungen zur Selbstprüfung und Selbsterkenntnis, wie vor allem zur 
wissenschaftlichen Orientierung über die feineren Verhältnisse zwischen pädagogischer 
Theorie und Praxis', dies alles fand er reichlich. Die in den Händen des Verfassers sich 
befindenden Aufzeichnungen Strümpells aus jener Zeit lassen deutlich erkennen, wie ge- 
wissenhaft er sein Amt verwaltete und wie scharfsinnig er die ihm daraus erwachsenden 
Erfahrungen verwertete. Insbesondere ist hierfür eine gröfsere, noch ungedruckte Arbeit 
von hervorragender Bedeutung, welche Strümpell im Sommer 1837 der für das geistige 
Leben der baltischen Provinzen tonangebenden 'Kurländischen Gesellschaft für Litteratur 
und Kunst' zum Zwecke seiner Aufnahme in dieselbe einreichte. Sie ist betitelt: r Der 
Begriff vom Individuum, herausgehoben aus dem Netze der praktischen Be- 
griffe, welche der Pädagoge zu erzeugen hat.' Die Arbeit läfst deutlich ersehen, 
wie sich allmählich schon damals die Grundsätze in Strümpell ausprägten, aus denen nach- 
her seine philosophischen und speziell seine pädagogischen Lehren entstanden sind. 

Die wissenschaftliche Hauptarbeit während der in Rede stehenden Periode ist Strümpells 
'Kritik der Herbartschen Metaphysik'. Sie erschien im Jahre 1840, ein Jahr vor 
Herbarts Tode. 

Strümpell war in Kurland nicht unbeachtet geblieben. Im Herbst 1843 empfing er 
eine Einladung des Kurators des Dorpatschen Lehrbezirks, H. von Kraftström, 
zur Habilitierung an der Universität Dorpat. Er folgte dem Rufe und eröffnete im 
Januar 1844 seine akademische Laufbahn mit Vorlesungen über Einleitung in die 
Philosophie, Psychologie und Pädagogik. Dieselben fanden Beifall und hatten im 
April 1845 seine Anstellung als 'aufserordentlicher', im April 1849 als 'ordentlicher Pro- 
fessor der theoretischen und praktischen Philosophie und der Pädagogik' 
zur Folge. 

In diesen Stellungen entfaltete Strümpell volle 26 Jahre hindurch eine mit wahrhaft 
humanitären praktisch-pädagogischen Arbeiten grofsen Stils verknüpfte Thätigkeit. 

Zum Vorsitzenden des 'Kuratorischen Konseils', d. i. der obersten Schulbehörde der 
baltischen Provinzen war als Nachfolger Kraftströms der ebensosehr als Gelehrter wie 
als Staatsmann berühmte Graf Alexander Keyserling, als Freund Bismarcks vielen 
bekannt, ernannt worden. Dieser setzte alles daran, 'die Universität Dorpat und die 
baltischen Schulen als Pflanzstätten deutscher Bildung auszugestalten und zu 
pflegen'. Er fand in dem zum Mitgliede des Konseils berufenen Pädagogen Strümpell 
einen kongenialen, von gleicher frischer Begeisterung für die humanen und nationalen 



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540 A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 

Bildungsaufgaben der Deutschen in den Ostseeländern beseelten Mitarbeiter und schenkte 
ihm sein ganzes Vertrauen und seine ungekünstelte dauernde Freundschaft, von welcher 
ein interessanter und umfangreicher Briefwechsel ein schönes Zeugnis ablegt. 

In der eigenartigen pädagogischen Situation, in die Strümpell auf diese Weise versetzt 
worden war, entfaltete er vor allem eine äufserst lebhafte und weitausgreifende organi- 
satorische Thätigkeit. Auf dem gesamten Gebiete der Schule und öffentlichen Erziehung 
entstand unter seinem thätigen persönlichen Einflufs lebendige Bewegung. Ein päda- 
gogisches Seminar an der Universität, Gymnasien, Kreisschulen, Lehrerseminare, Fort- 
bildungsschulen, Volksschulen wurden neu gegründet oder erweitert und verbessert. 
Strümpell reiste im Auftrage der Regierung nach Deutschland, der Schweiz und nach 
Frankreich, um das Schulwesen dieser Länder zu studieren und seine Erfahrungen bei der 
Reformierung der baltischen Schulen zu verwerten. Er verschaffte sich durch vielfache 
Inspektionen einen tiefen Einblick in den wirklichen Stand der ihm unterstellten Schulen 
und beriet auf amtlichen Konferenzen mit den Lehrern der verschiedenen Schulgattungen 
die Aufgaben, Mittel und Wege der Weiterentwickelung derselben. Mit tüchtigen Schul- 
männern, die er zum Teil in Deutschland persönlich kennen gelernt und nach Rufsland 
berufen hatte, bearbeitete er Lehrpläne (1869 im Druck erschienen) und rief er manche 
neue Einrichtung ins Leben. Er selbst aber suchte in dem pädagogischen Universitäts- 
seminare wohlgeschulte Lehrkräfte heranzubilden und legte überall mit Hand an, wo es 
not that. So beteiligte er sich planmäfsig am Unterrichte im Lehrerseminare zu 
Dorpat, wie sogar auch in der von ihm neu errichteten Fortbildungsschule daselbst. 
Er hielt zahlreiche populäre Vorträge, veranstaltete Elternabende, ja der Pädagoge wurde 
teilweise zum Volkswirte. 

Die reiche praktische Thätigkeit Strümpells in Dorpat liefs ihm nur wenig Mufse zur 
Veröffentlichung wissenschaftlicher Forschungen. Es seien folgende Werke aus jener Zeit 
genannt: Die Pädagogik der Philosophen Kant, Fichte, Herbart (1843), Die Vorschule der 
Ethik (1844), Die Verschiedenheit der Kindernaturen (1844), Entwurf der Logik (1846), Die 
Universität und das Universitätsstudium (1848), Die Geschichte der griechischen Philosophie 
(1864—61), Lehrpläne für Knabenelementarschulen des Dorpater Lehrbezirks mit den nötigen 
Erläuterungen und Ergänzungen entworfen unter Mitwirkung erfahrener Schulmänner (1869), 
Erziehungsfragen (1869). 

Die grofsen Verdienste Strümpells um die Förderung des baltischen Schulwesens wurden 
von seiten der russischen Regierung dadurch anerkannt, dafs er zunächst zum Hof rat, 
dann zum Wirklichen Staatsrat mit dem Titel Excellenz befördert und in den 
Adelsstand erhoben wurde. Indessen trat nach dem polnischen Aufstande und nach den 
Erfolgen der preufsischen Waffen im Kriege mit den Österreichern 1866 mehr und mehr 
die Anschauung hervor, das deutsche Element bringe dem russischen Reiche 
Gefahr. Schule und Universität sollten nicht humane Bildungswege verfolgen, sondern 
staatlichen, russifikatorischen Zwecken dienstbar gemacht werden. Keyserling 
und Strümpell fanden die hierauf gerichteten Bestrebungen ebenso schädlich für das 
Reich wie für die Provinzen und traten ihnen entgegen. Wohl gelang es den klaren und 
lauteren Gründen ihrer Auseinandersetzungen eine Zeit lang, die ihnen anvertrauten Schulen 
vor bildungsfeindlichen Einflüssen zu bewahren, doch war es auf die Dauer vergeblich, 
gegen die russische Leidenschaft mit Gründen zu kämpfen. Am 23. Oktober 1869 erfolgte 
die Entlassung Keyserlings, und am 15. Januar 1871 mufste auch Strümpell weichen. 

Zur Charakterisierung der Stimmung, welche über Strümpells Scheiden in den ihm 
nahestehenden Kreisen in Dorpat herrschte, sei hier folgender Brief erwähnt, den Professor 
Victor Weyrich kurz vor Strümpells Abreise an diesen richtete: 

Lieber College, obgleich ich nicht wufste, ob ich Ihnen damit recht käme, so habe 
ich doch dem herzlichen Verlangen, Sie vor Ihrer Abreise noch ein Mal zu sprechen, 
nicht gebieten können. Leider finde ich Sie nicht zu Hause.! — Statt der mündlichen, 
von Herzen kommenden, empfangen Sie wenigstens in diesen wenigen Zeilen die schrift- 
liche Versicherung, dafs Ihr Scheiden mich ebenso schmerzlich als unerwartet berührt 



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A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 541 

hat. Ich hätte das nimmer für möglich gehalten, aber! — ja aber, wir leben in der 
Zeit der Wunder! Gott weife, was uns noch bevorsteht, denn wenn man so mit Ihnen 
verfahrt, was — doch die Bitterkeit, die mein Herz überwallt, erstickt das Wort selbst, 
das dem Papier zu überliefernde. Eine Majorität von 22 Stimmen mufs sich einer 
Minorität von 15 unterordnen, — so will es das Gesetz ! ! ! — 

Wäre ich nicht Patient und hätte Stubenarrest, ich käme dennoch heute Abend 
zu Ihnen und hülfe Ihnen packen, so aber mufs ich leider darauf verzichten und sage 
Ihnen hiermit ein herzliches, warmes Lebewohl, in der festen Überzeugung, dafs, 
auf eine oder die andere Weise, Ihnen Genugthuung zu Theil werden wird. 
Auf baldiges glückliches Wiedersehen 

Ihr treuer College 

Victor Weyrich. 
Das, was Strümpell selbst als wirkliche und wahrhaftige Genugthuung empfand, war 
die tiefe Freude darüber, dafs er nach dem Abschlufs einer 26jährigen akademischen 
Thätigkeit im Dienste der deutschen Bildung im Auslande noch einen zweiten, nicht 
minder bedeutungsvollen, auch an Arbeit und Verdiensten reichen Lebensabschnitt im 
Dienste der Wissenschaft, der Universität und der Heranbildung tüchtiger Pädagogen und 
Schulmänner im neugeeinten Vaterlande verleben konnte. 

Als ea im Frühjahre 1871 feststand, dafs Strümpell seine akademische Wirksamkeit 
an der Universität Leipzig fortzusetzen gedachte, begrüfsten es deren damalige Vertreter 
r mit grofser Genugthuung, in dem berühmten Schüler Herbarts die Lehr- 
kräfte ihrer Hochschule so bedeutend vermehrt zu sehen'. Sie nahmen an seiner 
am 26. April 1871 eröffneten Lehrtätigkeit den regsten Anteil. Dasselbe Interesse be- 
kundete auch das sächsische Ministerium, indem es Strümpell unter dem Minister 
von Falkenstein am 16. Juli 1871 zum ordentlichen Honorarprofessor und am 
30. Dezember 1871 zum Mitgliede der Egl. Prüfungskommission für Kandidaten 
des höheren Schulamtes ernannte, sowie ihn unter dem Minister von Gerber am 
20. Juni 1872 durch eine definitive staatliche Anstellung, soweit seine russischen Pensions- 
verhältnisse eine solche zuliefsen, zu bestimmen wufste, einer damals von der philo- 
sophischen Fakultät in Wien angestrebten Berufung nicht Folge zu geben. 

In seinen Vorlesungen über Geschichte der Philosophie, Logik, Psycho- 
logie, Ethik, Rechts- und Religionsphilosophie, allgemeine und psycho- 
logische Pädagogik, pädagogische Pathologie u. s. w. zeigte er sich als hervor- 
ragende Autorität auf allen Gebieten der Philosophie und der Pädagogik und fesselte als 
Meister der Bede seine Hörer in hohem Mafse, sei es, dafs er sich in seinen tiefgegründeten 
Vorträgen als Forscher von edelster, vornehmster Gesinnung an die akademische Jugend 
belehrend wandte, sei es, dafs er ihr mit der Weisheit einer langen und reichen Erfahrung 
und mit der Klarheit und Schärfe eines echt philosophischen Geistes die höchsten Fragen 
ans Herz legte. Erquickend war sein sonniger Humor. 

Diese seltenen Eigenschaften des beliebten Universitätslehrers kannte und würdigte 
man auch aufserhalb der Universität. Oft wurde er um Vorträge gebeten, zu denen er 
sich in seinem ausgesprochenen Gemeinsinne auch gern bereit finden liefe. So hielt er in 
Leipzig im Kaufmännischen Vereine, im Lehrervereine (beide Vereine ernannten ihn in 
dankbarer Verehrung zu ihrem Ehrenmitgliede) , im Konservatorium, im Gewandhaus, in 
den Schrebervereinen u. s. w. Vorträge über allein 40 verschiedene Themen aus seinen 
wissenschaftlichen Gebieten. 

Das hervorragendste Verdienst aber erwarb sich Strümpell in Leipzig dadurch, dafs er 
sich mit viel Hingebung, mit wahrhaft väterlicher Teilnahme und Fürsorge der Aus- 
bildung der jungen studierenden Pädagogen widmete. Am 7. Mai 1872 gründete 
er für sie das bereits erwähnte, von ihm 34 Semester hindurch geleitete Praktikum, und 
bald scharte sich ein ansehnlicher Kreis begeisterter Schüler um den beliebten Lehrer. 

Das Praktikum verfolgte einen doppelten Zweck: einmal, f das rezeptive Arbeiten 
der Studierenden der Pädagogik zu ergänzen', das andere Mal, 'demselben 



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542 A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 

gewissermafsen durch ein produktives Verfahren das nötige Gegengewicht 
zu geben'. Dies geschah dadurch, dafs die Mitglieder veranlagt wurden, r sich ihr Wissen 
aus den Gebieten der Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften von einzelnen Stellen aus 
in einem logischen Zusammenhange zu vergegenwärtigen, durch eigenes Nachdenken das- 
selbe zu klären und zu erweitern und die Gedanken in einer korrekten und präcisen 
Sprache auszudrücken'. Am Anfange des Semesters stellte Strümpell den Mitgliedern seines 
Praktikums Aufgaben zu pädagogischen Arbeiten zur freien Wahl. Die Arbeiten, in denen 
diese Aufgaben behandelt wurden, unterzog Strümpell einer gewissenhaften Durchsicht und 
einer strengen Beurteilung. In den Sitzungen des Praktikums wurden dann diese Arbeiten 
vorgelesen und nach allen Seiten hin gründlich diskutiert. 

Nun darf man aber nicht denken, dafs es Strümpell sowohl bei der Beurteilung als 
auch bei der Besprechung dieser Arbeiten einzig und allein darauf angekommen wäre, 
seine eigene Meinung zum Ausdruck gebracht zu sehen. 'Strümpell achtete nichts 
höher 9 , sagt Seminardirektor Dr. Kahl, ein ehemaliges Mitglied des Praktikums, r als 
Freiheit des wissenschaftlichen Denkens. Von jener Starrgläubigkeit, von jenem 
einseitigen Aufgehen in der eigenen Meinung, von jener Unduldsamkeit, durch welche 
manche Herbartianer , nicht zum wenigsten Ziller, der Herbartschen Richtung so sehr ge- 
schadet haben, wufste Strümpell nichts. Bei ihm durfte jede Ansicht zu Worte kommen, 
wofern sie nur Hand und Fufs hatte. Deshalb waren auch die Übungen seines Praktikums 
so auf serordentlich anregend.' Und allen Schülern Strümpells waren darum die Worte 
aus dem Herzen geschrieben, wie Dr. Kahl weiter mit Recht bemerkt, mit denen Professor 
Dr. Wendt den 6. Band der 'Pädagogischen Abhandlungen von Mitgliedern des 
von Professor Strümpell geleiteten wissenschaftlich-pädagogischen Prak- 
tikums' einleitete: r Wir verehren Herbart und erkennen auch die Richtung seines 
Schülers Strümpell als den zweckmäfsigsten Weg zum Weiter- und Ausbau der Herbartschen 
Pädagogik an: aber wir schwören weder auf die Worte Herbarts noch liegt es in dem 
Wesen unseres Lehrers, von seinen eigenen Ansichten abweichende Meinungen als un- 
vereinbar mit dem Begriffe der psychologischen Pädagogik zu erklären.' 

Die soeben genannten 'Pädagogischen Abhandlungen' u. s. w., welche Strümpell 
selbst veröffentlichte oder durch Wendt veröffentlichen liefs, bilden den litterarischen 
Nachweis für das Gesagte, wie überhaupt von dem frischen wissenschaftlichen und echt 
pädagogischen Geiste, der im Strümpellschen Seminare herrschte und gepflegt wurde. 

Die Schüler Strümpells, die zumeist in Deutschland thätig sind, und zwar in allen 
Zweigen des öffentlichen Unterrichts- und Erziehungswesens, von denen sich auch eine 
nicht kleine Anzahl schriftstellerisch ausgezeichnet hat, denken mit grofser Liebe und 
Dankbarkeit an die Zeit ihrer Studien unter der Führung Strümpells zurück. Als dieser 
am 26. April 1894 das Jubiläum seiner 26jährigen Wirksamkeit in Leipzig als 
rüstiger 84 jähriger Greis feiern konnte, kam dies schöne, vielfach zur persönlichen Freund- 
schaft fortgebildete Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler zum erhebenden Ausdruck. 

Zu den fleifsigen Mitgliedern des Seminars gehörten auch viele Ausländer. Wenn 
Rüde in Reine Encyklop. Handbuch der Pädagogik III 588 f. mehrere Seiten 
aufserdeutscher Herbart-Litteratur aufzählen konnte, so ist dies eben zum guten Teile 
mit eine Wirkung des Strümpellschen Praktikums. 

Ein grofser Vorzug desselben lag schliefslich in dem Umstände, dafs an den Übungen 
vor allem auch diejenigen studierenden Pädagogen teilnahmen, welche bereits an 
Volksschulen als Lehrer thätig waren. (Die sächsische Regierung ermöglicht es be- 
kanntlich in dankenswerter Weise tüchtigen Lehrkräften der Volksschule, an der Landes- 
universität ihre Fortbildung zu betreiben.) In den wissenschaftlich-pädagogischen 
und besonders in den psychologischen Erörterungen des Seminars konnte infolgedessen 
Öfter von praktischen Erfahrungen ausgegangen oder darauf zurückgegriffen werden, als es 
sonst wohl möglich gewesen wäre, und gerade darauf kam es Strümpell hauptsächlich an. 
Theorie und Praxis sollten glücklich zusammentreffen, die Distanz zwischen 
ihnen sollte auf wissenschaftlichem Wege möglichst verringert werden. 



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A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 543 

Es ist nun an der Zeit, von dieser Stelle aus auf das bereits hin und 
wieder leise berührte Eigenartige in Strümpells Pädagogik noch etwas 
naher einzugehen, um zugleich zu sehen, auf welches Arbeitsgebiet Strümpell 
seine Schüler hinführte. Unter allen aus seinem grofsartigen pädagogischen 
Erfahrungskreise abstrahierten Folgerungen schlug Strümpell namentlich die 
folgende hoch an: 'Je voller und kräftiger das Ideal der intellektuellen, 
sittlichen und religiösen Bildung in der Brust eines Erziehers 
wirkt, desto vorsichtiger mufs er insofern sein, dafs er die von der 
Theorie eingegebenen künstlichen und allgemeinen Erziehungs- 
mittel nicht überschätzt/ Vielmehr hat nach seiner Überzeugung der Er- 
zieher 'in allen Fällen an den in den jeweiligen faktischen Verhält- 
nissen, wie in der Individualität, in der Familie, in Sitten und 
Gewohnheiten, in Neigungen und Interessen u. s. w. liegenden natür- 
lichen Potenzen ununterbrochen festzuhalten und seine Zwecke an 
den dadurch thatsächlich bestimmten Entwickelungsgang anzu- 
schliefsen, selbst dann, wenn er mit ihnen in Opposition sein mufs 9 . 

Von diesem Standpunkte aus folgerte Strümpell die Notwendigkeit 
einer allmählichen Reform der wissenschaftlichen Pädagogik. 

Das Erste, was er an ihrer bisherigen, d. h. insbesondere bis zu Herbart 
und Beneke reichenden Behandlung auszusetzen hat, ist, 'dafs dieselbe sich 
zu allgemein hält, d. h. sich zu sehr in allgemeinen Gedanken und Erörte- 
rungen bewegt und deshalb dem thatsächlichen Gegenstande, auf den es 
doch vorzugsweise ankommt, nämlich dem Kinde und dem ihm in den 
einzelnen Stufen seiner Entwickelung zu widmenden Verfahren 
noch zu fern steht'. 

Strümpell wies infolgedessen immer wieder mit Nachdruck darauf hin, 
dafs es der Entwickelung des menschlichen Geistes mehr entspräche, wenn 
vorzugsweise die in ihm von der Natur bezweckte Entwickelungsform 
durch den pädagogischen Eingriff begünstigt und hervorragend ausgebildet 
würde, als wenn man dies nicht thue und alle vorher auf dem Wege der 
Abstraktion zusammengestellten Seiten der geistigen Entwickelung des 
Menschen auch im einzelnen wirklichen Kinde entdecken und im Sinne 
einer 'harmonischen Durchbildung' ausgestalten woDe. 

Wie die auf diese Weise verfahrende Pädagogik ihren fast ausschliefslich 
nur vom Zweckbegriffe beherrschten Inhalt auch darstellen will, eine ge- 
naue Erwägung desselben wird jedesmal finden, dafs mit ihren Lehrsätzen 
schlechterdings die ungeheure Kluft nicht ausgefüllt werden kann, die zwischen 
dem Erzieher, der ihnen gemäfs handelt, und dem bestimmten, einzelnen, heran- 
wachsenden Kinde besteht. So wie sie sich selbst mit einem gewissen Über- 
mute über das reale Leben des Kindes, also über die Thatsachen der päda- 
gogischen Erfahrung stellt, so stellt sie auch den Erzieher und Lehrer in 
seinem ganzen Verfahren dem Kinde zu fern, und Strümpell behält recht. 

Ein zweiter Punkt, wo darum die StrümpelTsche Pädagogik auf ein 
Reformbedürfnis der bisherigen pädagogischen Theorie hinweist, liegt in dem 



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544 A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 

Umstände, *dafs sie zu sehr vom Standpunkte des Erziehers und Lehrers 
und zu sehr gleichsam blofs für die Befriedigung seines Herzens und seines 
Verstandes gearbeitet ist\ Sie ist zu sehr 'abstrakte d. h. mit sich selbst 
beschäftigte Doctrin* und verwechselt deshalb oft die Wünsche und Hoff- 
nungen mit der Wirklichkeit, die Gedanken und Gemütszustände des Er- 
ziehers mit den Zuständen und Vorgängen im Innern der Kinder, die davon 
oft völlig unberührt bleiben und ihren eigenen Weg gehen. Bei aller schein- 
baren Nähe, ja selbst bei aller scheinbaren Innigkeit des Verhältnisses zwischen 
dem Lehrer und dem Schüler stellt die wissenschaftliche Pädagogik doch den 
ersteren noch zu fern dem Gegenstande gegenüber, auf den es in Wahrheit 
ankommt: demjenigen nämlich, was beim Unterrichte und bei der Er- 
ziehung der Zögling zu thun hat, das heilst, was in ihm vorgeht und 
vorgehen kann und was nicht. Strümpell ist der Meinung gewesen, und zwar 
mit Recht, dafs hiervon die Pädagogik, trotz Herbart und Beneke, noch 
kein befriedigendes, empirisch ermitteltes Wissen gewähre, und schrieb in 
der Erkenntnis dieses Mangels sowie der nachteiligen Folgen desselben seine 
Psychologische Pädagogik (1880), neben der Pädagogischen Patho- 
logie (1890) sein pädagogisches Hauptwerk. 

Die auf diese Weise von Strümpell kräftig eingeleitete notwendige Fort- 
bildung der wissenschaftlichen Pädagogik hängt insbesondere mit zwei wich- 
tigen pädagogischen Fragen zusammen, und zwar 1. mit der Frage nach der 
psychologischen Begründung der Erreichbarkeit der Bildungszwecke 
und 2. mit der Frage nach den Bildungswerten der Unterrichtsgegen- 
stände wie der Erziehungsmittel überhaupt. 

'Die historische Gerechtigkeit', sagt Strümpell in betreff dieser Punkte, 
Verlangt nicht zu verschweigen, dafs in dieser Hinsicht die Schriften von 
Herbart und Beneke sich vor allen anderen auszeichnen. Allein auch in 
ihnen ist dasjenige, was die psychologische Pädagogik erstrebt, lange 
noch nicht gegeben. Was namentlich Herbart darüber sagt, ist als solches, 
da man es sonst in keiner pädagogischen Schrift findet, sehr dankenswert, 
aber es reicht lange noch nicht aus. Dafs es nicht ausreicht und dafs mithin 
die betreffenden Gegenstände für die meisten Leser Herbarts doch eigentlich 
dunkel bleiben, geht wohl schon daraus hervor, dafs selbst innerhalb des 
Kreises der Herbartschen Schule allerlei Mifsverständnisse darüber herrschen, 
und andererseits eine Beachtung dieses wichtigen Gegenstandes der theoretischen 
Pädagogik von anderen Seiten so gut wie ganz ausgeblieben ist.' 

Aber auch Strümpells 'Psychologische Pädagogik' soll noch kein ab- 
schliefsendes Werk sein. An vielen Stellen weist er selbst darauf hin, wo 
die weiterzuführende Forschung einzusetzen habe, und zeigt nur, wie dieselbe 
zu betreiben ist. Doch liegt in diesem Umstände mehr ein Anlafs zur Er- 
höhung als zur Schmälerung der Bedeutung des unbestritten klassischen Werkes. 

Ein dritter wesentlicher Punkt der Strümpellschen Pädagogik besteht 
darin, dafs sie den eben hervorgehobenen, von ihr aufgedeckten Mangel der 
bisherigen Pädagogik auf einen noch tiefer liegenden Mangel zurück- 



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A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 545 

führt, der Strümpell schon als jungen Forscher beschäftigte und ihn ins- 
besondere zum Verlassen der Bahnen nötigte, die ihm die Herbartsche Psy- 
chologie gewiesen hatte. 

Strümpell fand, dafs die theoretische Pädagogik die pädagogische Fun- 
damentalfrage entweder gar nicht oder im günstigsten Falle, wie es in der 
Herbartschen Pädagogik geschieht, nur oberflächlich behandelt. Diese Fun- 
damentalfrage liegt in dem Begriffe der Bildsamkeit, das heilst der Be- 
fähigung des menschlichen Geistes, durch Einflüsse und Einwirkungen von 
aufsen, von Seiten der Natur und von seiten der Mitmenschen, über den 
schon erreichten Zustand in eine noch höhere und bessere Bildung hinüber- 
geführt werden zu können. 

In Bezug hierauf sagt Strümpell: 'Es ist nicht genug, blofs das That- 
s ach liehe nachzuweisen, woran man die Bildsamkeit des Kindes erkennt 
und worin sie sich ausdrückt, sondern es mufs auch die noch speciellere 
und wichtigere Frage untersucht werden, worin die Bildungsvorgänge 
selbst bestehen, und insbesondere, ob sich bestimmte Gesetze ent- 
decken lassen (an denen es doch nicht fehlen kann), nach denen 
die Fortbildung und Entwickelung des menschlichen Geistes statt- 
findet/ 

Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, dafs Strümpell mit dem Auf- 
rollen dieser Frage der pädagogischen Wissenschaft einen Gesichtspunkt von 
höchster Bedeutung und grofser Tragweite eröffnet hat. Denn solange die 
Pädagogik diese Frage nicht gründlich zu beantworten weifs, also die Bildungs- 
vorgänge selbst, die im Innern der menschlichen Seele stattfinden, und ins- 
besondere die Gesetze, nach denen sie geschehen, nicht kennt, wird sie auch 
ebenso lange sich im Dunkeln bewegen und viele unnütze Reden führen und 
— unnütze Arbeit verrichten. Aber noch mehr! Die Wichtigkeit dieses Gegen- 
standes tritt erst dadurch in das rechte Licht, wenn wir bedenken, dafs er 
die pädagogische Forschung zu tiefgehenden Auseinandersetzungen mit der 
allgemeinen Biologie, insbesondere mit der Abstammungs- und Ent- 
wicklungslehre Darwins, Spencers u. a., mit der modernen physio- 
logischen Psychologie und mit der modernen Psychiatrie herausfordert. 

Im Hinblick auf diese Sachlage hat Strümpell mehrere Semester hindurch 
psychologische Pädagogik vorgetragen und dabei in scharfsinniger Weise 
die Elemente des Gegenstandes blofsgelegt und seine weitere Untersuchung 
angeregt. Eben dahin gehört auch seine 1878 erschienene Abhandlung über 
c die Geisteskräfte des Menschen, verglichen mit denen der Tiere. 
Ein Bedenken gegen Darwins Ansicht über denselben Gegenstand'. 
Auch seine Vorlesungen über ^Psychologie', die er 1884 als *Lehre von 
der Entwickelung des Seelenlebens im Menschen' zum Teil veröffentlichte, 
kommen hier in Betracht Der Verfasser mufs es sich leider in Rücksicht 
auf den engen Raum eines Artikels versagen, auf die hier in Frage kom- 
menden Anschauungen Strümpells näher einzugehen. Auf einen Punkt nur 
will er zu sprechen kommen, weil er das hauptsächlichste Moment 

Neue Jahrbücher. 1899. II 35 



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546 A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 

der psychologischen Differenz zwischen Strümpell und Herbart 
darstellt. 

Strümpell stimmt insoweit mit Herbart überein, als er lehrt: Alle geistigen 
Zustände und Vorgänge im Kinde entsprechen zunächst in ihren Elementen 
dem Begriffe eines reinen Naturvorganges und sind als solche als Wir- 
kungen eines physiologisch-psychischen oder eines rein psychischen 
Mechanismus anzusehen. Nun aber verfolgt Strümpell auf dem Wege der 
pädagogischen Betrachtung die Wirkungen des psychischen Mechanismus 
und stöfst auf die Thatsache, dafs dieselben immer nur bis zu einem 
bestimmten Punkte reichen, soweit nämlich, als sich gewisse Bewußtseins- 
inhalte sekundär hervorbilden, welche sich mit dem Ichbewufstsein ver- 
knüpfen und den Geist zu einem nicht mehr naturnotwendigen, vielmehr 
freien, bewufsten Wirken weiterführen, ihn unabhängig machen von 
den Wirkungen des Mechanismus und auf diesen allmählich so zurückwirken, 
dafs sie ihn in seinen Bewegungen mehr und mehr bestimmen, indem 
sie sich denselben einfügen und mit ihnen fortwirken. Kurz, es ist der Über- 
gang vom mechanischen zum normierten Vorstellungsablauf, auf den 
Strümpell hinweist, das Fortschreiten des kindlichen Geistes zu allen den 
Bewufstseinsinhalten und Formen, welche in ihren Unterschieden und Gegen- 
sätzen die Welt des Verstandes, der Vernunft, des an sich Würdigen, 
des Guten und Schönen, des Erhabenen und des über allem Irdischen 
stehenden Göttlichen darstellen. Diese neuen, höheren BewuXstseins- 
elemente, welche den psychischen Mechanismus überschreiten und ihn 
ihrem Einflufs unterwerfen, nennt Strümpell 'freiwirkende Kausali- 
täten'. Mit dieser Abgrenzung hat er die Psychologie Herbarts verlassen 
und zugleich der Gefahr vorgebeugt, 'dafs eine zu starke Betonung des An- 
teiles der Physiologie an der Psychologie dazu führen könne, bei der Ab- 
hängigkeit beider die Eigenartigkeit und Selbständigkeit des geistigen Lebens 
zu übersehen oder gar gänzlich aufzugeben'. Es fragt sich nun, worin die 
Bedingungen zu suchen sind, unter denen der psychische Mechanismus in 
den Stand gesetzt wird, solche höhere Fortbildungen zu veranlassen. Strümpell 
erblickt sie in dem Gefühlsbewufstsein. Damit klärt er zum erstenmale 
die ausserordentlich wichtige teleologische Bedeutung der Gefühle für 
die Entwickelung des geistigen Lebens auf und löst dieselben als 
c specifische Zusätze zum Quäle des Erlebnisses' aus der gänzlichen 
Unrichtigkeit der Herbartschen Auffassung. Im Gefühle, das sich zunächst 
einem mechanisch bewirkten psychischen Erlebnis anschliefst, kommt nach 
Strümpell die Seele aus dem Bereiche der gleichgiltigen Thatsachen hinaus 
und beginnt, je nach dem Wert ihrer Stimmung, eine ihr allein zu- 
gehörige freie Wirksamkeit, und zwar in der Hinsicht, dafs durch jede be- 
stimmte Gefühlsart auch eine eigene Fortbildung des geistigen Lebens er- 
möglicht ist vermittelst eigentümlicher und bewufster Werte. 

Es erübrigt noch, auf einen vierten und einen fünften Punkt der 
Strümpellschen Pädagogik kurz zu sprechen zu kommen. 



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A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 547 

Aus der Thatsache, dafs die Entwickelung des menschlichen Geistes sich 
in dem genannten Gegensatze zwischen Naturnotwendigkeit und einer 
höheren, die Abhängigkeit von der letzteren normierenden Kausalität be- 
wegt, erklärt es sich, weshalb es auf dem geistigen Gebiete ebenso wie auf 
dem Gebiete des organischen Lebens allerlei sogenannte Fehler, Abnormi- 
täten, krankhafte Zustände giebt und ganz unvermeidlich geben mufs. 

Hieraus entspringt für Strümpells Plan einer die Thatsachen der Bildsam- 
keit und ihrer Bedingungen in das Specielle verfolgenden theoretischen Pädagogik 
die Aufgabe, die Fehler der Kinder empirisch aufzusuchen, den phy- 
siologischen oder psychischen Sitz jedes einzelnen derselben, die 
Art und Weise der Störung oder Abweichung vom Normalen der 
Bildsamkeit zu ermitteln. Oder kurz gesagt: sie erstrebt eine rationelle 
Pathologie der Seele während ihrer jugendlichen Entwickelung. 

Die jetzt bereits in 3. Auflage vorliegende 'Pädagogische Pathologie* 
Strümpells hat auf dem bis zu ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1890 nur 
ganz dürftig bearbeiteten wichtigen Gebiete eine solche Fülle von Belehrungen 
und Anregungen gebracht, dafs bereits eine eigene Zeitschrift dafür ent- 
standen ist. Auf mehreren Lehrerversammlungen, zuletzt auf der deutschen 
Lehrerversammlung zu Breslau (Pfingsten 1898), sind die einschlägigen Fragen 
eingehend besprochen worden, und f heute ist die hohe philanthropische, päda- 
gogische und sozialökonomische Bedeutung der pädagogischen Pathologie wohl 
allgemein anerkannt', wie Dr. Kahl mit Recht feststellt. 

Im Zusammenhange mit der eben gestellten Aufgabe behandelt Strümpell 
noch eine andere. 

Sowie er die rationelle Behandlung der Fehler der Kinder auf eine genaue 
Erforschung der dabei stattfindenden Thatsächlichkeiten und ihrer Ursachen zu 
gründen sucht, so will er auch in die aufserordentlich vielen Unter- 
schiede, die bei der Entwickelung der Kinder normaliter vorkommen, 
einigermafsen Licht und Ordnung gebracht wissen. Aus diesem Grunde 
veröffentlichte er die interessante Schrift über *die Verschiedenheit der 
Kindernaturen'. Sie erschien das erste Mal im Jahre 1844, zuletzt 1894, 
und ist noch in keiner Beziehung veraltet oder überholt. Noch immer ist sie 
der Ausgangspunkt der Bearbeitung einer ungemein schwierigen und nur erst 
allmählich zu lösenden Aufgabe, die wiederum die Pädagogik in nahe Beziehung 
und Verbindung mit den Fortschritten der allgemeinen Physiologie und 
Psychologie des Menschen bringt. 

Rein historisch betrachtet zeigt die soeben genannte Schrift neben der 
oben bereits erwähnten, noch nicht veröffentlichten Arbeit über den Begriff 
des Individuums aus dem Jahre 1837, wie weit die Anfänge der Strümpell- 
schen Reformgedanken zurückreichen, während die ihn zuletzt beschäftigende, 
leider unvollendet gebliebene Schrift über die Thatsachen des Bewufstseins 
davon Zeugnis ablegt, dafs Strümpell mit wachsamem Auge auch im höchsten 
Alter noch die Weiterentwickelung der Dinge, die uns hier beschäftigt haben, 
verfolgte. 

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548 A. Spitzner: Ludwig von Strümpell 

Der kurze Überblick über die Bestrebungen Strümpells auf dem Gebiete 
der wissenschaftlichen Pädagogik läsft deutlich erkennen , wie außerordentlich 
anregend die von ihm so glücklich geleiteten Übungen und Arbeiten des 
'Wissenschaftlich-pädagogischen Praktikums' waren. 

Die von hier aus sowie durch seine Schriften von Strümpell in die Wege 
geleitete kräftige Initiative einer Fortbildung der Pädagogik ist so gesund, 
so lebensvoll und bedeutend, dafs ihm für alle Zeiten ein Ehrenplatz unter den 
neueren führenden Pädagogen gebührt. Im Herzen seiner Schüler aber lebt 
sein Bild weiter als das des vollendet edlen Menschen mit einem goldenen 
Herzen und Gemüt voll unerschöpflicher Fülle an Menschen- und Kinderliebe. 



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BEMERKUNGEN ZUM ANSCHAUUNGS- UND KUNSTUNTERRICHT 

AUF DEM GYMNASIUM 

Von Gerhard Schultz 

Ob und wie die antike Kunst im Gymnasialunterricht herangezogen werden 
soll, ist eine Frage, die viel besprochen 1 ), aber noch nicht endgültig entschieden 
ist. Die preufsische Schulreform von 1892 hat den von vielen Seiten ge- 
wünschten Unterricht in der Kunstgeschichte abgelehnt. Jedoch haben die 
Behörden für die Frage weiter lebhaftes Interesse bekundet, wie sich besonders 
in der wiederholten Befragung der Direktoren -Versammlungen zeigt. Der 
Vermittelung von A. Conze verdanken wir ferner die Einrichtung der sehr 
nützlichen Anschauungskurse, die zwar selbstverständlich keine Archäologen 
ausbilden können, aber doch vielen Lehrern erwünschte Gelegenheit geben, mit 
der Wissenschaft in Beziehung zu treten, alte Kenntnisse aufzufrischen und 
neue zu erwerben. So hat die Bewegung doch Fortschritte gemacht. Langsam, 
aber stetig bricht sich die Überzeugung Bahn, dafs das Gymnasium die Pflicht 
ha^ seine Schüler mit der antiken Kunst bekannt zu machen. In der That, mag 
man diese nun nach ihrem innern, rein menschlichen Gehalt betrachten oder 
ihre weltgeschichtliche Bedeutung in ihrer Wirkung auf alle grofsen Blütezeiten 
der Kulturvölker erwägen, oder mag man sie endlich nur zur Belebung und 
Ergänzung der antiken Litteratur verwenden, in jeder Beziehung ist sie für den 
heutigen Standpunkt der höheren Schule unentbehrlich. So ist sie denn auch in 
der Praxis schon vielfach herangezogen. Eifrige Verlagsbuchhandlungen haben 
Wandbilder hergestellt und unsere Schulbücher mit Bildern geschmückt, die 
jedes Jahr sich vervollkommnen. Wenn ich nun in dieser Frage das Wort 
ergreife, so geschieht es mit dem Bewufstsein, dafs ich etwas wesentlich Neues 
nicht vorbringen kann. Aber ich möchte doch einige Punkte hervorheben, die 
mir zum Schaden der Sache nicht immer gebührend berücksichtigt zu sein 
scheinen. Ich werde mich dabei bemühen, theoretische Erörterungen, die wir 
ausreichend besitzen, möglichst zu vermeiden und besonders auf praktische 
Fragen einzugehen. 

x ) Über die neueste Litteratur berichtet Engelmann in den Jahresberichten des philol. 
Vereins zu Berlin. Die ältere findet man zusammengestellt bei Koch, Programm des 
Gymnasiums zu Bremerhaven 1896. Es fehlen bei ihm die Direktorenversammlungen von 
Ost- und Westpreufsen 1892, von Schleswig-Holstein 1892 und der Rheinprovinz 1896, die 
besonders lehrreich sind, weil man da auch die Stimmen von Gegnern hört. Namentlich 
möchte ich auf die Schleswig -Holsteinsche hinweisen, auf der sich der geistvolle Vortrag 
Ostendorfs, der 'keine Zeit' hatte, die Referate zu studieren, dafür aber sehr beherzigens- 
werte eigene Gedanken bringt, und die praktische Pädagogik von Wallichs sehr glücklich 
ergänzen. 



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550 Cr. Schultz : Bemerkungen zum Anschauungs- und Kunstunterricht auf dem Gymnasium 

Die preufsischen Lehrpläne von 1892 sagen beim Unterricht im Latei- 
nischen S. 25: *Eine zweckmäfsige Verwertung von Anschauungsmitteln, wie 
sie in Nachbildungen antiker Kunstwerke und in sonstigen Dar- 
stellungen antiken Lebens so reichlich geboten sind, kann nicht genug em- 
pfohlen werden/ Es werden hier also die antiken Kunstwerke von sonstigen 
Darstellungen unterschieden, die wir wohl mit dem allgemein üblichen Aus- 
druck kurz als Anschauungsbilder bezeichnen können. Die zweckmäfsige Ver- 
wendung beider Arten von Bildern wird dem Lehrer überlassen. Gerade auf 
diese aber kommt es an. Bei einer näheren Erwägung wird es nützlich sein, 
wenn wir beide Gattungen etwas schärfer trennen, als es gewöhnlich zu ge- 
schehen pflegt. Kunstwerke sind selten gute Anschauungsbilder — im Sinne 
der Schule — , weil sie gar nicht für deren Zwecke gemacht sind; werden sie 
aber als solche verwendet, so sind sie in Gefahr, in ihrem eigentümlichen Wert 
als Werke der Kunst nicht gebührend gewürdigt zu werden. 

Beide Arten von Bildern unterscheiden sich nach ihrem Ursprung und 
ihrem Zweck. Kunstwerke gehen hervor aus einer bestimmten Erregung des 
Gemütes und wünschen dieselbe bei dem Beschauer zu bewirken. Je höher 
sie stehen, eine um so gröfsere geistige Reife verlangen sie von diesem. Für 
Kinder werden sie also häufig nicht verständlich sein. — Anschauungsbilder 
gehen hervor aus bestimmten Absichten des Verstandes, sie sollen Kenntnisse 
vermitteln, Gegenstände zeigen, die bisher unbekannt waren, Vorstellungen 
hervorrufen, die das Wort nicht geben kann. Eine Wirkung auf das Gemüt, 
eine Erhebung der Seele erstreben sie nicht. Sie lassen sich für jedes Alter 
passend herstellen. Die Art der Darstellung wird aDes Ungewohnte vermeiden, 
sich also der heutigen malerischen Technik bedienen. 

Erwägen wir nun die zweckmäfsige Verwendung dieser beiden Arten von 
Bildern, so möchte ich mit dem Unterricht in der Geschichte beginnen, der 
vorläufig über das gröfste Material verfügt. Da sind nun Nachbildungen von 
antiken Kunstwerken reichlich vorhanden, aber von allen Urteilsfähigen nur für 
die oberen Klassen berechnet. So bezeichnet Luckenbach, dem wir das beste 
und technisch vollendetste Werk für die Schule verdanken, dasselbe ausdrücklich 
als 'Abbildungen zur alten Geschichte für die oberen Klassen höherer Lehr- 
anstalten/ Die unteren gehen demnach leer aus. Ähnlich verhalten sich die 
Leitfäden. Beispielsweise hat Jäger seine gröfseren Darstellungen der grie- 
chischen und römischen Geschichte mit Bildern begleitet, im kleinen Hilfsbuch 
für Quarta aber keine gegeben. Und allerdings, antike Kunstwerke braucht 
der Quartaner nicht, wohl aber andere, seinem Verständnis angemessene An- 
schauungsbilder. Leider aber ist da noch recht wenig vorhanden. Die Lehmann- 
schen Wandbilder berücksichtigen das Altertum fast gar nicht. Und doch hat 
der Erfolg, den sie in der Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit er- 
rungen haben, unzweifelhaft bewiesen, dafs sie einem allgemeinen Bedürfnis 
entgegenkamen. Unter den Hilfsbüchern ist meines Wissens nur eins (von 
Andrae), das den Versuch gemacht hat, einige ' kulturgeschichtliche ' Abbildungen 
hinzuzufügen. Ich habe — allerdings in einer höheren Töchterschule — dafür 



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G. Schultz: Bemerkungen zum Anschauungs- und Kunstunterricht auf dem Gymnasium 551 

immer das gröfste Interesse gefanden, obgleich die technische Ausführung noch 
viel zu wünschen übrig läfst. Jedenfalls zeigt die Erfahrung, dafs derartige 
Bilder für die unteren und mittleren Klassen das Richtige sind. 

Vielleicht könnte man nun sagen, dafs die Schüler die nötigen An- 
schauungen im lateinischen Anfangsunterricht, zu dem ich jetzt übergehe, 
schon in Sexta und Quinta erworben haben müfsten, wo sie zuerst mit den 
betreffenden Stoffen in Berührung getreten sind. In der Hauptsache ist das 
gewifs richtig. Es ist kein Zweifel, dafs vom pädagogischen Standpunkt gerade 
in den untersten Klassen die 'Verwendung von Anschauungsmitteln nicht dringend 
genug empfohlen werden kann*. Leider aber stofsen wir hier auf eine noch 
viel gröfsere Lücke, als im Geschichtsunterricht. Der Sextaner hört von 
Göttern und Tempeln, von Häusern und Säulenhallen, von Waffen und Kleidungs- 
stücken, von denen er keine Vorstellungen hat. Er lernt tote Worte, bei denen 
er nichts denkt. Das sollte aber nicht so sein. Es ist fast wunderbar, dafs 
bisher erst ein Versuch gemacht ist, gründliche Abhilfe zu schaffen, indem 
grundsätzlich überall das anschauliche Bild dem Worte beigesellt wird. Das 
hat L. Gurlitt in seiner Fibel für Sexta durchgeführt, zu der eben auch das 
Heft für Quinta sich gesellt hat. Der Gedanke ist gewifs der ernstesten Be- 
achtung und Prüfung wert. Freilich scheint vorläufig die Macht der Gewohn- 
heit noch gröfser zu sein als alle Lehren der Pädagogen. Öfters habe ich die 
Frage gehört: Sollen denn die Sextaner durch die Bilder wirklich besser Latein 
lernen? Damit haben die Bilder in erster Linie doch gar nichts zu thun; 
nebenbei glaube ich allerdings, dafs mit der lebhafteren Auffassung der Dinge 
auch die Aneignung der Worte erleichtert und das Interesse für den Unterricht 
gesteigert werden wird. Freilich darf man an die Bilder keinen künstlerischen 
Mafsstab legen. Sie müssen manches weglassen, manches in den Vordergrund 
stellen, was nur den Zwecken des Unterrichts dient. Hier ist der Punkt, wo 
noch Erfahrungen gemacht werden müssen: das Prinzip aber halte ich für 
unanfechtbar richtig. 1 ) 

Gehen wir nun zu den mittleren und oberen Klassen über, die den Schüler 
mit den alten Schriftstellern selbst bekannt machen. Gewifs gilt hier der 
Satz, es sei ein schlechter Schriftsteller, der nicht aus sich selbst verstanden 
werden könne. Die Schilderungen Homers und die Szenen der Tragiker be- 
dürfen für das Verständnis keiner Illustration. Wohl aber bedarf die Welt, 
in der der Schriftsteller lebt und die er als bekannt voraussetzt, die aber der 
Schüler nicht kennt, der Veranschaulichung. Dazu genügt ganz weniges. Bei 
Cäsar brauchen wir das römische Heer auf dem Marsch und im Lager, bei 
Xenophon ebenso das griechische Heer, bei Homer kämpfende Krieger, Häuser 
und Schiffe, bei den Tragikern ein Theater und Schauspieler. Und zwar 
brauchen wir das alles in moderner Weise dargestellt, wie es ehemals war, 
in Leben und Wirklichkeit. Man hat versucht, hier den Schülern Abbildungen 
nach antiken Originalen vorzuführen, und dabei manchen Mifsgriff gemacht. 

x ) Ich will aus meinem Herzen keine Mördergrube machen : ich halte die Gurlittsche Fibel 
für einen argen Mifsgriff, was ich gelegentlich näher begründen werde. — Der Redakteur. 



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552 G. Schultz: Bemerkungen zum Anschauungs- und Kunstunterricht auf dem Gymnasium 

Man sehe z. B. das Wörterbuch zu Cäsars (Gallischem Krieg, das Polaschek 
bei Freytag-Tempski hat erscheinen lassen. Er verwendet da eine Reihe Reliefs 
von der Trajanssäule. Was ist die Folge? Einerseits werden die Tertianer 
eine üble Vorstellung von der alten Kunst bekommen. Denn auch sie sehen 
die schlechte Perspektive, die Fehler in den Gröfsenverhältnissen, die un- 
geschickte Verteilung der Figuren; lachen werden sie über das Bild auf 
S. 34: Stationes et castella cum ignibus. Anderseits bekommen sie doch keine 
richtige Vorstellung von den Dingen. Denn sie haben nicht die Kraft und 
Übung der Phantasie, um sich aus dem schlechten Relief stil ein Bild der 
Wirklichkeit herzustellen. — Noch schlimmer hat man bei Homer geirrt. 
Indem man die Antike um jeden Preis in die Schule einführen wollte, hat 
man mit emsigem Fleifs aües gesammelt, was mit dem Inhalt der Homerischen 
Gesänge sich berührt, Münzen und Vasenbilder, Wandgemälde und Trink- 
becher, nichts fehlt. Hier hat die Praxis schon gerichtet, indem sie solchen 
Vorschlägen kein Gehör gab. Aber selbst ein Buch mit so mafsvollem Bilder- 
schmuck, wie Henkes Hilfsheft zu Homer, das bei Teubner erschienen ist, 
scheint mir mit der Nachbildung von Vasenbildern in die Irre zu gehen. 
Jeder, der einmal archäologische Übungen mitgemacht hat, weifs aus Erfahrung, 
wie langsam man sich in den Stil und die Auffassung der Vasenbilder hinein- 
sieht. Der Schüler wird sie überhaupt nicht verstehen. Von dem wissen- 
schaftlichen Interesse, das sie erregen, hat er keine Ahnung; von Schönheit 
kann meist keine Rede sein, wenn auch die naive Darstellung und mancher 
hübsche Zug dem Kundigen Vergnügen macht. Was soll ein Schüler mit 
der itQBößsfa itgbg 9 A%iXXia^ wo Achill beim Abendbrot sitzt mit dem Messer 
in der Hand, während Hektors Leiche unter der Kline liegt? Gesetzt, er 
sieht die steifen Figuren mit den eckigen Bewegungen ohne Lächeln an, so 
hat er doch weder Gewinn für das Verständnis des Schriftstellers — denn dieser 
erzählt anders, noch für seinen Schönheitssinn — denn das Bild wird nie- 
manden mit ästhetischer Begeisterung erfüllen, noch endlich für seine sach- 
liche Vorstellung — denn er sieht Athener des 5. Jahrhunderts und nicht Ho- 
merische Helden. Will man Homer benutzen, um im Anschlufs an einige 
Stellen wirkliche antike Kunstwerke zu zeigen, so wird man deren sehr wenige 
finden. Will man die Kultur der Homerischen Welt zur Anschauung bringen, 
was ja wohl schon einigermafsen möglich ist, so steDe man Bilder her, in 
denen die erhaltenen Trümmer wissenschaftlich zu neuem Leben erweckt sind. 
Für die übrigen Schulschriftsteller sind ähnliche Zusammenstellungen meines 
Wissens nicht unternommen. Wohl aber hat man systematisch gesammelt, 
was der Schüler an Anschauungsmaterial braucht. So ist der Schreibersche 
Bilderatlas entstanden, der weit über die Bedürfhisse der Schule hinausgeht, 
so der Leitfaden der griechischen und römischen Altertümer von Wagner- 
Kobilinski, der 24 Tafeln enthält. So sorgfältig und sachkundig hier nun 
auch ausgewählt sein mag, so habe ich doch wieder die Empfindung, dafs zu 
viel archäologisches Rohmaterial gegeben ist. Wozu dienen beispielsweise die 
beiden Ansichten des Parthenon in seinem jetzigen Zustande (Taf. IX) neben 



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G. Schultz: Bemerkungen zum Anschauungs- und Kunstunterricht auf dem Gymnasium 553 

der Rekonstruktion (Taf. VULL)? Einen wie schlechten Eindruck machen die 
Trümmer der Propyläen neben der Altis von Olympia (Taf. X)! Wozu wird 
das Bild des heutigen Forums von Rom vorgeführt? Man will die Macht und 
Herrlichkeit der weltbeherrschenden Stadt zeigen und zeigt einen traurigen 
Trümmerhaufen! Ferner, die Sammlung von verschiedenen Formen der Fufs- 
bekleidung und der Kopfbedeckung ist gewifs lehrreich. Aber wäre es nicht 
eindrucksvoller, wenn ganze Menschen in voller Bekleidung daständen? Auch 
hier sollte das wissenschaftliche Präparat verschwinden und das Leben selbst 
angeschaut werden. Endlich drängt sich die Beobachtung auf, dafs auf den 
24 Tafeln sich kaum 2 oder 3 Werke der Plastik finden, die als Kunst- 
werke gelten können. Auch hier bestätigt sich, dafs bei der Lektüre der 
Schulschriftsteller sich nur selten und ausnahmsweise die Nötigung ergiebt, 
die Meisterwerke der Plastik heranzuziehen. 

Zu diesen Ausnahmen gehören zwei Kategorien, die Porträts und die 
Götterbilder. Von Porträts, die die Schule angehen, sind aber nur sehr wenige 
erhalten, und die Köpfe der Götter können nur in den oberen Klassen gezeigt 
werden, weil sie für die unteren, wie ich aus Erfahrung weifs, zu schwierig sind. 

Im ganzen wird, wie ich glaube, unsere Umschau ergeben haben, dafs 
Anschauungsmaterial zwar für alle* Klassen notwendig ist, dafs aber Nach- 
bildungen von antiken Originalen dazu nur selten zweckmäfsig verwendet wer- 
den können. Vielmehr müssen zum Gebrauch im Geschichtsunterricht und in 
der fremdsprachlichen Lektion besondere Anschauungsbilder hergestellt werden. 
Viel brauchen es nicht zu sein. Dafür wünschte ich, dafs sie in doppeltem 
Format vorhanden wären, als Wandbilder und in Buchgröfse für die Hand des 
Schülers. Auf keinen Fall kann, wie aus den vorhandenen Proben hervor- 
geht, der Anschauungsunterricht benutzt werden, um die Schüler in die antike 
Kunst einzuführen. Im Gegenteil, wenn nach all den hohen Worten von der 
Herrlichkeit der alten Kunst, die der Schüler hört, ihm so viel minderwertige 
Werke gezeigt werden, so mufs er Mifstrauen fassen. Er wird sich sein Urteil 
nach dem bilden, was er sieht, und Abneigung statt Liebe aus der Schule 
mitnehmen. 

Wir müssen also diesen Weg verlassen, wenn wir nicht auf die alte Kunst 
in der Schule verzichten wollen. Und das wollen wir nicht. 

Bevor ich mich aber zu der Behandlung der alten Kunst selbst wende, 
ist eine Vorfrage zu beantworten, die meist übergangen wird, die mir aber 
nicht unwichtig erscheint. Ist nicht eine Vorbereitung des Schülers für die 
Betrachtung von Kunstwerken nötig, und was gehört zu ihr? Natura non 
facit saltus, der Unterricht soll es auch nicht. Was nicht vorbereitet ist, 
schwebt in der Luft. Auch praktische Schulmänner haben wohl gefühlt, dafs 
hier etwas nötig sei. So wurde der rheinischen Direktoren- Versammlung 1896 
die Frage gestellt: 'In welcher Weise und in welchem Umfange sind An- 
schauungsmittel im sprachlichen und geschichtlichen Unterricht wirkungsvoll 
zu verwenden? Wie kann dadurch insbesondere auch die Entwickelung des 
Kunstverständnisses vorbereitet werden?' Offenbar meinte die Behörde, dafs 



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554 G. Schultz: Bemerkungen zum Anschauungs- und Kunstunterricht auf dem Gymnasium 

man bei Schülern nicht ohne weiteres Interesse und Aufnahmefähigkeit für 
die Kunst voraussetzen könne. Und ich halte das für sehr richtig. 

Nun gehört zur Auffassung eines Kunstwerkes dreierlei: das Auge, die 
Phantasie und ein erregbares Gefühl. Das Auge führt an das Werk heran, 
die Phantasie dringt in sein Inneres hinein, das Gefühl ergreift die Stimmung, 
die von ihm ausströmt. 

Zunächst mufs also das Auge geschult werden. Dazu dient in erster Linie 
das Zeichnen, dessen Wichtigkeit allerdings oft überschätzt wird. Man hat be- 
kanntlich den Unterricht darin zu einer vollständigen Unterweisung in der 
Kunst und ihrer Geschichte ausbilden wollen. Dagegen ist schon der äufsere 
Grund geltend zu machen, dafs doch nur verhältnismässig wenig Schüler sich 
daran beteiligen. Und obgleich Theoretiker, wie Konrad Lange, und Prak- 
tiker, wie Baumeister und Frick, ihre Stimme dafür erhoben haben, wird das 
Zeichnen in absehbarer Zeit nicht obligatorisch gemacht werden können, weil 
die Zeit fehlt. Es ist aber auch in seiner Wirkung überschätzt worden. Das 
Zeichnen bildet das Auge, vor allem aber die Hand, und die brauchen wir 
nicht, um ein Kunstwerk zu geniefsen. Wenn wir es auch ganz genau kopieren 
könnten, so würde seine Wirkung auf uns doch kaum erhöht werden. Es ist 
wie in der Musik; es giebt sehr musikalische Menschen, die eine grofse 
Empfänglichkeit besitzen, ohne ein Instrument spielen zu können. Immerhin 
werden wir die Hilfe des Zeichnens nicht entbehren wollen. 

Das Auge kann aber auch noch auf andere Weise gebildet werden, in- 
dem der oben geforderte Anschauungsunterricht grundsätzlich dazu ausgenützt 
wird. Man darf sich nicht begnügen, die Bilder kurz vorzuzeigen und dann 
in die Klasse zu hängen. Jedes Bild mufs eingehend beschrieben werden, 
nicht vom Lehrer, sondern von den Schülern. Jeder, der es versucht hat> 
weifs, wie schwer es ihnen wird, zu sehen, was eigentlich dargestellt ist; ungefähr 
so schwer wie bei einem Lesestück, zu erfassen, was darin gesagt ist. Aber 
wie der Lernstoff eines Bildes nur auf die angegebene Weise wirklich an- 
geeignet werden kann, so kann auch nur so das Auge geschult werden. Schon 
längst läfst man Beschreibungen von Bildern als Aufsätze anfertigen; für die 
mittleren Klassen ist es in den Lehrplänen sogar vorgeschrieben. Das ist eine 
sehr nützliche Übung, die auch in den oberen Klassen noch öfters gefordert 
werden sollte. Leicht ist eine gute Beschreibung ja niemals. 

Die Betrachtung der Anschauungsbilder übt aber nicht blofs das Auge, 
sondern auch die Phantasie. Hierin ist sie dem Zeichnen unzweifelhaft über- 
legen. Mag uns ein solches Bild ein geschichtliches Ereignis vorführen oder 
einen Vorgang aus dem Leben, z. B. ein Opfer oder ein Leichenbegängnis, 
überall haben wir Menschen vor uns in bestimmten Stellungen. Ihr Gesichts- 
ausdruck, ihre Bewegungen verraten bestimmte Absichten und Gefühle, die der 
Schüler verstehen mufs. Er wird gezwungen, sich in die Handlung hinein- 
zudenken, den Anteil der einzelnen Personen zu bestimmen, kurz — seine 
Phantasie zu gebrauchen. Unzweifelhaft ist das schon ein Übergang zur Auf- 
fassung eines wirklichen Kunstwerkes. 



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G. Schnitz: Bemerkungen zum Anschauungs- nnd Kunstunterricht auf dem Gymnasium 555 

Am 8chwierig8ten scheint es mir, über die ästhetischen Gefühle der Schüler 
und deren Ausbildung zu reden. Sie erwachen wohl erst in der Zeit der 
Pubertät. Wie in dieser Periode die Lesewut viele Kinder ergreift, ein Heifs- 
hunger nach geistiger Nahrung, so dafs sie nicht genug Bücher verschlingen 
können, so ergreift sie auch häufig ein kaum zu stillender Drang nach Bildern. 
Sie nehmen alles, was sie bekommen können. Sicher liegt hier ein starkes 
Bedürfnis vor und sind auch Gefühle der Lust und Unlust vorhanden. Aber 
diese Gefühle sind noch sehr unklar und treten ebenso heftig wie einseitig 
auf. Hier braucht von einer Vorbereitung nicht mehr die Bede zu sein, hier 
kann die echte Kunst selbst eintreten. 

Der Unterricht, der sich mit der alten Kunst beschäftigt, mufs die Schüler 
in den Stand setzen, die Kunstwerke geistig als solche zu erfassen und mit 
ästhetischem Genufs zu betrachten. Er kann daher nur in den obersten Klassen 
stattfinden; denn nur hier finden sich die geistige Reife und die sachlichen 
Vorkenntnisse. Das Haupthindernis für ihn liegt in dem Mangel an Zeit. 
Ein bestimmter Platz in dem Fachwerk der Schule mufs für ihn angewiesen 
werden, weil er ohne Stetigkeit und Regelmäfsigkeit keinen Erfolg haben 
kann. Mit Vorliebe hat man ihn früher mit der alten Geschichte verbunden. 
Es sollten bei jedem Abschnitt der politischen Entwickelung die wichtigsten 
Werke der Baukunst und Plastik, dazu für die neuere Zeit auch die der 
Malerei vorgelegt werden. Nach dieser Methode müfste die alte Kunst gegenwärtig 
in Obersekunda behandelt werden. Indessen weifs jeder, dafs die vorhandene 
Zeit nicht einmal für die Geschichte selbst ausreicht, so dafs es schlechterdings 
unmöglich ist, hier einige Wochen für andere Zwecke zu erübrigen. Ich würde 
es auch bedenklich finden, wenn die Prima bei vorgeschrittener Reife ganz 
leer ausginge. Am wichtigsten aber scheint mir, dafs die Besprechung der 
Kunstwerke in unserem Sinne mit der Geschichte eigentlich gar nichts zu thun 
hat. Wir wollen doch erst das Sehen der Werke lehren und dabei Verständnis 
und Liebe für die Kunst wecken. Die geschichtliche Auffassung ist etwas 
Späteres, das naturgemäfs nachfolgt. Es ist hier doch nicht anders, als bei 
den Werken der Schriftsteller, die man in der Schule stets einzeln behandelt, 
indem man die Zusammenfassung einer höheren Stufe überläfst. 

Inhaltlich steht der Kunstunterricht jedenfalls am nächsten der griechischen 
Lektüre in Prima. Hier hört der Schüler in Worten, was er dort in Formen 
sieht. Die Werke des Thukydides, Plato, Demosthenes atmen denselben Geist 
des griechischen Bürgertums, der die schönsten Jünglingsgestalten und den Fries 
des Parthenon belebt, den Geist einer unter dem Gesetz entwickelten, kraft- 
vollen Freiheit. Den Höhepunkt erreicht die Litteratur in der attischen Tragödie. 
Sie stellt das Höchste und das Tiefste dar, die wundervolle Götterwelt in 
seliger Schönheit, das stolze und doch so schwache Menschengeschlecht in 
seinem Streben und Straucheln. Wo giebt es etwas Ähnliches, als in den 
Meisterwerken des Plastik? Demnach wäre es das beste, wenn die darstel- 
lende Kunst auch im Unterricht mit der griechischen Lektion in Prima ver- 
bunden werden könnte. Freilich werden nicht viele Lehrer unter den jetzigen 



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556 G. Schultz: Bemerkungen zum Anschauungs- und Kunstuntemcht auf dem Gymnasium 

Verhältnissen Zeit dazu hergeben wollen oder — können. Denn streichen 
kann man von der Lektüre kaum etwas. Zu einer fruchtbringenden Betrach- 
tung der Kunstwerke aber gehört Zeit, sogar ziemlich viel Zeit. Es wird 
also nichts übrig bleiben, als in Unterprima eine besondere Stunde dafür zuzu- 
setzen, was in dieser Klasse kaum Schwierigkeiten machen könnte. Vor Über- 
bürdung braucht man sich nicht zu förchten, da die hauslichen Arbeiten nicht 
vermehrt werden. Es ist sehr erfreulich, dafs die Behörden in Elbing einen 
Versuch bereits gestattet haben, und nur bedauerlich, dafs der betreffende Be- 
richt in dem Programm von 1897 so kurz ausgefallen ist. Sollten diese Ver- 
suche zu keiner dauernden Einrichtung führen, müfste man sich vorläufig nach 
dem Rate Guhrauers richten und in bestimmten Stunden regelmäfsig am An- 
fang oder Ende des Unterrichts ein Bild vorlegen. Das könnte aber nur ein 
sehr energischer und zielbewufster Lehrer durchführen. 

Eine zweite Schwierigkeit für die Einführung des Kunstunterrichts liegt 
in der Beschaffung des Anschauungsmaterials. Für die Architektur möchte 
wohl ausreichend gesorgt sein. Hinweisen möchte ich bei dieser Gelegenheit 
besonders auf die vorzüglichen farbigen Tafeln im 2. Cyklus der Seemannschen 
kunsthistorischen Bilderbogen. Aber die Plastik? Da läfst sich doch nicht 
leugnen, dafs Gipsabgüsse das Beste sind und bleiben. Die wichtigsten Köpfe 
wenigstens müssen in Gips vorhanden sein. Ich bin auch überzeugt, dafs 
sie sich bei einigem guten Willen beschaffen lassen. Die Kosten sind nicht 
so grofs, dafs man nicht im Laufe von einigen Jahren 6 — 8 Stück zusammen- 
bringen könnte. Vielleicht könnten die Behörden hierin auch helfen, indem 
sie in den staatlichen Gipsgiefereien Exemplare herstellen lassen. 1 ) Solche 
Köpfe müssen dann dauernd in den Klassenräumen oder in der Aula aufgestellt 
werden. 

Für die grofse Menge der Werke werden wir freilich immer auf bildliche 
Reproduktionen angewiesen werden. Aber hier hat die moderne Technik Fort- 
schritte gemacht, die sich noch vor 20 Jahren kaum ahnen liefsen.*). Neben 
Seemanns Tafeln für das ganze Gebiet der Kunstgeschichte sind für die 
griechische Plastik an technisch erster Stelle zu nennen die 'Denkmäler grie- 
chischer und römischer Skulptur' von Furtwängler- Urlichs. Diese sind 
zwar immer noch nicht grofs genug, aber da sie vorläufig das Beste sind, 
was wir haben, auch durch die Buchausgabe für die Schulen sehr bequem 
brauchbar geworden sind, so werde ich an sie im folgenden die Ausstellungen 
anknüpfen, die mir vom Standpunkt des Unterrichts nötig erscheinen. Es 



l ) Der vortreffliche Kopf des alternden Cäsar kostet in der Egl. Giefserei in Charlotten- 
burg 7,60 Mk. Der Selbstkostenpreis ist natürlich noch geringer. Warum findet man 
übrigens diesen besten aller Cäsarköpfe in keiner Schulausgabe? 

*) Dem Skioptikon stehe ich noch mifstrauisch gegenüber, weil es die Bilder nur für 
kurze Zeit erscheinen läfst. Aufserdem ist es noch zu teuer und selbst Klein, der es am 
eifrigsten empfohlen hat, giebt in seinem neuesten Programm, Bremerhaven 1899, an, dafs 
die Bilder noch nicht kräftig genug gewesen seien. Nutzen wird der Apparat wohl nur 
für Vorträge in gröfseren Räumen haben, die abends stattfinden. 



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G. Schultz: Bemerkungen zum Anschauungs- und Kunstunterricht auf dem Gymnasium 557 

handelt sich dabei um die Auswahl und Anordnung des Stoffes. Die Haupt- 
vertreter des Kunstunterrichts, wie Menge und Baumeister, haben die histo- 
rische Reihenfolge vorgeschlagen, wohl weil sie die Verknüpfung mit dem 
Geschichtsunterricht im Sinne hatten. Die meisten Programme haben sich an- 
geschlossen. Grundsätzlich hat meines Wissens noch niemand widersprochen. 1 ) 
Allerdings erklären die meisten, dafs keine Kunstgeschichte getrieben werden 
soll, halten aber doch die geschichtliche Folge für die bequemste. Mir scheint 
sie weder bequem noch praktisch, wenn wir als Ziel die ästhetische Betrach- 
tung aufstellen. In der Schule dürfen wir keine Archäologen sein. Die 
Wissenschaft verarbeitet, was ihr der Boden beschert, mit Gleichmut ohne Er- 
regung, aber für die Schule hat nur das Vollkommene Geltung. Nur das vollendete, 
von allen Schlacken gereinigte Werk vermag die Bewunderung zu entzünden, 
die wir wünschen. Man lasse also alles Archaische ganz und gar beiseite! 
Was soll der Apollo von Tenea in der Schule? Selbst die Ägineten könnten 
nur unter dem Gesichtspunkt zugelassen werden, dafs sie eine leicht über- 
sichtliche Giebelgruppe geben. Wenn aber Furtwängler nur die vier Figuren 
der Mittelgruppe giebt, so ist damit nichts anzufangen. 

Statt der historischen Reihenfolge nehme man eine andere, die vom Leich- 
teren zum Schwereren aufsteigt. Die Grundlage mufs die Darstellung des 
menschlichen Körpers bilden. Dazu diene der Doryphoros und Apoxyomenos, 
der werfende und der stehende Diskobol, als Ergänzung der betende Knabe. 
Dafs unsere turngeübte Jugend Interesse und Verständnis für den Körper hat, 
wird niemand bezweifeln. Ferner sind die genannten Statuen sämtlich Kunst- 
werke ersten Ranges. Mit Schmerzen bemerkt man also, dafs in der Münchener 
Sammlung aufser dem Apoxyomenos nicht eine zu finden ist. — Es folgt die 
Betrachtung des Gewandes. Das männliche wird am besten an den Porträt- 
statuen erläutert, das weibliche an der Frauengruppe aus dem Ostgiebel des 
Parthenon und einer Korafigur vom Erechtheion. Erst dann kann man zu 
den Götterbildern übergehen. Hier strebt die Bildung des Körpers nicht mehr 
nach der Darstellung des Normalen, sondern sucht das Charakteristische. Die 
Proportionen, noch mehr die Bewegungen werden bedeutungsvoll, vor allen 
Dingen aber spiegelt sich das Wesen des Gottes im Kopfe. Diesen richtig 
aufzufassen ist die schwierigste Aufgabe. Am förderlichsten wird dabei stete 
Vergleichung sein. Sie ist schon sonst gelegentlich empfohlen, ich möchte sie 
grundsätzlich überall fordern. Die Linien eines Kopfes aufzufassen und sprach- 
lich auszudrücken, ist schwer, manchmal unmöglich. Stellt man mehrere zu- 
sammen, so wird sowohl das Auge als auch die Sprache viel leichter das 
Richtige finden. Von Zeus der Anfang. Will man neben die Maske von 
Otricoli nicht die elische Münze legen, so benütze man den Asklepios. Für 
Hera sind die Köpfe der Hera Farnese und der Juno Ludovisi am ausdrucks- 
vollsten. Bei Athena ist man nicht in Verlegenheit. Für Apollo sind 2 Typen 

*) Nach Abschlufs der Arbeit sehe ich, dafs es Moritz Müller thut in der Programm* 
abhandlung: Bildende Kunst im Gymnasialunterricht. Bautzen 1899. Ich freue mich, mit 
ihm in den meisten Punkten übereinzustimmen. 



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558 Ö. Schultz: Bemerkungen zum Anschauung^- und Kunstunterricht auf dem Gymnasium 

ausgeprägt, desgleichen für Dionysos. Ich denke, dafs man auf diese Weise 
bessere Erfolge erzielen wird, als wenn man beispielsweise den olympischen 
Zeus und den Apollo Musagetes unter dem 5. Jahrhundert bespricht, den Zeus 
von Otricoli und den Apoll vom Belvedere unter dem 4. Jahrhundert, wie es 
Furtwängler- Urlichs thun. Der auffallendste Mangel ist freilich bei ihnen, 
dafs die Juno Ludovisi ganz fehlt. In einer für die Schule bestimmten Samm- 
lung ist das ein fast unbegreiflicher Fehler. 

Auf die Einzelbilder würden dann die Gruppen folgen, von denen sich die 
Eirene und der Hermes des Praxiteles bequem an die Götterbilder anschließen. 
Endlich würden die Reliefs betrachtet werden müssen, der Fries des Parthenon 
und von Pergamon, sowie einige Grabmäler. 

Wenn ich hier schlief se, so möchte ich doch noch ausdrücklich hervor- 
heben, dals ich im vorhergehenden zwar meine Bemerkungen auf die antike 
Kunst beschrankt habe, dafs ich aber auch die Vorführung der mittelalter- 
lichen und neuen Kunst für notwendig halte. 



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ANZEIGEN UND MITTEILUNGEN 



H. J. Müll eb, Christian Ostebmanns Lateini- 
sches Übungsbuch. Neue Ausgabe. Fünftes 
Teil: Obersekunda und Prima. Leipzig, 
B. G. Teubner 1899. XI u. 372 S. 8. 
So lange als Zielleistung im Lateinischen 
bei der Reifeprüfung die Übersetzung aus 
dem Deutschen bestehen wird — und das 
wird hoffentlich der Fall bleiben — , so lange 
mufs den Schülern Gelegenheit gegeben 
werden, sich darauf vorzubereiten. Die 
wenigen schriftlichen Arbeiten, die nach 
den Lehrplänen in den drei oberen Klassen 
geschrieben werden, reichen dafür nicht aus, 
vielmehr müssen möglichst häufige münd- 
liche und schriftliche Übersetzungsübungen 
danebenhergehen. Um Zeit zu ersparen, 
wird der Lehrer ein Übungsbuch verwenden. 
Dieses mufs aber so eingerichtet sein, dafs 
er bei diesen Übungen in der Lage ist, die 
in den Vorklassen von den Schülern er- 
worbenen grammatischen und stilistischen 
Kenntnisse durch zusammenfassende Be- 
merkungen und den Bedürfnissen der Lek- 
türe entsprechend mafsvoll zu erweitern. 
Deshalb ist es notwendig, dafs das Buch 
auf die Grammatik Rücksicht nimmt. Dieser 
Anschlufs darf aber nicht sklavisch sein, 
sondern mufs den Kenntnissen der Schüler 
der oberen Klassen entsprechend mehr lose 
sein. Diesen Anforderungen entspricht das 
oben genannte Buch in hervorragendem 
Mafse. Die dargebotenen Übersetzungs- 
aufgaben, die sich an die Klassenlektüre 
nicht anlehnen, zerfallen in zwei Gruppen: 
die eine, deren Aufgaben auf die gram- 
matischen und stilistischen Bemerkungen in 
den Anhängen zu des Verfassers Grammatik 
Bezug nehmen oder zu den entsprechenden 
Paragraphen in anderen Grammatiken in 
Beziehung gesetzt sind, enthält 15 Stücke 
mit Einzelsätzen und 91 zusammenhängende 
Abschnitte; die andere sogenannte freie Auf- 
gaben, die sich nicht an einen begrenzten 
grammatischen oder stilistischen Lehrstoff 
anschliefsen. 

Die Lesestücke sind mit grofsem Geschick 
zusammengestellt. Der Verf. hat solche Ab- 



schnitte aus der Geschichte ausgewählt, die 
geeignet sind, die durch die lateinische und 
griechische Lektüre gewonnene Kenntnis 
hervorragender Staatsmänner, Dichter und 
Philosophen und der politischen und geistigen 
Entwicklung der beiden bedeutendstenVölker 
des Altertums zu vertiefen. Ich erwähne bei- 
spielsweise r die Beschäftigung mit der Philo- 
sophie in Rom* (12 Stücke), f der athenische 
Staat im Perikleischen Zeitalter' (10 Stücke), 
f Rom im Ciceronischen und Augusteischen 
Zeitalter' (12 Stücke). 

Die sprachliche Darstellung ist, was be- 
sonders hervorgehoben zu werden verdient, 
gut deutsch, aber auch wieder so gehalten, 
dafs die Übersetzung auch von einem Durch- 
schnittsschüler, wenn er gewissenhaft arbeitet, 
ohne zu grofse Mühe auch privatim geleistet 
werden kann. Unterstützung findet der 
Schüler in der an den Anfang des Buches 
gestellten Sammlung von 1085 Phrasen und 
in der Zusammenstellung nicht weniger 
synonymischer Unterscheidungen, auf die im 
Texte durch Sternchen oder Zahlen hin- 
gewiesen wird, Die Phrasen sind aber nicht 
ganz neu, sondern dem Schüler in dem bis- 
herigen Unterricht bekannt geworden ; er er- 
hält hier nur Gelegenheit, sie wieder auf- 
zufrischen. Der Verf. hat oft Veranlassung 
genommen, den Phrasen feine stilistische Be- 
merkungen hinzuzufügen und damit den 
seiner Grammatik gemachten Vorwurf ent- 
kräftet, als ob er das Niveau des grammati- 
schen Wissens der Schüler herabdrücken 
wollte. Seine Grammatik soll nur Lernbuch 
sein und enthält nur das, was der Schüler 
auf der unteren und mittleren Stufe un- 
bedingt wissen mufs. In diesem 5. Teile 
findet er alle die Feinheiten des lateinischen 
Sprachgebrauches, deren Zusammenstellung 
den Anhängern der Grammatik von Ellendt- 
Seyffert als Vorzug des Buches gilt. 

Bei dem Umfange des Buches ist es ganz 
natürlich, dafs nicht jeder Schüler alle Ab- 
schnitte übersetzen wird; aber der Inhalt ist 
so interessant, dafs er von jedem kennen ge- 
lernt und eingeprägt zu werden verdient. 



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Anzeigen und Mitteilungen 



Diesen berechtigten Wunsch des Verf. teile 
ich von Herzen. 

Diesen 5. Teil, den der Verf., ohne auf 
Vorarbeiten Ostermanns zu fufsen, selb- 
ständig gearbeitet hat, der das ganze Unter- 
richtswerk auf das schönste krönt, begrüfse 
ich mit grofser Freude ; von seiner Benutzung 
verspreche ich mir nicht nur eine Befestigung 
der grammatischen und stilistischen Kennt- 
nisse der Schüler, sondern auch eine Bereiche- 
rung ihres kulturgeschichtlichen Wissens. 
Gotthold Sachse. 

Iphioenix auf Tauris, ein Schauspiel von 
Goethe, edited with intboduction, noteb 

AND APPENDICE8 BT KARL BbEUL, Li TT. D., 

Ph. D. t ÜNiVEBSiTr Lectubeb in Gebman. 

Cambridge, at the University Press 1899. 
Diese Iphigenie -Ausgabe ist vom Ver- 
fasser, der die Stellung eines Lektors für 
Deutsch an der Universität zu Cambridge 
bekleidet, für Lehrer des Deutschen in Eng- 
land und vorgeschrittenere Schüler und 
Studenten bestimmt. Seine Absicht war, 
durch eine übersichtliche, reichhaltige Ein- 
leitung und durch sorgfaltige Anmerkungen 
das Verständnis des Textes möglichst zu er- 
leichtern, damit im Unterricht zur Pflege 
eines sprachrichtigen Vortrags und zur Be- 
sprechung der Charaktere und anderer 
Sachen die Zeit nicht fehle. 

Für die Einleitung, die eine ausführ- 
liche Entstehungsgeschichte des Stückes giebt 
sowie die Quellen (besonders die Beziehungen 
zu Euripides), Nachahmungen und Über- 
setzungen, ferner Metrum und Stil u. a. be- 
handelt, sind die besten Kommentare, eine 
grofse Zahl Abhandlungen und selbst Auf- 
sätze aus litterarischen Zeitschriften mit 
Sachkenntnis und Geschick verwertet worden. 



Für Engländer, die tiefer in das Studium 
Goethes eindringen wollen, enthält der An- 
hang sehr eingehende Literaturverzeich- 
nisse, in denen auch die einschlägigen 
Gymnasialprogramme nicht vergessen sind. 

Auch die Anmerkungen, für die eben- 
falls gute Hilfsmittel benutzt sind, beweisen, 
dafs der Verfasser sein Werk für Vor- 
geschrittenere bestimmt hat: er erklärt 
sprachliche und sachliche Schwierigkeiten 
sowie Eigentümlichkeiten in Stil und Metrum, 
indem er die älteren Entwürfe Goethes 
(Proben im Anhang), Euripides, Parallel- 
stellen aus anderen Werken Goethes und 
aus Schiller geschickt heranzieht; der Ver- 
fasser giebt jedoch nicht grammatische 
Erklärungen oder Übersetzungen ganzer 
Verse. 

Der Text der Iphigenie ist nach den 
neuesten Hilfsmitteln berichtigt und in der 
neuen Orthographie gedruckt. 

Der Verfasser verspricht auch eine Neu- 
bearbeitung der besten englischen Über- 
setzung der Iphigenie von William Taylor 
of Norwich, 1793, die das Lob eines Henry 
Crabb Robinson erhielt. 

Im ganzen ist die Breulsche Ausgabe ein 
sich selbst empfehlendes Werk deutschen 
Fleifses, das vortrefflich geeignet erscheint, 
gebildete Engländer, die des Deutschen ge- 
nügend kundig sind, in daa Studium eines 
der edelsten Werke Goethes und in die 
deutsche Litteratur der Blütezeit überhaupt 
einzufuhren. Die Sprache Breuls ist so 
fliefsend und klar, dafs sein kleines Werk, 
ganz abgesehen von seinem reichen Inhalt, 
auch für Deutsche, die sich im Englischen 
nach dieser Seite hin vervollkommnen wollen, 
von grofsem Nutzen sein kann. 

EüNBT MÄ8CHSL. 



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